Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 2. Oktober 2017
Ende Oktober 2017 geht die „Dekade“ zu Ende, in der die Menschen nicht nur in Deutschland eingeladen wurden, der Reformation zu gedenken. In den Zusammenhang passt als kritischer Impuls sehr gut Ihre neue, umfangreiche und gut von den Quellen her belegte Studie, die Sie im Untertitel zurückhaltend „“Essay zum Ökumenismus“ nennen. Darin fordern Sie eine „Erste Gesamtökumenische Enzyklika“, also ein Lehrschreiben, das von allen christlichen Kirchen verfasst und unterzeichnet wird und in den je eigenen Gemeinden verbreitet werden kann. Was sollte der wesentliche Inhalt einer solchen, geradezu sensationellen ökumenischen Enzyklika sein?
Das Faktum selbst sollte die erste Botschaft sein: Es gibt Aussagen unseres Glaubens, die wir von nun an gemeinsam aussprechen wollen, weil wir sie teilen. Diese „gesamtökumenische“ Enzyklika, also ein Lehr-Rundschreiben oberster kirchlicher Repräsentanten (etwa der konfessionellen Weltbünde, des ÖRK und des Vatikan) gemeinsam, sollte die Bereitschaft kundtun, das ernst zunehmen und umzusetzen, was bislang alle Kirchen als ihren Willen schon erklärt haben: vertiefte Gemeinschaft zu leben in Wort und Tat, soweit keine gewissensmäßigen Hindernisse mehr im Wege stehen. Das ist gerade bei den grundlegenden Fragen der Fall: Wir sprechen das gleiche Vaterunser, bekennen das gleiche Glaubensbekenntnis, haben die gleiche Heilige Schrift und wissen alle, was das höchste Gebot ist: die Gottes- und die Nächstenliebe.
Nun liegen seit vielen Jahren viele theologische Studien vor, die den tatsächlich schon gegebenen Konsens der bisher getrennten Kirchen beschreiben. Warum folgen die Kirchenleitungen, vor allem die römische Kirche, nicht diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Ist es Ignoranz oder verbissener klerikaler Machterhalt?
Der hier von Ihnen genannte Konsens, der in den strittigen Hauptfragen im Weltrat der Kirchen gemeinsam mit Rom weltweit und auch besonders in Deutschland gefunden wurde, besagt in der Tat, dass dieses Wort von einst: „Wir verwerfen die falsche Lehre …“, nämlich der jeweils anderen, so heute zwischen unseren Kirchen nicht mehr gilt. Überall hat sich das Bewusstsein verändert, durch Einsicht in eigene Versündigungen und unverantwortliche Verweigerungen untereinander; durch theologische Aufklärung und nicht zuletzt durch die Erfahrung der Herausforderungen der Zeit, besonders der verbrecherischen Regime der Nationalsozialisten und Bolschewiken – Hier entstand die Una-Sancta-Bewegung:„Wir glauben an die Eine Heilige Kirche“ in den Gefängnissen und Kriegsgefangenenlagern.. Sicher gibt es nicht wenig Mentalität „klerikaler Machterhaltung“, wie Sie sagen – das muss jede Kirche bei sich selber prüfen. Doch müssen auch die Gewissen geachtet werden, denen diese neueren Einsichten noch fremd sind, nachdem in den Kirchen fünf Jahrhunderte lang die gegenseitige Verurteilung gepredigt wurde. Und ängstlichere Gemüter, auch in Leitungsgremien, die sich an alte Auslegungen überlieferter Formeln gebunden sehen, statt sie geistbewegt neu zu denken, müssen gewonnen werden. Es soll nicht zu neuen Spaltungen kommen.
Was wäre der neue Aspekt und der neue Inhalt einer ersten gesamtökumenischen Enzyklika?
Aufgrund des wechselseitigen Sich-Kennenlernens in nun mehr als hundert Jahren ökumenischer Bewegung zwischen den Kirchen der Protestanten und der Orthodoxen, und seit mehr als 50 Jahren auch mit der römisch-katholischen Kirche ist ein grundlegendes Vertrauen zwischen den einstigen Feinden gewachsen. Man versteht besser, wie und warum die anderen auf andere Weise glauben – und dass wir oft Gleiches oder Ähnliches meinen, wenn auch in anderen Worten oder Strukturen und Gebräuchen. Und man fängt an, zu erkennen, dass es dabei, wie schon im Neuen Testament selber und in der Kirchengeschichte immer, Unterschiede gab und geben darf, wie überall in menschlichen Kulturen. Daher kann jetzt, meine ich, ein gemeinsames Wort gewagt werden, welches das ausspricht: Tausend Jahre Feindschaft zwischen Christen im „Westen“ und „Osten“ der Christenheit ist genug, und 500 Jahre Feindschaft innerhalb der „lateinischen“ Kirche des „Westens“ sind genug: Alle einstigen Reformationsansätze blieben unvollendet. So müssen wir öffentlich bekennen, dass wir gemeinsam an das „aggiornamento“(die erneuernde Anpassung) des Christentums für sein drittes Jahrtausend herangehen müssen. Das muss eine Botschaft an die Gläubigen nach „Innen“ sein, um die Widerstände aus Gewohnheit zu überwinden. Sie muss aber ebenso nach „Aussen“gerichtet sein: wie soll sonst die christliche Versöhnungsbotschaft in einer Welt voller Machtkonflikte zwischen Religionen und Ideologien glaubwürdig sein? Daher sollte ein Schwerpunkt liegen bei der im Kern für Christen gemeinsamen sozialethischen Botschaft zu den so missachteten Menschenrechten und zur Bewahrung der bereits in hohem Masse bedrohten Schöpfung.
