Philosophische Salons – die neuen Orte für Spiritualität, Lebenskunst und Religion

Anregungen anlässlich des 250. Geburtstages der ersten Saloninère in Berlin, Rahel Varnhagen.

Von Christian Modehn

1.
Gedenktage sind nicht nur Tage des Rückblicks und der kritischen Erinnerung, sondern auch Tage des Vorblicks: Der Blick in die (nahe) Zukunft soll von der Begrenztheit des Gegenwärtigen befreien und Neues soll konzipiert werden, Besseres, das die Routine traditioneller kultureller Praxis überwindet.
2.
So auch beim Denken an Rahel Varnhagen (17.5.oder 19.5.1771 bis 7.3.1833). Ihr großartiges Lebenswerk ist bekannt, wer es noch nicht kennt, sollte seine Bildungslücke alsbald schließen, Gelegenheiten gibt es ausreichend, auch im www. Dabei wird man sich auch auf die vielfältigen großartigen schriftstellerischen Leistungen Varnhagens konzentieren.
3.
Ich möchte hier nur an ihre bleibende Leistung erinnern, die mir von aktueller Bedeutung erscheint: Es ihre Gründung und Gestaltung von Gesprächsrunden, die dann später “Salons“ genannt wurden, also gesellige Zusammenkünfte mit hohem Gesprächsniveau, an dem sich unterschiedliche Menschen, meist Männer, beteiligten. Die Liste der „berühmten“ TeilnehmerInnen ist lang: Jean Paul, die Brüder Humboldt, Friedrich Schlegel, Heinrich Heine, Schleiermacher, Hegel usw. Die Gastgeberin, Rahel Varnhagen, leitete ihre Salons von 1790 bis 1806, und dann noch einmal von 1820 bis 1833. Die Zusammenkünfte in der Privatwohnung waren geprägt vom Geist der Aufklärung und damit der Vernunft, und damit auch der Toleranz: Diese Lebensphilosophie war bester Ausdruck ihrer zeitgemäßen jüdischen Spiritualität.
4.
An Rahel Varnhagen denken – das heißt heute: Nachdenken, wie denn diese offenen und von Vielfalt und Toleranz geprägten SALONS heute eine große Rolle spielen können. Dass es sozusagen „objektiv“ in der Gesellschaft einen Bedarf gibt an niveauvollem Gespräch und Austausch der verschiedenen Meinungen, braucht nicht bewiesen zu werden. Zumal die großstädtische Gesellschaft zerfällt förmlich in Inseln der Kommunikation der Gleichen, wenn nicht ohnehin die Isolierung und Einsamkeit des einzelnen beherrschend ist.
5.
Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat in seinem 1799 veröffentlichten Text mit dem Titel “Versuch einer Theorie des geselligen Betragens” sich von den Berliner Salons inspirieren lassen und mit großer Dringlichkeit die Bedeutung der Salons unterstrichen.Vor allem werden dem Teilnehmer an Salon-Gesprächen “andere und fremde Welten nach und nach bekannt” und “auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse würden dem Menschen befreundet und nachbarlich”.
6.
Ich will nur daran erinnern, dass de facto in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, die alte Struktur der Kirchengemeinde sich auflöst: Gottesdienste werden gefeiert mit stets abnehmender Teilnehmerzahl. Aber wichtiger noch: Die Gesprächsangebote, die „Gruppen“, die Bildungsveranstaltungen in den Kirchengemeinden sind eher marginal. Und wenn sie noch stattfinden, müsste das intellektuelle und kritische Niveau geprüft werden. In den meisten Fällen bleiben diese Gruppen eher „homogen“ unter sich: Welcher Atheist, welcher Skeptiker, welcher Flüchtling, welcher ausländische Student usw. verirrt sich schon in einen üblichen Gemeindekreis? Der Theologe Friedrich Schleiermacher hat eine christliche Gemeinde als Ort des Gesprächs und der Begegnung definiert, daran sollte man sich erinnern.
Nebenbei: Heute hat der herrschende Klerus in der katholischen Kirche Europas die Gemeinde zu Orten des Messelesen degradiert: Ein Priester eilt sonntags von einer Kirche zur anderen, um die Messe feiern, weil nur er, als Kleriker, beansprucht in der Lage zu sein, Eucharistie feiern zu können und zu dürfen. Und die wenigen verbliebenen Katholiken in den Gemeinden nehmen diesen Klerikalismus (noch) hin.
7.
In dieser Situation des kirchlichen Niedergangs haben die offenen Debatten über Spiritualität, Lebenskunst, Religion, Philosophie in Salons eine große Chance. Sie finden nicht unter einem Dach einer Kirche oder einer Religion statt, diese Salons sind undogmatisch, offen, plural, an der Vielfalt und dem Streitgespräch interessiert.
8.
Wer kann solche Salons eröffnen? Jeder und jede, der/die sich für kompetent hält, nicht nur einen angenehmen Gesprächsraum anzubieten, sondern auch thematisch die Abende zu gestalten. Ein Künstler lädt zu Gesprächen über Kunst ein, warum nicht auch zu religiöser Kunst? Ein Kenner der Romane oder eine geduldige Leserin von Poesie lädt zu literarischen Gesprächen ein, die ohnehin die grundlegenden Sinnfragen berühren. Ein Naturwissenschaftler lädt ein, über Natur, Naturschutz, Naturgesetze und Evolution oder gar „Schöpfung“ usw. zu sprechen.
9.
Nun leben in den großen Städten zumal auch viele TheologInnen, die noch als solche tätig sind oder längst andere Berufe (Coach etc.) haben: Warum laden sie nicht zu Gesprächen über „Gott und die Welt“ ein? Und die vielen Leute, die Philosophie studiert haben: Der philosophische Salon wäre in meiner Sicht die beste Form der Erinnerung an Rahel Varnhagen.
10.
Die Frage ist, ob die entsprechenden Herren und Damen des kulturellen Establishments die enorme Bedeutung der Salons erkannt haben. Interessieren sie sich mehr für die Opernhäuser und Theater als für die eher „kleinen“, aber feinen kulturellen Basisinitiativen, wie die Salons? Falls dies der Fall ist, sollten die kulturell verantwortlichen Politiker und auch die Hochschulen und Universitäten überlegen: Wie kann man in einer Art Grundkurs Salonnièren ausbilden und fördern? Wie können die Organisatoren auch finanziell unterstützt werden, ohne dass dabei die Salons in Abhängigkeit geraten?
11.
Über den seit 2007 bestehenden (wegen Corona seit einem Jahr „ruhenden“) „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“ kann man sich informieren und vielleicht inspirieren lassen: LINK.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Was ist unmittelbar? Unsere Erkenntnis und sogar die Gotteserkenntnis?

