Niedergang der Demokratie in Österreich. Ein Buch von Robert Misik

Über ein neues Buch von Robert Misik, Wien
Ein Hinweis von Christian Modehn, zuerst veröffentlicht im April 2019, erneut publiziert am 19.5.2019.

In Österreich wird es Neuwahlen geben, nachdem die faschistoiden Äußerungen von Hans-Christian Strache FPÖ, bis zum 18.5.2019 Außenminister Österreichs, bekannt wurden, etwa zur Überwindung der Pressefreiheit und zum Aufbau eines antidemokratischen Systems im Sinne Orbans. Aus diesem Anlass ein erneuter Hinweis auf das neue Buch von Robert Misik, Wien.

Der neue rechte bzw. rechtsextreme Populismus in Europa hat sich früher als anderswo in Österreich öffentlich bemerkbar gemacht, etwa, als die FPÖ schon im Januar 1993 ein „Ausländervolksbegehren“ mit dem Titel „Österreich zuerst“ startete. Mit geringem Erfolg anfangs, aber bei den Nationalratswahlen 1994 stimmten mehr als eine Million Österreicher dann doch für die FPÖ. Österreich ist seitdem ein Staat mit einer starken rechtsextremen Partei geblieben. Bei den Wahlen 2017 erhielt die FPÖ 26% aller Stimmen. Sie ist in der Regierung vertreten, unter Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP), und erhielt 6 von 14 Ministerien, darunter das Innenministerium.
„Österreich zuerst“: Diese Forderung ist heute politisches Prinzip zumal in der Ausländer und Flüchtlingspolitik; es wird – in der werbenden Selbstdarstellung – in den gefälligen Slogan „Genussland Österreich“ übersetzt: Allerorten und in allen Zusammenhängen wird mit „Genuss“ geworben für das, nun ja, von der Natur her tatsächlich meist schöne und von der Kultur her oft interessante Österreich. Nur soll dieses (gastronomisch gemeinte) „Genussland Österreich“nicht allen dort lebenden Menschen zur Verfügung stehen, schon gar nicht den Flüchtlingen, den Asylanten, den Muslims oder gar den Armen, die in der Polemik der FPÖ und der ÖVP jetzt nur als „Nutznießer des Sozialsystems“ verstanden und auch öffentlich so bezeichnet werden.
Wer sich für den aktuellen Zustand des Genusslandes „Österreich First“ interessiert, sollte zu dem neuen, wichtigen Buch des Publizisten und bekannten Buchautors Robert Misik greifen: „Herrschaft der Niedertracht. Warum wir so nicht regiert werden wollen“ ist der Titel seiner von ihm selbst so bezeichneten „Streitschrift“, die wie ein Aufschrei wirkt angesichts der Zerstörung demokratischer Kultur durch die jetzigen populistischen Regierungen in Europa, zumal in Österreich. Ein Buch, das den Willen stärken sollte, die Demokratie und die Menschenrechte zu retten in unserem Europa.
Aber was jetzt an Zerstörung der humanen demokratischen Umgangsformen beschrieben wird, ist mehr als ein österreichisches Problem. Es ist ein europäisches Problem! Und das macht Misiks Buch deutlich: Erschienen ist das sehr inspirierende Buch Anfang 2019 im Picus Verlag in Wien. Es hat 143 Seiten und kostet 15 Euro!
Robert Misik ist als Journalist in Wien u.a. für die Wochenzeitung „Falter“, die Tageszeitung „Standard“, das Magazin „Profil“ und die deutsche TAZ tätig, er hat zahlreiche Bücher, auch zur Religionskritik, veröffentlicht.
Zentral ist seine Erkenntnis: In Österreich wird mit aller Bravour eine „konservative Revolution“ betrieben, die letztlich auf einen Umbau der bisherigen demokratischen Verhältnisse hinausläuft: Der Titel „konservative Revolution“ wird heute in allen europäischen Ländern prominent unterstützt: In Deutschland hat sich der Chef der CSU im Bundestag Alexander Dobrindt ausdrücklich für diese „konservative Revolution der Bürger“ ausgesprochen. Der Titel erinnert an die Propaganda rechter Philosophen und Autoren in den neunzehnhundertdreißiger Jahren, wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger. Nach der konservativen Revolution setzte sich der Faschismus durch…

Die erste Hälfte des Buches von Robert Misik ist stark auf Österreich bezogen, was ja kein Nachteil ist für deutsche Leser, die etwa als Touristen immer wieder mit dem „Genussland“ konfrontiert sind. Misik spricht eine deutliche Sprache: Nur einige Zitate:
„Österreich hat jetzt eine national autoritäre Regierung“ (28). „Die Regierung will, dass „die Opposition nicht opponieren sollte“.
„Opposition und Zivilgesellschaft sollen nicht mehr aufmucken“ (20).
Die Sprache der führenden verantwortlichen Regierungspolitiker sei von „Rohheit“ bestimmt, „der Zynismus ist an der Macht“ (27). Der Kanzler Sebastian Kurz „ist das Geschöpf einer Zeit, in der die Welt als Kampf aller gegen alle empfunden wird und noch der hilfsbedürftigste arme Schlucker als Konkurrent um knapper werdende Ressourcen gilt – und dies in einer Welt, in der Solidarität, das schlicht Humanitäre, die leise Stimme der Vernunft und Rationalität, aber auch ein Geist des Fortschritts einen schweren Stand hat (51).
In dieser Situation des Kampfes aller gegen alle entsteht die „Sehnsucht danach, dass Gewalt ausbreche,… dass das Elementare einbreche in die Langeweile des Systems…Von dieser Sehnsucht lebt der radikale rechte Neokonservatismus seit jeher“ (81). Explizit werden diese Untergangswünsche und Visionen etwa von dem Katholiken Steve Bannon (USA, mit Einfluss auf Europas Rechtsextreme) propagiert. Jetzt geht es, so schreibt Misik in seinem neuen Buch, diesen Leuten erst einmal darum, die demokratischen Strukturen langsam zu zersetzen; kritische Publizistik, auch in Österreich, wird marginalisiert und mundtot gemacht (76), kritische NGOs werden dort finanziell ausgetrocknet, den Kirchen und ihrer Caritas/Diakonie wird eine übertriebene „Hypermoral“ vorgeworfen, weil sie „Asylbusiness“ (was für ein Unwort der Politiker) betreiben….(131). Politiker in Österreich entwickeln, so Misik, ihre eigenen „Fake-News-Schleudern“ (ebd.).
Es geht letztlich darum, die Demokratie „mit kleinen Schritten in eine wackelige Fassade ihrer selbst zu verwandeln“ (77).Misik zitiert den Schriftsteller Peter Turrini, der bezogen auf Österreich von „einem Staatstreich in Zeitlupe“ spricht (28).
Diese Aussagen versteht Robert Misik als Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes. Dabei klagt er die Führer und Ideologen der rechtsextremen Politiker an, nicht aber pauschal viele der irritierten Wähler der FPÖ oder auch der AFD: Zu den AFD Wählern zitiert Misik eine Studie, die zeigt: Viele dieser AFD Sympathisanten sind, so empirische Studien (103), beklagen den Verlust von sozialen Netzwerken in ihrer Lebenswelt, beklagen, dass sich die Politik aus ihren Vierteln zurückgezogen hat, dass sie as Gefühl haben: niemand interessiert sich mehr für sie“(104). „Nicht dass Migranten geholfen wird, regt die Leute, Wähler der AFD, primär auf, sondern dass sie das Gefühl haben, dass ihnen niemand zuhört, dass sich für sie niemand interessiert, dass da niemand ist, der in der Nähe erreichbar wäre“ (ebd.) Dies ist der „psycho-politische Gefühlscocktail“, so Misik sehr treffend (104).
Der Autor will keineswegs das allgemeine Wehklagen der Demokraten befördern, er will mit seiner heftigen Analyse Mut machen, die Demokratie, die Menschenrechte, die Menschenwürde, noch zu retten, TROTZ aller FPÖ Politiker und Orbans und erzkatholischen Populisten(Nationalisten) in Polen usw. „Haltet euch mit Empörung nicht zurück“, fordert Robert Misik (142). Und er zitiert zum Schluss Robert „Bobby“ Kennedy: “Jedes mal, wenn ein Mensch für ein demokratisches Ideal eintritt oder handelt, um das Los anderer zu verbessern oder gegen Ungerechtigkeit aufsteht, sendet er eine winzige Welle der Hoffnung aus, die sich wiederum mit vielen Millionen anderer Energien und Kühnheiten kreuzt. Und zusammen bauen diese kleine Wellen eine Woge auf, die die mächtigsten Mauern der Unterdrückung hinwegspülen“. (Nebenbei: Man könnte, religionsphilosophisch, in diesen Worten einen guten Ansatz sehen für ein Verständnis von „Auferstehung“ zu Ostern). Wer noch konkretere Formen des vernünftigen demokratischen Widerstands gegen den rechtsextremen Populismus wünscht, lese die Zeilen, die der Autor von dem Sozialexperten der evangelischen Diakonie in Wien, Martin Schenk, übernimmt (135f).
Überhaupt hätte ich mir gewünscht, dass die Stellung der Kirchen, auch der offiziellen Kirchenleitungen, gegenüber der „Herrschaft der Niedertracht“ aussehen. Gibt es Pfarrer und Bischöfe, die noch zur FPÖ halten? Bischof Krenn, St. Pölten, gestorben 2014, war ja ein Freund von Jörg Haider FPÖ… Und wie lebt die jüdische Gemeinschaft in Österreich, wie fühlen sich Muslime fühlen in dieser Angst erzeugenden Situation…

PS: Das Buch wurde geschrieben, bevor einmal mehr deutlich wurde, wie stark die internationalen Verflechtungen der „Identitären“ in Österreich sind. Diese militante Gruppe ist bekanntlich mit der FPÖ eng verbunden. Kanzler Kurz wurde in dem Zusammenhang nun einmal sehr emotional, als er die nun bekannt gewordene finanzielle Unterstützung zugunsten der österreichischen „Identitären“ durch den Massenmörder in Neuseeland (Christchurch, Mitte März 2019) „abscheulich“ fand. Ob es nun zum Koalitionsbruch mit der FPÖ (und der in ihr starken auf Identität eingeschworenen Gruppen) kommen wird, ist wohl eher unwahrscheinlich. Es wird wohl alles nur eine scheinbare Aufregung sein, die bald wieder vergessen wird, weil die brutale Abwehr der Flüchtlinge im Mittelmeer dieser populistischen Regierung z.B. viel dringender erscheint …

Robert Misik, „Herrschaft der Niedertracht. Warum wir so nicht regiert werden wollen“, 2019, Picus Verlag Wien, 15 Euro.

Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Hässliches Sehen. Ein neues Buch der Philosophin Bettina Stangneth

Ein Hinweis von Christian Modehn

Bettina Stangneth, inzwischen weltweit bekannte Philosophin und Historikerin in Hamburg und Interpretin der (religionsphilosophischen) Werke Immanuel Kants, hat ein eher knappes Buch mit dem Titel „HÄSSLICHES SEHEN“ vorgelegt. Es fällt mit 142 Seiten viel kürzer aus als ihre früheren Bücher über das Lügen und das Böse. Wobei die Autorin in ihrem neuesten Buch pragmatisch gesteht: “Dass sich das Böse, die Lüge und das Hässliche leichter an den Leser bringen lässt als das Gute, Wahre und Schöne … habe ich erst durch die Praxis gelernt“ (S. 142). Dies wäre ein Thema, ob sich ein Philosoph diesem Trend anpassen sollte, um wahrgenommen zu werden. Ich bezweifle das.
Was mir mehr Mühe bereitet ist der irgendwie zwiespältige Titel: HÄSSLICHES SEHEN. Im Buchumschlag selbst sind beide Begriffe immer groß gedruckt, so dass man zuerst erwartet, dass tatsächlich „Objekte“ mit Hässliches gemeint sind. Aber auf Seite 75 wurde ich irritiert, weil da „hässlich“ offenbar als Qualität des Sehens selbst gemeint ist. „Wer moralisch zu bessern versucht, indem er die Menschen das hässliche („hässliche“ klein geschrieben, CM) Sehen lehrt, erteilt die Lizenz zu hassen…“ Wie kann das Sehen selbst hässlich sein? So eine Art böser Blick? Etwas „Verhextes“ im Blick selbst? Aber kann man diese hässliche Qualität des Sehens „lehren“? Oder liegt da ein Druckfehler vor? Offenbar nicht. Denn „hässliches Sehen“ (hässlich wieder klein geschrieben) kommt auf Seite 66 noch einmal vor.
Mühe macht vor allem die erwartete eher stringente Argumentation zum Thema; alles ist dicht geschrieben, konzentriert, über einzelne schöne (!) Sätze könnte man lange meditieren. Aber es sind meines Erachtens eher 14 in sich stehende Essays in dem Buch enthalten, die das Denken der Philosophin selbst in einer gewissen Unmittelbarkeit des Ringens zeigen. Das ist schon interessant. Aber das Thema Hässliches Sehen (oder auch das hässliche Sehen) erschließt sich nicht unmittelbar überall, so sehr auch manche Reflexionen zur Erkenntnistheorie, zur Verteidigung der Aufklärungsphilosophie im Sinne Kants, zu Fragen der Identität irgendwie damit zu tun haben.
Oft ist auch vom „dialogischen Denken“ die Rede. Aber Dialoge im unmittelbaren Sinne mit mehreren gleichberechtigten Gesprächspartnern kommen jedenfalls nicht vor; gemeint ist mit „dialogisch“ wohl der innere Dialog der Philosophierenden selbst.
Aber warum ist die Beschäftigung mit dem Sehen des Hässlichen denn so wichtig, um es einmal bei dieser Objektbezogenen Eingrenzung des „Hässlichen“ zu belassen. Damit wir im Angesicht des Hässlichen aus der so einfachen und so schnellen Haltung der aufgespreizten, wichtigtuerischen und egozentrischen Empörung herauskommen. Und warum ist diese Empörungs-Haltung so falsch? Sie bleibt äußerlich, meint Bettina Stagneth, führt nicht zur kritischen Selbstreflexion und damit zur menschlichen Reife, sage ich in meinen Worten.
Aber ist das wirklich immer so? Waren denn die erfolgreichen Plädoyers von Stephane Hessel für die Empörung so unsinnig? Haben sie nicht viele tausend Empörte, Indignados in Spanien usw., vereint? Natürlich sind auch AFD Leute und andere Unvernünftige empört. Also gibt es treffende, nach vorne weisende Empörung zugunsten besserer Demokratie und eben auch reaktionäre Empörung zur Abschaffung der Demokratie. Irgendwie hätte ich in dem Buch mehr Konkretes, Politisches, gewünscht. Der Text ist eben zu kurz! Zu schnell? Ist denn die Einschätzung von etwas als Hässlichem so eindeutig? Sind die Kunst – Objekte von Joseph Beuys etwa nicht bewusst etwas Hässliches, aber gerade darin eben erstaunliche Kunst?
Gewiss, viele einzelne Hinweise von Bettina Stagneth geben zu denken, etwa der Kult um Vorbilder, die Sehnsucht nach Helden. Aber das sind nicht hässliche Gestalten. Und: Aber warum sehen so viele Menschen gern und so oft objektiv Grausames, also Hässliches, also Mord und Krieg und Waffen und Gemetzel? Ich hätte gern nachvollziehbar gelesen, ob der Anblick von ca. 100 Leichen pro Fernsehabend in der Distanz des Zuschauers als abstoßend, als so Hässliches, erlebt werden, dass man sich dann ekelerregt hochherzig dem Guten und Schönen zuwendet? Oder stärken diese ca. 100 Leichen pro Fernsehabend, trotz schauspielerischer Glanzleitungen manchmal, auch den Trend, sich selbst auf den Weg des Hässlichen zu begeben, weil ja da Hässliches und Böses in eins fallen. Hat das internalisierte Hässliche, also das hässliche Ästhetische, die Kraft, ins Böse, ins Böses-Tun, umzuschlagen? Wenn ich etwa bei google den Suchbegriff „Mord nach einem Vorbild im Fernsehen“ eingebe, erhalte ich am 14.5.2019 1.060.000 Ergebnisse, u.a auch zu „Columbine“ ! Indem die ja wohl manchmal hübsch anzusehenden Waffen tatsächlich nach Mord und Totschlag als hässlich gedeutet werden, weil mörderisch, kippt das Ästhetische ins Moralische, ins Böse, um.
Interessant, dass die Religionsphilosophin Stangneth auch ganz knappe Hinweise bietet zum Kreuz Jesu, an dem sich ein „allein gelassener Mann … unter Schmerzen windet“ (S. 100). Wie können fromme Christen solch ein hässliches Bild wertvoll finden, fragt Bettina Stangneth? Die Antwort ist: Weil diese gebildeten Frommen die ganze Lebensgeschichte dieses Jesus von Nazareth kennen und wissen, dass er wegen seiner radikalen Menschenfreundlichkeit umgebracht, ans Kreuz gehängt wurde. Sie sehen also im Gekreuzigten den ganzen historischen Menschen. Übrigens haben die ersten Christen das Kreuz als Symbol für Jesus gar nicht gekannt, sie verwendeten eher das Symbol des Fisches, ICHTHYS auf Griechisch, aber das ist ein anderes Thema. Der sehr originelle Salzburger Theologe Gottfried Bachl ist übrigens einer der wenigen, die sich mit dem Thema „der hässliche Jesu“ explizit auseinandersetzten, in seinem lesenwerten Buch „Der schwierige Jesus“ (Tyrolia Verlag, 1966, dort S. 77 ff.)
So eröffnet das Buch „Hässliches Sehen“ viele weitere Fragen, die einer ausführlicheren Reflexion noch bedürfen. Aber ist das nicht schon ein schönes Prädikat für ein philosophierendes Buch?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Für eine demokratische, republikanische Kirche: Erinnerungen an Abbé Grégoire

Hinweise von Christian Modehn
Erinnerungen an einen ungewöhnlichen Priester: Er war als Politiker aktiv seit dem Beginn der Französischen Revolution und ein glühender Verteidiger der humanen Werte der Revolution: Sein Name Abbé Grégoire. In Deutschland sollten wir mehr von ihm wissen: Als Ausnahmegestalt eines demokratischen organisierten Katholizismus, der aber diese Kirche, als Hort des Konservativen und damals heftig Reaktionären, nicht verändern konnte. Aber er hatte doch Erfolge, als Verteidiger der Menschenrechte, vor allem auch zugunsten der Juden und der „Schwarzen“ in den Kolonien.

