Fragen an Prof. Wilhelm Gräb im Rahmen der Reihe: „Fundamental vernünftig“.
Die liberale Theologie hat auch eigene Vorschläge zur Spiritualität, also zu einer Form geistvollen Lebens im Miteinander und in der Erfahrung des „Unendlichen“.
Ja, aus eigener Einsicht und freier Überzeugung glauben zu können und ohne kirchliche Bevormundung religiös lebendig zu sein – das ist das Angebot liberaler Theologie. Der Vorschlag zur Spiritualität, den die liberale Theologie macht, zeigt auf die Lebensform religiöser Freiheit. Diese war einst gemeint, indem die liberale Theologie von liberaler Frömmigkeit sprach. Uns daran zu erinnern und die Rede von Frömmigkeit im Geist liberaler Theologie wieder aufzunehmen, haben wir heute allen Anlass. Freilich reden wir heute statt von Frömmigkeit lieber von Spiritualität. Denn mit Frömmigkeit verbinden wir noch zu viel dogmatische und kirchentümliche Enge.
Es geht liberaler Theologie darum, wie die „Freiheit eines Christenmenschen“ konkret werden kann: dass es im christlichen Leben nicht auf theologische Rechtgläubigkeit ankommt, nicht auf Übereinstimmung mit kirchlichen Lehren und alten Bekenntnisformulierungen. Spiritualiltät im Geist liberaler Theologie, das ist ein Leben aus dem Evangelium, aus vorbehaltloser göttlicher Ankerkennung und dem Wohl des Nächsten zugewandt. Kriterium im Umgang mit der Glaubenstradition ist die eigene, vernünftige Einsicht und das Wohlwollen gegenüber jedem und jeder, nicht die Einhaltung kirchlicher Glaubensnormen und zwanghafter Moralvorstellungen.
Deshalb stehen liberale Theologen auch der Moderne mit ihrem Pluralismus und ihrer Individualitätskultur offen gegenüber. Der Glaube muss ihnen vereinbar sein mit der Wissenschaft, mit Kritik und humaner Bildung. Liberale Theologie fördert eine spirituelle Lebenshaltung, die weiß, dass wir uns selbst transzendent sind, unendlich angewiesen auf einen Gott, der im Evangelium aber auch die göttliche Rechtfertigung unseres Daseins zusagt.
– Welchen Sinn hat dann für religiöse Menschen, die sich in der liberalen Theologie verstanden fühlen, das Beten?
Beten ist in der liberalen Theologie ein Akt der Selbstbesinnung, bei dem wir allerdings gerade nicht bei uns stehen bleiben, nicht um uns selbst kreisen. Wir besinnen uns, indem wir beten, auf unser Leben als ein solches, das wir vor Gott führen. Gott ist dem, der betet, der Grund allen Lebens, der Sinn des eigenen Daseins, die alles umfassende Einheit der Wirklichkeit. Indem wir uns betend auf unser Leben als ein Leben vor Gott besinnen, finden wir in den Dank für das Geschenk des Lebens sowie in die Bitte um alles, was fehlt zu seinem Gelingen.
– Kann Poesie die Form des Betens sein?
Da das Beten einen Form gesteigerter Selbstbesinnung und damit der Ausdrücklichkeit in der Bewusstheit unseres Lebens ist, kann es sich besonders gut in metaphorischer Sprache artikulieren. Metaphern bereichern unser Leben. Sie schreiben der Wirklichkeit einen Mehrwert zu. Sie drücken unsere Ängste und Hoffnung, Wünsche und Sehnsüchte aus. Insofern ist die Metaphorik religiöser Sprache gut geeignet, unsere tieferen Empfindungen und unser Wirklichkeitserleben auf dichte Weise zur Sprache zu bringen. Sie holt den Überschuss an Sinn ein. Die vom Reichtum der Metaphern lebende Poesie der Sprache öffnet die Dimension der Tiefe, aus der heraus unser Leben in einen letzten Deutungszusammenhang einrückt. So kann gerade die poetische, dichte Sprache zur Sprache des Gebets werden.