Einführende Hinweise von Christian Modehn

1.
Das Thema hat weitreichende Bedeutung, nicht nur fürs allgemeine menschliche Erkennen, sondern auch speziell fürs Erkennen dessen, was man das Göttliche, Gott, nennt. Kann ein Mensch etwa Gott „als solchen“ unmittelbar erleben und „als“ Gott erkennen und sogar in Worten „fassen“? Können Wunder als göttliches Eingreifen in die Naturgesetze unmittelbar als solche geschehen? Kann die Kirche eine unmittelbare Begegnung mit der Jungfrau Maria behaupten, die als Himmelskönigin irgendwelche historisch sehr konkreten Worte übermittelt? Etwa in Fatima, Portugal, 1917, als die Himmelskönigin sich höchst persönlich zum kommunistischen Russland äußerte? Keine Frage: Die Frage nach dem Unmittelbaren ist für die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und die Religionskritik aktuell und eine “Pflichtaufgabe“.
2.
Für ein „alltägliches“ Leben ist die Behauptung einer unmittelbaren Erfahrung (von Weltlichem) und deren – angeblich – unmittelbaren Erkenntnis üblich. In der unmittelbaren Erfahrung, als einer Form der mit den Sinnen geschehenen Verbundenheit / Beziehung zur Welt, wird durch die Sinne eine Gewissheit erzeugt beim Menschen. Etwa der Schmerz, wenn der Mensch Feuer berührt. Der Schmerz ist zwar unmittelbar, aber er ist immer bereits im Moment des Erlebens sprachlich geprägt, selbst wenn er noch nicht in Worten gesprochen wird. In der „sinnlichen Erfahrung“ mit der durch die Sinne erzeugten sinnlichen Gewissheit (Schmerz) ist also die Sprache und damit die Vernunft immer schon anwesend. Die Unmittelbarkeit gibt es als Erleben, aber sie ist immer schon durch die Sprache und Begriffe für den Erlebenden wie die anderen Menschen vermittelt.
3.
In dieser „unmittelbaren“ Erfahrung gibt es vier Determinanten:
Es ist das JETZT (also nicht später, nicht früher) dieser Erfahrung.
Das HIER (nur an diesem bestimmten Ort) dieser Erfahrung.
Es gibt – wie gesagt – eine immer schon latent anwesende begriffliche Form der Erfahrung und
es gibt selbstverständlich ein Ich, ein Subjekt, das diesen Komplex dieser sinnlichen Erfahrung erlebt und eben auch davon weiß. Das Subjekt ist der „Ort“ der Vermittlung und Aufhebung des Unmittelbaren.
4.
Diese (in Nr. 3 genannten) Strukturen sind allgemein für alle Subjekte im Umgang mit Welt und mit sich selbst vorhanden und gültig. Welt und Objekte werden immer mit diesen „Determinanten“ erlebt und dann auch verstanden. Die menschliche Erfahrung eines einzelnen Objekts geschieht also immer in diesen allgemeinen Determinanten. Wer vom Individuellen, Besonderen, spricht, ist also immer auf den Gebrauch allgemeiner Begriffe angewiesen. Total individuelle Begriffe einer einmaligen Erfahrung könnten nur zu einer Geheimsprache gehören, die dann aber nur der Erfinder dieser Sprache versteht.
Damit wird den Behauptungen einer total einmaligen und angeblich nicht aussagbaren, „nur“ privaten Erfahrung widersprochen.
Das einzelne Unmittelbare ist also immer in allgemeinen Begriffen vermittelt. Auch Hegel hat daran erinnert, dass das Einzelne NICHT ausschließlich in seinen engen Grenzen als einzelnes, sozusagen wie ein isolierter Punkt begriffen werden kann. Das einzelne Ding steht in einem Vermittlungszusammenhang, wie in einem Netz, mit anderen, auf die es bezogen ist.
5.
Alles Wahrnehmen und Erkennen des Unmittelbaren wird sprachlich in allgemeinen Begriffen vermittelt. Wolfgang Welsch schreibt in seinem Essay „Hegel und die analytische Philosophie“ (in: „Information Philosophie“, 2000): „Jede Berufung auf unmittelbares Wissen ist epistemologisch naiv“.
6.
Wer also das Verbundensein des Menschen mit der Welt begreifen will, muss die vernünftigen Strukturen im Subjekt analysieren. Es geht darum, die Leistungen des Bewusstseins und der Vernunft im Subjekt als konstitutiv für die Verbindung mit dem Objekt zu erkennen. Schon im praktischen Verhalten ist es so: Unser Handeln in der äußeren Wirklichkeit ist dergestalt, dass es als begrifflich geprägtes, vernünftiges Handeln diese dann ebenfalls vernünftig bestimmte Wirklichkeit tatsächlich erreicht, es gibt also eine Übereinstimmung zwischen unseren Handlungsideen und der äußeren Wirklichkeit. Das hat Hegel auch aufs theoretische Erkennen übertragen. Er sah eine Kongruenz von menschlichem Begriff und äußerem Gegenstand.
Es ist wichtig, sich in dem Zusammenhang weiter mit Hegel zu befassen: Für ihn ist der unmittelbare Mensch der in Ego – Strukturen befangene Mensch. Hegel spricht von „der Partikularität, den Leidenschaften, der Eigensucht“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Suhrkamp, 323) Diese beherrschen den Menschen, der sich als total vereinzelter, als Veräußerlichter, in dem Sinne als unmittelbarer versteht. Das wahre Wesen des Menschen ist seine Teilhabe am universalen Geist, und dieses wahre Wesen muss dieser unmittelbar lebende Mensch sich durch seine Vernunft erst noch „erarbeiten“. „Der Mensch ist nur durch diese Vermittlung, er ist nicht unmittelbar“ (303 ebd.) Aber diese Arbeit der Überwindung der Unmittelbarkeit als der falschen Lebensform geschieht nicht ohne den Schmerz des Abschieds von dieser „Leidenschaft und Eigensucht“. Von diesem „natürlichen Herzen, worin der Mensch befangen ist, dies ist der Feind, der zu bekämpfen ist“ (ebd.).
Aber der universale Geist ist auch in diesen falschen Haltungen anwesend, in seiner Energie kann der Mensch die Freiheit erreichen.
7.
Wer Religionen – auch philosophisch – verstehen will, muss sich auf die Bedeutung der „Unmittelbarkeit“ einlassen: Im Christentum ist häufig die Rede von der „unmittelbaren Erfahrung Gottes“. Glaubende, die sich Mystiker nennen und von anderen als Mystiker bezeichnet werden, betonen: Ihre besondere Spiritualität zeichne sich durch die „unmittelbare Erfahrung Gottes“ aus. Diese Erfahrung hat immer einen existentiellen Aspekt. Sie berührt den ganzen Menschen, sie ist mehr als eine theoretische Einsicht: Diese kennt nur das fremde Gegenüber von Menschen und Göttlichem. In der Mystik hingegen löst sich dieses Gegenüber in ein Gefühl der Einheit auf. Die Untersuchungen dieser drei zusammenhängenden Begriffe „unmittelbar“, „Erfahrung“ und „Gott“ füllen riesige Bibliotheken. Hier nur einige Hinweise:
8.
Die Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (1515 – 1582) gilt in der Mystik-Forschung als Vorbild mystischer Frömmigkeit. Sie hat ein umfangreiches literarisches, spirituelles, mystisches und theologisches Opus hinterlassen. Wer bei ihr nach der Bedeutung ihrer unmittelbaren Gotteserfahrung fragt, kann sich z.B. mit einem Text ihrer „Vida“ befassen. Der Mystik-Forscher Alois M. Haas hat sich damit in seinem Buch „Mystik als Aussage“ (Suhrkamp 1996) befasst. Er zitiert (S. 54) Theresa, wenn sie von der ihr zuteil gewordenen Gnade spricht, die „von kurzer Dauer“ war, nämlich Christus erfahren zu haben. Dazu waren für Theresa aber Voraussetzungen nötig: Diese Erfahrung habe sich ereignet, als „ich mich in die Nähe Christi versetzte“ und „bisweilen auch, als ich (die Bibel) las (leyendo, auf Spanisch): In diesen Momenten „überkam“ sie „ein Gefühl der Gegenwart Gottes, so dass ich gar nicht zweifeln konnte, er sei in mir oder ich sei ganz in ihm versenkt“. „Gott“ „in“ Theresa „versenkt“, eine für sie zweifelsfreie Erfahrung also, eine offenbar unmittelbare Erfahrung.
Dieses Erleben der Vereinigung mit Gott war aber für sie kein irrationaler Rauschzustand, sondern es geschah mit Bewusstsein: Denn Theresa war danach in der Lage, in Worten zu sagen: „Er (Gott) war in mir oder ich ganz in ihm versenkt“. Sie selbst wehrt sich in dem Text ausdrücklich, ihre Gotteserfahrung sei eine, so wörtlich, „Vision“ (also eine Art „Entrückung“) gewesen! Theresa bewertet hingegen ihre Gotteserfahrung überraschend als „mystische Theologie“! Damit will Theresa ihre mystische Erfahrung mit den Begriffen, eben der Theologie, verbinden, also die Unmittelbarkeit des Erlebens in eine begriffliche und „trans-subjektive“, also allgemeine Sprache überführen. Und sie wollte mit ihrem Hinweis auf Theologie ihre dogmatischen Gegner besänftigen, die mit Mystik auch zu ihrer Zeit nur subjektive Eigenwilligkeit und Entrückungen und Verzückungen vermuteten.
Wären Theresas Geist und ihr Erinnerungsvermögen ausgeschaltet gewesen in ihrer „Versenkung“, also in ihrer Gotteserfahrung, hätte sie nicht später davon sprechen können. Entscheidend ist ihr kurzer Satz: „Der Wille liebt“ in diesem Moment der Versenkung: Liebe zu Gott ist für sie die entscheidende bleibende Voraussetzung Zugang zu Gott zu finden. Dann folgen aber diese Worte, in denen sie die Grenzen des Verstehens dieser mystischen Erfahrung anspricht: „Das Gedächtnis scheint mir beinahe verloren, der Verstand denkt nicht nach, aber er verliert sich nicht. Der Verstand ist nur untätig und wie von Staunen hingerissen über das viele, das der Verstand hier gewahrt.“ Also, der Verstand selbst nicht mehr aktiv, er ist passiv „hingerissen“ von dem, was sich ihm zeigt. Und dann folgen die das mystische Geschehen wieder relativierenden Worte, um jegliches „Wegschweben“ und das Entrücktsein auszuschließen: „Denn Gott lässt den Verstand erkennen, dass der Verstand nichts von dem begreift, was seine Majestät (Gott) ihm vorstellt.“ Die mystische Erfahrung erschließt also keinen inhaltlich breiten Gewinn an Erkenntnis Gottes, keine „Details“ seines inneren, göttlichen Lebens. Vielmehr ist das Resultat: Gott zeigte sich, aber der Verstand begreift nichts Inhaltliches. Mit anderen Worten: Die Mystikerin wurde mit dem unauflösbaren Geheimnis Gottes konfrontiert.
9.
Diese Aussage als theologische Erkenntnis ist ein wichtiger Hinweis: Eine sich unmittelbar nennende Erfahrung Gottes gibt es nicht, die Erfahrung selbst enthält schon den Verstand, der dann später die Erfahrung in Worte fassen kann. Und diese vermittelnden Worte sind jeweils historisch, von der Bildung des Erlebenden, geprägt: Wenn sich Theresa, wie sie sagt, in die „Nähe Christi versetzt“, dann ist es der konkrete bildhafte Christus, der ihr auch durch die Lehre der Kirche und der Theologie ihrer Zeit und ihrer Umgebung vermittelt wurde.
10.
Warum ist es so wichtig, darauf zu insistieren, dass in der unmittelbaren mystischen Erfahrung immer die Vermittlung durch Begriffe besteht? Weil nur mit dieser Erkenntnis die immer subjektive, einzelne Erfahrung in den Bereich des allgemeinen Gesprächs und der kritischen Debatte treten kann. Das ist heute politisch so wichtig: Wer auf einer absoluten Unmittelbarkeit der religiösen Erfahrung besteht, will sich autoritär abkapseln, will sich bedeutend machen, sich als Meister und Guru aufspielen. Es wäre zu prüfen, in wie weit diese autoritäre Unmittelbarkeit von Propheten und Aposteln usw. in der kirchlichen Bibelinterpretation oder in der Korandeutung behauptet wird. Nur wer die immer vermittelte Unmittelbarkeit bejaht und kritisch durchleuchtet, will einen freien, nicht-autoritären, einen nicht-fundamentalistischen Glauben.
11.
Es ist wichtig, noch einmal auf den Philosophen G.W.F. Hegel (1770 – 1831) zurückzukommen. Für ihn ist der christliche Glaube nicht die Bindung an eine historische Gestalt (Jesus) oder an ein Buch (Bibel) oder an eine Institution. Für ihn als Philosophen, der die Religionsgeschichte und damit auch die Christentums-und Kirchen-Geschichte auf den Begriff gebracht hat, ist der Glaube des Menschen an Gott die Beziehung zum Geist, dem göttlichen. Und dieser ist als solche (weil Gott das andere seiner selbst, die Welt „schafft“) auch im Menschen selbst anwesend, eben als „Geist des Menschen“. Diese Beziehung des Geistes im Menschen auf den in ihm auch anwesenden göttlichen Geist ist das Entscheidende. Darum sagt Hegel: „Der Glaube ist Zeugnis des Geistes vom Geist“. (Vgl. dazu Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, Seite 387). Hegel betont immer wieder, „dass es nicht zweierlei Vernunft und nicht zweierlei Geist geben kann, nicht eine göttliche und eine menschliche, nicht einen göttlichen Geist und einen menschlichen, die schlechthin verschieden voneinander wären. Die menschliche Vernunft ist Vernunft ÜBERHAUPT, ist das göttliche im Menschen… Gott ist gegenwärtig, allgegenwärtig und als Geist gegenwärtig im (menschlichen) Geist“. (Dieses Hegelzitat siehe S. 388, Jaeschke).
12.
Daraus zieht Hegel die Konsequenz zur Erkenntnis Gottes: „Wir wissen unmittelbar von Gott, dies ist eine Offenbarung Gottes in uns. Weder die positive Offenbarung (also die Bibel) noch die Erziehung kann Religion bewirken“, denn dann wäre Religion etwas von außen Gewirktes, sagt Hegel. Dieses unmittelbare Wissen bei Hegel überrascht! Aber auch hier gilt: Es muss vermittelt werden in Begriffen. Das ist möglich, weil im unmittelbaren Erkennen die Tendenz zum Wissen schon angelegt ist. Wichtig ist für Hegel: Wenn Religion (oder auch Sittlichkeit) im Menschen immer „vorkommt“, dann wird Religion als Geistiges „im Menschen nur erregt“. „Der Mensch ist Geist an sich, die Wahrheit liegt in ihm, und so muss ihm das zum Bewusstsein gebracht werden“. (Dieses Hegelzitat stammt aus dem genannten Buch von Jaeschke S. 390). Religion „schlummert“ also förmlich im Menschen und muss zum Bewusstsein und zum begrifflichen Wissen gebracht werden. Es gibt also eine Offenbarung Gottes in den Menschen als Menschen, weil sie vom Geist, der heilig ist, sich bestimmen lassen. Dieses unmittelbare Verbundensein des Menschen mit dem göttlichen Geist ist die Basis.
In meinem eigenen Bewusstsein bin ich mit Gott unmittelbar verbunden, er ist nichts Fremdes, sondern Geist, wie ich Geist bin. Dieses Selbstverhältnis des Geistes ist also nach Hegel Ausdruck der Freiheit.
13.
Auch in der Literatur ist das Thema Unmittelbarkeit und Vermittlung naturgemäß ständig präsent. Ich denke etwa an das neue Buch „Ein Monat in Siena“ von Hisham Matar, als Übersetzung von „A month in Siena“. Der Autor, 1970 geboren, lebt als Literaturwissenschaftler in England; seine Eltern stammen aus Libyen. Sein Vater wurde als Oppositioneller 1990 aus Ägypten entführt und von Gaddafis Mördern hingerichtet.
14.
Den Tod des Vaters versucht Hisham Matar regelmäßig durch eine „unmittelbare“ Begegnung mit Kunst, mit Gemälden, zu „bearbeiten“. Hisham Matar betont, im Dialog mit einem Gemälde zu leben, vor allem eben mit den Gemälden in Siena. Es gibt für ihn einen Austausch mit dem Gemälde. Es wird für ihn zu einem geistigen und physischen Raum. „Wie ein Zimmer, in das man von Zeit zu Zeit flüchtet, um Gespräche, zu haben, die man sonst irgendwo haben kann“. In dem Beitrag von Le Monde sagt er: „Ich spreche zu den Gemälden und sie antworten mir“.
15.
Es ist das geduldige, oft stundenlange Sich-Versenken in ein Gemälde (Theresa von Avila sprach von einem Sich – Versenken in die Gestalt Jesu Christi), die zu neuen Erkenntnissen, zu rettenden Einsichten führt. Es ist dieses Sich-Hineinbegeben in eine geistige Gestalt außer mir, die zunächst zu einer Unmittelbarkeit, zu einer Vereinigung führt, die dann aber als reflektierte Unmittelbarkeit Erkenntnisse vermittelt, vielleicht neuen Mut zum Leben.
Wir sollten also das Hineintreten in eine langdauernde Unmittelbarkeit (Beispiel: Christus-Betrachtung der Theresa von Avila oder das Sich in ein Gemälde Versenken) nicht nur zulassen, sondern für uns fördern, wenn wir denn nach dem Erfahrungserlebnis Worte finden wollen, für uns selbst wie für andere.
16.
Man spürt es etwa bei trockenen theologischen Texten: Da hat der Autor keine Unmittelbarkeit erlebt, er war nicht „versenkt“ in eine Sache, eine Person, ein Bild etc., sondern er hat Begriffe hin und her gewendet. Begriffliche Trockenheit und Öde, das bestimmt etwa dogmatische Texte.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Gott des Glaubens – Drei Fragen an den Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

