Die Ehre – das veräußerliche Leben. Das Gegenteil von Würde.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Warum soll man sich mit dem Begriff und der Wirklichkeit der EHRE und der EHR-ERBIETUNG befassen? Wenn Ehre und Ehr-Erbietung zum Mittelpunkt des Lebens werden, wird das Leben selbst völlig veräußerlicht, oberflächlich, unpersönlich. Nicht alle wollen so leben. Deswegen sollten wir uns mit der Ehre und der Ehrerbietung befassen. Etwas anderes ist hingegen die Ehrfurcht.

1. Würde ist mehr als Ehre
Dem Begriff der Würde eines jeden Menschen steht scheinbar der Begriff der Ehre und des Ehrgefühls nahe. Aber nur scheinbar!
Denn Würde ist eine innere Dimension der menschlichen geistigen personalen Existenz. Sie ist eine (meine, deine, unsere) Dimension, die letztlich von keinem anderen Menschen zerstört werden kann. Denn bekanntermaßen können noch unter unmenschlichen, unwürdigen Bedingungen die Opfer ihre innere Würde bewahren und sich so inmitten der Unmenschlichkeit wenigstens seelisch, menschlich retten. Was nicht bedeutet, nicht gegen unmenschliche Zustände aufzustehen und zu rebellieren!

2. Nur der einzelne selbst kann seine innere Würde verlieren.
Die eigene unantastbare Würde kann nur vom einzelnen selbst in seinem eigenen würdelosen Verhalten zu einem gewissen Verschwinden gebracht werden. Ob die „innere Würde“ eines Menschen jemals von ihm ganz zu „töten“ ist, bleibt die Frage. Die KZ-Mörder, ein klassisches Beispiel, wurden im Nazi-System geehrt. Sie haben aber als Menschen, die sie ja waren, fast ganz ihre innere Würde – durch eigene Tat – verloren. Und diese Würde ist vor allem eine „innere“ Realität, im Geist, in der Seele, im Gewissen zu spüren. Vielleicht kann eine gewisse Fürsorge der KZ Mörder noch für die eigenen Kinder als ein kleiner Restbestand von eigener Menschenwürde deuten. Das würde meiner These entsprechen, dass kein Mensch seine Würde total verlieren kann. Dies ist auch ein Argument gegen die Todesstrafe: Man hofft immer noch auf eine gewisse Resozialisierung selbst de Mörders…

3. Veräußerlichtes Gefühl, „geehrt zu werden“
Ehre und Ehrgefühl des einzelnen sind äußerliche Zuschreibungen anderer. Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist voller Darstellungen dieser „Ehren-Problematik“ bzw. Sucht, als ehrenwerter Mensch angesehen zu werden. Man denken nur an Hermann Broch und vor allem an den ersten Teil seiner „Schlafwandler-Trilogie“.
Das ist typisch: In einer hierarchisch verfassten Gesellschaft bzw. einem hierarchisch geprägten Staat (und diese gibt es immer) werden bestimmte „hohe“ Amtsträger wie automatisch von anderen als „ehrwürdig“ betrachtet und angesprochen. Zum Beispiel: So müssen wohl oder übel die demokratischen Politiker bei Staatsbesuchen etwa bei Mister Trump oder Mister Orban oder bei afrikanischen bzw. arabischen Despoten gewisse „ehrerbietige“ Höflichkeitsregeln befolgen, obwohl die genannten Herren diese Ehre eigentlich nicht verdienen. Aber die Diplomatie schreibt Verlogenheit vor. Aber die Überzeugung, dass es sich bei den Genannten (Trump usw.) um würdelose Wesen handelt, ist doch sehr zurecht angesichts von deren Taten und Worten sehr weit verbreitet. Hinterlässt aber bei der demokratischen kritischen Bevölkerung immer noch Hilflosigkeit. Diktatoren lieben das Ostentative, die Monumentalität etwa in ihren Bauvorhaben. Dieses sollen die Ehre, das Prestige erhöhen. So nimmt etwa Erdogans Palast das Vierfache des Schlosses von Versailles ein und das Fünfzigfache des Weißen hauses in Washington. Bezogen auf Erdogan, Türkei, schreibt der Philosoph Marcel Hénaff: “In vielerlei Hinsicht konnte man diese Art Pathologie (des Monumentalen-Wahns) bereits im Monumentalismus bei den Nationalsozialisten, Faschisten und Stalinisten beobachten” (Lettre International, Frühjahr 2018, S. 77).

4. Respekt und Achtung
Achtung gebührt dem (gerechten) Gesetz, wie Kant treffend bemerkte. Und wenn man eine „Amtsperson“ achtet, dann nur wegen des (gerechten) Gesetzes, „wovon jene Person uns das Beispiel gibt“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).
Respekt bezieht sich auf den Umgang mit anderen Menschen. Dieser Respekt gilt prinzipiell jedem Menschen, darin drückt sich die Anerkennung der Würde, des „Wertvollen im Menschen“, aus; diese Würde ist etwas Unantastbares, einem jeden Menschen „Innerliches“.

5. Der gute Ruf und die bürgerliche Moral
Wer hingegen geehrt werden will, ist bedacht auf seinen (angeblichen) guten Ruf. Er will nach außen hin, bei anderen, „etwas“ gelten, als etwas Besonderes erscheinen. „Mehr Schein als Sein“ ist das unzerstörbare Lebensprinzip dieser „Ehrenvollen“. Man freut sich etwa über Auszeichnungen. Die können im Falle für sportliche oder für künstlerische Leistungen sinnvoll sein; selbst wenn diese Auszeichnungen oft eher durch zufällige (auch parteipolitische) Konstellationen oder „connetions“ zustande kommen. Sehr oft wird bei einer Ehrung nicht die Person als solche hervorgehoben oder gar als Vorbild gepriesen. In der Ehrung wird das von der Person immer noch verschiedene künstlerische, literarische „Werk“, die „Leistung“, geehrt. Ist die Leistung etwa durch Doping betrügerisch erschlichen worden, wird auch die Person eher höchst kritisch betrachtet. Und von der Masse der Enttäuschten geächtet.
Diese Ehrungen in der Kultur, vor allem in der Politik sind oft sehr problematisch, weil übereilt: Man denke an angebliche „Friedenspolitiker“ wie Obama, er erhielt 2009 den Friedensnobelpreis. Man denke auch daran, welche merkwüridgen Gestalten etwa auf die „Ehre der Altäre“ als Heiliggesprochene und ehrenvolle Vorbilder erhoben wurden: Etwa der Scharlatan und Volksheilige Pater Pio in Italien oder der reaktionäre Papst Pius IX. oder der Gründer des katholischen Geheimclubs „Opus Dei“, Pater Escriva y Balaguer… Zu diesen so ehrenvollen Herren sollen also die frommen Katholiken um himmlischen Beistand bitten!

6. Der gute Ruf als Ehre in der Familie
Spielt die Ehre noch im alltäglichen Familienleben eine Rolle? Vielleicht ist das Insistieren auf der Bedeutung der Ehre für die Familie in nicht-muslimisch geprägten Familien West-Europas nicht mehr so groß wie noch vor 60 Jahren: Als etwa die braven, (klein)bürgerlichen Eltern den Kindern extravagante Kleidung oder Rock-Musik oder Formen der sexuellen Freiheit verboten hatten mit dem Argument: Wer das tut, schädigt den guten Ruf, die Ehre der Familie. Wie oft hörte man das Argument: „Was sollen denn dann die Nachbarn denken?“
Die Ehre wird selbst noch in Deutschland heute verteidigt, man denke daran, dass es christlich geprägte Familien für eine Schande halten, wenn der Sohn oder die Tochter sich öffentlich als homosexuell outen.
In muslimisch geprägten Kulturen spielt die Bewahrung der Ehre (also das äußerlich korrekte Verhalten nach den Geboten der Traditionen) eine sehr große Rolle, aber das ist ein eigenes Thema. Ein Stichwort wären: Ehrenmorde. Oder die „arrangierten Ehen“, die die Würde der Mädchen und Frauen verletzen. Ehre zeigt sich hier besonders als Ausdruck einer grausamen „Macho-Religion“.

7. Die Ehre als Mittelpunkt
Die Ehre war vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Europa eines der „höchsten Güter“. Es war eine Art „symbolisches Kapital“, wie es in der „Geschichte des privaten Lebens“ (Band IV, S. 270) heißt. Je mehr Ehre einem Menschen, einer Familie oder einer Firma zugesprochen wurde, um so bedeutender und erfolgreicher konnte man gelten und leben. Aber dieses Kapital der Ehre war stetst gefährdet, durch üble Nachrede konnte es zerstört werden. Davon handelten die ständigen, heftigen Streitereien der Menschen, etwa schon in Paris des 18. Jahrhunderts. Da gab es die staatlich angestellten „commissaires“, an die sich die Beleidigten wenden konnten, um die verlorene Ehre rechtlich wiederherzustellen.
Man wollte ja schließlich wieder „angesehen“ zur „Gesellschaft“ gehören.