– Ist die Voraussetzung für das sinnvolle Beten vielleicht das Innehalten, das Meditieren? Ist dieses Zur Stille Kommen und sich selber sehen genauso wichtig wie das „Sich Aussprechen“ vor Gott?
Das Beten, das ein Sich-Aussprechen vor Gott ist, kann der Aufschrei in der Not sein oder der spontane Dank in der überraschenden Erfahrung des Glücks. Das Beten kann sich aber auch in stiller Selbstbeziehung vollziehen. Das ist dann das, was Martin Heidegger die „Frömmigkeit des Denkens“ genannt hat. Dann macht, wer betet, sein Leben für sich selbst durchsichtiger, durchsichtig auf seine Gründung in Gott. Wer sein Leben vor Gott durchdenkt, dem fügt es sich ein in das Ganze eines Sinnzusammenhanges, der auch noch die negativen Erfahrungen mit einem positiven Vorzeichen versehen lässt. Das ist oft ein Ringen, eine Durchdenken von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, aber vor Gott immer in der Hoffnung auf einen guten Ausgang der Dinge. Beten ist ein getröstetes Denken.
– Kann liberale Theologie auch die buddhistisch geprägten Meditationsformen und auch das Yoga unterstützen und als Hilfe empfehlen? Schließlich hat das Christentum ja nicht auf „alles“ eine passende Antwort.
Es ist durchaus möglich, Meditationsformen aus anderen religionskulturellen Traditionen zu übernehmen. Da gibt es auch Beispiele aus der Praxis, insbesondere was die Einstellung Zen-Buddhistischer Meditationsformen in christlich-religiöse Vorstellunginhalte anbetrifft. Man sollte das nicht eng sehen. Wenn wir das Beten so verstehen, dass es uns in Kontakt bringt mit Gott auf dem Grunde der eigenen Seele, dann sind ihm alle Wege angemessen, die dem Menschen Wege zu sich selbst öffnen und ebnen.
– Angesichts der von vielen als oberflächlich erlebten Welt – und auch der eigenen Fraglichkeit des Daseins: Bräuchten wir nicht neue kleine, bescheidene, von jedem nachvollziehbare Riten? Etwa eine Begrüßung des Tages nach der Nacht? Den Dank für den Tag am Abend? Der selbstkritische Rückblick am Ende einer Woche? Wie ließe sich das gestalten, Spiritualität ist ja nicht nur Kopfarbeit…. Sollte da nicht auch liberale Theologie kreativer werden?
Ja, das wäre schön, wenn wir solche Riten erneuern könnten, den Morgensegen (Luthers Morgensegen, zu finden im Evangelischen Gesangbuch, ist immer noch wunderschön), das Abendgebet, das Tischgebet, das Tagebuch, den Wochenrückblick. Das Problem ist nur, Rituale lassen sich nicht am Schreibtisch erfinden. Sie lassen sich überhaupt nicht erfinden. Rituale entstehen, aus den Regeln, die sich eine Gemeinschaft gibt oder in denen diese sich immer schon vorfindet. Es können auch neue Rituale entstehen, aber dann müssen einzelne oder Gruppen sich auf sie verständigen und sie in ihrer Verbindlichkeit anerkennen. Liberale Theologie kann keine Rituale hervorbringen. Keine Theologie kann das, denn Theologie ist ein Nachdenken über die Praxis der Religion, nicht diese selbst. Aber liberale Theologie tut gut daran, sich gegen die Unterstellung zu wehren, ihr seien Rituale nicht wichtig. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings empfiehlt liberale Theologie die Pflege von Ritualen nicht um der Aufrechterhaltung einer religiösen Ordnung willen, sondern aus der anthropologisch begründeten Einsicht in ihre Lebensdienlichkeit.
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