1.
Wenn es eine „typische Haltung“ der Menschen Gott gegenüber gibt, dann sprechen sicher die meisten vom Glauben: Gott, den viele den Unendlichen und Ewigen nennen, ist also (nur) im Glauben „erreichbar“. Aber was Glauben als Tat der Menschen bedeutet, muss ja noch geklärt werden: Wer auf die biblische Weisheit schaut, entdeckt: Glauben wird dort vor allem als Vertrauen gelebt. Ist diese „Definition“ auch heute ein guter Einstieg, um sich auf den „Gott des Glaubens“ zu besinnen?

Ja, so sehe ich das auch: Glauben bedeutet Vertrauen. Und sofern in diesem Vertrauen die Beziehung zu Gott sich aufbaut, bedeutet glauben zu können, aus Grundvertrauen zu leben. Der Begriff des Grundvertrauens gefällt mir zur Beschreibung der Beziehung zu Gott deshalb besonders gut, weil er das Woher des Vertrauens benennt, ohne es zu seinem Gegenstand zu machen. Der Begriff des Grundvertrauens stammt ja ursprünglich aus der Psychologie und wurde von Erik Erikson eingeführt, um die lebensgeschichtlich tragende Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung zu beschreiben.

Was mit dem Begriff des Grundvertrauens ausgedrückt werden soll, ist dann aber eine auch religiös bedeutsame Erfahrung. An der innigen Mutter-Kind-Beziehung zeigt sich, gewissermaßen exemplarisch, dass all den Gegensätzen, in denen wir uns vorfinden und an denen wir uns ein Leben lang abarbeiten müssen, eine abgrundtiefe Verbundenheit, ja eine unvordenkliche Einheit aller Gegensätze vorausliegt. Aus ihr heraus nur gewinnen wir von früh auf die Zuversicht, dass wir uns die Welt erschließen und sie unseren Absichten entsprechend gestalten können.

Das Merkwürdige ist nun jedoch gerade, dass wir den Grund des Vertrauens auf unsere Fähigkeiten im Umgang mit uns selbst und mit der Welt nicht objektiv vor uns bringen können. Wir können diesen gründenden Grund nicht zum Gegenstand unseres Wissens machen. Sobald wir das versuchen, setzen wir uns ins Gegenüber zu ihm und verfehlen so gerade das uns und alle Welt Tragende und Gründende.

Insofern bringt für mich die Rede vom Grundvertrauen, wenn wir damit die Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen meinen, am besten zum Ausdruck, warum diese Beziehung keine solche des Wissens ist. Das als Vertrauen verstandene Glauben ist eine menschliche Tätigkeit. Ich bevorzuge deshalb das Verb und spreche am liebsten vom Glauben als einem existentiellen Vollzug. Das finde ich dann auch noch besser als von einer Haltung zu sprechen. Eine Haltung nehme ich ein, im Tun des Glaubens hingegen kann ich immer nur versuchen, mich zu halten. Und es ist eben so, dass es Situationen gibt, in denen es mir leichtfällt, Grundvertrauen zu haben und mich in meinem Tun und Lassen von ihm tragen zu lassen. Dann wieder fällt solches Vertrauen mir unheimlich schwer oder will mir gar nicht gelingen. So ist es, deshalb gefallen mir die Bibelstellen am besten, in denen Menschen in ihrer Not ausrufen: “Ich glaube, hilf meinem Unglauben”. (Markus 9, 24).

2.
Was wir vom Glauben sagen, ist ja schon aufgrund der sprachlichen Form auch ein Ausdruck von Wissen: Wir wissen eben, dass Gott gegenüber nicht Mathematik und Physik weiterhelfen, wohl aber Philosophien, die Literatur und die Künste aussagekräftig sind. Wie gehen Sie also mit diesem Paradox um: Wir wissen, dass Glauben die richtige Haltung des begrenzten Menschen Gott gegenüber ist? Also: Ohne philosophisches Wissen kann es also gar keinen authentischen Glauben an Gott geben? An den Glauben zu glauben macht ja keinen Sinn.

Wenn wir den Glauben als Gottvertrauen verstehen, hat dies den Vorzug, dass wir der Gefahr entgehen, von einem Glauben an Gott zu sprechen. Denn damit würde die Subjekt-Objekt-Differenz doch wieder in die Gottesbeziehung eintreten und das Glauben könnte als eine verkappte Form des Wissens erscheinen. Gott ist nicht der Gegenstand des Glaubens, sondern der Grund des Vertrauens, das wir in uns selbst, in die anderen und die Welt setzen. Dann nur, wenn wir ihn nicht vergegenständlichen, bleibt der Gott des Glaubens davor bewahrt, zu einem Ding unter Dingen zu werden. Die Vergegenständlichung im Wissen von ihm würde Gott zu einer endlichen Größe machen. Mit dem Wort Gott meinen wir jedoch gerade, wie Sie auch sagen, den einen, den einigenden Grund der Wirklichkeit im Ganzen, das Unendliche, das Universum.

Von Gott können wir nicht wissen. Wenn wir von ihm wissen könnten, wäre er ein Gegenstand unserer Erfahrung und damit nicht mehr das, was wir mit dem Wort Gott meinen. Er wäre nicht der dem Wissen transzendente Grund dafür, dass wir überhaupt Erfahrungen machen können, wir uns selbst zugänglich und die Welt uns erschlossen ist.

Wenn ich das so sage, hängt das natürlich mit meinem Nachdenken über Gott und unsere Rede von ihm zusammen. Ich würde aber nicht behaupten wollen, dass das Glauben als menschliche Tätigkeit dem philosophischen oder theologischen Nachdenken entspringt. Das Glauben, das ein Gottvertrauen ist, kommt auf in den Erfahrungen des Lebens. Es wird in den Erfahrungen des Lebens ebenso auf harte Proben gestellt oder kann in ihnen verloren gehen. Diese Erfahrungen sind keine Gotteserfahrungen, aber sie können so gedeutet werden. Die Bibel bietet eine unendliche Fülle solcher Deutungen.

Es ist zudem so, dass ein Grundmisstrauen diesen Glauben, der ein Gottvertrauen ist, permanent gefährdet und bedrängt. Denn die bedrückenden und belastenden Erfahrungen, gerade auch des Sinnwidrigen und Sinnlosen, verschwinden nicht. Die bösen Erfahrungen und die bösen Taten, die uns an Gott und der Welt irremachen, an einer guten Zukunft für die Menschheit auf unserem Planeten zweifeln lassen, sie geschehen. Aber wer auf Gott sein Vertrauen setzt, der riskiert immer wieder ein trotziges Dennoch, der widersteht dem Überschlag des Zweifels in die Verzweiflung, der bleibt dabei, auf einen guten Ausgang zu hoffen – selbst dann noch, wenn keine Tatsachen dafürsprechen, dass solche Hoffnung sich erfüllen wird.