Der katholische Priester Abbé Grégoire heißt mit vollständigem Namen Henri Jean-Baptiste Grégoire. Er war der berühmte „Priester-Bürger“, „citoyen par excellence“, schreibt der Historiker Bernard Plongeron (Concilium, 1969, Heft 1, Seite 31, französische Ausgabe).
Abbé Grégoire ist eine Ausnahme – Gestalt in dem damaligen antirepublikanischen, antidemokratischen und reaktionären Katholizismus, repräsentiert im Vatikan. Aber er hat dafür gesorgt, dass sich mindestens für ein paar Jahre die Ideen des katholischen Glaubens mit den richtigen Ideen der Französischen Revolution versöhnen konnten. Er ist die entscheidende Gestalt unter den Abgeordneten des revolutionären Parlaments, der die rechtliche Gleichberechtigung der Juden durchsetzte sowie auch die Abschaffung der Sklaverei. Die Bevölkerung der Republik Haiti, die erste unabhängige Republik in den damaligen südamerikanischen Kolonien, hat ihn hoch verehrt! Und bei seinem Tod 1831 mehrere Tage eine Staatstrauer begangen.
Er hat für die Eingliederung des katholischen Klerus in die Verfassung der Republik gestimmt („Constitution civile du Clergé“): „Alle Bischöfe und Pfarrer müssen von nun an von den Bürgern gewählt werden“. Der Papst wurde dann lediglich von der Wahl benachrichtigt. Alle Priester sollten – wie er auch es ganz entschieden tat – auf die Verfassung der Republik schwören. Seit der Zeit ist der französische Klerus der Revolutionsepoche gespalten, republikanisch oder königstreu und dem Papst absolut ergeben. Abbé Gregoire hat niemals darauf verzichtet, an dieser Konzeption einer Art „nationalen“, also weithin von Rom unabhängigen katholischen Kirche festzuhalten. Deswegen hatte der Erzbischof von Paris auch verboten, dass ein Priester ihn in seinen letzten Stunden besucht, der Erzbischof hatte sogar eine kirchliche Bestattung verboten.
Geboren wurde Grégoire am 4. Dezember 1750 in Vého bei Luneville in Lothringen, einer Region, in der sich unterschiedliche philosophische und aufklärerische Bewegungen versammelten. Er war zuerst Pfarrer und Theologe, bevor er als Abgeordneter ins Pariser Parlament kam. Als Dorfpfarrer setzte er sich entschieden für die Bildung der Bauern ein, er stellte seine private Bibliothek allen Interessierten zur Verfügung, er hat entschieden gegen den „Obskuratismus“ gekämpft, also gegen die übliche Mischung von Glauben und Aberglauben unter Katholiken. Er sprach drei Fremdsprachen, auch etwas Deutsch. Seine befreundeten Rabbiner empfahlen ihm die Lektüre philosophischer, aufklärerischer Zeitschriften in Berlin.
In seinen Lebenserinnerungen („Mémoires“) schreibt Abbé Grégoire: „Nachdem ich die Zweifel förmlich verschlungen hatte durch die Lektüre so genannter philosophischer Werke, habe ich alles neu geprüft und bin nun Katholik, nicht etwa, weil meine Eltern katholisch waren, sondern weil mich die Vernunft, unterstützt von der göttlichen Gnade, zur Offenbarung (der Bibel) geführt hat“.
Viele theologischen Impulse bezog er auch aus dem Studium der alten, der ursprünglichen Kirche („ecclesia antiquior“). Er verfasste zahlreiche politische und theologische Studien, 427 Titel von ihm sind bis jetzt zusammengetragen und tausende von Briefen: Ein Intellektueller und ein Verteidiger der Menschenrechte, und das alles ab 1789, zu einer Zeit, als die Päpste die Menschenrechte und die Freiheit verfluchten. Abbé Grégoire ließ sich nicht unterkriegen. Dabei hatte er gar nichts gegen die Dogmen der Kirche, er wollte nur die menschlichen Verhältnisse in Staat und Kirche grundlegend durch vernünftige Gesetze verbessern.
Er fand es normal, dass man katholische Bischöfe wählte: Er selbst wurde etwa zum Bischof von Blois gewählt. Er setzte es durch, dass Französisch die Sprache in katholischen Messen wurde; er organisierte Synoden als Orte des freien katholischen Disputs. Er setzte sich für eine Versöhnung der römischen mit der orthodoxen Kirche ein.
Natürlich, möchte man sagen, wurde dies alles vom Vatikan verboten, untersagt, zerschlagen. Die zerstörerische Kraft alles Lebendigen und Neuen war im Vatikan immer schon sehr groß. Aber Abbé Grégorie ließ sich nicht in die Verzweiflung treiben, er kämpfte für die Menschenrechte, für die Befreiung der “Schwarzen“. Michelet sagte von ihm: „Abbé Grégoire hat zwei Gottheiten gehabt, Christus und die Demokratie. Beide vermischten sich seiner Meinung nach zu einer einzigen Überzeugung, denn beide haben dasselbe Ideal, die Gleichheit und die Brüderlichkeit“ (Histoire et dictionnaire de la Révolution Francaise, Robert Laffont, 1987, Seit 860)
1950, zum 200. Gedenken an die Geburt dieses freien, republikanischen Priesters, Bischofs und Politikers war es ausgerechnet der vietnamesische Politiker Ho-chi-Minh, der seiner gedachte: Er nannte ihn einen „Apostel der Freiheit der Völker“.
Am 28. Mai 1831 ist Abbé Grégoire in Paris verstorben. An seiner Bestattung auf dem Friedhof Montparnasse, Paris, nahmen 2.000 Studenten und Arbeiter teil, berichtet Bernard Plongeron (ebd., S. 43).
Ein der Hierarchie gegenüber kritischer Priester (Abbé Guillon) war dann noch bereit, eine kirchliche Bestattung zu feiern.
1989, im Rahmen der Feiern „200 Jahre Französische Revolution“, erhielt dieser republikanische, demokratische Priester endlich ein Ehrengrab im berühmten Pariser Panthéon. Die französischen Bischöfe, immer noch im Zorn auf ihren großen republikanisch-katholischen Vorgänger, nahmen selbstverständlich NICHT an den Feiern im Panthéon teil. Lediglich der progressive Außenseiter unter den Bischöfen damals, Jacques Gaillot, Bischof von Evreux, war – für Gaillot selbstverständlich – bei den von Staatspräsident Francois Mitterrand geleiteten Zeremonien im Panthéon dabei.
Es wird Zeit, in Deutschland umfassender an Abbé Grégoire zu erinnern. Leider sind seine Werke in deutscher Sprache nicht verfügbar. In Frankreich gibt es förmlich einen Boom an Grégoire – Forschung, siehe etwa die entsprechende französische website von wikipedia.
Ich finde diesen Mangel an deutschsprachigen Büchern über Abbé Gregoire in gewisser Weise typisch: Wie viele Bücher wurden in den frommen Verlagen über die Karmeliter-Nonne Theresia vom Kinde Jesu in Lisieux oder über den angeblichen Mystiker, den Pfarrer von Ars publiziert? Und eben nicht über einen revolutionären, republikanischen Priester und Bischof, einen Kämpfer für die Menschenrechte und eine demokratisch verfasste Kirche!

Es gibt ein kleines Abbé Grégoire Museum in Emberménil, Département Meurthe-et-Moselle, in der Region Grand Est.
https://musee-abbe-gregoire.fr/un-musee

Über „Haiti und Abbé Grégoire“ gibt es etliche differenzierende Studien, etwa: https://www.persee.fr/doc/outre_0300-9513_2000_num_87_328_3804

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Be

Misstrauen – Vom Wert eines so genannten Unwertes

Ein Religionsphilosophischer Salon am 3.5.2019
Hinweise zur Einführung von Christian Modehn

Ich beziehe mich auch auf einige Vorschläge und Einsichten, die Florian Mühlfried in seinem Buch „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ (Reclam, 2019) nennt.