8. Das Duell
Auf die lange Jahrzehnte dauernde, beinahe übliche Praxis des Duells kann hier nur hingewiesen werden, erst nach 1918 wurde das Duell verboten, 1970 gab es noch ein Duell in Uruguay.
Man bedenke aber, dass in dem allgemein bis zum 2. Vatikanischen Konzil verbindlichen „Handbuch der katholischen Moraltheologie“ von Heribert Jone (Paderborn 1953), das Duell noch als erlaubt galt, wenn denn dadurch das Gemeinwohl geschützt werden kann. So in § 216, S. 180 in diesem Buch, das den ganzen Klerus bis ca. 1965 prägte. Hingegen wird das nur aus privaten Gründen praktizierte Duell als schwere Sünde bezeichnet: Wobei unklar bleibt, ob nicht auch das private Duell irgendwie dem Allgemeinwohl dienen kann. Man denke etwa an den Wahn, mit dem sich die katholischen Feinde des (jüdischen) Hauptmanns Alfred Dreyfus ins Duell stürzten, in der Überzeugung, dadurch der Nation Frankreich zu dienen und den Juden Dreyfus zu bekämpfen….Nebenbei: Für diese Moraltheologie von Heribert Jone ist hingegen, so wörtlich, „ein Kampf mit Stöcken und Ruten noch kein Duell“, also erlaubt (S. 180 in Jone). Diese kirchliche Duldsamkeit fürs Schlagen mit Stöcken wurde gelegentlich in kirchlichen und staatlichen „Elite“-Schulen und Internaten angewendet. Schlagen war ja offiziell kirhlich nicht verboten. Man sieht hier die ideologische Abhängigkeit kirchlicher Moralvorstellungen von der herrschenden, aber verblendeten Moral. Der Theologie fiel es immer sehr schwer, selbstkritisch diese ideologischen Bindungen überhaupt zu erkennen. Man hielt das Gesagte oft genug für „Gottes-Wort“.

9. Das 8. Gebot
Die Ehrerbietung, also die Praxis der Ehrenbezeugung, spielt in den Religionen immer noch eine große Rolle.
Dass im 8. Gebot, von Gott an Moses angeblich übergeben, auch die Ehre von Vater und Mutter eine zentrale Rolle spielt, sollte weiter untersucht werden. Wenn man den häufigen Umgang heutiger Söhne und Töchter mit den alten Eltern betrachtet, meint man, in einer gottlosen Zeit zu leben..

10. Der Kult der Ehrerbietungen:
Der Dalai Lama wird auch hierzulande mit „Seine Heiligkeit“ angesprochen. Der Papst wird selbst in weltlichen Medien „Heiliger Vater“ genannt. Wer wagt es schon, etwa im Interview Papst Franziskus einfach und normal mit „Herr Bergoglio“ anzusprechen. Ehrerbietung und Achtung vor dem Amt spielen da fast zwanghaft zusammen. Katholische Pfarrer hießen und heißen in manchen Gegenden immer noch „Hochwürden“, Nonnen werden „ehrwürdige Schwestern“ genannt. Wer sich mit den Katholikentagen der neunzehnhundertfünfziger Jahre befasst, etwa mit dem Berliner Katholikentag 1958, wird immer wieder auf die Anrede „Seine Durchlaucht“ stoßen als Anrede für den obersten katholischen Laien damals, einen gewissen Karl Fürst zu Löwenstein. Ich habe als Kind damals so oft das Wort „Durchlaucht“ gehört und dachte, es handle sich dabei um ein Schiffbrüchigen oder vom Hochwasser Durchspülten
Die Ehre, die für die Frommen einzig dem transzendenten Gott selbst zukommen sollte, wurde und wird also pervertiert angewandt auf Menschen. Nebenbei: Welcher klerikale Hochwürden hat schon einmal einen Armen, der sich durchs Leben recht und schlecht kämpfen muss, wegen seines ungebrochenen Lebenswillens „Hochwürden“ genannt. Der Arme und die Bettlerin hätten diesen Titel verdient.

11. Jesus – der Mensch ohne Ehre
Es kann hier nur daran erinnert werden, dass die Gestalt des Propheten Jesus von Nazareth von den Herrschenden als ehrlose, störende Gestalt gewertet wurde. Aber dieses Lebensmodell Jesu war gerade seine Würde. Sein Tod und die Form seiner Hinrichtung sind das Ehrloseste, das in der damaligen Gesellschaft gab. Christen verehren also zunächst einmal den „Ehrlosen“, der sich dann aber in der Überzeugung der Gemeinde als der Würdevollste, überhaupt zeigte: In dem Selbstbewusstsein der Gemeinde wuchs die Überzeugung: Gerade dieser Mensch Jesus birgt förmlich Göttliches in sich, also Ewiges, das den Tod überdauert. Und dieses Ewige, so wuchs die Überzeugung, gilt für alle Menschen. (Als dringende Buchempflehlung: “Der schwierige Jesus“ von Gottfried Bachl, Tyrolia Verlag 1996. Bachl war Theologieprof. (Dieses Buch, nur 100 Seiten, ist antiquarisch noch vorhanden. Besonders die Kapitel „Der nackte Jesus“ und „Der hässliche Jesus“ geben zu denken.)

12. Ehrfurcht und Gehorsam geloben
Der Kult um die Ehre und damit die Ehrerbietung der Hierarchen ist ungebrochen im römischen Katholizismus. Das sei allen gesagt, die irgendwie von einem fortschrittlichen, d.h. vernünftig-human gewordenen Katholizismus träumen. Bestes Beispiel, das die seelische Prägung der Priester insgesamt betrifft: Die jungen Männer, die sich im Dom vom Bischof zu Priestern weihen lassen, legen sich als Zeichen der Unterwerfung ganz flach auf den steinernen Boden. Sie sollen förmlich als Nichts, als Untertane, als Staub gelten.
Dann versprechen diese neu geweihten Prister auch dem Bischof, als ihrem Vorgesetzten, ausdrücklich „Ehrfurcht und Gehorsam“: Die Priester, alle Priester des römischen Systems, sollen ihrem Chef, voller Ehrfurcht und voller Gehorsam begegnen. Ob sie das dann de facto auch tun, ist eine andere Frage. Aber: Ehrfurcht, Zuweisung von Ehre und auch Angst vor der Amtsperson gehören zentral ins innere Gefüge der römischen Kirche.
Sicher kennen auch andere große hierarchische Organisationen solchen Zwang zur Ehrerbietung gegenüber dem Chef. Die Untertanen gehen dabei selbst seelisch sozusagen vor die Hunde, weil sie buckeln müssen und ergeben erscheinen müssen. Auch die Mafia kennt solche Bindungen durch Ehrerbietung und Gehorsam. Und sie erzeugt dabei ein tödliches System.

13. EHRFURCHT vor dem Leben
Wie der Begriff schon andeutet, ist in der Haltung der Ehr-Furcht auch die Haltung der FURCHT enthalten. Ob Furcht in Angst übergeht, ist eine andere Frage: Angst vor der zu ehrenden Person, das gibt es ständig: Einer „hohen“ Person soll also dem Begriffe nach voller Furcht begegnet werden, weil sie Macht hat. Man soll förmlich erschaudern vor dieser „Amtsperson“.
Da muss aber wieder die bleibende Einsicht Kants ins Spiel kommen: Nicht die Person wird ehr-fürchtig verehrt, sondern das (gerechte) Gesetz, das sie repräsentiert.
Ehrfurcht gegenüber Menschen sollte es also eigentlich nicht geben. Kant sagte ja in seinem berühmten so viel zitierten Satz: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und EHRFURCHT: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir (also der kategorische Imperativ).“
Albert Schweitzer sprach von der „Ehrfurcht VOR DEM LEBEN“, also vor der Natur als der geschenkten Schöpfung sollen wir uns ehrfürchtig, also nicht herrschsüchtig, nicht destruktiv, verhalten. Ein Beispiel für unsere Welt ohne Ehrfurcht: Das verbrecherische Abholzen etwa der Amazonas Wälder durch den rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro in Brasilien, von evangelikalen Kirchen dort heftig unterstützt, widerspricht total der Ehrfurcht vor dem Leben. Dieser von den Einwohnern gewählte Präsident – “Diktator” ist schon fast würdelos: Er will wie ein Rassist das Leben der indigenen Völker am Amazonas offenbar vernichten und einzig aus ideologischer Verblendung und Frauenfeindlichkeit das „ungeborene Leben“ schützen…Das schon lebende personale Leben ist diesem Rechtsextremen und seinen frommen Anhängern egal. Und die Bewahrung der Natur, „Schöpfung“ eigentlich in seiner religiösen Ideologie, sowieso, solange sie Geld bringt und die reichen Nationen durch das verbrecherische Abholzen der Wälder mit Soja und Rindfleisch versorgt.
Das Motto dieser evangelikal frommen Leute und Diktatoren ist: „Nach uns die Sintflut“. Oder „Sünd-Flut“, als Flut unserer Sünden ? …
Warum ist die demokratische Welt nicht in der Lage, einen solchen Politiker in dauer-hafte Pension zu schicken?

14.
Ehre und Würde sind doch gelegentlich verbunden
Tzvetan Todorov schreibt in „L Honneur“ (Paris 1991, S. 221 ff.) über den Aufstand im Warschauer Getto 1943 und der Stadt Warschau 1944: Immer wieder betonen dort die Widerstandskämpfer, sie wollten in Ehre sterben. Ehre heißt: Kämpfen bis zum Ende. Sich nicht wie geduldige Schafe töten lassen“. Selbst an den Häuserwänden im Getto stand: „Sterben in Ehre, ehrenvoll sterben“. Ehre hieß: Das Aussichtslose tun.
Ehre erscheint als einziger Wert in dieser Situation:
Ehre ist hier auch bezogen auf die Wahrnehmung anderer: Sie sollten, wenigstens später, nach dem Grauen, sehen, dass Juden sich wehrten.
Aber hier ist dieser „Ehr- Begriff“ auch stark verbunden mit der Würde: Diese Widerstandskämpfer wollten in ihrem Tun ihre menschliche Würde bewahren. .