Insofern ist auch ersichtlich, warum diejenigen, die glauben können und ein Gottvertrauen aufbringen, alle Erfahrungen, auch die negativen, die schrecklichen und desaströsen Erfahrungen auf Gott und sein Handeln beziehen. Das sehen wir ja gerade auch in den biblischen Texten, in den Psalmen vor allem. Dort bringen Menschen ebenso ihre Erfahrungen der Not wie des Glücks vor Gott. In allem, was ihnen widerfährt, ist Gott ihnen gegenwärtig und das nicht allein mit seiner Liebe, sondern auch mit seinem Zorn, seiner Enttäuschung, seiner Wut. Mit Bitten, Klagen und Danken wenden sich die Psalmbeter deshalb an Gott. Und indem sie ihm gegenüber zum Ausdruck bringen, was sie bedrückt und belastet, erfreut und glücklich macht, gelingt es ihnen, was ihnen widerfährt, nicht nur zu erleiden, sondern auf standhafte Weise sich zu ihren Erfahrungen, auch den schrecklichen, zu verhalten und sie in ihr Leben zu integrieren.

Glauben hilft uns, das Unverfügbare anzuerkennen, das Schicksalshafte, und dennoch den Lebensmut nicht zu verlieren, handlungsfähig zu bleiben, das Beste aus der Situation zu machen, an der Hoffnung festzuhalten.

3.
Wir wissen also, dass wir an Gott sozusagen glauben „müssen“, wenn wir mit ihm, den Ewigen, verbunden sein wollen. Wer aber den Ewigen ablehnt, sich als „Atheist“ versteht, befindet der sich dann auch in einer Glaubenshaltung in seiner Suche nach dem Nicht – Endlichen? Atheismus wäre dann nicht „wissenschaftlich“, nicht „evident“, sondern ebenfalls eine Form des Glaubens? Könnte dies nicht eine enorme und neue Perspektive sein für die eine Menschheit, die eben unterschiedlich glaubt angesichts des Gründenden, des Nicht – Endlichen?

Wenn wir nicht wissen können, ob es Gott gibt, dann können wir selbstverständlich auch nicht wissen, dass es Gott nicht gibt. Ein Theismus, der auf Gott als gegenständliche Wirklichkeit setzt, ist insofern genauso wenig überzeugend wie ein Atheismus, der diese Wirklichkeit bestreitet. Ein wissenschaftlich begründeter Atheismus ist genauso zum Scheitern verurteilt wie es die Gottesbeweise sind.

Das bedeutet nun aber nicht, dass die, die sich Atheisten nennen, nicht eine ernst zu nehmende Kritik an dem verfolgen, was wir hier Glauben bzw. Gottvertrauen nennen. Nur wäre eine solche Position dann eher eine nihilistische als eine atheistische zu nennen. Ich denke dabei an den kritischen Einwand, dass die alles gründende Wirklichkeit, die wir mit dem Wort Gott meinen, auch ins Leere auslaufen könnte und wir trotz unseres Gottvertrauens letztlich in ein Nichts hineingestellt sind. Es könnte sein, dass das Vertrauen, das wir auf den transzendenten Grund der Wirklichkeit setzen, trügerisch ist. Es könnte sein, dass wir uns lediglich etwas vormachen und einer Illusion nachhängen, wenn wir meinen, im transzendenten Grund der Wirklichkeit uns bergen und in Hoffen und Bangen von ihm tragen lassen zu können. Vielleicht warten wir vergeblich darauf, dass schließlich das Rettende sich zeigt.

Die nihilistische Position ist die stärkste Anfechtung des Glaubens. Aber sie gehört ihm gewissermaßen als das andere seiner selbst zu. Nicht in der Form eines dem Glauben überlegenen Wissens, sondern als Einspruch gegen sich selbst. Mit diesem Einspruch, dass auch der alles gründende Grund, den wir uns und aller Wirklichkeit voraussetzen, doch nur unserem sehnsuchtsvollen Setzen entspringt, sieht sich das Glauben immer wieder konfrontiert. Es ist ein Einspruch, den unser Glauben, sofern es weiß, dass es kein Wissen ist, sich selbst immer wieder macht.

Nur solange das Glauben sich das Nicht-Wissen eingesteht, das Glauben insofern ein angefochtenes Glauben ist, bleibt es ein Glauben, das zu uns Menschen als endlichen und begrenzten Wissen passt. Nur dann auch ist es ein Glauben, das uns Menschen guttut. Denn ein solch angefochtenes Glauben bleibt davor bewahrt, absolute Wahrheitsansprüche geltend zu machen. Es verliebt sich geradezu in die Vielfalt des Glaubens. Es treten Verhältnisse ein, in denen niemandem mehr sein eigenes Glauben abgesprochen wird und niemandem mehr ein ihm fremdes Glauben aufgezwungen wird. Es kommt zu einem Glauben aus je eigener, freier Einsicht in seine dem Leben dienliche Wahrheit.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Priester segnen homosexuelle Paare – der Beginn einer Reformation in Deutschland?

Ein Hinweis von Christian Modehn am 10.5.2021

1.
Wenn in Deutschland im Umfeld des 10.5.2021 in etwa 110 katholischen Kirchen durch katholische Priester Partnerschaften von Homosexuellen feierlich und öffentlich gesegnet werden – dann ist dies in offizieller katholischer Sicht als Rebellion zu bewerten.
Wenn es ein einziger Priester getan hätte, so wäre er sofort suspendiert wurden wegen Ungehorsam. Aber werden es sich Vatikan und Bischöfe erlauben, mehr als 100 Priester zu bestrafen? Möglich ist alles. In einer Kirche ohne demokratische Verfassung und demokratische Gerichtsbarkeit muss jeder und jede Katholikin immer mit allem Schlimmen rechnen… Zumal der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, diese Segnungsgottesdienste für homosexuell Liebende ausdrücklich und öffentlich ablehnt, bzw. aus Angst vor Rom ablehnen muss. Er nennt sie „keine hilfreichen Zeichen“. Was für eine verräterische Formel: Nicht hilfreich für wen? Für den Bischof selbst, der sich von Reaktionären anhören muss, nicht hart gegen diese Aufwiegler aus Homo-Kreisen durchzugreifen. Aber hilfreich kann doch ein Segnungsgottesdienst für die Betroffenen wohl sein, oder? Ist das nicht entscheidend? Es ist eine verräterische, eine üble Formulierung von Bischof Bätzing also. Dadurch stellt sich, wie so oft in der römischen Kirche, ein Bischof gegen seine Gemeinden, nur weil er dem Papst und den Vatikan-Beamten absolut gehorchen muss, um nicht in Ungnade und damit in finanzielle Degradierung zu gelangen. Man denke an die Absetzung des mutigen französischen Bischofs Jacques Gaillot durch den Vatikan.
2.
Diese Segnungsgottesdienste hätten die Dimension, wirklich zu der von vielen ersehnten umfassenderen Rebellion gegen den Vatikan und seine getreuen Beamten (Bischöfe) zu werden. Die hilflose Wut vieler Katholiken auf Rom, auch auf den zaudernden und immer widersprüchlichen Papst Franziskus, ist bekanntlich groß, sie „kanalisiert“ sich jetzt nur in diesen Segnungsgottesdiensten. Aber noch ist niemand da, der sich als Leitfigur in diesem „Kampf mit Rom“ abzeichnet, so wie es einst der Augustinermönch Martin Luther war. Immerhin haben die Augustiner in ihrem Kloster in Würzburg den Mut des Widerspruchs gezeigt und ein großes Plakat außen an ihrer Kirche befestigt: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Das Plakat mit der richtigen Aussage wurde aber von Unbekannten abgerissen und zerstört, die Augustiner haben dies der Polizei gemeldet. Ihr richtiger Spruch erinnert entfernt an ihren Mitbruder Martin Luther, der in Worms 1521 gesagt haben soll: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Heute sagen die Augustiner: „Wir können doch gar nicht anders als segnen“. Hoffentlich bewahren sie sich ihren rebellischen Geist. Aber sie sind ja wohl mit dem sehr mutigen Studentenpfarrer Burkard Hose, Würzburg, freundschaftlich verbunden.
3.
Ein „Highlight“ der Segnungsgottesdienste wäre es natürlich, wenn sich zwei schwule Priester-Freunde als Paar nun auch segnen ließen. Man verrät ja nicht zu viel, dass dann die Zahl der Segnungen noch weiter in die Höhe schnellen würde, zumal, wenn auch klerikale Freundespaare aus dem Vatikan eingereist wären zwecks Segnung. Aber so mutig sind denn die schwulen Pfarrer und Patres dann auch wieder nicht.
4.
Ich habe seit vielen Jahren die merkwürdige, wenn nicht anstößige Liebe der katholischen Kirche zu feierlichen öffentlichen Segnungen dokumentiert, diese Website wurde sehr oft aufgerufen. Darin dokumentierte ich die selbstverständliche traditionelle Segnung von Tieren, die Segnungen von Autos und Motorrädern, die Segnungen von Waffen, von Häusern und Palästen, die Segnungen von Handys, die Segnung, auch dies noch, eines Walrosses im Zoo durch den damaligen Hamburger Bischof Stefan Heße. LINK. Natürlich gibt es seit langem im privaten Rahmen Segnungen von Kranken und Sterbenden oder auch von Müttern und Pilgern. Der reaktionäre Weihbischof von Salzburg Andreas Laun sagte übrigens: Homosexuelle segnen ist eine Segen für die Sünde. So wie man ja auch nicht KZs segnen darf”. LINK
5..
Es ist eigentlich – bei allem Respekt für diese Aktion der Segnungen – problematisch, dass diese Segnungen von homosexuellen Paaren eben auch bloß „Segnungen“ heißen, also begrifflich auf eine Ebene mit Auto-, Wohnungs- oder Walross-Segnungen gesetzt werden. Angemessen für das demokratische Bewusstsein und die Gesetzgebung in 28 demokratischen Staaten wäre allein: Die katholische Kirche feiert mit den homosexuellen Paaren die sakramentale Eheschließung. Bekanntlich ist für die katholische Lehre die Ehe ein Sakrament. Diese sakramentale Ehe wäre kirchlich die angemessene Antwort auf die gleichgeschlechtliche EHE in 28 Staaten der Erde, darunter auch Deutschland seit dem 1.10. 2017!
6.
Die sakramentale Ehe für homosexuelle Paare könnte das verstaubte Eheverständnis der Kirche insgesamt hinwegfegen, also die Vorstellung, nur Mann und Frau können eine Ehe schließen, wobei sich die Kirche auf den Mythos der Schöpfung Gottes beruft, vor allem auf den eigentlich nur banalen Satz: “Als Mann und Frau schuf Gott die Menschen“ (AT – Buch Genesis, 1,27). Das stimmt ohne weiteres: In der Menschheit gibt es – sehr traditionell gesprochen – zwei biologische Geschlechter. Nur folgt aus dieser biologischen Aussage zu biologischen Fakten nicht unbedingt eine katholische Ehelehre und sakramentale Praxis, die nur der Vereinigung eines biologischen Mannes und einer biologischen Frau vorbehalten ist.
Insofern muss ich leider sagen, kommen diese durchaus zu respektierenden Segnungsfeiern schon wieder – kulturell betrachtet – zu spät. Sakramentale Eheschließungen von homosexuellen Paaren wären die richtige und zeitgemäße Antwort. Sie kommt vielleicht in 100 Jahren. Im Falle Galileis ließen sich die Herren der Kirche ja auch 300 Jahre Zeit für eine Anerkennung von Galileis richtigen Erkenntnissen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Poesie – Worte der Transzendenz