Es geht also um die Erkenntnis: Misstrauen ist in gewisser Hinsicht (!) ein Wert. Und Vertrauen ist in gewisser Hinsicht (!) ein Unwert. Die strikte Trennung, das absolute Gegeneinander von Misstrauen und Vertrauen, ist philosophisch also Unsinn: Tugenden können Laster sein und umgekehrt. Darauf hat etwa der Philosoph Martin Seel in seinem Buch „111 Tugenden – 111 Laster“ (Frankfurt 2011) hingewiesen.
1.
Misstrauen steht begrifflich nahe zur Skepsis. Sie ist meist identisch mit einer Haltung, einer ziemlich umfassenden Lebensform, dem Skeptizismus.
Dieser Skeptizismus als Lebensform, (beschrieben von Sextus Empiricus, bezogen auch auf Pyrrhon) lehrt: Der Mensch sollte sich aller Urteile enthalten, denn alle Dinge und alle Erkenntnisse sind gleichwertig. Keine Bevorzugung für angeblich Wahres und Falsches. Diese Haltung wird praktiziert, um zur individuellen Seelenruhe als dem Ziel des menschlichen Lebens zu kommen. Die Haltung, die dahin führt, ist das ständige Fragen, besonders das Zweifeln an allem.
Skepsis ist aber in sich widersprüchlich: Denn Skepsis wird vom Skeptiker als Wahrheit empfunden, also bevorzugt. Und: Allen Dingen kann der Skeptiker auch nicht gleichgültig gegenüberstehen: Etwa dem eigenen Schmerz. Als Ausweg kann man Skepsis als eine private Überzeugung gelten lassen, wie dies Montaigne tat.
Skepsis und Zweifeln als Aktivität des Geistes sind eng verbunden. Methodisches Zweifeln in der Wissenschaft soll gerade zu sicherer Erkenntnis führen, wenigstens vorübergehend.
Misstrauen ist mehr emotional strukturiert. Zweifeln mehr intellektuell.
2.
„Misstrauen“, darauf weist Florian Mühlfried zurecht nachdrücklich hin, ist ein politisch aktuelles Thema: Ich konkretisiere diese Einsicht: Etwa jetzt im Umfeld der Europa Wahlen im Mai 2019, wo von den Populisten so viel Unwahres, so viele Fakes, verbreitet werden, dass eine tiefe Irritation erzeugt werden soll unter den Bürgern. Bestimmte extrem rechte Parteien, wie die AFD, fordern z.B. die Schüler auf, misstrauisch gegen ihre Lehrer zu sein und bei „linken“ Äußerungen der Lehrer diese anzuzeigen. Die FPÖ will die Pressefreiheit behindern (siehe den Kampf um die Pressefreiheit im ORF).
Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und Werten wird von populistischen Parteien verbreitet. Damit wird das Vertrauen als Basis des Miteinanders erschüttert. Lügen sind nicht nur auf den engeren intellektuellen Bereich bezogen; sie haben eine globale zerstörerische Kraft. Dies will Mister Trump. Und den Bürgern gelingt es bis jetzt nicht, dieser Herrschaft ein Ende zu setzen… Wie kann Demokratie so schwach sein???
Das Paradoxe ist ja heute: Demokraten müssen ebenfalls Misstrauen entwickeln gegenüber gewählten Politikern, etwa Trump, Orban, FPÖ Leuten, Polnischen Herrschern, etc, die ebenfalls Misstrauen verbreiten als ihre politische Strategie zur Zerstörung von Demokratie. Der Unterschied ist: Diese genannten Politiker wollen eine ganze andere politische Ordnung, letztlich außerhalb der Menschenrechte. Die misstrauischen Bürger hingegen kämpfen um eine bessere Gestalt der Demokratie und der Geltung der Menschenrechte.
Wir wollen mit unserem Misstrauen, unserer Skepsis, unserer Pflege der unabhängigen Medien etc., die Menschenrechte weiter beleben und die liberale und soziale Demokratie.
Ohne Misstrauen kann keine Demokratie bestehen. Die Politiker sollten froh sein, wenn misstrauische Bürger ihnen beim „Politikersein“ zusehen und Einspruch erheben, Widerstand leisten. Nur das ist Demokratie. Am schlimmsten wird es, wenn die Opposition erlahmt, schweigt oder gar von der Regierung, wie der FPÖ in Österreich, letztlich als überflüssig betrachtet wird. Das ist das Ende einer noch so bescheiden gewordenen Demokratie.
Schlimm sind die Regime, die keine institutionelle Opposition zulassen. Und darauf noch stolz sind. Man denke an den Vatikan, der stolz darauf ist, keine (!) Demokratie mit der umfassenden Geltung der Menschenrechte zu sein. Hans Küng nannte dieses Regime treffend „Diktatur“.
3.
Florian Mühlfried versteht Misstrauen als aktive Tätigkeit: Weil man in seinen Planungen nicht automatisch mit einem guten Ende rechnet, denkt man auch ein Scheitern, überlegt also Alternativen. Misstrauen hat also sehr viel mit Zukunftsplanung zu tun.
Misstrauen löst Handlungen aus. Misstrauen kostet etwas, kostet Nerven und Geld.
Diplomaten sind Menschen, die einander mit Misstrauen und skeptischer Vorsicht begegnen. Nur selten gelingen „vertrauensbildende Maßnahmen“ der politischen Feinde.
Das diplomatische Taktieren, immer wieder bloß die halbe Wahrheit sagen, hat sich wohl auch in die persönlichen Umgangsformen „eingeschlichen“: Sind wir im Miteinander der Gemeinschaften und Gesellschaft längst nur noch diplomatisch-misstrauische „Bekannte“ und diplomatisch sich benehmende „Freunde“ und „Verwandte“ geworden? Kann also Misstrauen auch das gesellschaftliche Miteinander vergiften?
4.
Das Misstrauen als Grundhaltung der Menschen in der Gegenwart zeigt sich an vielen Beispielen:
Es gibt eine Art Boom der Versicherungen. Der Sicherung von Häusern und Villen, „gatend cities“, wird immer üblicher. Mit dem Sicherheitswahn als Ausdruck eines total werdenden Misstrauens geht die Militarisierung der Gesellschaft voran, auch der Klassenkampf, die Missachtung der Menschenrechte. Man denke, wie viele hundert Menschen etwa in Rio de Janeiro in diesen Kämpfen um Gerechtigkeit und Lebensmöglichkeit für alle täglich in diesen Tagen erschossen werden, von paramilitärischen und offiziellen militärischen Organisationen. Absolutes Misstrauen als Herrschaftsform ist tödlich. Der gewählte Präsident Brasiliens, ein Freund von Mister Trump, wird von vielen klugen Beobachtern als prä-faschistisch bezeichnet. Höchstes Misstrauen ist also angesagt: Doch die Holzhändler und Rinderzüchter Imperien werden ihn, weil gewissenlos, bei dieser Abholzung des Amazonas-Waldes, also einem Verbrechen, unterstützen. Auch aus Europa? Aber gewiss doch. Wir protestieren zwar, aber es bewirkt nichts. Wir werden müde gemacht von diesen Herren.
5.
Misstrauen ist die Haltung des total gewordenen Individualismus: Ich vertraue nur noch mir, vertraue nur noch meiner Leistung, meinem Gewinn, dieses alles muss ich gegen andere schützen und verteidigen.
Das ist üblich geworden in der Kommunikation: Sich nur durch Pseudonyme äußern. Aber: Weiß ich zum Schluss noch, wie viele Pseudonyme ich habe? Wer bin denn „real“?
6.
Waren die Menschen im Mittelalter weniger misstrauisch? Waren sie nicht vielmehr auch und noch mehr von Angst zerfressen, siehe das Buch „Angst im Abendland“ von Jean Delumeau. Es ist wohl ein Märchen, dass wir jetzt und erst jetzt in einer „Risikogesellschaft“ leben. Aus dem Misstrauen und der Lebensangst flüchteten sich die Menschen im Mittelalter in einen von Aberglauben durchsetzten Glauben. Er baute die Kathedralen etc.
7.
Misstrauen als –begrenzte – Tugend im privaten Leben: Misstrauen hat eine Art reinigende Wirkung, wenn wir uns selbst gegenüber misstrauisch verhalten und uns selbst gegenüber skeptisch fragen: Folgen wir in unserem Leben immer dem Trend der Zeit? Mode, Religionen, Bestseller-Kultur, die „besten Filme (aus Hollywood) herrschenden Ideologie?
Wie können wir also uns selbst gegenüber misstrauisch sein? Misstrauisch gegen sich selbst ist nur eine Variante der tieferen Befragung des Selbst in Situationen der Entscheidung.
8.
Aber Misstrauen kann es nur geben, weil VERTRAUEN der Rahmen, die Basis, im menschlichen und geistigen Leben ist. Nur auf „dem Boden“ des Vertrauens hat Misstrauen einen Platz. Vertrauen ist also das Erste, die Basis. Vertrauen eine emotionale und reflektierte Lebens-Haltung. Vertrauen ist kein Affekt, also keine punktuelle Gefühlswallung, kurzfristige Freude, Jauchzen, aber schnell aufbrechender Hass.
Vertrauen ist eine dauernde Haltung.
Die dümmste, leider weit verbreitete „Lebensweisheit“ ist: „Vertrauen ist gut, Kontrolle besser“. Der Autor heißt Lenin. Es wird unterstellt, als könnte jemand, oder eine Institution, uns alle so total kontrollieren, dass Vertrauen „überflüssig“ wird. Die Stasi der DDR ist in diesem Kontrollwahn letztlich gescheitert. Auch Stalin, der absolut Misstrauische, wurde überwunden. Ob die jetzigen Regime mit ihrer neuen, umfassenden totalen Kontrolle der Bewohner (etwa in China) scheitern, ist eine andere Frage. Gegen den Kontrollwahn gilt es, sich mit allen Mitteln zu wehren.
9.
Aber: Auch IM Vertrauen sollte eine gute „Dosis“ Misstrauen stets anwesend sein: Blindes Vertrauen ist, wie der Name sagt, kein erstrebenswertes Lebensziel. Blindes Vertrauen ist naiv, vielleicht Ausdruck der Verzweiflung und der Sehnsucht, nun endlich den Heilsbringer, politisch, emotional, erotisch usw. gefunden zu haben. Kein Mensch und keine Institution sind so perfekt, das man ihnen blind (also unkritisch, mit Ausschaltung des Nachdenkens) vertrauen darf und soll.
Diktaturen verlangen absolutes Vertrauen, oft Loyalität genannt ,als Maßnahme der Einschüchterung.
Liebesbeziehungen wachsen und reifen, wenn in ihnen kritisches Nachfragen als Ausdruck wohlwollenden Vertrauens lebendig ist.
10.
Misstrauen und Vertrauen sind also eng miteinander verbunden. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Die Frage ist: Werden wir in diesem stets schaukelnden Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen verbleiben und sozusagen beide Haltungen gleich wichtig finden?
Ich bin der philosophischen, beweisbaren Überzeugung, dass Vertrauen die Basis ist für das dialektische Miteinander, Verschränktsein, von Misstrauen und Vertrauen.
Vom Urvertrauen wäre zu sprechen. Manche nennen es auch Gott-Vertrauen als eine Art „Netz“, „unzerstörbare Basis“, des geistigen Lebens. Wie viele Menschen haben es noch? Wie lässt es sich wieder gewinnen? Dass wird diese geistige Basis brauchen, ist wohl keine Frage. Ist sie nicht vorhanden, spricht etwa Nietzsche von Nihilismus. Man lese seine Reden (Zarathustras Reden) vom „Tod Gottes“.
11.
Menschliches Dasein gestalten wir in der ständigen Spannung von Vertrauen und Misstrauen. Für das gesuchte Gleichgewicht innerhalb dieser Spannung gibt es keine allgemeine Regel für alle und immer.
Das Dasein ist also eine ständige Bewegtheit und ständige Suche auf dem „Boden“ des Vertrauens, des Urvertrauens?
12.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat 1968 eine Studie, leider für die vielen zu hochkomplex, geschrieben, zum Thema Vertrauen. Wichtig ist seine Erkenntnis: Wer Vertrauen lebt, nimmt Zukunft vorweg, handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Ein Thema, das vertieft werden sollte. Auch das Misstrauen ist auf Zukunft angelegt, man will misstrauisch Schlimmes für die Zukunft verhindern.
13.
Es wäre nachzudenken, warum ausgerechnet die USA als Inbegriff des Kapitalismus auf ihre Münzen und Geldscheine den Spruch gesetzt haben: IN GOD WE TRUST. Sollte damit vielleicht selbstkritisch gegenüber dem Kapitalismus gesagt werden: Aufs Geld vertrauen wir doch nicht so stark, sondern auf Gott. Oder war vielleicht mit „God“ eher das Geld selbst als (der biblische) Gott gemeint? Ich vermute eher dieses.
14.
Sollte in der religiösen Beziehung, auch im christlichen Glauben, das Misstrauen eine Rolle spielen? Ich meine JA!
Den Texten des Neuen Testaments nach zu urteilen jedoch offenbar nicht!
Beispiele:
Der „ungläubige Apostel Thomas“ wird im Johannes Evangelium NICHT als Vorbild dargestellt. Jesus sagt zu ihm: „Selig, die nicht sehen, (also nicht misstrauisch, skeptisch, prüfen) und doch glauben“.
Dabei wird implizit gesagt: Das Fragen und Zweifeln hat im Glauben keinen Platz.
Ich halte diese These für falsch, sie ist bereits Ausdruck einer sich dogmatisch einschließenden Kirche, wo einige Apostel vorschreiben, was Glauben ist. Warum soll denn eine Gottesbeziehung nicht sehen dürfen, nicht vernünftig sein dürfen? Glauben ist doch kein diffuses Fürwahrhalten…
Weitere Beispiele:
Philipperbrief: 2,14: „Tut alles ohne Murren und ohne Zweifel.
Römerbrief 4, 20: Da ist auch von Abraham die Rede: „Er zweifelte nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes“. (d.h. Zweifel und Unglauben sind identisch gesetzt).
1 Timothus 2,8: Da heißt es zu der Frage, wie Männer beten sollen: „Ohne Zorn und Zweifel“.
Jakobus Brief,1,8 : „Ein Zweifler ist unbeständig auf allen seinen Wegen“.
In der katholischen so gen. Einheits-Übersetzung heißt es: „Ein Zweifler ist ein Mann mit zwei Seelen“.
15.
Ich betone: Christlich glauben heißt: Fragend nach dem Göttlichen (dem „Sinngrund“) suchen und dieses Fragen bereits als Gabe des Göttlichen an uns verstehen. D.h. dieses glaubende Fragen ist vom Göttlichen selbst „begründet“.
Glaube ist diese Suche nach dem geliebten Gott/Göttin, Göttlichen, den, die, wir gelegentlich sehen, ahnen, „berühren“ im Denken und Fühlen. Wer sucht, hat schon gefunden.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon, Berlin