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Richtig falsch. Philosophische Impulse für ein richtiges, ein humanes Leben

Hinweise zu einem neuen Buch von Michael Hirsch.
Von Christian Modehn

1.
Das oft zitierte und weit verbreitete Buch von Theodor W. Adorno „Minima Moralia“ (verfasst 1944) hat den Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Der Untertitel legt nahe zu denken, also aus einem „bloß“ „beschädigten“ Leben und nicht aus einem total zerstörten und hoffnungslos korrupten Leben. Das gilt vor allem wohl, wenn man den besonders häufig nachgesprochenen Satz aus „Minima Moralia“ hört: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ( S. 43, in: Gesammelte Schriften, Suhrkamp). Kann also in einem insgesamt falschen Leben, etwa in einem falschen System, auch mein und unser Leben insgesamt nur falsch sein? Wahres humanes Leben ist dann offenbar unmöglich.

2.
Gegen diese eher defätistische Interpretation des Adorno – „Spruches“ wendet sich in seinem neuen Buch „Richtig falsch“ der Philosoph und Politikwissenschaftler Michael Hirsch: Er hat ein überaus anregendes philosophisches Buch ganz eigener Art verfasst: 123 kurze Essays oder „längere Aphorismen“ lassen sich von diesem Satz Adornos inspirieren, sie umkreisen ihn förmlich und kritisieren und korrigieren ihn. Und diese Leistung finde ich sehr hilfreich! Denn Michael Hirsch weitet das Denken insgesamt. Für mich sind manche Beiträge philosophische Meditationen, Texte zum Innehalten. Zu einer neuen Form des Umgangs mit philosophischen Erkenntnissen wird man förmlich aufgefordert.

3.
Das Buch, so wird vom Autor betont, wendet sich an „linke Intellektuelle“. Auf diese Gruppe bezieht er sich kritisch, auch mit neuen Vorschlägen. Zum Trost für die sich nicht als „Intellektuelle“ verstehenden LeserInnen: Man sollte den Begriff „Intellektuelle“ sicher nicht zu eng verstehen und bedenken: Jeder Mensch, der selbstkritisch umfassend reflektiert, ist in gewisser Hinsicht ein Intellektueller. Insofern sind Intellektuelle jene, die unter den widerwärtigen Verhältnissen der Gesellschaft, Rassismus, Ausgrenzung, Ungleichheit etc. leiden und doch noch reflektierend in der Praxis Auswege suchen. Die Grundüberzeugung ist: Es darf jedenfalls nicht so weiter gehen wie bisher. „Es reicht“ (26).

4.
Bei allem differenzierten Wohlwollen für Adorno wird der „berühmte Adorno – Spruch“ kritisch betrachtet. Der Autor meint explizit, Adorno sei dabei im Irrtum: „Der Einzelne kann nicht nicht nach einem guten Leben suchen – unter welch schlechten und falschen Bedingungen auch immer“ (38, auch 34). Auf Seite 165 spricht er von Adornos Obsession, überall nach Falschem und nach Schuldzusammenhängen zu suchen…Und das sei sein Fehler…“Wir müssen die kleinen Spuren des Richtigen festhalten und genießen“ (165). Andererseits hat der Spruch doch noch die Möglichkeit eines dialektischen Sprungs: „Dort, wo das Ganze, wie Adorno sagt, als das Unwahre erscheint, dort schlägt Erkenntnis in die Möglichkeit messianischer Rettung um“ (141). Diese „messianische Rettung“ ist eine „Grundmelodie“ im Buch von Hirsch.
Der Autor bietet Hinweise dafür, dass die als falsch erlebte Gesellschaft gerettet werden könnte: Wenn die Menschen wieder imstande wären, auch zu „empfangen“ (sic!) und nicht nur zu „machen“. Diese Haltung wäre die „Außerkraftsetzung der Herrschaft, der Hierarchien der bestehenden Ordnung. Darin konvergieren emphatisches philosophisches Denken und Religion“,
Die große Veränderung, der wahre Fortschritt (!) der Gesellschaft „hängt nicht nur von uns ab, steht nicht ganz in unserer Macht.“ (S. 141) Wir stehen vielmehr im Zusammenhang „eines göttlichen Elements der Rettung“ (ebd.) Die religionsphilosophischen Thesen beziehen sich auf ein sozusagen konfessionsfrei formuliertes „Göttliches“!

5.
Ich finde es jedenfalls erstaunlich, mit welcher Intensität der Autor in diesen doch knappen Kapiteln Themen religiöser Traditionen aktualisiert, vor allem auch im III. Kapitel: Dort wird im Gedenken an Kafka auch vom Gebet gesprochen. Wobei Michael Hirsch von der im Gebet geschehenden „Magie des Rufens und Herbeirufens“ (des Göttlichen) spricht, und dann betont: „Das Heil oder das Heile muss nicht neu erfunden oder erschaffen werden, sondern es ist immer schon da, es liegt irgendwo verborgen…Unsere Aufgabe ist es, diese Herrlichkeit des Lebens zu suchen, immer wieder und immer von neuem“ (71f.) Allerdings finde ich Hirschs Qualifizierung des Betens als „Magie“ unzutreffend. Wenn man philosophisch Gebet als „göttliche“ Poesie versteht, ist sie eine freie Leistung des Menschen, der seine ihm gegebene (!) schöpferische geistige Kraft lebendig werden lässt. Dann ist Gebet keine Magie mehr. Man staunt eher über die gegebenen (!), also geschaffenen geistigen Möglichkeiten…

6.
Das Buch bietet viele weitere, der Form des Buches entsprechend knapp formulierte Anregungen, Impulse, die zu denken „GEBEN“. Nur noch ein Beispiel: Zum Umgang mit der Arbeit: Diese wird heute als Zwang zur Selbstvermarktung erlebt und entsprechend erlitten. Gemeint ist das unternehmerische Selbst. „Handle unternehmerisch, heißt der Imperativ“. Damit wird umfassende Selbstverwirklichung, Muße, Zeithaben, politisch Aktivsein usw .fast ausgeschlossen. Das ist „Kapitalismus pur“.

7.
Interessant ist, dass Hirsch Denkmotive Heideggers aufgreift, etwa wenn von der „Fülle des Seins“ die Rede ist, in der „uns alles zufällt“ (167), als Gabe. Hirsch spricht wie Heidegger vom „Geheimnis einer Existenz, die als Öffnung, als Da des Seins erscheint“ (158). Auch wenn man den Heidegger der „Schwarzen Hefte“ ablehnt: Die Aussagen Heideggers aus „Sein und Zeit“ haben eine Gültigkeit.
Das von Hirsch präsentierte Denken und denkende Leben setzt sich ab von einer passiven, zuwartenden Existenzform. Sondern tritt ein für das politische Handeln. Ideen haben für Hirsch entschieden „Gebrauchswerte“ (171). „Denken hat eine verändernde Kraft“ (174). Und die Veränderung gilt der Beförderung der Menschenwürde für alle und der Überwindung einer neoliberalen Welt der Herrschaft der Privilegierten und der so genannten Eliten.
Wichtig ist: Wir haben „das Begehren“ in uns, jene unstillbare geistige Leidenschaft, für eine wahre, humane Welt. Bei einer noch so klugen bloß theoretischen Analyse des Elends darf es also nicht bleiben. Das Elend des Ichs, der Gesellschaft, der Welt ist kein Schicksal. Noch einmal: Denn wir leben immer schon inmitten der Utopie des wahren Lebens: Sie spendet das Licht der Erkenntnis. „Diese Utopie lehrt uns, dass wir noch unendlich weit entfernt sind von unseren wahren Möglichkeiten. Das ist die Wahrheit, von der wir ausgehen“ (167).

8. Ich würde mir wünschen, dass bald ein weiteres Buch von Michael Hirsch folgt, in dem seine angedeuteten religionsphilosophischen Hinweise vertieft werden. Und in dem auch die aktuellen Fragen der Natur, der Ökologie, des Klimas und die vielleicht noch mögliche Rettung der Welt einbezogen werden … sowie die Gleichheit aller Menschen, auch der Flüchtlinge (in Deutschland und weltweit).

Michael Hirsch, „Richtig falsch“. „Es gibt ein richtiges Leben im Falschen“. TEXTEM Verlag, Hamburg, 2019, 192 Seiten. 16 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Würde des Menschen: Im Gehirn angelegt, aber etwas Absolutes im Menschen.