Über Yves Bonnefoy
Ein Hinweis von Christian Modehn (siehe auch den Hinweis auf Baudelaire, LINK)

1.
In seiner Aufsatzsammlung mit dem Titel „Le siècle de Baudelaire“ (Paris 2014) spricht der Poet, Poetologe und Philosoph Yves Bonnefoy (1923 – 2016) ausdrücklich von der herausragenden Bedeutung der Poesie für die Frage der „Transzendenz“. Sie sollte nicht im fernen Jenseits gesucht werden, sondern als Anwesenheit, als présence, im Hier und Heute des Daseins. Dabei ist für Bonnefoy auch die Auseinandersetzung mit dem Dichter und Poeten Baudelaire wichtig, ihn nennt er „den stärksten und tiefsten Geist“ im 19. Jahrhundert. Baudelaire stellte die Frage nach der Existenz Gottes… „Aber er musste sich eingestehen, dass er nicht glaubt (S. 8).“

2.
Für Bonnefoy als Poeten und gleichzeitig Philosophen der Poesie erhalten Gedichte eine neue Bedeutung für die Spiritualitäten heute. Transzendenz wird nicht mehr in den überlieferten, alles einordnenden und übersichtlichen (dogmatischen) Begriffen gedacht und ausgesprochen, sondern in der Offenheit poetischer Worte. Dabei geht es um ein Verstehen der alltäglichen Wirklichkeit in ihrer Tiefendimension: „Es ist wichtig, die Wirklichkeit, die einfache Wirklichkeit, von dem Schleier zu befreien, der diese Wirklichkeit verdeckte (S. 11)“.
„Poesie ist nicht Literatur (etwa ein Roman), sie ist nicht Ausdruck des (nur Allgemeines fassenden) begrifflichen Denkens“ (S. 57). „Die Poesie unterscheidet sich von Literatur wie das Begehren zu sein von der Verwaltung des Habens“, betont Bonnefoy (S. 58).
Poesie ist keine Rede in fixierten Begriffen, sie ist Klang, wie Musik, die sich der geschlossenen Bedeutungen entledigt, Poesie will das EINE als das allen Gemeinsame sagen.
Die Sprache der Poesie, das ist für Bonnefoy also entscheidend, lebt wie die Musik vom Rhythmus und dem Klang. Musik und Poesie sind „nächste Verwandte“.

3.
Entscheidend bleibt für Bonnefoy: Die Présence, die Gegenwart, soll bewusst erlebt werden: Dann zeigt sich die Ganzheit des Daseins als begrenztes, endliches, sterbliches. Aber kann sich das Dasein darin einschließen?
In der Poesie wird dem widersprochen: Das wahre „Wesen“ des Transzendenten ist immanent, also im Menschen, vor allem für Bonnefoy auch in der Natur anwesend. Dort wird das Entgrenzte, vielleicht damit auch das Grenzenlose erlebt. Der moderne Mensch kann entdecken: In der Poesie ist das Unendliche mit der gewöhnlichen Existenz verbunden ist.

4.
Wenn also das Religiöse im 19.Jahrhundert aus weiten Bereichen der Kultur schwindet, sollte die besondere Bedeutung des poetischen Wortes erkannt werden. Aber mit der Poesie wird dann doch ein schwieriger Weg des Verstehens eröffnet. Aber: Bonnefoy hat auch „leichter zugängliche“ Poesie geschrieben. Man denke etwa an das Gedicht „L Arbre de la rue Descartes“ aus dem Buch „L Heure présente“:

« Passant,
Regarde ce grand arbre et à travers lui,
Il peut suffire.
Car même déchiré, souillé, l’arbre des rues,
C’est toute la nature, tout le ciel,
L’oiseau s’y pose, le vent y bouge, le soleil
Y dit le même espoir, malgré la mort.
Philosophe,
As-tu la chance d’avoir l’arbre dans ta rue,
Tes pensées seront moins ardues, tes yeux plus libres,
Tes mains plus désireuses de moins de nuit. »

„Passant,
betrachte diesen großen Baum und seinetwegen
Kann es genug sein.
Denn sogar gespalten, beschmutzt, ist der Straßenbaum
Die ganze Natur, der ganze Himmel,
der Vogel setzt sich dort nieder, der Wind dort sich bewegt und die Sonne dort
spricht dieselbe Hoffnung, trotz des Todes.
Philosoph,
hast du das Glück einen Baum in deiner Straße zu haben
dann werden deine Gedanken weniger schroff, deine Augen freier sein,
deine Hände werden gieriger sein nach weniger Nacht“. (Übersetzung: Christian Modehn)

5.
Das Gedicht ist eine deutliche Kritik Bonnefoys an der begrifflichen Fixierung des Philosophen.
Es wendet sich direkt an den Passanten, Spaziergänger … aber auch an den Philosophen. Der Titel ist auf eine Rue Descartes bezogen. In der Pariser Rue Descartes befindet sich das berühmte „Collège International de Philosophie“.

6.
Hat die Theologie, hat die Religion, haben die Kirchen die Poesie (im emphatischen Sinne – auch im Sinne Bonnefoys -) verstanden? Haben sie ihr fixierendes Begriffs-Denken, ihre Herrschaft der klaren Definitionen, korrigiert oder wenigstens eingesehen? Diese Grenzziehungen, die sie mit den Definitionen, den Dogmen, schaffen, Grenzen, die ausschließen, die Menschen zu den “anderen”, den Fremden” machen.
Ich denke: Theologien und Kirchen haben den Geist der Poesie überhaupt nicht erkannt und auch nicht rezipiert. Sie lieben nicht den freien Geist der Poesie. Sie lieben nach wie vor die banalen Gedichte und Gebete und Lieder, die einzig nach dem Prinzip des Reims gebaut sind und deswegen als populär und “tauglich” erachtet werden. Ästhetische Bildung war nie Sache der Kirchen.

7.
In Europa ist die einzige mir bekannte Ausnahme der niederländische Poet und Theologe Huub Oosterhuis (Amsterdam), aber dessen Poesie ist in den katholischen Kirchen der Niederlande offiziell im Gottesdienst verboten.in Deutschland ist seine Poesie nur marginal vertreten.
Meine Forderung also wäre, die aber angesichts der Verhärtungen im Katholizismus ziemlich sinnlos ist und angesichts des banalen Trallalas in evangelikalen Veranstaltungen ebenso sinnlos ist… aber diese Forderung soll wenigstens noch einmal genannt werden: Die Kirche sollte poetisch werden, also sanft, suchend, offen, mit Sinn für das Schöne als das Überraschende und Befremdliche. Wir bräuchten also poetische Kirchen und poetisch denkende und vor allem poetisch fühlende Herren der (römischen) Kirche.
Weniger Kirchenrecht, mehr Poesie könnte eine selbstverständlich utopische Forderung heißen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Napoléon: Wenn sich ein gewaltiger Herrscher seine Kirche schafft und seinen Kult begründet.

Der Autokrat und seine Religion.

Ein Hinweis von Christian Modehn anlässlich des 200. Todestages Napoléon Bonapartes.

1.
Die Kirche des napoleonischen Staates
Die Beziehungen Napoléons zur Religion bzw. vor allem zur katholischen Kirche sind zwar nur ein Thema unter vielen „Napoléon-Themen“ anlässlich seines 200. Todestages am 5. Mai 2021.
Seiner politischer Leidenschaft und seinem unendlichen Streben nach Macht ist es gelungen, dem Kirche-Staat–Verhältnis in Frankreich eine neue rechtliche Struktur zu geben. Diese war zwar vor allem innerhalb der Kirche stets umstritten, sie blieb aber bis zur Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 bestimmend.
Napoléon war mit einer katholischen Kirche konfrontiert, die nach dem Ende der Herrschaft der Revolutionäre gespalten war. Nur ein Beispiel: Unter den Priestern gab es viele, die den „Treueid“ auf die Revolution und ihre Ideale geschworen hatten und im Rahmen der neuen revolutionären Kirchengesetze auch das Zölibatsgesetz als für sie ungültig erachteten. Und es gab Priester und deren Gemeinden, die antirevolutionär eingestellt waren und die alte Kirchenordnung mit ihren Gesetzen, vor der Revolution von 1789 respektierten.
Eine einheitliche Kirche in dem zentralistischen Staat Frankreich erachtete der Herrscher Napoléon als notwendig für die Sicherung des so genannten inneren Friedens. Hinzu kam, dass die oft verwüsteten Kirchengebäude mit staatlicher Hilfe wieder in einen brauchbaren Zustand versetzt werden mussten. Die Ausbildung von Priestern musste neu gestaltet werden genauso wie die finanzielle Sicherheit der Geistlichen. Und es musste geklärt werden, wer denn das letzte Wort zu sagen hat in der Ernennung der Bischöfe: Der Papst oder er, der Herrscher und spätere Kaiser Napoléon. Napoléon legte allen wert darauf, dass selbstverständlich er wie immer das letzte Wort habe.