Leben in schwierigen Zeiten. Ein inspirierendes philosophisches Buch

Ein Hinweis von Christian Modehn. Das Buch erschien 2019. Ist aber nach wie vor aktuell.

Auf wenigen Seiten gibt ein neues Buch zu denken, fordert auf zum Weiterdenken und Debattieren, wie man die große Krise der Gegenwart, die ökologische, die politisch-populistische Katastrophe und die von fake-news vergiftete Kommunikation verstehen und hoffentlich noch überwinden kann. Knappe Formeln zur Lösung werden nicht geboten, dafür Einsichten von 15 PhilosophInnen und Soziologen, die dann noch inspirieren, selbst wenn sie auf mich befremdlich wirken.
Warum sind die Zeiten, so der Titel des Herausgebers, schwierig? Weil die einzelnen Menschen den Kontakt zur Welt, zur Natur, zur Gesellschaft verloren haben. Die „Welt sei flüchtig“ geworden, betont erneut der kürzlich verstorbene große Soziologe Zygmunt Bauman: Die Menschen fühlen sich nicht (mehr) geborgen in der Welt, fühlen sich fremd und entfremdet von der Realität der „Außenwelt“. Bauman ist einer von 15 Gesprächspartnern, die sich Florentijn van Rootselaar, Redakteur des Magazins „Filosofie“ (Amsterdam) ausgewählt hat, um von der Analyse der „flüchtligen Welt“ zu möglichen Auswegen, vielleicht noch zu denkenden Therapien zu finden. Der Herausgeber hat seinem niederländischen Buch den treffenden Untertitel „leven in barre Tijden“, also „Leben in harten, in schlimmen Zeiten“ gegeben. Das Buch zeigt, wie viel Interesse für philosophische Fragen in den Niederlanden besteht, das Magazin „Filosofie“ ist dafür der beste Ausdruck. Einmal im Jahr, immer im April, findet ja bekanntlich im ganzen Land der „maand van filosofie“ mit zahlreichen Veranstaltungen statt. Dazu hat sich kein Philosophie-Magazin in Deutschland bisher aufraffen können. Das Interesse wäre da!
Schlimm sind unsere Zeiten, weil etwa die fake news zur allgemeinen Gewohnheit geworden sind. Die Lüge breitet sich aus und zerstört den menschlichen Zusammenhalt. Das wollen wohl auch so diejenigen (Politiker), die mit fake news Verwirrung stiften. Dazu äußert sich im Buch die Philosophin Susan Neiman (sie lehrt und lebt in Potsdam). Der Herausgeber schreibt (59): „Neimans Ansicht nach hat die Postmoderne zur Demontage des Glaubens beigetragen, dass neben dem Marktwert auch andere Werte bestehen…Alles wurde relativ, News waren im Grunde doch nur Fake News“. Ihr Hauptanliegen: „Wir dürfen nicht die Idee der Wahrheit aufgeben, die Idee der universellen Menschlichkeit“ (61). Als US Amerikanerin nennt sie den gegenwärtigen Präsidenten gar nicht beim Namen: „Er ist ein Ausdruck aller Ideologien, die uns bestimmen“ (62).
Susan Neiman ist eine hervorragende Kennerin der Werke von Kant, sie ist sozusagen auch die Verteidigerin des universal geltenden Kategorischen Imperativs, der sich letztlich auch gegen die absolut geltende Maxime des Nationalismus wehrt.

Es sind auch zwei für mich verstörende Beiträge im Buch: Florentijn van Rootselaar schreibt über die us-amerikanische Philosophin Martha Nussbaum: „Sie schlägt vor, den Nationalismus wiederzubeleben, ein Gedanke, der mich nicht anspricht“ (S. 26). Nussbaum verteidigt sich mit dem Hinweis auf die angebliche Angewiesenheit auf eine „große Erzählung“, die ein Staat nun einmal brauche, also den Patriotismus. Offenbar bekommt die eigentlich hoch angesehene Philosophin (etwa ihre Forschungen zur Aristoteles) dann doch Angst vor ihrer eigenen Courage: „Die Nation muss natürlich die richtigen Werte ins Zentrum stellen. Diese müssen unabhängig mittels philosophischer Diskussionen gerechtfertigt werden“ (30). Ob sich daran Steve Bannon oder Herr Orban oder die polnischen Herrscher der PIS Partei oder die AFD Leute halten? Das ist philosophische Träumerei, würde ich sagen.

Ähnlich verwegen sind die Ideen des französischen Philosophen Alain Finkielkraut, der einst Emmanuel Lévinas bestens verteidigte wegen dessen Hochschätzung des Respekts für „den anderen“. Nun ergeht sich Finkielkraut im Schwadronieren vom „ewigen Frankreich“, das angeblich jetzt wehrlos den zahlreichen „Immigranten aus außereuropäischen Ländern“ ausgesetzt sei. Gott sei Dank waren Finkielkrauts Eltern bloß Immigranten aus dem europäischen Polen, möchte man fast sagen. Er kritisiert das „sehr romantisch gefärbte Willkommenheißen des Anderen“ (36), da fällt das zentrale Stichwort des großen Philosophen Lévinas, „der Andere“! Aber seinen biblisch fundierten jüdischen Meister erwähnt Finkielkraut (der ja ebenfalls die hebräische Bibel gelesen hat) schon nicht mehr.

Es macht den Reiz dieses Buches aus, dass man sich über die Pluralität der ausgewählten Interviewpartner – bei aller Irritation der beiden genannten – doch freut: Peter Sloterdijk nennt Florentijn van Rootselaar zwar einen „Denktitanen“ (14), der Herausgeber scheut sich aber nicht, in deutlich spürbarer, vornehmer Ironie diesen „Titanen“ zu beschreiben: Wie er sich in seinem Mercedes der S Klasse in hohem Tempo chauffiieren lässt, die Rückbank aus Leder gestaltet…Oder wie er sich mit seiner „neuen Freundin“ (90) ein prächtiges Mittagessen in romantischer Landschaft ganz glücklich gönnt.. Sloterdijk zeigt sich in dem Interview als Schüler des späten Heidegger, der ja auch vom Hören auf das Sein ständig sprach: Sloterdijk will auch auf die Stimme der Welt hören, die den Ruf der neuen Ethik erschallen lässt, einen Ruf, den bisher noch niemand wahrnimmt (96). Darin sieht sich Sloterdijk selbst, unbescheiden, in der Rolle „eines Propheten“ (97). „Ich bin bloß jemand, der die Stimme weiterleitet und das tue ich auf meine Art“. Stimmen weiterleiten – das hat ja bekanntlich der späte Heidegger (seit 1933) auch ständig getan, schließlich hat es in ihm und wohl auf ihn von oben zu –so wörtlich – ja auch „gegöttert“.

Etwas amüsanter wirkt das Interview mit Charles Foster, dem Ethiker und Philosophen und vielseitigen Autor aus Oxford, dessen umfangreiches, auch religionskritisches Werk, bislang nicht in deutscher Sprache vorliegt. Das ist wohl ein großer Fehler. Foster wird in dem Buch kurz vorgestellt, wie er einige Zeit lang sich bemühte, im Wald wie ein Dachs zu leben, „Er verließ die zivilisierte Welt und näherte sich der Erde, indem er wie ein Tier lebte“ (99). Er wollte in dieser ungewöhnlichen Lebensform neue Verbundenheit erleben mit den Tieren, der Natur, dem Wald. „Wenn man so etwas Extravagantes unternimmt, wie sich in einen Dachs hineinzuversetzen, steigert man sein Empathievermögen…“(104): Empathie – absolut notwendig, um aus der Krise herauszufinden…

Sehr wichtig erscheint mir das Interview mit dem französischen Philosophen Bernard Stiegler, der kürzlich (2020) gestorben ist. Er sagte damals: “Wir leben in einer Zeit, in der die Industrie alle Verhaltensweisen standardisiert. Dadurch verlieren Menschen das Gefühl zu existieren…Wenn ale Energie von der Kulturindustrie gelenkt und genutzt wird, wird man der Möglichkeit beraubt, echte Erfahrungen zu machen” (S. 75).