Das Buch „WÜRDE“ von Gerald Hüther
1.
Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher in Deutchland, argumentiert in seinem Buch über die „Würde“ des Menschen vor allem als Biologe. Zum Thema hat er einen praktischen Vorschlag, begründet in der Erkenntnis des Naturwissenschaftlers: Jeder Mensch kann seine absolut geltende menschliche Würde durch praktische, auch leibliche Erfahrungen, seit der frühen Kindheit, aufbauen und pflegen. Schon Kleinkinder machen Kontrast-Erfahrungen, erleben also Momente, in denen sie spüren: Diese Situation im Umgang mit anderen Menschen sollte es für mich nicht geben. Es gibt also etwas in unserem Gehirn, „das von ganz allein aktiv wird, wenn etwas geschieht, das nicht so ist, wie es sein sollte… Dies ist für Kleinkinder nur eine Empfindung, noch kein Wissen, sondern ein ungutes Gefühl“ (S. 113). Diese Wahrnehmungen werden zum Gehirn geleitet; und dann als Widerspruch zum Menschlichen schon vom Kind gespürt.
2.
Die Menschen-Würde kann im ganzen Leben wieder „aufgeweckt“ werden, wenn sie durch negative Erfahrungen verdeckt wurde. Wenn hingegen ein Mensch positive Erfahrungen in einer Umgebung erlebt, die Geborgenheit und Verbundenheit mit anderen lebendig erfahrbar macht, kann der einzelne seine Autonomie und Gestaltungsfähigkeit, also seine Würde, (wieder)erlangen. Diese Erfahrungen werden „im Gehirn verankert“ (S. 87). Es sind die je neu gestaltbaren „Verschaltungen im Gehirn“, die Würde erlebbar machen. „Jeder Mensch ist in der Lage, ein Gespür für das zu entwickeln, was seine Würde ausmacht. Diese Fähigkeit ist bereits im kindlichen Gehirn angelegt“ (S. 133). Wenn die ersten Erfahrungen mit anderen Menschen negativ sind, also keinen Sinn wecken für die eigene Würde, so kann es doch möglich sein, „dieses tief im Hirn verankerte Empfinden (für die eigene unantastbare Würde, CM) durch spätere, günstigere Beziehungserfahrungen wiederzuerwecken“. Mit anderen Worten: Würde ist selbst noch den lange Zeit würdelos (wie Objekte) behandelten Menschen vermittelbar. Wer seine eigene Menschenwürde kennt und schätzt oder diese Menschenwürde wieder gefunden hat, der hat einen „inneren Kompass“ zur Lebensgestaltung, betont Gerald Hüther. Dass Menschenwürde immer auch mit Rechten (und Pflichten) in Gesellschaft und Staat verbunden ist, wird meines Erachtens zu wenig in dem Buch erörtert. Wie können Menschen in dem reichen Europa heute von ihrer eigenen Menschenwürde noch überzeugt sein, wenn ihre Politik, ihre Ökonomie, zur Würdelosigkeit sehr vieler arm gemachter Menschen in Afrika führt?
3.
Ich finde die letztlich knappen Ausführungen des Biologen Hüther auch philosophisch sehr relevant: Denn so wird die philosophische Erkenntnis etwa zum Gewissen, zum Kategorischen Imperativ oder zur transzendental-notwendigen Bindung an das Gute biologisch „verortet“. Ohne dass dabei naturwissenschaftlich gesagt wird: Diese Bindung an das Gute oder diese Bindung an das Gespür der eigenen Würde, seien „nichts als“ ein materielles und deswegen manipulierbares und sogar auch auslöschbares Nerven-Geschehen. Bekanntlich ist es doch so: Wenn es einen materiellen, leiblichen „Ort“ gibt für die mit dem Menschsein schon immer mitgebrachten neuronalen Verschaltungen, dann sagt diese Herkunft nichts aus über die geistige Qualität des Erlebten, etwa der Würde. Man muss grundsätzlich „Genesis und Geltung“ unterscheiden, wie der Philosoph Vittorio Hösle betont: Mit anderen Worten: Was im Materiellen generiert wird, kann doch eine universale geistige Geltung haben. Gerald Hüther spricht vom „Ende des genetischen Determinismus“ (S. 167).
4.
Diese Erkenntnis Hüthers scheint mir besonders wichtig zu sein: Bei einem Menschen ist keine Haltung definitiv, für immer (negativ), festgelegt: Eine gerechtere, bessere Welt der würdevoll lebenden Menschen ist also möglich und als Ziel auch zu gestalten. Naturwissenschaftlich gesagt: Durch neue, das Bewusstsein der eigenen Würde stärkende Erfahrungen können die alten, negativ stimmenden neuronalen Verknüpfungen „im Gehirn ÜBERFORMT werden“, wie Hüther schreibt (vgl. S. 172).
Dabei deutet der Autor durchaus auch politische Konsequenzen an, wenn er etwa an die friedliche Revolution in Deutschland und an die politische Entwicklung danach erinnert: Die Menschen in Ostdeutschland, „müssen spüren, dass sie in der freiheitlich-demokratischen Ordnung auch von ihren Mitbürgern gesehen, wertgeschätzt und ernst genommen werden. Dass sie nicht weiter zu Objekten gemacht werden. Dass ihnen andere Menschen, auch Politiker, Meinungsmacher, Lehrer usw. so begegnen, dass das Empfinden, die Vorstellung und das Bewusstsein ihrer eigenen Würde gestärkt wird“ (S. 172).
Dabei ist Gerald Hüther realistisch: Dass sich unsere Welt tatsächlich zu einer Welt der in Würde lebenden Menschen entwickelt, ist alles andere als sicher oder gar bloß wahrscheinlich. „Es ist allerhöchste Zeit aufzuwachen“ (S. 160), betont er, und „öffentlich auszusprechen, was man (politisch, ökologisch) nicht länger hinzunehmen bereit ist. Und dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nicht länger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird“ (ebd.).
5.
Gerald Hüther äußert sich in dem Buch auch zur Pädagogik und möglichen Reformen der Erziehung. Und er zeigt auch Aspekte seiner Philosophie: Denn für ihn wird in der Verteidigung der Würde des Menschen deutlich: „Es gibt etwas Überzeitliches, Zeitloses, etwas Göttliches, das man nicht vernichten kann“(S. 58). Dieses unterstörbar Göttliche im Menschen ist die Menschen-Würde. Die Gültigkeit dieser Idee kann kein Mensch vernichten, selbst wenn Menschenwürde so selten erfahrbare Realität ist.
6.
Der Philosoph Franz Josef Wetz hat in seinem Aufsatz “Illusion Menschenwürde” (in “Der Wert der Menschenwürde”, Paderborn 2009, S. 45ff) darauf Wert gelegt, die Menschenwürde gerade NICHT “religiös-metaphysisch” zu begründen: Einmal, weil diese Begründung zur pluralistischen und säkularen Gesellschaft nicht passe und dann auch wegen des “zunehmend naturwissenschaftlichen Weltbildes” (S. 61). Dass gerade Naturwissenschaftler wie Gerald Hüther offenbar das Gegenteil behaupten, zeigt nur, dass es eben “die” Naturwissenschaft nicht gibt. Und auch “die” “säkulare” Gesellschaft, von der Wetz spricht, wird von etlichen Philosophen und Religionssoziologen zurecht als “postsäkulare” Gesellschaft wahrgenommen.
Aber schwerer wiegt meines Erachtens, dass Franz Josef Wetz die Auffassung von menschlicher Würde lediglich und nur als “reinen Gestaltungsauftrag” (S. 54) definieren will “ohne weltanschauliche Hintergrundannahmen”. Dabei wird überspielt: Dass die Annahmen von Wetz auch weltanschaulich geprägt sind, sie sind alles andere als “neutral” (S.61). Aber noch entscheidender ist: Wer die Geltung der menschlichen Würde, also die Würde eines jeden Menschen, aus dem Bereich der absoluten Unantastbarkeit (Grundgesetz!) heraushebt und sie lediglich als eher subjektiven “Gestaltungsauftrag” sieht, gefährdet diese unantastbare Würde. Denn Gestaltungsaufträge können je nach politischer und ökonomischer Konjunktur mal so und mal anders gedeutet und praktiziert werden. Die Menschenwürde ist aber nichts, was der gestalterischen Freiheit und Willkür bestimmter einzelner (Herrscher) überlassen werden darf. Sie ist eben unantastbar. Wetz redet Klartext: (Seite 58): Wenn er die Menschenwürde nur als Gestaltungsauftrag sieht, dann “wird die metaphysisch begründete Vorstellung von der vorgefundenen Wertabsolutheit des Menschen und der unantastbaren Heiligkeit seines Lebens hinter sich gelassen”. Man lese das Grundgesetz, das ist anderer Meinung, Gott sei Dank möchte man fast sagen.
Und: Wer würde denn leugnen, dass mit der Annahme der unendlichen Würde eines jeden Menschen, gültig bereits VOR jeder Anerkennung durch Staat und Gesellschaft, die praktische “Gestaltung” dieser Würde ausgeschlossen wäre? Die unendliche Würde eines jeden Menschen erfordert gerade die von Wetz geforderte “Gestaltung”. Aber diese Gestaltung gestaltet etwas unantastbar Heiliges eines jeden Menschen. Da darf nicht herum modelliert werden, je nach Laune der Herrschenden oder eines sich zurecht naturalistisch nennenden Philosophen wie Franz Josef Wetz. Dass er Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung ist, soll nur, ohne jede Polemik, der Vollständigkeit halber am Rande bemerkt werden. Franz Josef Wetz hat auch interessante Bücher geschrieben, wie etwa über Schelling…

Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Pantheon Verlag, 2019. Taschenbuch. 189 Seiten, 14 EURO.