2.
Das Konkordat
Diese Fragen wurden in dem Konkordat von 1801 entschieden, das Napoleon mit den päpstlichen Beamten ausgehandelt hatte. An diesem Vertragstext lag Napoléon sehr viel, weil er darin den Ausbau seiner Vormacht als politischer Herrscher gegenüber der geistlichen Gewalt des Papstes sichern konnte. Napoléon konnte so die alte französische Konzeption einer „Gallikanischen Kirche“ (also der von der politischen Herrschaft in Frankreich gesteuerten Kirche) durchsetzen. Die von der Revolutionsregierung 1790 beschlossene „Constitution civile du Clergé“ hatte der Papst 1791 verurteilt, sie war eine Art Zuspitzung der sozusagen „gallikanisch – revolutionären“ Kirche. Der Papst zur Zeit von Napoléons Herrschaft, Pius VII., hingegen stimmte im Konkordat mit Napoleon zu, dass er, der Herrscher, Bischöfe ernennt, die der Papst zur Ernennung bestätigt. Zu diesem Kompromiss war Pius VII. bereit, um das (Über)Leben der katholischen Kirche in Frankreich überhaupt zu sichern. Der päpstliche Unterhändler damals, Kardinal Consalvi, hatte sich mit seiner Forderung nicht durchsetzen können, dass der Katholizismus offiziell zur Staatsreligion erklärt wird. Napoleón bestimmte mit seiner Formel „Der Katholizismus ist die Religion der großen Mehrheit der Franzosen“ eine moderatere Form von Staatskirche, ließ aber Raum für andere Religionen und Kirchen, die gesetzlich geschützt waren. Die materiellen Güter des Klerus, die von der Revolutionsregierung eingezogen wurden, durften von der Kirche nicht zurückverlangt werden. Der Staat sicherte sich seinen Einfluss auf die Kirche durch die Gründung eines „Ministeriums für die (religiösen) Kulte“. Es koordinierte die Beziehungen des Staates zu den Bischöfen und zum Klerus, dieses Ministerium bestand bis zur Trennung von Kirche und Staat 1905. In der Zeit der Restauration unter Karl X., dem Bruder Ludwig XVIII., war sogar ein Bischof Minister, Mgr. Frayssinous. Höhepunkt des Strebens nach Allmacht war die Kaiserkrönung Napoléons in Paris 1804. Die Welt war Zeuge, wie Napoléon förmlich den Papst rufen darf, damit er dem Wunsch des Herrschers entspricht. Und Napoléon krönte sich selbst während der Papst – Messe in der Kathedrale Notre Dame zum Kaiser. Der Papst setzte ungerührt die Messe fort. Aber Pius VII. war nicht bereit, Napoléons Machtpolitik zu akzeptieren, als dieser Rom zum Teil des Französischen Staates erklärte. Der Papst bewies seine Macht, als er den Kaiser 1809 exkommunizierte…Förmlich als Bestrafung wurde der Papst als Gefangener nach Savona, dann 1812 nach Fontainebleau verschleppt. Nach der Abdankung Napoléons 1814 konnte Pius VII. nach Rom zurückkehren, dies wurde von der Bevölkerung wie ein Triumph gefeiert. Pius VII. war ein ungewöhnlich großzügig denkender Papst: Der Familie Bonaparte gewährte er in Rom Asyl, bei den Engländern setzte er sich für Napoléon ein. Pius VII., durchaus ein bemerkenswerter Papst!

3.
Der demokratische Priester Abbé Grégoire
Ein eigenes Thema, der Vertiefung wert, ist die Gestalt des Abbé Grégoire(1750-1831), der als hoch gebildeter philosophischer Theologe und Priester während der Revolution zum Bischof von Blois gewählt (!) wurde. Er kämpfte gegen das Konkordat, das Napoleón aushandelte, er war gegen Napoléon, aus seiner demokratischen Grundüberzeugung heraus. Aber der ließ den demokratischen Priester und Vorkämpfer der Rechte der Sklaven leben…

4.
Der Katholizismus stiftet die Einheit im Staat
Entscheidend ist: Für Napoleon als unumschränktem Herrscher, als Kaiser, als Diktator, als Militarist, war die katholische Kirche nur als Dienerin des Staates, seines Staates, wichtig und interessant. Die Kirche sollte sich ums Jenseits kümmern, meinte er und sich aus politischen Themen heraushalten. Für ihn galt absolut das Primat des Politischen. Es kam ihm auf die ideologische Einheit im Staat an, und diesen Zusammenhalt sollte auch die katholische Religion als „die Religion der meisten Franzosen“ befördern. Spaltungen innerhalb des französischen Katholizismus lehnte er ab. Darum unterdrückte er die „Petite Eglise“, verbreitet vor allem in der Vendée, die sich den Bestimmungen des Konkordates widersetzte und an der alten Kirchenordnung vor der Revolution festhalten wollten Deswegen lehnte Napoleon den Atheismus ab, denn der würde den Zusammenhalt im Staat zerstören. Auch jede Form eines wirren, unvernünftigen Aberglaubens war ihm suspekt. „Nur durch religiöse, d.h. katholische Bindungen kann die Anarchie im Staat verhindert werden“. Darin war er durchaus religionspolitischen Positionen der Reaktionäre, wie Metternich, verwandt. Auch die philosophisch geprägte religiöse Gemeinschaft der Theophilanthropen, die eine deistische, stark die Ethik betonende Position vertrat, konnte er nicht dulden. Und die Protestanten waren ihm nicht zuverlässig genug … wegen der protestantischen Vielfalt. Insgesamt fühlte er sich, auch darin sehr unbescheiden, von Gott selbst in diese höchste politische Führung berufen.

5.
Napoléon – ein frommer Katholik?
Napoleons persönlicher Glaube war vom Katholizismus geprägt, auch wenn er viele Sakramente, Riten, Gebräuche des Katholizismus für sich selbst ablehnte, erst auf der Insel Sankt Helena soll er wieder die Beichte geschätzt haben.
Zu dem Thema hat der Historiker Hannes Liebrandt (Helikon, 2014) einen längeren Aufsatz publiziert.
Liebrandt folgt der biographischen Entwicklung: Bonaparte wurde von einer sehr religiösen, katholischen Mutter erzogen, als Jugendlicher und während der militärischen Ausbildung schätzte er eine allgemeine, wenig katholisch bestimmte Verehrung Gottes. Wenn er später, als Kaiser, an der katholischen Messe teilnahm, dann wohl eher, um einen guten Eindruck als Politiker zu machen und nicht aus innerer katholischer Bewegtheit. Im ganzen gesehen, so Liebrandt, kann zwar von einer Grundtendenz der katholischen Bindung und Frömmigkeit Napoléons gesprochen werden, aber ein definitives Urteil ist unmöglich. Wie so oft im Falle Napoléons, der insgesamt eine zwiespältige Person ist, egozenrischstes Machtstreben ist wohl seine einzige eindeutige Qualität.

6.
Der kaiserliche Katechismus
Ausdruck des maßlosen Wahns Napoléons, sich auch als religiöser Führer zu präsentieren, ist die Veröffentlichung des „Kaiserlichen Katechismus“ (1806), der als katholisches Lehrbuch überall in Frankreich Verwendung finden und zu einer exzessiven Verehrung des Kaisers führen sollte: Die Priester waren verpflichtet etwa diese widersinnigen Sprüche zu Ehren des Diktators zu lehren: „Les chrétiens doivent aux princes qui les gouvernent et […] en particulier à Napoléon Ier, notre Empereur, l’amour, le respect, l’obéissance, la fidélité, le service militaire, les tributs ordonnés pour la conservation et la défense de l’Empire et de son trône ; nous lui devons encore des prières ferventes pour le salut et pour la prospérité spirituelle et temporelle de l’Etat […] Honorer et servir notre Empereur est donc honorer et servir Dieu lui-même. […]“ „Die Christen schulden den Fürsten, die sie regieren und besonders Napoléon I., unserem Kaiser, Liebe, Respekt, Gehorsam, Treue, den Militärdienst, schulden ihm die befohlenen Abgaben zur Erhaltung und Verteidigung des Kaiserreiches und seines Thrones. Wir schulden ihm glühende Gebete für seine Gesundheit und Gebete für das spirituelle und zeitliche Glück des Staates. Unseren Kaiser zu ehren und ihm zu dienen bedeutet iatsächlich Gott selbst zu ehren und ihm zu dienen“.
Quelle: https://archives.var.fr/article.php?laref=11129&titre=decret-du-19-fevrier-1806-instaurant-la-fete-de-la-saint-napoleon-et-le-retablissement-de-la-religion-catholique-1-k-48-
Dieses religiöse Lehrbuch ist ein politischer Katechismus, er erinnert an ähnliche Lobeshymnen religiöser Art, die andere Diktatoren zu ihrem Ruhm anordneten, etwa die Gebete, die zum Wohl Marchall Pétains formuliert wurden oder die politisch – religiöse Verehrung, die bei jeder Messe zugunsten des widerwärtigen Diktators Trujillo in der Dominikanischen Republik geleistet werden musste. Das Thema „theologische Selbsterhöhung der Diktatoren“ zu vertiefen, wäre spannend und wichtig.

7. Der heilige Napoléon
Das staatliche Fest des heiligen Napoléon (ein Märtyrer unter Kaiser Diokletian) wurde auf Befehl des Kaisers Napoléon eingeführt, selbstverständlich am Geburtstag von Napoléon Bonaparte, also am 15.8. (Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Saint-Napol%C3%A9on).
Napoléon bezog sich bei diesem seinem Fest (mit Prozessionen im Freien) auf einen Heiligen Neopol bzw. Neopulus. Rom hingegen hat abgelehnt, diesen wirklichen Heiligen mit einem eher konstruierten Heiligen „Napoléon“ in Verbindung zu bringen. Darum wurde dieser Kult um den Heiligen Napoléon endgültig 1870 abgeschafft, lediglich in Ajaccio auf Korsika, dem Geburtsort von Bonaparte, soll es noch eine gewisse Verehrung für den heiligen Napoléon geben.
Es ist in gewisser Weise eine Ironie, dass Napoléon Bonaparte den Kult um einen heiligen Napoléon einführte, der als Widerstandskämpfer gegen den Kaiser ermordet wurde! Eins steht fest: Ein heiliger Napoléon ist eine politisch – theologische Erfindung! Aber die führenden Bischöfe und ihre Priester in Frankreich damals machten diesen theologischen Blödsinn gern und unterwürfig mit!(Quelle:https://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-609.htmhttps://www.cairn.info/revue-historique-2012-3-page-659.htm, ein Beitrag von Vincent Petit).

Wichtig ist auch das Buch von Werner Telesko, Wien 1998:, „Napoleon Bonaparte. Der moderne Held und die bildende Kunst“. 1811 als Buch, 513 Seiten.