Zum Schluss noch ein Hinweis auf einen anderen, in Deutschland ebenfalls nahezu unbekannten Philosophen: Tu Weiming ist sein Name, er lebt wieder in Peking, hat lange Zeit auch an der Harvard Universität gelehrt, vor allem zu Konfuzius und der Aktualität seines Denkens. Für ihn ist die „immanente Transzendenz“ (131) entscheidend für das menschliche Leben, verstanden als ständiges geistiges Wachsen. So sind für ihn auch Veränderungen (in Staat und Gesellschaft) nur möglich, „wenn wir eine Verbindung mit etwas Höherem eingehen“ (131). Wie die gegenwärtigen Machthaber in Peking darüber denken, verrät das Buch nicht. Aber: Jeder Mensch, jedes „Geschöpf“ (der Mensch ist für den chinesischen Konfuzianer eine Kreatur, ein Geschöpf!) trägt – für Tu Weiming – zudem „aktiv zur Schöpfung des Kosmos bei. Der Mensch ist ein Mitschöpfer“. Wenn man auf dieser Linie weiterdenkt, ist die Fähigkeit der Transzendenz im Menschen tatsächlich eine Gabe des „Schöpfers“… „Menschen, vom Himmel gesegnet, sind für die Lösung von Problemen zuständig“ (136).
Ich möchte fast behaupten: Allein schon wegen dieses Interview mit Tu Weiming lohnt es sich, das Buch zu kaufen und zu lesen.
Das Buch enthält darüber hinaus Interviews mit Jacques Rancière, Michael Sandel, Hartmut Rosa, Bruno Latour, Roger Scruton, Terry Eagleton („Der Marxist (und Katholik!), der noch an den Sinn der Welt glaubt“), Michael Puett (über Tao) ….

Florentijn van Rootselaar: “Leben in schwierigen Zeiten”. Wissenschaftliche Buchgesellschaft-Theiss. 144 Seiten. 20 €

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Buchmesse Leipzig 2019: An den Philosophen Milan Machovec erinnern

„Es gibt Jesus ähnliche Menschen unter den Marxisten“ (Machovec)

Ein Hinweis von Christian Modehn

Hat er sich dem Marxismus zugewandt, weil er die Lehren der katholischen Kirche ablehnte? Sicherlich. Hat er als Marxist die Herrschafts-Ideologie der Kommunisten abgelehnt und dann die Bedeutung Jesu von Nazareth für unersetzlich gehalten: Wahrscheinlich ist auch das so!
Die dialektische Spannung hat das Leben des Prager Philosophen Milan Machovec ausgezeichnet. Es wird Zeit, sich an ihn wieder zu erinnern. Nicht (nur) deswegen, weil er sich seit dem Prager Frühling 1968 entschieden von der herrschenden Marx-Ideologie der Kommunisten abwandte. Und auch nicht (nur) deswegen, weil er dann die Jesus-Gestalt schätzte: Es ist vielmehr diese Bewegtheit in seinem Leben selbst, sein dauerndes Unzufriedensein mit fix und fertigen Ideologien, heißen sie nun Kommunismus oder Katholizismus, die den Philosophen Machovec so wertvoll machen. Seine Bücher sind Ausdruck für dieses Suchen nach einem möglichst herrschaftsfreien Menschsein in Freiheit und Gerechtigkeit. Machovec ist ein Humanist im umfassenden Sinn. Darum sollten philosophisch und religiös Interessierte ihn wieder beachten. Denn die Zeit der alles erklärdenden, „totalen“ Ideologien ist vorbei: Der marxistisch sich nennende Kommunismus ist vorbei, und die dogmatische Institution der katholischen Kirche besteht zwar noch als (üppiges) Gerippe. Aber wer würde nicht auch sagen: Diese Institution in der jetzigen Form ist am Verschwinden? Falls sie sich nicht zu einer Refomration (nicht bloß Reform !) entschließt.

Geboren wurde Milan Machovec am 23.8.1925 in einer streng -katholischen Familie in Prag, er besuchte das Gymnasium der Benediktiner Mönche, studierte, noch kurz vor der Herrschaft der KP, von 1945 bis 1948 Philosophie und katholische Theologie, obwohl ihn eigentlich auch die Musik sehr faszinierte. Er wendet sich dem Marxismus zu, wird 1953 Dozent für Philosophie an der Prager Karls-Universität, 1968 wird er zum Professor ernannt, aber wegen kritischer Äußerungen zum Kommunismus seines Amtes enthoben. Er engagiert sich zuvor schon im christlich – marxistischen Gespräch, unter anderen mit dem katholischen Theologen Karl Rahner. Danach, als „Dissident“, lebt er unter sehr bescheidenen und bedrückenden Verhältnissen. Als Organist in einer katholischen Kirche Prags kann er etwas Geld verdienen, er gehört zur Charta 77. Erst nach der Wende 1989 kann er frei als Philosophie-Professor arbeiten.
Über sein Leben und seine auch auf Deutsch noch vorliegenden antiquarisch erreichbaren Bücher kann man sich detaillierter informieren.
Ich will hier an den Aufsatz „Die Sache Jesu und marxistische Selbstreflexion“ erinnern, an einen Beitrag, den Machovec für das Buch „Marxisten und die Sache Jesu“ geschrieben hat, das er zusammen mit Iring Fetscher 1974 auf Deutsch (Kaiser-Verlag, Grünewald-Verlag) veröffentlichte.

Warum lohnt es sich, diesen Aufsatz von 17 Seiten noch einmal zu lesen und mit anderen zu diskutieren? Weil da ein Philosoph das Faszinierende des Denkens von Marx (das ja, noch einmal, etwas anderes ist die bolschewistische Ideologie) und das Faszinierende der „Sache Jesu“ (die ja bekanntlich etwas anderes ist als die offizielle Kirchenlehre) konfrontiert. Und zwar auch so, wie sie lebensmäßig von den jeweils Gläubigen „umgesetzt“ werden.
In dem Aufsatz von 1974 sieht sich Machovec immer noch als Marxisten, vom Kommunismus ist keine Rede. Er ist Marxist geworden und geblieben, um es einmal auf eine Formel zu bringen, weil ihm das nette Almosengeben der Christen als Hilfe für die Leidenden absolut nicht ausreicht. Dieser ins „Strukturelle“ reichende, humane Impuls ist bei ihm entscheiden! Er sieht im Marxismus eine Art Leitidee, für die Unterdrückten auf Dauer Humanität zu erreichen. Dabei meint Machovec provozierend: Marxisten seien eigentlich überzeugt, die humanen Forderungen Jesu „besser zu verwirklichen“ (S. 86). Also: Nicht spirituelles kirchliches Schwärmen von der Barmherzigkeit, sondern alles tun, dass die klassenlose Gesellschaft Gestalt annimmt. Man bedauert in dem Zusammenhang, dass Machovec offenbar die lateinamerikanische Theologie der Befreiung nicht kannte.
Machovec kritisiert das kommunistische System, die Kleinkariertheit der Bürokraten, die Verlogenheiten, die Zensur, die Unterdrückung, die Inquisition: Und er zeigt, wie bekannt, wie ähnlich manche Verhältnisse in der katholischen Kirche, und nicht nur in dieser Kirche, sind.
Einen Ausweg aus der inneren Krise des Marxismus als Staats-Kommunismus sieht Machovec kaum: Es sind die „geschlossenen Herrschaftskreise“ (S.97), die im Kommunismus wie im Katholizismus das freie geistige Leben ersticken, so sah das Machovec im Jahr 1974. Ob das heute in der Kirche besser ist?
Aber Machovec schreibt, als ein authentischer Marxist, darin genauso wie ein authentischer Christ oder ein Philosoph (Sokrates): „Lieber sterben, als den Sinn für die Wahrheit und seine Brüder zu verraten“ (S. 100).
Es ist keine Frage: In dem Beitrag zeigt der marxistische (nicht kommunistische!) Philosoph Machovec seine tiefe Sympathie für die Jesus-Gestalt, und das ist bemerkenswert. Die letzten Sätze in dem genannten Aufsatz heißen: „Aber falls ich in einer Welt leben sollte, die die Sache Jesu absolut vergessen könnte, dann möchte ich gar nicht mehr leben…Es scheint mir, dass in einer solchen Welt ohne die Sache Jesu auch der richtig verstandene Sieg der Sache von Karl Marx unmöglich wäre“ (S. 102).
Also: Ohne die Pflege jesuanischer Traditionen wird es auch heute keinen Gedanken mehr geben, dass eigentlich diese verrückte Welt mehr Gerechtigkeit, vielleicht eine klassenlose Gesellschaft als Ziel bräuchte. Für eine humane Revolution brauchen wir also den jesuanischen Geist. Und dies ist, nebenbei gesagt, wiederum ein Gedanke, der heute von Jürgen Habermas auf mildere Weise formuliert wird („Ohne das Christentum entgleist die Gesellschaft“ usw.)… Schon 1972 hatte Machovev ähnliche Gedanken in seinem Buch “Jesus für Atheisten” vorgelegt. Mit einem präzisen,auch theologisch kenntnisreichen Verständnis der Gestalt Jesu will der Marxist Machovec zeigen: Jesus ist nicht etwa (nur) ein Sozialrevolutionär, sondern seine umfassende Forderung heißt:”Der ganze Mensch soll sich wandeln”: “Jesus reißt den Menschen mit, weil er die gelebte Zukunft (des umfassend menschlichen Reiches Gottes) mit seinem ganzen Wesen verkörpert” (S. 103). Sogar über das Gebet Jesu schreibt Machovev:”Es ist das Vermögen ganz bei sich selbst, bei seinem eigenen Ich, zu sein” (S. 104). Auch eine Philosophie des Dialogs hat Machovec vorgelegt: In seinem Buch “Vom Sinn des menschlichen Lebens” (1971) erklärt er: Der Dialog mehr ist als ein oberflächlicher Meinungsaustausch, sondern ein Geschehen, in dem sich die Gesprächspartner voll und ganz selbst einbringen, also auch Menschen zum existentiellen Wandel bereit sind. Es ist traurig, dass die Bücher von Machovec in den Antiquariaten allein noch erreichbar sind. Liegt dies daran, dass den Verlegern die Beziehungen dieser Texte auf den Marxismus obsolet erscheinen? Aber wer sagt denn, dass nicht wichtige Grundideen von Marx (wie Machovec sie präsentiert) “vorbei” und nicht aktuell mehr hilfreich sind? Dann müssten ja auch die neutestamentlichen Texte über Jesus vorbei und wenig hilfreich sein, bloß weil sich die Kirchen(führer) in ihrer Geschichte bis heute total blamieren, was die Lebensgestaltung und Kirchengestaltung aus dem Geiste Jesu angeht…