Nietzsche neu lesen: Er öffnet Denkräume, zersetzt kulturelle Üblichkeiten

Nietzsche neu lesen

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 3.8.2019

1.
Mit einem erneuerten Verstehen Nietzsche lesen: Das fordert der Philosoph Andreas Urs Sommer (Uni Freiburg i. Br.) in seinem Essay in der Zeitschrift „Information Philosophie“, Ausgabe Dezember 2018. Sommer ist Leiter der „Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weil Nietzsche vor allem von vielen philosophisch Interessierten oft und viel zitiert sowie mit Schlagwörtern, wenn nicht Klischees, fixiert wird, lohnt es sich, diesen Beitrag von Andreas Urs Sommer besonders zu beachten.
2.
Seine Überlegungen sind bezogen auf seine umfangreichen Studien des „Nietzsche Kommentars“, die selbstverständlich auch die vielen Texte aus dem Nachlass berücksichtigen. Der Beitrag setzt sich mit zwei gegensätzlichen Interpretationslinien der Philosophie Nietzsches auseinander: Die beliebte „inhaltliche“ Position, die in Nietzsches Schriften feste Überzeugungen entdeckt. Und diese dann auch auf aktuelle Fragen bezieht, etwa „Tod Gottes“, „Nihilismus“, „Übermensch“. Und dann die eher „textische“ Lektüre, wie Sommer sagt, die Nietzsche nur als Verfasser von literarischen Texten versteht: Die dann von diesen Sprach-Forschern in allen philologischen Nuancen ausgeleuchtet werden.
Der Essay von Andreas Urs Sommer hat den provozierenden Titel „Was von Nietzsche bleibt“. Das ist ein Titel, der auf Abschließendes, Definitives hinweisen könnte. Tatsächlich aber will Sommer eher einen „Denkraum“ eröffnen…
3.
Der Artikel ist für LeserInnen Nietzsches wichtig, weil zentrale Differenzierungen genannt werden. So etwa Nietzsches Umgang mit Kant (S.10, in dem genannten Heft). Nietzsche habe, so Sommer, Kants Werke selbst nicht gelesen. „Nietzsches Kant ist ein Monstrum, von Nietzsche erdacht oder erschrieben als Gegner, an dem man sich messen kann, um sich in ein ablehnendes Verhältnis zu setzen…Nietzsche will einen Waffengefährten oder einen Gegner haben“. Eine Erkenntnis übrigens, die etwa schon der Philosoph Vittorio Hösle im Nietzsche Kapitel seines Buches „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (2013) mitgeteilt hatte (S. 185, auch S.190: „Nietzsche war als Philosoph nie ausgebildet“).
Wer hingegen die ganze große Fülle des Nachlasses berücksichtigen muss, wie Sommer, der wird bei Nietzsche dem stetigen mühevollen Ringen um den treffenden Ausdruck begegnen. Z.B.: „Die vom historischen Subjekt Nietzsche (dann) für publikationswürdig erachteten Aussagen über den =Willen zur Macht= stehen unter Vorbehalt. Sie haben die Gestalt eines Denkexperiments“ (S.12.) Dadurch gelangt man zu einem neuen Verstehen dessen, was Philosophie für Nietzsche bedeutet. “So hat man“, betont Sommer, “in den philosophischen Texten Nietzsches ein Philosophieren in der Hand, als permanentes Fort – und Überschreiben einmal erreichter Standpunkte, nicht als ein festes Gefüge von Gedanken, Überzeugungen, sondern Philosophieren als Prozess, als Bewegung“(S. 13). Philosophieren zeigt sich in Nietzsches Texten als etwas ungewöhnlich anderes, „es unterscheidet sich“, so Sommer, „fundamental von Philosophie im landläufigen Sinne“ (S. 14). Philosophieren widerspricht den festen Fügungen und letzten Überzeugungen, denkt Nietzsche.
4.
Was also bleibt von Nietzsche? Nichts Festes. Schon gar kein Lehrsystem. Sondern Denken als Prozess, als ständiges Aufheben und Überschreiben fester Überzeugungen (Propositionen). Große dogmatische, handlich griffige Lehrgewissheiten sind also aus Nietzsches Schriften nicht zu erzeugen und auch nicht mehr festzuhalten, so Sommer. Es sind bei ihm Denkbewegungen zu finden, bei denen der Leser Unterstützung finden kann in den umfangreichen Kommentaren, die nun von der Forschungsstelle herausgegeben werden. Dadurch wird deutlich: Selbst bei einer Vielzahl möglicher Interpretationen von Nietzsches Texten sind doch nicht alle Deutungen vertretbar. „Nietzsches Philosophie öffnet Denkräume. Es entsteht Weite. Abschließendes gibt es bei Nietzsche nicht. Diese Haltung im Denken hat etwas gegenüber der fixierenden Tradition durchaus „Zersetzendes“, betont Sommer. „Diese Zersetzungskraft rückt den Selbstverständlichkeiten abendländischer Moral – und Weltanschauungskonsense auf den Pelz. Auch das bleibt von Nietzsches Philosophie“ (S. 15).
Wie das zu bewerten ist, bleibt eine offene Frage: Das Tote, d.h. das Unmenschliche einer Kultur, kann ja gern „zersetzt“ werden: Aber wenn es dann doch – gegen Nietzsche – bleibend Gutes und Wahres gibt, warum sollte das nicht erhalten bleiben, etwa die Menschenrechte, die so oft missbraucht, aber trotzdem universal geltend für alle Menschen unersetzlich sind…
Für uns am wichtigsten: Nietzsche fördert bei seinen Lesern den eigenen Denkweg zu suchen, die eigene Praxis zu finden. Die fraglich bleibt und nur in der Bewegtheit des Lebendigen selbst das Bleibende sieht.
5.
Freilich: Bestimmte Grund – Überzeugungen“ zur Philosophie Nietzsches haben sich öffentlich durchgesetzt, haben sich als Sprüche in den Köpfen festgesetzt. So etwa die Diagnose, die er im Text „Zarathustra“ verbreitet: „Wir haben Gott getötet“. Dieser Satz gibt nach wie vor zu denken: Kann der Mensch Gott töten, wenn ja: welchen Gott, wer ist „wir“? Über Nietzsches Text „Der Antichrist“ wäre eigens sprechen (erschienen 1895). Darin „verkündet“ Nietzsche doch wohl eine neue, eine explizit antichristliche Moral? Manche Leser haben diesen Eindruck, wenn man das von Nietzsche Geschriebene ernst nimmt. Und auch dies: Die Polemik Nietzsches gegen, so wörtlich, „die Schwachen und Missratenen“, ist nicht nur antichristlich. Sie ist antihuman. Oder muss man auch bei dem Thema das nur „Vorläufige“, wenn nicht „Spielerische“ des Gesagten bedenken?
6.
Man wird also Nietzsche, dann mit den ausführlichen kritischen Kommentaren ausgestattet, sehr vorsichtig, immer mit einem Abstand kritisch lesen müssen und ihn schon gar nicht zu einem „Meisterdenker“ aufwerten, selbst wenn viele seiner Aphorismen anregend sind, zum kritischen Weiterdenken führen. Das gilt sicher schon heute, auch wenn diese großen Kommentare noch nicht vorliegen.

Siehe auch: „Forschungsstelle Nietzsche Kommentar“. 2020 soll z.B. ein Kommentar zum „Zarathustra“ erscheinen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wenn die Rechtspopulisten zornig werden…