8.
„Napoléon und Jesus
Im März 2021 ist in Paris ein erstaunliches Buch erschienen, mit dem Titel „Napoléon et Jésus“, der Untertitel, ins Deutsche übersetzt: „Die Thronbesteigung eines Messias“. Autorin ist die junge Philosophin Marie-Paule Raffaeli-Pasquini, erschienen ist das Buch in dem katholischen Verlag (des Dominikanerordens) Editions du Cerf, Paris. Die Autorin will zeigen, dass sich Napoléon selbst in der Rolle eines Messias sah, dessen Werk ewig währt. Unterstützt wurde er in dieser maßlosen Selbsteinschätzung auch von der Verehrung, die ihm, wie einem heiligen Objekt, entgegengebracht wurde. Zahlreiche Gemälde, auch viele populäre Chansons und literarische Hymen bestätigen diesen Trend. Dass dabei auch von katholischer Seite Widerspruch kam, ist selbstverständlich. Einige Pfarrer verglichen den maßlosen Anspruch des „Christus – Napoléon“ mit drohenden Aussagen des biblischen Buches der Apokalypse (etwa zum Antichristen).
In jedem Fall: Napoléon wollte mit sich selbst als Monarchen noch einmal den von Gott gesandten Herrscher lebendig werden lassen. Die Autorin bezieht sich in ihrer ausführlichen Analyse auf ein so genanntes Mémorial, das auf St. Helena von Emmanuel Las Cases, Politiker und Napoléon – Freund verfasst wurde. Zu der genannten Neuerscheinung: Ein Interview mit der Autorin, veröffentlicht von der „Fondation Napoléon“ : https://www.napoleon.org/magazine/interviews/marie-paule-raffaelli-pasquini-napoleon-et-jesus-avril-2021/

9.
Sein bürgerliches Gesetzbuch
Es mag ja sein, dass sich Napoléon für eine Art zweiten Christus gehalten hat oder der Nachwelt dies bloß einreden wollte. Tatsache ist aber auch, dass er ein Egomane, eine Gewaltherrscher war, ein Freund des Krieges und des Mordens. Dass er die Ideen der Freiheit verbreitete, zumal in Deutschland, ist eine Tatsache. Einige zentrale Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, hat er in Deutschland und Holland durchsetzen können aufgrund seines „Code civil“, des bürgerlichen Gesetzbuches, das 1804 in Frankreich in Kraft trat. Dieses Gesetzbuch enthielt bürgerliche Freiheitsrechte für männliche (!) Bürger, es sicherte die Gleichheit vor dem Gesetz, den Schutz des Privateigentums usw. Wegen dieser Haltung, der Vollendung der Ideale der Französischen Revolution, wurde Napoléon auch von G.W.F. Hegel geschätzt, selbst wenn er seine jugendliche Begeisterung für den französischen Herrscher im Alter bremste…

10.
Ein rassistischer Gewaltherrscher
Es ist eine Tragik in der Menschheitsgeschichte, dass einige richtige Ideen manchmal von Gewalttätern vertreten werden. Und es ist eine Schande, dass diese Herrscher nicht in der seelischen Reife leben, sich selbst, persönlich, an die propagierten Ideale zu halten. Dadurch werden die politischen strukturellen Beschädigungen nur fortgesetzt. Und es ist wohl auch, gelinde gesagt, hoch problematisch, wenn eine Nation, Frankreich, auch heute noch meint, sich immer noch in dem dunklen Glanz dieses Napoléon sonnen zu können. Äußerliche Größe des Autokraten wird als nationale Größe verstanden, was für ein Wahn. Die Debatten um die Dekolonisierung werden das rassistische Gesicht Napoléons deutlicher machen. Man wird die Menschen zum Beispiel in Haiti fragen, was sie vom brutalen Kolonialherren denkenn

11.
Wann verschwindet der Text der “Marseillaise”?
Die maßlosen Feierlichkeiten, gewundenen Festreden und offiziellen Erinnerungen (Ausstellungen) an den Autokraten Napoléon jetzt, die ebenso maßlose Begeisterung der vielen Napoléon Forscher und Napoléon Publizisten, allein in diesem Jahr werden mindestens 100 neue Bücher über ihn in Frankreich erscheinen, all das zeigt: Es gibt eine gewisse Erstarrung in der französischen Kultur. Es ist dieses Sich-Klammern an alten, falschen Glanz der angeblich großen Nation. Das deutlichste Beispiel dafür ist für mich immer noch die selbstverständliche Praxis, diese Nationalhymne, die “Marseillaise” auch mit dem unsäglichen Text heute noch zu singen bzw. zu schmettern. Warum nur sind alle Versuche selbst “prominenter” Leute gescheitert, diese Marseilaise mit diesem verrückten Text in den Kellern histoischer Museen verschwinden zu lassen? Darauf gibt es bisher keine Antwort. Es ist wohl diese Macht der Gewohnheit, die so verstörend, so gefährlich ist. LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Haiti: Der unerhörte Schrei nach Gerechtigkeit.

Über Arroganz und Gewalt der „hilfsbereiten“ Demokratien.

Ein Hinweis von Christian Modehn auf das wichtige Buch „Haitianische Renaissance“, geschrieben im April 2021.

1.
Es gibt seit mehr als einem Jahr eine absolute Fixierung auf Corona. Verständlich bei der Pandemie, aber verständlich bedeutet nicht immer auch verzeihlich. Denn die Menschen in Europa, können, falls sie den Titel Mit-Menschen ernst nehmen, niemals die Leiden vieler Millionen anderer Mit – Menschen im Süden dieser Welt ignorieren. Sie sind die Elenden und die vom Neoliberalismus Armgemachten. Wo herrscht der Neoliberalismus? Im Norden, bei uns…

2.
Haiti, das Land, in dem zum ersten Mal Sklaven der Kolonialmacht wirksam trotzten und 1804 den Titel Republik erlangten, wird immer wieder als trauriges Beispiel für die Unmöglichkeit von „Entwicklung“ erwähnt. Den herrschenden Führern dort ist das von Armut, Elend und Hunger bestimmte Leben ihrer „Mitbürger“, gelinde gesagt, egal. Und die westlichen Demokratien unterstützten und fördern diese politischen Führer, die man auch noch „Eliten“ nennt: Sie sind bestenfalls „Eliten der Korruption“. Der Westen predigt zwar „Demokratie und Menschenrechte für Haiti“, finanziert aber die korrupten Machthaber dort („demokratisch“ gewählt, oft bei einer Wahlbeteiligung von 22 Prozent … mit dem üblichen Wahlbetrug). Der jetzige Präsident Jovenel Moise klammert sich aus finanziellen Gründen absolut an die Macht, er ignoriert die Verfassung, regiert brutal, verfolgt die Opposition und so weiter. Die Unterdrückten aber stehen auf, bereiten den Aufstand vor, wird er zum demokratischen Umsturz führen? Viele hoffen es, wenige glauben es.
Jetzt, im April 2021, gibt es also Straßenschlachten. Steine und brennende Reifen blockieren die ohnehin kaum passierbaren Straßen, die Wut zumal der jungen Leute ist maßlos.

3.
In den üblichen Fernsehnachrichten „bei uns“ werden Bilder des Aufstandes in Port au Price, wenn überhaupt, maximal 40 Sekunden gezeigt. Keine Talkshow in Deutschland widmet sich dem Thema Haiti, dabei wäre dies doch mal eine provozierende „Abwechslung“, vielleicht sogar mit einer guten Einschaltquote, die doch am wichtigsten ist für alle Programm-Chefs… Aber: Haiti ist weit weg, behaupten die üblichen Ignoranten. Tatsache für die wenigen Wissenden ist: Europa und die USA sind tief in die innere politische, auch ökonomische Struktur Haitis eingedrungen, so dass diese erste Republik der Schwarzen wieder „unsere“ „europäische Kolonie“ geworden ist und uns insofern doch eigentlich sehr nahesteht.
Aber Deutschland, Europa, kapselt sich nationalistisch oder als EU ab. Es geht in der Öffentlichkeit hier fast nur um Corona, in Deutschland etwa auch noch um Laschet und Söder und Baerbock oder die Rückführung von Flüchtlingen nach Afghanistan und Syrien. Man könnte zugespitzt sagen: Die Deutschen beschäftigen sich, in den großen Medien sichtbar, fast nur noch mit sich selbst. Und um „ferne Länder“ nur dann, wenn wir mit ihnen jetzt unmittelbar ökonomisch, militärisch und außenpolitisch verbunden sind. Man könnte also von einem nationalistisch verengten Weltbild sprechen.

4.
Für Haiti heute gilt: “80 Prozent der Bevölkerung wollen nicht nur einen Regierungswechsel, sondern eine grundlegende Reform von Staat und Gesellschaft”, sagt der haitianische Wirtschaftsprofessor Alrich Nicolas von der Universität in Port-au-Prince den Lateinamerika Nachrichten. Und zahlreiche Schriftsteller stimmen dem zu, wie Evelyne Trouillot: Sie nennt die gegenwärtige Herrschaft verfassungsfeindlich, korrupt und repressiv, so in einem Beitrag für „Le Monde,“ Paris, am 15.3.2021. Dabei ist für die Gewalt der Einschüchterung durch das jeweilige Regime „gar nicht neu“, die Autorin erinnert an die blutige Herrschaft der Diktatoren Duvalier, Vater und Sohn. Die Arbeitslosenquote liegt bei70 Prozent und das Pro-Kopf Einkommen bei 350 US -Dollar. 3 Milliarden Dollar werden jährlich von Haitianern im Ausland (USA, Canada..) ins Land transferiert. Nur so können ihre Verwandten halbwegs noch überleben…Wo die 15 Milliarden Dollar Spenden und öffentlichen Gelder der USA und Europas nach dem Erdbeben 2010 geblieben sind, ist eher nur ahnbar: Die Gelder sind entweder gar nicht erst in Haiti angekommen oder sie flossen zurück zu den Reichen. Der hoch gepriesene geplante neue Freihafen Caracol wurde nie fertig gebaut, angeblich wurden dort 4 Milliarden Dollar verschleudert bzw. sie wanderten in die Taschen korrupter Bauunternehmer…

5.
Es gibt der ganzen Misere zum Trotz eine aktive Zivilgesellschaft vor allem junger HaitianerInnen, die für den Aufbau einer neuen demokratischen Regierung in einer demokratischen Kultur eintreten. Viel Beachtung verdient die hierzulande wohl völlig unbekannte Website junger AutorInnen und JournalistInnen, die regelmäßig auf https://ayibopost.com/ publizieren, in französischer Sprache und auch in der Landessprache Kreolisch. LINK
6.
Die reiche literarische Kraft und Energie haitianischer AutorInnen bietet (in deutscher Sprache) der Verlag „Litradukt Literaturverlag“ in Trier, der seit einigen Jahren zahlreiche Romane, auch Kriminalromane, und Essays aus Haiti hier zugänglich macht, zuletzt etwa den Roman „Sanfte Debakel“ von Yanik Lahens. Eine wunderbare Initiative! Es wird Zeit, dass die Literatur Haitis (wie die der anderen Länder der Karibik und Lateinamerikas) aus dem bescheidenen Nischendasein befreit wird. Das können nur LeserInnen tun, die sich bewusst für ihre große Horizonterweiterung einsetzen und die haitianischen AutorInnen lesen. Und auch fordern, dass Literatursendungen im Fernsehen, etwa das „Literarische Quartett“ oder „Druckfrisch“, nicht nur immer einen der neuesten Roman von Juli Zeh und so weiter vorstellen, sondern auch den von Yanik Lahens, Haiti. Dies ist ein Traum in einer europäischen Kultur, die sich so gern multikulturell nennt, aber extrem eurozentristisch bleibt.