Ist dieser zentrale Gedanke Machovecs von der humanen Notwendigkeit der Sache Jesu heute verloren gegangen? Man könnte das sicher meinen. In der Tschechischen Republik (und nicht nur dort) verschwindet der jesuanische Geist wahrscheinlich auch mit dem Niedergang und Tod der kirchlichen Institutionen, die diese Sache Jesu eigentlich noch aussagen sollten. Und selbst der kritische Marxismus ist ebenfalls total marginal. Ist es die totale flache Mentalität der Konsumenten, die in Tschechien nach der Samtenen Revolution von 1989 sich durchgesetzt hat? Wo sind die Bewegungen für ein anderes, „alternatives“ Leben?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Geheimnis ein Thema der Philosophie und Theologie: Ein Kapitel philosophischer (Über)Lebenskunst

Hinweise von Christian Modehn

Es folgt, am Ende dieses Beitrags, eine Ergänzung der Künstlerin Ursula SAX, Berlin, die oft an unseren religionsphilosophischen Gesprächen teilnimmt.

Geheimnis ist nichts Mysteriöses. Manche Menschen tun aber geheimnisvoll, um ihre eigene Leere oder „Besonderheit“ zu betonen. Wer ein Geheimnis für sich beansprucht, fühlt sich wichtig. Geheimnisträger gibt es in der Diplomatie. Wie oft haben sie ihre Funktion missbraucht?
Es gilt, den sinnvollen Gebrauch der Rede vom Geheimnis zu erkennen. Da muss man wieder differenzieren: Was sind echte, bleibende Geheimnisse oder bloß neurotisch aufgeladene mysteriöse Dinge? Etwa Spuk oder fliegende Untertassen oder Geister, die in spiritistischen Sitzungen sprechen…
Mit jeder neuen Erkenntnis (der Natur) gibt es neue Fragen. Es gibt neue Probleme, die „gelöst“ werden müssen. Man nennt diese Probleme auch Rätsel. Naturwissenschaftler lösen nicht Geheimnisse, sondern Rätsel. Aber dann entstehen neue Rätsel.
Rätselhaftes ist nichts Geheimnisvolles. Diese Unterscheidung ist für mich grundlegend.
Geheimnisse entziehen sich dem verfügenden Durchblick, der alles umgreifenden Definition. Geheimnis ist etwas, das nie total durchschaut werden kann. Geheimnis berührt die Qualität unserer Beziehung zur Frage: Gibt es etwas Gründendes, Tragendes, Göttliches? Geheimnis ist ein Thema der Philosophie, der Kunst, der Literatur.
Wer vom Geheimnis spricht, der weiß also mit Ludwig Wittgenstein: Auch wenn alle unseren wissenschaftlichen Probleme gelöst sind, bleiben doch die existentiellen Fragen. Und diese kann man nicht endgültig und ein für alle mal begreifend durchschauen: Dass es etwas gibt, ist (nicht nur für Wittgenstein) das entscheidende Geheimnis.
Drei Fragen stehen im Mittelpunkt unseres Salon-Gespräches am 15. 3.2019:
A)Was ist mein eignes, individuelles Lebensgeheimnis?
-Es ist über den Begriff der Intimität zu sprechen. Intimität nicht (nur) auf den erotischen, sexuellen Bereich bezogen. Es gibt eine personale Intimität.
Wir erleben heute total den Verlust der Intimität. Dies ist die freiwillige Preisgabe dessen, was mein Ich ausmacht. Man denke an bestimmte populäre Fernsehshows der „Privatsender“: Diese Shows zielen auf Verlust jeder Intimität: Etwa: „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (oft als Dschungelcamp bezeichnet). Im Januar 2019: 37 % Marktanteil der 19 bis 49 Jährigen. Und ca. 2,7 Millionen Zuschauer.
-Unsere Gesellschaft, regiert von Politikern, die sich auch oft gern „entblössen“, lässt kaum noch Intimität zu: Man denke auch an die Wohnverhältnisse. Man vergesse nicht die Millionen Hütten der Slums, dort kennen die Menschen keine Intimität. Die vielen Kinder schlafen im gleichen Raum wie die Eltern. Das betrifft viele tausend Millionen Menschen.
In Japan weichen Liebenspaare in „Liebeshotels“ aus. Weil die Wohnungen keine Intimität zulassen, es sind die „Love Hotels“. Diese sind nicht Orte der Prostitution.
-Es gibt andererseits eine falsche Tendenz im Verschweigen der Identität. Männer sprechen nicht von sich selbst und ihren „tiefen, verborgenen“ Problemen. Diese Sprechunfähigkeit hat nichts mit der Bewahrung eines Geheimnisses zu tun. Es ist oft schlicht die Unfähigkeit, aus sich herauszugehen, sich zu äußern.
Wann ist die Öffnung meines „Lebensgeheimnisses“ gegenüber Partnern, Freunden, Bekannten sinnvoll, wann eher für mich destruktiv?
Hinzu kommt: Der einzelne kann sich selbst auch nicht total durchschauen. Wir wissen nicht umfassend und total klar, wer wir eigentlich sind.
Aber: Die falsche Zurückhaltung, das je eigene Lebensgeheimnis wenigstens ansatzweise mitzuteilen, führt zu Spannungen und Krisen: Man denke an das Verschweigen der Nazi-Vergangenheit durch die Eltern. Das Verschweigen ist für betroffene Eltern selbst ein Leidensweg.
Dennoch lebt die Kommunikation gerade in der Liebe von einem Sich – Offenbaren, Sich Anvertrauen, das persönliche und je einmalige Gesicht zeigen.
Das Maß der Öffnung und des Verschweigens des je eigenen Geheimnisses zu erkennen, ist die große Lebenskunst. Das Maß der Öffnung des Geheimnisses zu erkennen, ist die große Lebenskunst.
Das Thema führt in die Ambivalenz der reflektierten Daseinsgestaltung im ganzen.
Der total für andere durchsichtige Mensch jedenfalls ist geheimnislos, er kann wie eine durchschaute Maschine benutzt werden. Und wird auch benutzt, etwa bei Wahlen, siehe Trumps Wahlkampf in den USA.
Der Umgang mit dem je eigenen Lebensgeheimnis ist ein ständiges Abwägen, ein Differenzieren, eine Suche nach dem Gleichgewicht.
B: Geheimnis und der Schutz meiner Privatsphäre heute.
Wir leben im Zeitalter der totaler werdenden Transparenz. Wir werden allmählich in der digitalen Welt total durchschaut, in Zeiten der Big Data. Der Imperativ lautet: „Alles muss Daten und Information werden“, so der Philosoph Byung-Chul Han. (in: “Psychopolitik“, S. 80) Er spricht von Dataismus: „Diese digitale Aufklärung, Dataismus, kann in Knechtschaft umschlagen“. D.h. Ich hinterlasse überall Spuren im Netz. Die digitale Welt weiß mehr von meiner Geschichte als Konsument als ich selbst (in meiner Erinnerung). Ich werde so total verfügbar. Dataismus verzichtet auf jeden Sinnzusammenhang. (81) Alle meine Daten werden vermessen und gesammelt und eingesetzt von der Industrie/Werbung/Politik als Diktatur…
Aber: Wir brauchen den Kampf um Transparenz, um die Restbestände von Demokratie zu schützen. Transparenz ist ein hoher politischer Wert.
Es ist soweit gekommen, dass demokratische Organe, etwa Justiz und Polizei, die umfassende Transparenz bereits behindern. Weil sie die Restbestände der Demokratie zerstören wollen.
Sehr beliebt ist in den sozialen Netzwerken, facebook, e-mail usw. die Verwendung der Pseudonyme. Man entscheidet sich – auch aus Angst – gegen die Klarnamen. Dann kann auch alles schreiben, was man will, dumme, gemeine Behauptungen etc. Man will sich verstecken. Aber: Geheimnisse erzeugen kann lebensrettend sein. Die geheime Wahl ist ein absoluter Wert.
Die Fake-News haben ihren festen Platz in der privaten Welt der Geheimnistuerei. Wir leben in einer Welt, in der der Grundsatz gilt: Der Schein trügt. Was du siehst und hörst von anderen, etwa im email Verkehr, stimmt oft wahrscheinlich nicht.
Diktaturen neigen zu Attacken auf die Anonymität, auf das Geheimnis. Aber Diktaturen machen aus diesen ihren eigenen Attacken wiederum ein Geheimnis.
Sie wollen Zensur durchsetzen, damit die Staatsgeheimnisse nicht öffentlich werden.
In China gibt es Zensurfabriken, eine große Mauer der Zensur wird um google, facebook in China gezogen. Es gilt dort nur noch das „innere Netz“.
C: Ein Hinweis zur Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Theologie:
Geheimnis als der einzig treffende Begriff, wenn wir von einem letzten Grund in unserem Dasein sprechen, einem Nichts oder einem Gott, je nach eigener Weltanschauung: Dieses Letzte, alles Gründende, das wir im Denken und Fühlen berühren, können wir, weil es das Letzte ist, niemals fassen, niemals be—greifen, nie definieren. Aber im konsequenten Denken sind wir dieser Wirklichkeit ausgesetzt. Was ist der tragende Sinn-Grund von allem? Mit dieser Frage erreichen wir das alles gründende Geheimnis.
Es gab einmal die Überzeugung, als würde die Menschheit einer geheimnislosen Zeit entgegen gehen. Der Soziologe Max Weber sprach von der „Entzauberung der Welt,“ in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ von 1919. Darin erklärte er „dass es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet die Entzauberung der Welt. ….Und er fährt fort: Man muss nicht mehr, wie der Wilde einst, zu magischen Kräften greifen, um die Geister zu beherrschen…“sondern technische Mittel und Berechnung leisten das“, das heißt, Max Weber verwechselt wissenschaftlich immer zu durchschauendes Rätsel und Geheimnis.
Eine total entzauberte Welt wird es nicht geben. Kann es nicht geben, so lange nach dem alles gründenden Sinn oder je nach Weltanschauung Unsinn gefragt wird. Bloß viele Leute plappern die These von der „entzauberten Welt“ gedankenlos nach.
Und die tiefste und wohl letzte philosophische Frage, die ohne Antwort bleibt, heißt: “Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts?“ (Später dann auch bei Heidegger, Was ist Metaphysik, 1929)
Leibniz hat sich mit dieser Frage befasst, in seiner Schrift „Auf Vernunft gegründete Prinzipien der Natur und der Gnade“ (1714, 1716 ist Leibniz gestorben)