Ein neues Buch der Soziologin Cornelia Koppetsch über „Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Den Rechtspopulismus neu verstehen: Das ist das Ziel der umfangreichen Studie der Soziologin Cornelia Koppetsch (Prof. an der TU Darmstadt), ihr Buch aus dem Transcript Verlag ist am 19. Mai 2019 erschienen und hat seitdem viel Aufmerksamkeit in der Presse gefunden.
1.
Das Buch erfordert von den LeserInnen, die nicht professionelle Soziologen oder Politologen sind, eine große Lektüre Anstrengung, weil etwa allein die (langen) Sätze voller Substantive sozusagen „wimmeln“, was bekanntlich jegliche Lesefreude, die einem guten Stil voller Verben verpflichtet ist, sehr erschwert.
2.
Zudem ist das Buch vor dem Mord an dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke (Kassel) am 2.Juni 2019 geschrieben worden: Dieser Mord stellt bekanntlich eine nun ganz offensichtliche „Qualität“ der Aktionen sehr rechtslastiger Kreise dar: Mord und Totschlag, sowie Brandattacken, von sehr rechtslastigen Kreisen gelten ab sofort nicht mehr „nur“ den Flüchtlingen und ihren Unterbringungen, von „Heimen“ sollte man angesichts dieser Unterbringen besser nicht reden. Die üblichen verbalen Attacken und Beleidigungen, dieses Schmähen der Demokratie und der Menschenrechte, wird nun offenbar praktisch, d.h. mörderisch. Diese Attacken gelten gezielt demokratischen, den Menschenrechten verpflichteten Politikern. Von bloßem „Rechtspopulismus“, wie der Buchtitel suggeriert, nur zu sprechen, erscheint mir schon deswegen als gar nicht treffend und auch etwas zu wohlwollend für diese Kreise.
3.
Es ist wohl einzig angemessen, auch angesichts der AFD Führer etwa in Thüringen oder Brandenburg, von Rechtsextremismus im Zusammenhang der AFD zu sprechen. Wie dies andere Forscher und kompetente Journalisten, etwa im WDR tun, und nun ihrerseits mit dem Leben bedroht werden. „Der AFD geht es letztlich um einen Bruch mit zentralen Werten des Grundgesetzes“, schreibt nicht etwa Cornelia Koopetsch, sondern Wissenschaftler wie Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges und andere in dem Buch „Rechtspopulisten im Parlament“ sehr richtig.
4.
Von der AFD als einer Gestalt des bloßen Rechtspopulismus zu sprechen, erscheint mir also als überholt, und sogar falsch selbst wenn die Autorin zwischen den radikalen Führern der AFD (Höcke und Co.) und den Mitgliedern bzw. Wählern unterscheidet. Diese Mitglieder und Wähler der AFD hält Cornelia Koppetsch letztlich für konservative Irregeleitete: Wenn diese Kreise aber nur diese Merkmale haben, also noch kritisch reflektieren können, dürfte man konsequenterweise erwarten, dass sie die AFD als Partei Mitglieder verlassen oder diese Partei nicht mehr wählen: Beides tun diese Kreise aber nicht, und zwar wider besseren Wissens über die permanent verbale und oft schon faktische Gewalt einiger Leute aus dem AFD Umfeld. Das wichtige Buch von Andreas Speit, (Hg.) „Das Netzwerk der Identitären“ ist im Oktober 2018 erschienen, es wird von Koppetsch nicht erwähnt. Aber es zeigt: „Die AFD steckt mit den Identitären unter einer Decke“.
5.
Mich freut, wenn die Autorin ganz am Ende ihrer Studie „die Rechtsparteien“ (von Extremisten ist wieder keine Rede) ein so wörtlich „hochwirksames Gift“ nennt, das diese “Rechtsparteien“ „in den Gesellschaftskörper schleusen“ (Seite 258). Sie schreibt anschließend die für mich kryptische, aber irgendwie auch gefährliche Prognose: “Wenn die Zeichen nicht trügen, dann stehen uns konfliktreiche Zeiten bevor. Das muss nicht zwangsläufig eine schlechte Nachricht sein“ (ebd.) Die konfliktreichen Zeiten sind doch längst da, mindestens seit 4 Jahren. Was soll denn an den konfliktreichen Zeiten „keine schlechte“!, also eine gute Nachricht sein, wenn man die Unbelehrbarkeit der AFD Führer bedenkt und die faktische tötende Gewaltbereitschaft. Ich habe den Eindruck, die Professorin Cornelia Koppetsch unterschätzt deutlich die AFD.
6.
Freilich: Die Darstellung dieses „Gifts“, also die AFD, hat schon dadurch ihre erhebliche und sehr bedauerliche Grenze, dass in dem Buch fast ausschließlich nur von der AFD die Rede ist. Als hätten wir nicht in unserer unmittelbaren west-europäischen Nachbarschaft nicht längst hochgiftige, also nicht nur „rechtspopulistische“, sondern eben rechtsextreme Parteien in ihren Aktionen vor Augen: So ist von der von so vielen Beobachtern rechtsextrem genannte FPÖ in dem Buch soweit ich sehe keine Rede. Dieser Mangel ist besonders gravierend, weil die FPÖ seit Jahrzehnten mit widerlichen Hasstiraden die Reste demokratischer Kultur in Österreich zerstört. Die Partei von Marine Le Pen in Frankreich wird ganz kurz im Zusammenhang der „Nouvelle Droite“ erwähnt, von den rechtspopulistischen Parteien in den Niederlanden oder Belgien ist keine Rede, obwohl die AFD sichtbar seit Jahren mit den Parteiführern dieser europäischen so genannten rechtspopulistischen Parteien auch gemeinsam auftritt. Auch von der Beziehung dieser Parteien, auch der AFD, mit PUTIN ist in dem Buch keine Rede.
Nebenbei: Ich empfehle nicht nur der Autorin, sondern allen Lesern dieses Textes die kritische Studie über die FPÖ, die ja bekanntlich heftig verbandelt ist mit der ÖVP( mit Sebastian Kurz und Co). Siehe das Buch von Robert Misik. https://religionsphilosophischer-salon.de/11616_niedergang-der-demokratie-heute-ueber-oesterreich-und-europa_aktuelle-buchhinweise/philosophische-buecher
7.
Was ich an dem Buch von Cornelia Koppetsch noch problematischer finde: Die Autorin schreibt in ihrer „Danksagung“ auf Seite 259: Sie bedanke sich „bei meinen Bekannten aus der AFD, die mir in vielen Diskussionen ihre gesellschaftlichen Sichtweisen dargelegt haben“. Wenn die Autorin also erläuternde „Bekannte“ in der AFD hat, von Freunden ist ja nicht die Rede, warum werden diese nicht ein einziges mal zitiert: Haben die Bekannten der Autoren Angst, genannt zu werden? Dann hätte die Autorin doch wenigstens aus der einschlägigen AFD Presse und den Stellungnahmen der AFD Führer wichtige Zitate bringen und diskutieren können. Man wird aber keinen einzigen O TON aus AFD Kreisen in dem soziologischen (!) Buch über die AFD finden, sondern nur Zitate aus (z.T. älteren) Studien ÜBER die AFD. Das finde ich, gelinde gesagt, für eine soziologische Studie ( „Feldforschung“ ?) etwas seltsam. So wird kein Wort gesagt über das Parteiprogamm der AFD, das bei Lektüre jeglichen Anschein zerstört, als wäre die Partei sozialpolitisch ganz aufseiten der Armen und Ausgegrenzten.
8.
Trotz dieser Kritik an dem Buch lohnt sich die für gebildete Kreise mühsame Lektüre des Buches doch ein bißchen: Es geht ja um eine Erläuterung des „Zorns“, der sich in den AFD Kreisen Ausdruck verschafft. Dabei folgt Koppetsch den Zorn – Analysen von Peter Sloterdijk. Der Kern ihrer Aussage: Vielfältige Kreise der Gesellschaft, nicht nur Menschen aus dem „Prekariat“, sondern auch vor allem konservativ bürgerliche Männer, sind böse und zornig: Weil sie angesichts der Globalisierung nicht nur die dadurch bedingten Umbrüche nicht mehr verstehen. Sondern weil sie sich beruflich, finanziell und existentiell degradiert sehen. Sie fühlen sich förmlich aus der altvertrauten Bahn ihres üblichen Lebens geworfen. Und sie geben für diesen Verlust an innerer wie äußerer vertrauter Heimat den Fremden, den Flüchtlingen, vor allem die Schuld. Und indirekt auch den Politikern, die sie für die „abgehobenen Eliten“ halten und manchmal noch kosmopolitisch und humanistisch denken, wie die Kanzlerin in den ersten Tagen, als 2015 viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. .
Diese Zusammenhänge werden von Cornelia Koppetsch sehr ausführlich dargestellt. Zusammenfassend glaubt sie sogar feststellen zu müssen, dass die AFD Wähler „auch nachvollziehbare Gründe für die Zurückweisung liberaler Gesellschaftsbilder, emanzipatorischer Politikmodell und linksliberaler Eliten haben“ (257). Diese rechtspopulistischen Kreise, die ja, wie gesagt, in dem Buch nie rechtsextreme Kreise genannt werden, haben also für Frau Koppetsch subjektiv gute Gründe, antiliberal zu sein. Also damit wohl auch gegen die vom Liberalismus nun einmal formulierten Menschenrechte zu stimmen: Weil diese Rechtspopulisten schlicht und einfach meinen, summarisch gesagt, diese liberalen Kreise seien arrogant, herrschsüchtig, verlogen, kosmopolitisch und empfinden damit anti-heimatlich. Sie werden von den Rechtspopulisten förmlich zu „Volksfeinden“ erklärt.
Der feine Unterschied ist doch der: Diese liberalen oder sozialdemokratischen oder grünen Kreise halten jedenfalls noch sehr viel von den Menschenrechten, auch wenn sie wissen, dass sie den Forderungen der Menschenrechten sehr selten persönlichen ganz entsprechen. Aber sie halten die Menschenrechte immerhin noch hoch und fordern sie von den Politikern. Die AFD Leute setzen sich meines Wissens hingegen nicht subjektiv und auch nicht objektiv in der Politik für die Geltung der universalen für alle Menschen geltenden Menschenrechte ein. Denn: „Wir sind das Volk“, also alles bestimmend. Deswegen: Germany first, USA first: Menschenrechte, wenn überhaupt, ganz zuletzt. Das sind die Unterschiede, die leider Frau Koppetsch bei ihrem Verständnis, ich sage ja nicht versteckte Sympathie für die AFD nicht sieht und auch nicht sagt. Mit der Elite der, Gott sei Dank, noch herrschenden Demokraten sind die Menschenrechte noch einklagbar. Und es gibt noch Menschen bei Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen oder an der lebendigen Basis der Kirchen, die diese Menschenrechte faktisch leben. Mit der AFD Clique ginge das ganz und gar nicht. Schade, dass das Frau Koppetsch nicht sagt.
9.
Mit scheint, dass Cornelia Koppetsch durchgängig die These variiert: Schuld am Aufkommen des Rechtspopulismus sind die liberalen, demokratischen Kreise: Sie grenzen aus, sie ignorieren die alten Werte, sie sind egoistisch. Man lese die immer wieder kehrende Beschreibung, dass sich die Liberalen als Wohlhabende abschotten von den ärmeren Leuten; dass die Liberalen den Kapitalismus faktisch bejahen, selbst wenn sie ihn theoretisch ablehnen. Und vor allem auch dies ist eine wichtige These der Autorin: Sie sind verlogen, weil sie selbst ausländerfeindliche oder flüchtlingsfeindliche Ressentiments haben. Diese aber verstecken und nicht öffentlich zugeben.
10.
Aber immerhin sind die von Frau Koppetsch kritisierten liberal-wohlhabenden Kreise, zu denen sie ja als Professorin selbst gehört, immer noch zur Selbstkritik in der Lage. Sie sind lernbereit. Und auch dies: Sie sind bekanntlich, gerade aus Kirchenkreisen, sehr hilfsbereit. Auch für die Flüchtlinge. Mit ist nicht bekannt, dass auch nur im entferntesten irgendein AFDler aktiv positive Flüchtlingshilfe leistet. Falls ja, bitte melden!
11.
Religionen und Kirchen werden in dem Zusammenhang von der Autorin äußerst marginal erwähnt, sie sind für sie eher eine vergangene Gestalt gesellschaftlicher Präsenz, lediglich die Evangelikalen werden kurz gewürdigt. Bezeichnenderweise ist soweit ich sehe das wichtigste und zitierte Buch über Religionen für die Autorin das Buch von Martin Riesebrodt von 1990.
12.
Was mich am meisten erstaunt, mit welcher Naivität positiv gestimmt die Autorin mit dem Begriff des „Nationalen“ und der „Nation“ umgeht. Sie schreibt: „Die Identifikation mit der Nation war eine progressive, keine regressive Kraft“ (186, ähnlich auch 252). Die Identifikation mit einer Nation war und ist die Hauptursache für Kriege und Aggressionen: Man muss kei Fachhistoriker sein, um dies zu wissen. Erstaunlich, dass eine Soziologin sich zu solcher Verteidigung der Nation hinreißen lassen kann. Vielleicht hat sie etwas zu viel mit ihren Bekannten von der AFD verständnisvoll geplaudert…
13.
Schlimm finde ich auch die eher nebenbei geäußerte Meinung zur Holocaust-Erinnerung: Cornelia Koppetsch schreibt: „Als wenig hilfreich erweist sich auch eine Holocaust-Erinnerung, die in leeren Ritualen und monumentalen Denkmälern und auf das Singuläre (kursiv von Koppetsch) der Gräueltaten von Auschwitz und Treblinka gerichtet ist, während dem bis heute wirksamen kolonialen Rassismus sowie tief verwurzelten islamophoben Einstellungen weitaus weniger Beachtung geschenkt wird“ ( 252 f.). Dass Islamophobie zu wenig kritisiert wird genauso wie die koloniale Rassismus, ist wohl klar. Aber muss man deswegen die Holocaust-Erinnerung herunterspielen und falsch beschreiben, indem die Autorin von „leeren Ritualen“ und monumentalen Denkmälern spricht: Welche monumentalen Denkmäler meint sie eigentlich? Was ist „leer“ an humanen Ritualen, wenn Menschen voller Trauer auf dem Gelände ehemaliger KZs mit den wenigen noch Überlebenden ins Gespräch kommen und gemeinsam laut ein „Nie wieder“ sagen oder schreien?
Angesichts des zunehmenden aggressiven Antisemitismus in Deutschland und Europa (die AFD tut nur so, als wäre sie pro-jüdisch, um dann nur um so mehr anti-islamisch zu sein), sind diese Sätze von Cornelia Koppetsch nicht nur überflüssig, sondern falsch. Hat sie die Äußerungen von Herrn Gauland über die Nazi-Terror-Herrschaft mit der systematischen Ermordung von 6 Millionen Juden vergessen? Als dieser AFD Führer im Juni 2018 (!), also noch zur Zeit der Arbeit an dem Buchmanuskript, sagte: „Die NS Zeit ist nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte“.
14.
Auch wenn einige Aussagen, sowie einige gut nachvollziehbare grundlegende Darstellungen etwa über Norbert Elias (206 f.) interessant sind: Abgesehen von der zweifellos zu bedenkenden und manchmal bedenklich arroganten Haltung der Liberalen und der Demokraten sehe ich in dem so ausführlichen Buch keinen bedeutenden Erkenntnisgewinn. Die politische Geschichte in Deutschland (und bei den europäische Nachbarn) ist im Zusammenhang des so genannten Rechtspopulismus und der AFD über die Erkenntnisse dieses Buches längst hinausgegangen, siehe die tiefe historische Zäsur durch den Mord an Walter Lübcke. Dieser Bruch in der Demokratie begann wahrscheinlich schon, als die NSU Morde geschahen und die deutsche Justiz Jahre lang geschlafen hat in der Verfolgung dieser Verbrecher.
15.
Das von Koppetsch angedeutete GIFT des Rechtspopulismus wird bereits heute mehrfach „eingesetzt“. Und zwar tödlich. Und die nun ja auch bereits zum Teil rechtslastige Polizei ist überfordert, angeblich. Und die Richter urteilen im Falle von rechtsextremer Gewalt meist sehr milde.
Das ist unsere Situation. Und da zeigt sich meines Erachtens genauso wichtige ZORN der Demokraten. Sie wollen in ihrem Zorn aber im Unterschied zur AFD eine bessere Demokratie. Und die Geltung der für alle Menschen geltenden Menschenrechte!