Warum sind Ihrer Meinung nach immer noch theologische Dokumente, Papiere, Studien, Enzykliken überhaupt notwendig, um die Einheit der Christen zu fördern?
…Der Streit der Konfessionen wurde durch Theologien und ihre Ausformulierungen in Recht setzenden Dokumenten ausgefochten, welche jeweils die „Anderen“ ausgrenzten, verurteilten oder gar der Hinrichtung preisgeben. Daher muss diesen Theologien und ihren Dokumenten, wenn sie sich absolut setzen, der Giftzahn gezogen werden. Sie müssen auf den Status von Teil-Ansichten zurückgeführt werden, die einer umfassenderen Wahrheit und einer tiefer gegründeten christlichen Praxis dienlich werden müssen.
Was verstehen Sie unter der Einheit der Christen und der Kirchen?
Eine bunte Vielfalt lebendig gelebter christlicher Traditionen, die sich wechselseitig bereichern und jeweils selbst relativieren im Blick auf die vielen anderen Möglichkeiten, die christliche Botschaft – das Evangelium – zu leben, und das heißt eben: „Katholisch“ im Ursprungssinne dieses Wortes zu denken und zu glauben, zu beten und zu handeln. Daher sollten unsere Kirchen zunächst eine gemeinsame Stimme finden und kundtun, verständnisvoll miteinander lernend weitergehen in dem, was wir den „konzilaren Prozess“ nennen, um eine neue Form zu finden. Damit ihre großartige universale, eben ihre „katholische“ Gemeinschaft als Kirche auch sichtbar werde – als die gemeinsame geistliche Heimat der Vielen Verschiedenen, die auf dem Wege sind.
Nun ist die heutige konfessionelle “Landschaft” unter den Christen sehr vielfältig: Man denke etwa an die vielen auch unter sich sehr gegnerischen Pfingstkirchen und an die vielen evangelikalen Bewegungen: Hat dann die Arbeit an der Einheit der Christen noch einen realistischen Bezug?
Es kostete seit je viel Mühe, den Starrsinn und die Machtanmaßungen geistlicher Führer zu bändigen, großer Theologen oder Päpste ebenso wie von Lokalheroen oder Gurus. Nur die konsequente Einforderung der Selbstrelativierung im Angesicht Gottes und des Nächsten und das unumgehbare Liebesgebot, also die ethische Verantwortlichkeit, werden helfen, Wege zum Miteinander ausfindig zu machen, bei Anerkennung legitimer Unterscheidungen oder Besonderheiten. Der „Weltrat der Kirchen“ (Genf) ist geradezu das Labor dazu. Die Forderung einer uniformen Rechtssetzung für eine künftige Gestalt der Weltchristenheit ist abzulösen zugunsten der Suche nach Formen einer Anerkennung bereits gelebter oder möglicher Gemeinschaft auch recht verschiedener Traditionen auf der Basis von Heiliger Schrift, Credo und Vaterunser – dies, so meine ich, durchaus in neuer Gestalt im Weltmassstab. Ein gesamtchristliches Weltforum ist überfällig.
Was treibt Sie seit Jahrzehnten so an, dass Sie immer leidenschaftlich die versöhnte Verschiedenheit der Christen, also die Versöhnung und die Einheit, fördern und fordern? Ist dieses Engagement auch auf die politische Zerrissenheit der Welt bezogen?
Meine Taufe war römisch-katholisch. Christ wurde ich, nach gutem Religionsunterricht (einschließlich Augustinus!) lutherisch; meine Wendung zur Theologie verdanke ich Romano Guardini, dem römisch-katholischen Kulturwissenschaftler und Vorkämpfer der Ökumene in NS – Zeiten. Meine Ordination verpflichtete mich der Una Sancta, für die ich in Württemberg und dann in Berlin, hier in einer Kirche der (protestantischen) Union tätig wurde, wo wir bereits in einer einzigen großen und „vielfarbigen“ (Eph. 3, 10) christlichen Gemeinschaft jeglicher Couleur leben. Wie könnte es also anders sein, als für „eine“ Stimme und auch „eine Gestalt“ der Kirche zu kämpfen, damit sie endlich in ihrer welt – bewegenden Botschaft glaubwürdig würde? Erst so, meine ich, könnte sie selbsternannten Potentaten und hasswütigen Predigern zeigen, was Sache ist. „Warten wir nicht länger“, so könnte ich einen Wahlslogan zitieren. Ich sage: Ergreifen wir den „kairós“: Den 31. Oktober 2017 als gottgegebene Gelegenheit, über den Schatten zu springen !
Copyright: Pfarrer Manfred Richter, Berlin.
Die umfangreiche Studie Manfred Richters hat den Titel: „Oh sancta simplicitas. Über Wahrheit, die aus der Geschichte kommt. Ein Essay zum Ökumenismus“. 426 Seiten, 2017, Siedlce.