Nach Leibniz muss es also einen Grund geben, warum es etwas und nicht vielmehr nichts gibt, doch muss dies ein Grund sehr spezieller Art sein, „der keines andren Grundes bedarf“ oder der „den Grund seiner Existenz in sich selbst trägt“. „Leibniz nimmt hier eine weit ältere Tradition der westlichen Philosophie wieder auf, denn seit frühester Zeit hat das Rätsel der Existenz die Menschheit zu einem Schöpfer hingetrieben, einem Wesen außerhalb dieser Welt, dessen Handlungen die Welt als Ganzes entstehen ließen“ (Blackburn S. (2011) Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?. In: Die großen Fragen Philosophie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg)

Bei Wittgenstein sollte man vor allem das Spätwerk beachten.
Etwa die „Vermischten Bemerkungen“: Dort ist ein „tiefer Ernst und überzeugende Ehrlichkeit“ zu finden, so Friedo Ricken in „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie“, S. 29.
Es geht nun Wittgenstein um das Durchbrechen der engen Sprachwelt der Wissenshaften. Ricken spricht in dem Zusammenhang, im Sinne von Wittgenstein, von Klaustrophobie: D.h. Wir können in einem engen Raum der Wissenschaften nicht leben. (S. 33 Ricken).

Der späte Wittgenstein bringt uns zu der Einsicht, dass es etwas gibt, das nicht gesagt werden kann. Aber dies wird verstanden: Im Sinne des klaren und eindeutigen Sprechens.
In den „Philosophischen Untersuchungen“ schreibt Wittgenstein, dass es für ihn unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu sagen, „was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet“.
Aber: Er weiß auch: Wir berühren das Unaussprechbare. Und sagen auch, dass es auch unaussprechbar ist. Dann können wir also doch andeutend etwas von dem Unaussprechbaren sagen?
„Das Unaussprechbare, /das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag/, gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt“ (in Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Nr. 472).

D: Zur Theologie:

Die katholische Kirche als dogmatische Institution ist die große Geheimnis-Erzeugerin und Geheimnis–Propagandistin: Sie ist die Förderin der Vorstellung, überall gebe es Mysteriöses, Verzaubertes, Zauberhaftes, Grauenhaft – Teuflisches. Aber viele sehen auch heute darin den „Charme“ des Katholizismus…

Die Lehre vom Teufel wird wieder zur Begründung von Verbrechen herangezogen (wie jetzt durch Papst Franziskus im Fall des sexuellen Mißbrauchs durch Priester).

Der Status des Klerikers gilt als erhoben über den anderen Gläubigen, auch dies ist etwas Mysteriöses, also von der Macht der Kirche gemacht. Ähnliches gilt von der Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes.

Es gibt den mysteriösen Kult um Wallfahrtsorte, wo Maria persönlich erschienen ist usw.

E: Einige katholische Theologen zeigen den eigentlichen Geheimnis-Begriff:
Darum: Erinnerung an Karl Rahner. Er ist DER Theologe, der die Rede vom göttlichen Geheimnis im Christentum in den absoluten Mittelpunkt stellte: „Was sagt das Christentum? Was verkündet es? Es sagt trotz des Anscheins einer komplizierten Dogmatik und Moral eigentlich doch nur etwas ganz Einfaches. Ein Einfaches, als dessen Artikulation alle einzelnen Dogmen erscheinen.
Was sagt das Christentum eigentlich? Doch nichts anderes als: Das Geheimnis bleibt ewig Geheimnis. Dieses Geheimnis will sich aber als das Unendliche, Unbegreifliche, als das Unaussagbare, Gott genannt, als sich schenkende Nähe in absoluter Selbstmitteilung dem menschlichen Geist mitten in der Erfahrung seiner endlichen Leere mitteilen.“ (In: Karl Rahner, Lesebuch, S. 20).

Das Göttliche ist IM Menschen, die Konsequenz ist: dann „Wer sich selbst als Mensch annimmt, nimmt das ihn gründende Geheimnis seines Lebens auch schon mit an, er nimmt also indirekt und unthematisch Gott, mit an“. (S. 21).

Rahner: „Gott ist der, hinter den man prinzipiell nicht kommt“. (Lesebuch, S 143). Man kann von Gott nicht „exakt“ reden. Nur stammeln, nur indirekt reden.
Aber man darf von ihm nicht darum schweigen, weil man von ihm nicht „eigentlich“ und exakt reden kann.
Ein Auszug aus „Gott ist keine naturwissenschaftliche Formel,“ (https://www.einjahrzitate.de/?p=787) „Gott ist nicht „etwas„ neben anderem, das mit diesem anderen in ein gemeinsames, homogenes System einbegriffen werden kann. „Gott” sagen wir und meinen das Ganze, aber nicht als nachträgliche Summe der Phänomene, die wir untersuchen, sondern das Ganze in seinem unverfügbaren Ursprung und Grund, der unumfasslich, unumgreiflich, unsagbar hinter, vor und über jenem Ganzen liegt, zu dem wir selbst und auch unser experimentierendes Erkennen gehören. Und in jedem Leben, auch des exakten Naturwissenschaftlers und Technikers, kommen in die Mitte des Daseins zielende Augenblicke, in denen ihn die Unendlichkeit anblickt und anruft. Man kann das Leben, insofern man zwischen diesem und jenem hindurchfinden muss, mit Formeln der Wissenschaft meistern. Wenigstens auf weite Strecken mag das gelingen, und man greift glücklicherweise morgen noch ein gutes Stück weiter. Der Mensch selbst aber gründet im Abgrund, den keine Formel mehr auslotet. Man kann den Mut haben, diesen Abgrund zu erfahren als das heilige Geheimnis der Liebe. Dann kann man es Gott nennen“.
F: Auch der katholische Theologe Edward Schillebeeckx (1914-2009) spricht theologisch vom Geheimnis: Etwa in: Edward Schillebeeckx, „Im Gespräch“, Luzern 1994, S.112).
„Man kann nicht die Existenz Gottes beweisen…SONDERN: „Es geht nur darum zu beweisen, dass es rational begründet ist, von Gott zu sprechen. Man kann nur beweisen, dass es vernünftig sein kann, von Gott zu reden“ (112)
Es gibt ein rationales Fundament für die Beziehung des Menschen zu Gott. Die Rede von Gott ist nicht absurd.
„Der Mensch, der an Gott glaubt, weiß, dass Gottes Schweigen nicht seine Abwesenheit bedeutet“. 112.
Die absolute Gegenwart Gottes ist schweigende Gegenwart. 113. (Man kann also auch das Schweigen Gottes als Gottes Nichtexistenz deuten, so Schillebeeckx, S. 113.)
„Weder der Theismus noch der Theismus können bewiesen werden. Beide sind INTERPRETIERNDE Erfahrung der Wirklichkeit, (S. 113).
„Auch Atheisten sind Glaubende“ (nämlich an das Nichts Glaubende, CM) (S. 114.)

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Beitrag von URSULA SAX:
Wie wir das Wort Geheimnis landläufig benutzen, ist nicht sehr geheimnisvoll. Es hat doch etwas Verborgenes, hat eine größere Dimension, als wir es kürzlich in den Fokus nahmen.
Wir sprachen von Familiengeheimnissen, z. B., die sind oft verhängnisvoll, für den einzelnen, doch sie sind von der Familie selbst gemacht, aus Scham oder anderen Gründen, sie wollen Umstände / Vorkommnisse verschleiern, zum Beispiel, um einen Image-Verlust zu vermeiden, wenn da etwas bekannt würde, das dem Ansehen der Beteiligten schaden würde.

Ich sehe das Geheimnis unpersönlicher – Universeller. Ist nicht unsere ganze Existenz ein Wunder und ein Geheimnis? Sind wir uns nicht selbst Geheimnis? Es ist mir selbst ein Geheimnis, dass sich bei mir künstlerische Ideen einstellen.
Manchmal völlig fertig, so dass ich sie nur noch zu machen brauche, manchmal schwer erarbeitet, Annäherung über längere, oder lange Zeit. Wir, unser ICH, ist völlig identifiziert mit unserem Körper und kritisiert ihn lieblos oder schämt sich seiner.
Wir behandeln uns oft schlecht, als ob wir uns selbst zu verantworten hätten – vor wem ? Vor den andern, die sich genauso irren in ihrer Person.

Ich war jetzt ein paar Tage lange schwer erkältet und hatte Zeit zum Nachdenken / Nachspüren: Wer bin ich ? Die uralte Frage. Die Antwort: Alles ist Geheimnis!
Ursula Sax am 1.4. 2019.