Cornelia Koppetsch, Die gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. 283 Seiten, Transcript Verlag im Mai 2019, Taschenbuch 19,99 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Volksreligionen kritisieren: Über David Hume anläßlich seines Todestages am 25.8.1776

David Hume und die Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
David Hume, schreibt der Philosoph Friedo Ricken, „ist der heute in der angelsächsischen Philosophie wahrscheinlich einflussreichste Klassiker der Religionskritik“ (F. Ricken, Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie, 2003, S. 233). In Deutschland, so mein Eindruck, hat der schottische Philosoph David Hume (7.5. 1711 – 25.8.1776) keine allgemeine Bekanntheit oder Würdigung in „breiteren Kreisen“ gefunden. Vielleicht findet er neue Aufmerksamkeit, weil wieder stärker die Arbeiten seines Freundes Adam Smith, Philosoph und Ökonom, beachtet werden. Bestenfalls kennt man heute Hume als Vertreter des „Empirismus“, der gegen die Metaphysik alles Erkennen auf den Bereich des sinnlich Erfahrbaren begrenzte; einmal abgesehen davon, dass Hume auch als Historiker sowie als Botschaftssekretär in Paris (1763 bis 1765) und Gast der dortigen Salons von Holbach und Diderot zu würdigen ist.
2.
Nebenbei: Gegen die Metaphysik zu rebellieren ist ein hervorstechendes Kennzeichen angelsächsischer Philosophen, Das Erleben der realen Macht der Kirche und ihrer Dogmenwelten war sicher ein dauernder Impuls für den empiristisch denkenden Philosophen David Hume. Kant hat sich mit der Erkenntnistheorie Humes kritisch auseinandergesetzt.
3.
Religionsphilosophisch besonders wichtig sind die beiden Werke „Dialoge über natürliche Religion“ (posthum, 1779) und „Die Naturgeschichte der Religion“ (1757). Die „Dialoge“ sind ein kontroverser theologischer Disput (nach dem Vorbild Ciceros „de natura Deorum“).
Wenn man „Die Naturgeschichte der Religion“ in den Mittelpunkt stellt, dann fällt auf, wie Hume die philosophische Deutung der Religion von der geschichtlichen Entwicklung religiöser Praxis abhängig macht. Weil die Menschen Furcht und Angst in einer bedrohlichen Welt hatten, entstanden Religionen, so meint er, und zwar zuerst in den Gestalten des Polytheismus. Der Monotheismus ist für Hume eine spätere Erscheinung. Auch Religionswissenschaftler haben sich mit dieser historisch wohl zutreffenden Deutung befasst.
Philosophisch bzw. sogar auch theologisch ist in dem Buch das Kapitel über „Aberglaube und Schwärmerei“ besonders interessant, das Buch enthält auch Kapitel über die „Unsterblichkeit der Seele“ und den „Selbstmord“.
3.
Einige Erkenntnisse aus dem Aufsatz „Aberglaube und Schwärmerei“ sind nach wie aktuell. Polytheismus ist für Hume vor allem Aberglaube. Bemerkenswert ist, dass Hume meint, auch diesen Glauben habe „der göttliche Werkmeister seinem Werk (also den Menschen) eingeprägt“. Denn, so meint er, eine „unsichtbare, intelligente Macht gibt es in der Welt“: Diese intelligente Macht ist also auch die Ursache für Aberglaube/Polytheismus, aber auch die Ursache für den Monotheismus. Und auch für den von Hume geschätzten, allein philosophisch erzeugten „Vernunftglauben“. Er nennt diesen auch „natürliche Religion“, die unabhängig von jeder Offenbarung gedacht werden kann.
Es gibt also für Hume einen volkstümlichen Theismus (Monotheismus) UND darüber hinaus einen wertvolleren, philosophisch reflektierten Theismus der Vernunftreligion. Diese Vernunftreligion sieht in den Ereignissen der Natur eben nicht göttliche Kräfte am Wirken; sie erklärt vielmehr alles ohne einen Wunderbegriff, also allein aus natürlichen Ursachen: Deswegen werden philosophisch reflektierte Anhänger der Vernunftreligion verachtet, und vom Volk und der Kirche als Ungläubige behandelt.
4.
Den populären, also unreflektierten Theismus hält Hume sogar für gefährlicher als den alten Polytheismus. Er nennt die Fehlformen des von absoluter Wahrheit besessenen Theismus: Intoleranz, Gewalt, Menschenopfer. Den Polytheismus deutet Hume dann doch vergleichsweise eher positiv: Er führe zu Mut und Freiheitsliebe. Ob das historisch gesehen korrekt ist, bleibt sehr die Frage. Auch heutige Philosophen wie Odo Marquard haben Lobeshymnen auf den Polytheismus angestimmt. Und rechte bzw. rechtsextreme Ideologen geben sich gern als Freunde des Polytheismus und Feinde des angeblich nur intoleranten Monotheismus aus, wie etwa Ideologen der Nouvelle Droite in Frankreich. Insofern wirken jedenfalls die ziemlich pauschalen Polytheismus-Thesen Humes bis heute weiter.
5.
Hume meint: Nur eine kleine Gruppe von Menschen wird sich jemals aus den Verirrungen der populären monotheistischen Religionen befreien können. Es ist die Philosophie als Skepsis, die die verirrten Menschen aus der heillosen Populärreligion befreien kann; etwa dann, wenn sich Menschen in ihrem religiösen Wahn gar nicht an Gott binden, sondern an Zwischenwesen, also Heilige, die sie als Schutzgottheiten (also dann doch wieder in polytheistischer Haltung) verehren.
Die Kritik der theistischen Volksreligion (auch und gerade innerhalb des Christentums und der Kirchen) ist sicher ein Thema, das im Zusammenhang von Hume weiter diskutiert werden sollte. Es sollte also der immer noch stark vorhandene populäre Glaube an Wunder diskutiert werden, also über die Meinung, Gott könne Naturgesetze für einzelne besonders Fromme wunderbar durchbrechen. Und als könnte „die Gottesmutter und Jungfrau Maria“ vom Himmel herabschweben und in zu Menschen sprechen, wie in Fatima oder Lourdes immer noch geglaubt wird.
6.
Und dann wäre zu erörtern, ob philosophisches Welt- und Selbstverstehen jemals ohne das eine und einzige vertretbare Wunder auskommen kann, das sich in dem Erstaunen äußert: „Dass überhaupt etwas ist und nicht nichts“. Dieses ist wohl das einzige Wunder, das Gültigkeit hat. Alle anderen so genannten Wunder sind bestimmte Formen des Volksglaubens, auf die aber viele Menschen einfach nicht verzichten können und wollen, weil sie meinen, in dem Volksglauben bzw. Aberglauben inneren Halt zu finden. Ob man diese die Betroffenen von dieser subjektiven Überzeugung des volkstümlichen Glaubens argumentativ befreien kann und dann auch befreien sollte, ist eine offene Frage. Wahrscheinlich haben sogar die kritischsten Anhänger eines Vernunftglaubens noch einen Restbestand an Volksglauben in sich, und sei es die Beschäftigung mit Astrologie oder Homöopathie usw.
7.
Was Vernunftglauben heute aktuell und neu formuliert bedeuten kann, ist eine aktuelle Herausforderung der Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie. Den alten Vorwurf des „trockenen und abstrakten Begriffssystems“ wird der neue Vernunftglaube überwinden müssen. Der neue Vernunftglaube könnte angesichts des Niedergangs der konfessionellen Kirchen in Europa eine neue Ökumene religiöser und explizit christlicher Menschen erzeugen; dieser Vernunftglaube würde die auch sich stets weiter entwickelnden Menschenrechte in seinen „Grundbestand“ aufnehmen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Der Glaube muss vernünftig sein! Forderungen eines äthiopischen Philosophen am 17. Jahrhundert!