7.
Jetzt bietet eine wichtige Neuerscheinung umfassenden Einblick in die politische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit Haitis heute. Das Buch von Katja Maurer und Andrea Pollmeier, beide mit Haiti und den engagierten HaitianerInnen bestens vertraut, hat den provozierenden Titel „Haitianische Renaissance“. Der Titel ist wohl auch als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen: Es waren die Sklaven, die sich einst, um 1800, von der Kolonialherrschaft befreiten, und grundlegend Neues, eine Republik, anstrebten. Vielleicht gelingt es den Unterdrückten Haitianern heute, unter anderen Bedingungen, wirkliche Befreiung von den neuen Kolonialherren zu vollbringen und eine Demokratie zu gestalten. Dies wäre dann die „Renaissance Haitis“.
Dabei steht fest, dass die heutigen europäischen und amerikanischen Kolonialherren nach außen hin vorwiegend als Helfer, als paternalistische Gönner und Spender, auftreten, die alles besser wissen als das haitianische Volk selbst. Auch um dieses Problem geht es in den verschiedenen Beiträgen des Buches. Über die außerordentliche Spendenbereitschaft anlässlich des Erdbebens 2010 mit mindestens 300.000 Toten und die großspurigen Hilfsprogramme der USA und Frankreich etwa wird kritisch berichtet. Das übliche System der Hilfe verstärkt eher den politischen Status Quo, meinen di Autorinnen, sie sprechen offen über die fatale Wirkung der UN – Präsenz in Haiti, also das Einschleppen der Cholera durch UN Soldaten ins Land und die Vergewaltigungen durch UN – Soldaten. Beide Tatsachen wurden nicht umfassend aufgeklärt bzw. bestraft.

8.
Sehr erhellend wird für viele der Beitrag von Andrea Pollmeier sein über die Schuldenfalle, in die Haiti von Anfang an als freie Republik getrieben wurde. Haiti hatte sich gerade von Frankreich befreit, da musste die Republik Reparationszahlungen dem einstigen Kolonialherren leisten, sozusagen als Preis dafür, dass nicht mehr die kolonialistische Ausbeutung fortbestand (S. 26).
Wichtig auch die Hinweise des Schriftstellers Gary Victor etwa über den Rassismus unter den Bürgern Haitis: Es geht um den Rassismus zwischen der zur Herrschaft gelangten minoritären „Mischlingen“ und der überwältigenden Mehrheit der Schwarzen als den Nachfahren der Sklaven: Sie waren es ja, die einst die Rebellion gegen die Kolonialherren und ihre Kollaborateure (also die Kreolen) begannen.

9.
Leider knapp gehalten sind die Hinweise auf die geistig-psychisch zerstörerische Rolle der evangelikalen Bewegungen, die aus den USA nach Haiti importiert wurden: „Diese Evangelikalen machen aus Menschen Zombies…Es gibt für sie nur ein Ziel: Alles, was mehr oder weniger authentisch ist, sogar die Religion, zu zerstören…“ (S. 57). Falls es eine 2. Auflage gibt, was ich mir wünsche, dann bitte mehr Informationen zum Thema, auch zur Rolle der katholischen Kirche als einer Staatskirche…

10.
Ein politisches Dokument von besonderem Wert ist der Beitrag von Ricardo Seitenfus, dem brasilianischen Sonderbeauftragten für die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS). Er arbeitete von 2009 bis 2011 in Haiti und erlebte unmittelbar, im Kreis von Diplomaten, wie die USA die Absetzung des Präsidenten René Préval zu betreiben versuchten. (137). Préval ist einer der wenigen demokratisch gesinnten und auch wohl handelnden Präsidenten Haitis gewesen. Sein Nachfolger wurde am 14. Mai 2011 Michel Martelly, bekannt u.a. als Sänger in Nachtclubs (https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Martelly). Seine Regierung war von Korruption bestimmt.
Ricardo Seitenfus hat wichtige Bücher über Haiti publiziert, zuletzt im Jahr 2020: „L echec de l aide internationale a Haiti“, ein ganz wichtiges Buch für alle, die Haiti besser verstehen wollen (https://www.amazon.com/-/de/dp/B089TRZNL6/ref=sr_1_1?dchild=1&qid=1619785558&refinements=p_27%3ARicardo+Seitenfus&s=books&sr=1-1&asin=B089TRZNL6&revisionId=&format=4&depth=1)

11.
Die seit Anbeginn belasteten Beziehungen zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik werden in „Haitianische Renaissance“ angesprochen. Angénor Brutus, Vorsitzender einer Organisation zur Unterstützung von Haitianern, die aus der Dominikanischen Republik vertrieben wurden, berichtet von den tiefsitzenden Vorurteile der Dominikaner gegenüber Haiti…Von rassistischen Gesetzen dort. Aber es gab auch eine große Hilfsbereitschaft der dominikanischen Bevölkerung zur Linderung der Erdbebenkatastrophe in Haiti 2010.Tatsache ist: Nach 2011 begannen dominikanische Politiker die Haitianer in der Dominikanischen Republik zu diskriminieren, zu verfolgen und außer Landes zu weisen. „Der Rassismus gegen Haitianer ist eher Teil des Machtkampfes unter dominikanischen Politikern. Darin ist er aber eine wirksame Waffe“ (156):

12.
Interessant und für viele LeserInnen sicher neu ist der Hinweis auf das Engagement des „US – American Jewish World Service“ auch in Haiti. Von einem weltweit agierenden progressiven jüdischen Hilfswerk EXPLIZIT für Nicht – Juden ist hierzulande eher wenig bekannt. Um so besser, dass man davon erfährt! Immerhin kommen einige Millionen Dollar Spenden jährlich zusammen…Der haitianische Aktivist Nixon Boumba berichtet über seine politische Zusammenarbeit mit dem amerikanisch – jüdischen Hilfswerk an der Basis (186) und nennt einmal mehr grundlegende Tatsachen: „Die Menschen in Haiti gehen auf die Straße, weil es keine Option für sie ist, so wie jetzt weiterzuleben (188). „Sieben Millionen Menschen in Haiti gehen keiner regelmäßigen Tätigkeit nach… Es gibt keine Bildung…“ (189). Die übliche hilfsbereite Arbeit der NGOs habe in Haiti keine Aussicht, den erforderlichen strukturellen Wandel zu bewirken. Jeglicher Paternalismus müssen überwunden werden.

13.
Schlimmes Beispiel für internationale, aber letztlich höchst unvollkommene „Hilfe“ nach dem Erdbeben ist die neu errichtete, aus dem Boden gestampfte Stadt „Canaan“ bei Port au Prince, einer Ansiedlung für 300.000 Menschen, die in Hütten und Häuschen untergebracht sind. Jegliche Infrastruktur fehlt, das Wasser ist knapp, die Privatschulen teuer, das dortige Gesundheitszentrum praktisch ohne Arzt usw… (Siehe auch: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/ueber-leichen-gehen-haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben-li.4583). Canaan wird die „hässliche große Narbe des Erdbebens“ genannt. Nur in den biblischen Mythen von „Canaan“ floss Milch und Honig, im realen haitianischen Canaan herrschen Not und Elend. (vgl. auch: https://www.welthungerhilfe.de/welternaehrung/rubriken/krisen-humanitaere-hilfe/haiti-zehn-jahre-nach-dem-beben/canaan

14.
Es gibt in ganz Haiti für 11 Millionen Einwohner 3.354 Ärzte (Quelle:https://lenouvelliste.com/article/196624/3-354-medecins-pour-desservir-plus-de-10-millions-dhabitants).
Kuba, das so „furchtbare“ sozialistische Land, hat ebenfalls 11 Millionen Einwohner und verfügt über 95.000 (!) ÄrztInnen; Deutschland mit 83 Millionen Einwohnern hat 402.000 ÄrztInnen.

15.
Über die Bedeutung der vielfältigen religiösen Traditionen wird in dem Buch „Haitianische Renaissance“ leider viel zu wenig berichtet. Welche Rolle spielte Voodoo als Impuls für den Sklavenaufstand? Auch über die Bedeutung des Voodoo heute hätte man gern viel mehr erfahren. Und man auch hätte gern gewusst, ob wenigstens einige der offenbar in den USA oder in Canada erfolgreichen Haitianer bereit sind, tatsächlich in ihr Land zurückzukehren, nicht um Präsidenten zu werden, sondern um den demokratischen „Aufbau“ zu unterstützen.

16.
Haiti, das Land der Elenden UND der Menschen des Widerstandes, bleibt eine ständige Herausforderung, auch für Europa. Gewöhnen wir uns an die Misere dort? Solidarisieren wir uns mit den Menschen des demokratischen Widerstandes dort? Haben wir die Energie, uns für unsere Mitmenschen, etwa in Haiti, genauso zu interessieren wie für die Themen und Leute, die uns hier ständig auf dem Bildschirm begegnen und uns einreden, sie seien wichtig. Wir brauchen die Weitung unseres Blickes, unseres Interesses, unserer Solidarität. Das muss nicht immer Haiti sein, das kann auch Honduras, Jemen, Sudan, Niger, Philippinen und so weiter sein

17.
Zum Schluss ein längeres Zitat von einer der Herausgeberinnen des Buches „Haitianische Renaissance“: Katja Maurer schreibt in „Medico International“ im Jahr 2020 (Quelle: https://www.medico.de/blog/reparatur-durch-reparationen-17821)
„Über hundert Jahre lang zahlten die Haitianer*innen an Frankreich Entschädigungen für den entgangenen Gewinn aus Sklavenarbeit. Dem französischen Ökonomen Thomas Piketty zufolge etwa 30 Milliarden Euro, exklusive der bezahlten Zinsen. Piketty forderte daher kürzlich, dass die unrechtmäßig verlangten Gelder an Haiti zurückgezahlt werden. Auch von den Hereros aus Namibia gibt es an Deutschland gerichtete Entschädigungsforderungen, die bislang brüsk abgewiesen wurden. Es ist an der Zeit, eine Kampagne für Entschädigungen und Rückgabe etwa der geraubten Kulturgüter ins Leben zu rufen. Den Erklärungen gegen Rassismus müssen Taten folgen, sollen sie nicht nur wohlfeil sein. Europa muss Verantwortung für seine koloniale Geschichte übernehmen. Das hätte tiefgreifende Folgen, nicht zuletzt für unsere imperiale Lebensweise. Aber es wäre eine Reparatur, die auch uns selbst heilt“.
Katja Maurer, Andrea Pollmeier, „Haitianische Renaissance. Der lange Kampf um postkoloniale Emanzipation“. Brandes und Apsel Verlag, 2020, 226 Seiten, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.