Ein Hinweis auf das wichtige Buch des äthiopischen Philosophen
Zär ´a Yaqob (1599 – 1693).
Von Christian Modehn

1.

Den Versuch, den Glauben unter den Bedingungen des Christentums und der Kirchen vernünftig zu begründen und sich persönlich an diesen vernünftigen Glauben auch zu binden, hat es schon im 17. Jahrhundert gegeben. Nicht etwa nur in Frankreich oder in England, wo die rationalistische Theologie eine gewisse Rolle spielte. Sondern, ein Europäer glaubt es kaum, in Äthiopien: Zär´a Yacob heißt der Autor seiner „Untersuchung“. Dieser Text liegt auf Deutsch vor, er sollte viel mehr beachtet werden, nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen, sondern durchaus auch, weil er ein aktueller spiritueller Impuls ist. Erschienen ist der Text in der Edition Victoria, Wien.
Der Leser ist überrascht, wie modern die Erkenntnisse des äthiopischen Gelehrten sind. Er bietet Elemente der Reflexion für einen Glauben an die göttliche Wirklichkeit, einen Glauben, der ganz elementar ist, möchte man sagen, also ganz einfach, nachvollziehbar ohne Hinweise auf mysteriöse Ereignisse, Wunder, Heiligengestalten usw. Der Autor zeigt, dass die menschliche Beziehung zu Gott eher ein Wissen als ein Glauben im Sinne eines bloßen eher willkürlichen „Für-Wahr-Haltens.

2.

Zär´a Yacob war gründlich ausgebildet in den christlichen Traditionen, vor allem der koptischen Tradition, er kennt die Bibel, vor allem die Psalmen des Alten Testaments. Er zitiert auch Texte des Neuen Testaments, etwa aus dem Johannes-Evangelium. Er lebte zu einer Zeit, als in Äthiopien nicht nur die koptische Kirche stark war und dort Juden und Muslime lebten, sondern auch Katholiken ihre Mission, z.T. erfolgreich im Königshaus betrieben, bis hin zur Etablierung des Katholizismus („Frang“ in Äthiopien damals genannt) als Staatsreligion! In jedem Fall gab es viel Streit vor allem zwischen Kopten und Katholiken. Was ist die Wahrheit des Christentums?
In dieser Situation formuliert Zär´a Yacob seine Vorschläge, die auch dem Frieden in der Gesellschaft dienen sollten. Ihm geht es um eine universelle Wahrheit, die über den Konfessionen steht.

Aber der alles entscheidende Mittelpunkt seiner vernünftigen Theologie oder treffender Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist die Erfahrung der Welt als Schöpfung Gottes. Dies ist die alles entscheidende Basis seines Denkens und seines Lebens. Und zu der Erkenntnis gelangt Zär´a Yacob durch die alte metaphysische Überlegung, dass alles Gegebene dieser Welt endlich ist, also irgendwie gemacht sein muss von einem „Schöpfer“, der selbst nicht seinerseits auch noch geschaffen ist, sondern eben ewig und ungeschaffen.
Die einzige Frage ist: Sind wir bereit, diese Welt als Schöpfung Gottes, um bei dem Symbol-Begriff zu bleiben, zu verstehen? Alle weiteren theologischen Überlegungen ergeben sich dann von selbst. Es sind Überlegungen der Vernunft, die keine weiteren Wunder braucht als eben die Annahme des einen Wunder, dass „es diese Welt gibt“. Es ist die Vernunft des Menschen (als göttliche Schöpfungsgabe), die entscheidet, was vernünftig ist und menschlich. Dogmen werden so selbstverständlich zweitrangig, wenn nicht überflüssig. Auch die üblichen kirchlichen Gebräuche, wie das Leben im Kloster mit dem Verzicht auf gelebte Sexualität oder die rigiden Fastengebote auch im Islam, werden in Sicht Zär´a Yacobs überflüssig und unvernünftig. Er stellt die provozierende und durchaus mutige Frage: „Ist alles wahr, was in der Heiligen Schrift geschrieben steht“? Und seine Antwort ist: Natürlich ist nicht alles wahr, weil es unvernünftig ist! „Wenn wir mit dem vernünftigen Licht unseres Herzens richtig umgehen, kann es uns nicht in die Irre führen“, schreibt Zär´a Yacob. Und dann folgt der entscheidende Satz: „Denn die Bestimmung dieses Lichts, der Vernunft, die uns unser Schöpfer gab, ist die: uns zu erretten und nicht uns zu verderben. Alles, was das Licht unserer Vernunft uns zeigt, stammt aus der Quelle der Wahrheit“. Das heißt: Die von Gott gegebene Vernunft im Menschen ist selbst rettend, hat also eine erlösende Bedeutung. „Unsere Seele besitzt die Fähigkeit, sich einen Begriff von Gott zu machen und ihn geistig zu erfassen“ (S. 29). Auch die Grundlagen der Ethik sind vernünftig erkennbar, etwa die „Goldene Regel“, die Zär´a Yacob ausdrücklich als Vorbild erwähnt (S. 31).

3.

Darum wundert man sich nicht, wenn von der besonderen Erlösergestalt Jesus von Nazareth in dem kleinen Text keine Rede ist . Zär´a Yacob denkt förmlich dialektisch: Der Mensch erlöst sich selbst kraft seiner Vernunft. Aber es ist die göttliche Gabe Vernunft, die da erlösend tätig ist. Insofern ist also auch Gott der letzte Grund der Erlösung durch die Vernunft und vernünftiges Handeln. Für die Hüter der wahren, weil alten Lehre sind diese Einsichten natürlich ein Skandal, wird doch die alte klerikale Ordnung erschüttert. Aber die Vernunft muss sich von Ketzerei-Vorwürfen nicht verwirren lassen. Was meint Zär´a Yacob? Zu Beginn der Kirchengeschichte waren die reinen Lehren des Evangeliums „nicht schlecht“, meint der Autor. Es war die Botschaft der Liebe und Barmherzigkeit. Aber mit den machtvollen Konfessionen wurde dann „die vom Evangelium empfohlene Nächstenliebe beiseite geschoben und durch Hass, Gewalt ersetzt. Meine Landsleute haben ihren Glauben bis hinein in seine Grundlagen zerfetzt, sie lehren Eitelkeiten, sie tun Böses, und sie werden fälschlicherweise Christen genannt“ (S. 27)

Angesichts dieser Situation totaler christlicher Verlogenheit rettet nur die Vernunft Religion, meint Zär´a Yacob.

4.

Bezeichnenderweise konnte er diese Gedanken nur in der Einsamkeit, im Rückzug vor den bedrohlich konfessionalistischen Menschen in einer Höhle, entwickeln! Nur weniges, was er dort meditativ erkannte, schrieb er auch auf. Leider! Denn er sah sich bedroht und musste seine Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verbergen und verleugnen. Aus dem einfachen Grunde, um nicht als Ketzer ausgelöscht zu werden. Man denke, in einer Parallele, etwa an Abbé Meslier (1664 – 1729) in Frankreich, der als katholischer Priester weiterhin die Messe las und predigte, obwohl er in seiner eigenen Theologie längst zum Atheisten geworden war. Siehe dazu meinen Aufsatz. Wie viele große Denker gab es und gibt es, die es nicht wagen, zu ihrer eigenen Erkenntnis und Konfession öffentlich zu stehen?
Zär´a Yacob hat diesen jetzt vorliegenden Text nur auf Bitten seines Schülers Waldä Heywat geschrieben! Auch von ihm ist in dem Buch ein weiterführender Text veröffentlicht, der allerdings meiner Meinung nach nicht die Radikalität seines Lehrers erreicht.

5.

Das Buch aus der „edition Victoria“ ist 2008 in Wien erschienen und noch immer, Gott sei Dank, im Buchhandel zu haben. Es wurde von Victoria Frysak und Bekele Gutema herausgegeben und hervorragend betreut, auch in der Übersetzung und den erklärenden Kommentaren.
„Zär ´a Yaqob. Eine äthiopische Weltanschauung“ ist der Titel des Buches. Es hat 134 Seiten und kostet 16,50 Euro!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin