Weihnachten und Philosophieren

Was kann Weihnachten philosophisch bedeuten?

Ein überarbeiteter Text im November 2022. Siehe auch den Hinweis:”Christus der Retter ist da … Oder treffender: Jesus der Retter ist da! LINK 
Hinweise von Christian Modehn

Zur Einstimmung: Weihnachten in der reichen Welt als der Welt der Reichen heißt: “Dem Gott Geld Opfer bringen.” Annie Ernaux, Literaturnobelpreis-Trägerin 2022, hat sich in ihrem Hauptwerk „Les Années“, „Die Jahre“ (2008), auch kurz, aber deutlich, mit ihrem Erleben des Weihnachtsfestes auseinandergesetzt: „Weihnachten war ein Fest voller Verlangen auf Dinge und Hass auf Dinge, der jährliche Höhepunkt des Konsums … als wäre man zum Geldausgeben verpflichtet, als müsse man irgendeinem Gott ein Opfer bringen und am Ende ließ man sich doch darauf ein, Weihnachten zu feiern…“ (S. 240, Ausgabe des Suhrkamp-Verlages, 2022). Es war unmöglich „dem Würgegriff durch den höchsten Feiertag Weihnachten zu entkommen. Wenn man daran dachte, hatte man Lust, im November einzuschlafen und Anfang des nächsten Jahres wieder aufzuwachen“.

Über die problematische Theologie vieler kirchlicher Weihnachtslieder: LINK.

1.
Wer sich philosophierend mit Weihnachten beschäftigt, wird zunächst kritisch das Umfeld ausleuchten, in dem dieses christliche Fest heute steht. Das Umfeld in der reichen Welt als der welt der Reichen ist: Kommerz und Konsum, oft zwanghaftes Schenkenwollen und Sehnsucht nach dem Beschenktwerden, Erinnerungen an die eigene Kindheit, Hoffnung auf eine Wiedererweckung der Kindheit … als kurzfristige Nostalgie… der Wunsch, an diesem Tag ausdrücklich kinderfreundlich zu sein…Das Bedürfnis, gerade an diesem Tag einmal gut und nett zu sein, eine heile Insel im belasteten Alltag zu hegen, mit all dem Streß, der dabei entsteht… Daran kann sich eine empirische „Weihnachtskritik“ abarbeiten…

2.
Es müsste zuerst der Begriff und die EWirklichkeit der GABE bedacht werden. Es müsste z.B. gefragt werden, ob der Mensch (“als solcher”) für den anderen wesentlich Gabe ist. Ob die Gaben, die Geschenke, gerade zu Weihnachten, Ausdruck dieser wesentlichen Gabe des Daseins sind oder heute noch sein können. Verdeckt der Konsumismus den Charakter der Gabe? So wird es sein. Weil beim Empfang einer Gabe sofort gerechnet wird: Was muss ich zurück – geben im gleichen Wert!

3.
Weiter sollte gerade vor Weihnachten über die Bedeutung der Gefühle, der Emotionen und Affekte fürs kritische Nachdenken im allgemeinen gesprochen werden. Sind Gefühle der spontane Erstkontakt mit der Wirklichkeit? Erschließen sie auf eigene, noch unthematische Art, das eigene Leben im Kontext mit anderen? Was passiert, wenn Gefühle dann aber tatsächlich reflektiert werden? Dann kommen Gefühle erst zu ihrem wahren Gehalt. Ohne Vernunft sind Gefühle blind, ohne Gefühle ist Vernunft abstrakt und „lebensfern“.

4.
Was bedeutet diese Erkenntnis für Weihnachten? Die einzelnen Gefühle anlässlich von Weihnachten (vor allem: „Heilig Abend“) wären kritisch zu bedenken. Etwa die Sehnsucht nach Nostalgie, nach Eintauchen in die eigene (Weihnachts)–Kindheit. Ist dieses Eintauchen ins angeblich heile Damals eine Flucht, ist es Opium? Oder ist es ein nötiges heilsames Intermezzo, um überhaupt die Routine und Öde und die Ängste des vorherrschenden, “nichtweihnachtlichen” Alltags zu bestehen? Gerade in Zeiten der Kriege! Inszeniert von Verbrechern oder auch fundamentalistisch sich “fromm” nennenden Leuten. 

Wie sind die häufigen Teilnahmen an Gottesdiensten gerade zu Weihnachten zu verstehen? Gehört “Gottesdienstbesuch”  auch zur Nostalgie? Wie kommt es, dass man Weihnachtslieder kitschigen Inhalts und in einer kaum nachvollziehbaren Spiritualität mitsingen kann, dabei auf jeden Gebrauch kritischer Nachdenklichkeit verzichtet, um so das Fremde und ganz Andere (“Eigentliche”) des Weihnachtsfestes zu beleben?

Sind die Kirchen in der westlichen Welt, sonst am Sonntag zum Gottesdienst immer weniger besucht, etwa längst zu „Weihnachtskirchen“ geworden? Sind die Pfarrer bei ihrer totalen Auslastung zu Weihnachten etwa in gewisser Weise „Weihnachtspfarrer“ geworden? Wenn die „Gottesdienstbesucher“ zu Weihnachten  in der Statistik der „Gottesdienstbesucher pro Jahr insgesamt“ mitgezählt werden, ergibt sich dann noch eine halbwegs realistische Statistik zur “allgemeinen Teilnahme am Sonntagsgottesdienst”? Dieser Frage sollten Religionssoziologen nachgehen.

5.
Philosophisch bleibt die Frage: Gibt es prominente Philosophen, die „Weihnachten“ gedacht haben? Da ist zuerst nicht die radikale Religionskritik gemeint, die in einem Vorurteil alles Christliche sowieso abwehrt; sondern eine Philosophie, die auch religiöse Texte relevant findet, weil diese Texte Ausdruck menschlichen Selbstverständnisses sind.

6.
An Meister Eckart, den mittelalterlichen Philosophen und gerade nicht (nur) den Mystiker, wie die neueste Studie von Kurt Flasch zeigt, wäre auch zu erinnern, etwa an das Stichwort von der „Gottes Geburt in der Seele“. Dann ist Weihnachten vor allem die Erkenntnis: Jeder Mensch hat Anteil an dem Göttlichen, das Göttliche, das in seinem Geist, seiner Seele, lebt als “das Ewige”. Die Geburt Jesu von Nazareth, verstanden als Gott-Mensch, macht nur die allgemeine gott-menschliche Befindlichkeit eines jeden Menschen offenbar.

7.
Bei Hegel kommt Weihnachten als explizites Stichwort meines Wissens nicht vor, hingegen steht die “Sache” Weihnachten im Mittelpunkt seines Denkens: Es bezieht sich ZENTRAL auf die „Menschwerdung Gottes“ in Jesus Christus. Um dieses Ereignis dreht sich die Geschichtsphilosophie Hegels. Weil da, in diesem Jesus Christus die Einheit von Göttlich und Menschlich sichtbar wird, eine Einheit, die aber nicht nur für die einzelne Gestalt Jesus Christus gilt, sondern schlechthin für ALLE Menschen. Alle Menschen, im Sinne Hegels und im Sinne des Johannes-Evangeliums, haben Anteil an dem göttlichen Geist, insofern gehören sie als Menschen zu Gott.

8.

Das ist Weihnachten im Sinne Hegels: Politisch bedeutend ist die Menschwerdung Gottes, weil die absolute Wertigkeit, die göttliche Würde des menschlichen Subjekts, und zwar jedes Menschen, sichtbar wird: Jeder Mensch ist von absoluter Würde. Und, so fügt Hegel hinzu, jeder ist in der Lage, die umfassende Freiheit zu gestalten. Denn in der Menschwerdung Gottes ist die Entfremdung zwischen Göttlich und Menschlich „an sich“ überwunden, da gibt es keine prinzipielle Fremdheit mehr, keinen Gegensatz zwischen Gott und Mensch. Wenn die Beziehung zwischen Unendlichem und Endlichem also „an sich“ bereits eine FREIE Beziehung ist, dann ergibt sich die Möglichkeit, alle anderen, auch weltlichen Fremdheiten und Entfremdungen in freie Verhältnisse auch politisch umzugestalten, d.h. grundlegend zu reformieren.

9.

Für Hegel (und für Christen, die wissen, was ihr Bekenntnis bedeutet) ist Weihnachten also ein politisches Fest. Ein Fest, das nicht zum Stillesitzen verführt, sondern zum Eintreten für die Befreiung, für die Menschenwürde, für die Menschenrechte. Und es ist die Frage, ob die zu Weihnachten üblichen Spendenaufrufe diesem umfassenden Projekt entsprechen können, eine gerechte und friedliche Welt zu gestalten. Ich meine: Nein. Sie fördern beim einzelnen nicht die bleibende Kritik der politischen Ungerechtigkeit. Dieses Thema wird in Weihnachtspredigten sehr selten angesprochen, die Prediger wollen die Weihnachtsstimmung der “Weihnachtschristen” nicht stören und freuen sich über die gut “besuchten” Gottesdienste.

Wenn die Versöhnung von Gott und Mensch (also Weihnachten, gemeint als die freie Beziehung von Gott und Mensch), im philosophischen Denken Hegels erreicht wird, wenn der Mensch also dieser Erkenntnis „ganzheitlich“ inne wird: Was bedeuten dann noch die Kirchen? Welche Rolle spielt die Gemeinde usw… Hegel sagte ja einmal: „Philosophie ist der wahre Gottesdienst“…Einige Teilnehmer in unserem religions-philosophischen Salon meinten serh treffend in einer Diskussion zum Thema: Das Innewerden des Göttlichen „in mir“ sei entscheidend… (und ausreichend für eine freie Gottesbeziehung). Hegel jedoch legte allen Nachdruck auf die Gemeinde der Christen, als Ort des Gesprächs, der Feier, auch des Gottesdienstes, um sich wechselseitig der Anwesenheit des göttlichen Geistes zu versichern.

10..
Als Lektüre empfehle ich von G.W.F. Hegel die „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“. In der Theorie Werkausgabe des Suhrkamp Verlages im Kapitel „Das Christentum“ , Seite 385ff. Und natürlich das grundlegende Werk „Menschwerdung Gottes“ von Hans Küng. Ausdrücklich und ganz besonders empfehle ich die ausführliche ausgezeichnete Studie des Philosophen und Hegel-Spezialisten Michael Theunissen: „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat“.

11.
Auch ein “atheistischer Philosoph” hat sich unter besonderen Bedingungen positiv zum Ereignis der Geburt Jesu von Nazareth geäußert: Weihnachten 1940 verbrachte JEAN-PAUL SARTRE in deutscher Kriegsgefangenschaft in Trier. Für seine Mitgefangenen schreibt Sartre – auf deren Bitte hin – eine Art “Mysterienspiel”, also eine das “Wunderbare” darstellende Aufführung von und für “Laien”. Offenbar sind religiöse Gefühle gar nicht abzuweisen in großer Not, selbst bei einem Atheisten…Sartre stellt einen Widerstandskämfer in den Mittelpunkt, sein Name ist Bariona. Er hilft der “Heiligen Familie” dem Zugriff des Herodes zu entkommen. Und stirbt aber selbst dabei, als er sich für die Flucht des Jesus-Kindes mit seinen Eltern Josef und Maria einsetzt. Das Sartre Stück wurde zu Weihnachten 1941 gleich dreimal von Kriegsgefangenen aufgeführt. Erst 1976 stimmte Sartre der Veröffentlichung seines Theaterstücks im Verlag Gallimard (Paris) zu. Sartre selbst war wohl dieser “fromme Ausrutscher” in seinem Werk etwas peinlich. Siehe dazu knapp zusammengefasst: Christian Modehn, Religion in Frankreich, Gütersloh 1993, Seite 86 ff.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

„Modern-katholisch“: Über den großen Theologen Edward Schillebeeckx

Hinweise von Christian Modehn

1.
Über die Biographie und das umfassende Werk von Edward Schillebeeckx kann man sich im Internet informieren, siehe etwa auch die Studie von Ulrich Engel: (http://www.muenster.de/~angergun/nachruf-schillebeeckx.pdf)

Edward Schillebeeckx: Geboren am 12.11.1914 in Antwerpen, lehrte viele Jahre in Nijmegen, Niederlande, dort gestorben am 23.12.2009, vor 10 Jahren.
Gewiss, er ist ein Theologe, der zur letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Viele große Probleme des beginnenden 21. Jahrhunderts konnte er gar nicht kennen. Was hätte er etwa zu den apokalyptischen Vorstellungen angesichts der Klima-Katastrophen gesagt? Was zum Niedergang der Demokratien, was zur Zunahme des Rechtsextremismus und Antisemitismus? Dennoch bleiben viele seiner Erkenntnisse zumal über die Machtverhältnisse in der römischen Kirche nach wie vor – leider – aktuell. Und vor allem: Schillebeeckx war ein mutiger, ein frei-mütiger Theologe, wie man ihn im katholischen Bereich sehr selten findet. Deswegen allein ist er schon wegweisend.
Edward Schillebeeckx war ein umfassend gebildeter Theologe. Er kannte als „systematischer Theologe“ sehr gut die Ergebnisse der heutigen Bibelwissenschaften. Und er war bestens mit philosophischen Fragen vertraut. Davon geben seine drei großen, weit verbreiteten Studien der letzten Jahre Zeugnis „Jesus“ (1980), „Christus“ (1980) und „Menschen“ (1990).
Die zentrale Frage für mich ist: Ob sein Denken heute noch lebt? Gelegentlich erscheinen theologische Studien zu seinem Werk, eher bestimmt für Fachkreise. Und einzelne seiner spirituellen Vorschläge werden gewiss noch von einzelnen respektiert: Etwa sein dringender Hinweis: Nur ein menschenfreundlicher Gott verdient es, als Gott der Christen verehrt zu werden. Aber Tatsache ist auch, dass viele seiner Vorschläge von den Kirchenführern nicht nur ins Vergessen gedrängt, sondern auch gezielt unterdrückt wurden. Dabei hat sich Pater Schillebeeckx, Dominikaner, stets als Theologe der Praxis, der Kirchen – Reform verstanden. Er wollte Wirkung haben, so sehr er auch treffend für alle Theologen, auch die in Rom schreibenden, und auch für sich sagte: „Ich schreibe meine Bücher nicht für die Ewigkeit“.
Schillebeeckx war modern-katholisch, nicht römisch-katholisch. Er wusste: Modern-katholisch hat eine große Berechtigung heute, wo es doch so viele mittelalterlich-katholische Herren gibt und immer schon gab oder gar hellenistisch-katholische Theologen (wie Joseph Ratzinger). Und Schillebeeckx ahnte wohl: Angesichts der Machtverhältnisse im Katholizismus hat “modern – katholisch” letztlich keine Chance. Die Geschichte der katholischen Kirche der Niederlande ist dafür ein Beweis, es ist die Geschichte des Verbots alles Modernen und Katholischen durch Rom…Eigentlich ein Drama.

2.
Edward Schillebeeckx ist einer der großen katholischen Theologen, das ist gar keine Frage: Denn er hat nicht nur die Zeugnisse der ersten Christen (NT) und die Kirchenlehre als Normen des Glaubens angesehen, sondern er fand auch gleichwertig die Lebenserfahrungen moderner Menschen, wenn es um die Bestimmung des Glaubens und die Gestalt der Kirche geht. Für Schillebeeckx gab es also immer zwei gleichberechtigte Quellen des Glaubens: Sozusagen das „Damals“ und das „Heute“.
Nur ein Beispiel: Wenn die Grundüberzeugung vieler, leider nicht aller modernen Menschen demokratisch ist und von Menschenrechten geprägt ist, dann muss auch die katholische Kirche demokratische Strukturen haben und in einem Geist der demokratischen Gleichberechtigung von Laien und Priestern, von Männern und Frauen leben. „Warum sollte die Kirche denn ihr Verwaltungs- und Regierungsmodell nicht demokratisieren können, ohne dabei ihre Unterwerfung unter das Wort Gottes anzutasten? Als ob eine autoritäre Leitung der Unterwerfung der Kirche unter das Wort Gottes besser entspräche als eine demokratisch geführte Regierung…“(E.S., „Menschen – die Geschichte von Gott“, Freiburg, 1990, S. 275).

3.
Das ist besonders wichtig: Schillebeeckx nannte seine Theologie eine Korrespondenz zwischen Bibel und Lebenserfahrung. Theologie und Kirchenlehre/Predigt dürfen für ihn nicht naiv den Anspruch haben Einige vorgegebene Sätze der Bibel einfach „anzuwenden“ für die heutigen Menschen. Diese frontale Methode nannte Schillebeeck „das Vogel, friss oder stirb“, also: Nimm die alten Sprüche der Tradition an, so wie sie gelehrt wurden … oder du bist eben kein Christ mehr.
Vielmehr muss die Lebenserfahrung der modernen Menschen selbst eine Stimme haben, eine inhaltliche Bedeutung haben, wenn es um die Darstellung des Christentums heute geht. Aber Schillebeeckx ging nie so weit wie die heutige liberale Theologie zu sagen: Auch die heutige Lebenserfahrung bietet neue Erkenntnisse zur Gestaltung christlicher Lehre und Praxis. Man könnte ja – liberal theologisch sagen: Die Suche nach den gründenden Lebenssinn ist die Suche nach Gott. Und der gründende Sinn kann Gott genannt werden. Soweit geht Schillebeeckx nicht. Obwohl er klar sagte: Man kann heutige Christen nicht verpflichten, einfach alle überlieferten Auslegungen des Glaubens in der alten Sprache zu glauben. (vgl. E.S. „Menschliche Erfahrung und Glaube an Jesus Christus“, Freiburg, 1979 S. 35.). Schillebeeckx große Leistung war es, eine Haupttendenz modernen Lebens zu benennen: Die Suche nach einer heilen, umfassend menschlichen, gerechten Welt. Darum sagte er: Wenn die Kirche heute von Erlösung oder „Heil“ spricht: Dann meint sie nicht nur „Seelenheil“, sondern vor allem die “Heilmachung” des ganzen Menschen, in all seinen Aspekten und der Gesellschaft, in der der Mensch lebt“ (ebd. 47).

4.
Nur auf einige grundlegend kritische Äußerungen möchte ich noch hinweisen: Schillebeeckx wollte von Gott nicht „zu viel wissen“, er wollte Gott Gott sein lassen, als ein bleibendes Geheimnis. Darum sagte Schillbeeckx: „Ich bin im Hinblick auf eine Trinitäts – Theologie fast ein Agnostiker. Ich bekenne die Trinität, aber ich übe gleichzeitig eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den drei (göttlichen) Personen rational zu erfassen“. („E.S. im Gespräch“, Luzern 1994, S. 107).
Oder:
Gegen Missbrauch der Religion als Opium des Volkes betonte er: „Lieber kein Glaube an das ewige Leben als einen Gott bekennen, der Menschen im Hier und Heute demütigt, also klein hält und politisch erniedrigt mit des Glaubens Blick auf ein besseres Jenseits“ (E.S., „Menschen…“, S. 173)

5.
Philosophisch inspirierend bleibt sein Plädoyer, die Kontrast – Erfahrungen zu respektieren, auch als Orientierung für eine philosophische Lebenshaltung im Alltag. Er meinte: Menschen sind ständig mit Begrenzungen des Lebens konfrontiert, mit Leiden und Schmerzen, mit Ungerechtigkeit und Krieg. Aber, und darauf kommt es an: In der Erkenntnis des Negativen schließen sich die Menschen nicht ein. In ihrem Verlangen, in ihrem Geist, der Vernunft, streben sie über das negativ Erfahrene hinaus. Als Kontrast zum Negativen leuchtet unthematisch stets das „Andere“, das Bessere, das Gerechtere auf. In dieser Erkenntnis folgt Schillebeeckx den Erkenntnissen der Dialektik, vielleicht auch Ernst Bloch. Entscheidend aber ist: In dieser Kontrast – Erfahrung treffen sich Menschen unterschiedlicher religiöser und philosophischer Überzeugungen, Theisten und Atheisten zum Beispiel. Sie können auf der Basis gemeinsamer Kontrast – Erfahrungen zum gemeinsamen Handeln finden. „Weltliche“ NGOs, wie „Ärzte ohne Grenzen“, sind für ihn ein Beispiel eines humanen Handelns von Menschen verschiedener Weltanschauungen. „Wo durch Menschen Gerechtigkeit geschieht, kommt das Reich Gottes“ (Schillebeeckx: „Gott ist jeden Tag neu“, Mainz, 1984, S.77).
An die Gespräche von Schillebeeckx mit Leo Apostel, einem bekannten Atheisten in Belgien, im Jahr 1988, müsste in dem Zusammenhang erinnert werden, Apostel ist Autor des Buches „Atheistische Spiritualiteit“ (Brussel 1998). „Apostel gibt zu, dass eine humanistisch-agnostische Weltanschauung zwar eintritt für die Menschlichkeit des Menschen. Aber dass sie häufig ihre philosophischen Hintergründe und Fundamente ungedacht sein lässt“. (so Jan van de Veken, Leuven).

6.
Schillebeeckx liebte die Öffentlichkeit: In zahlreichen Interviews hat er einige zentrale Einsichten für weite Kreise vorgetragen, etwa in einem großen Interview für die angesehene große Tageszeitung „NRC Handelsblad“ vom 20. November 1999. Es sind solche Interviews, die Schillebeeckx in seiner menschlichen, seiner geistigen und theologischen Freiheit zeigen, auch in seiner Freundlichkeit, in seinem Mut, selbst schwierige Fragen kurz zu beantworten.
So wird in dem genannten Interview von Frénk van der Linden die Frage gestellt, ob für ihn als katholischen Theologen und Spezialisten für die Sakramente Gott vor allem in den Sakramenten (Taufe, Kommunion etc.) erfahren werden kann: „Ich will sagen, dass man Gott nicht allein in den Sakramenten begegnet, sondern überall. Der Kontakt mit Gott ist der Kontakt mit Menschen. In den Sakramenten wird dies neu gefeiert… Gott greift in unsere Welt nicht von oben ein. Er ist immanent in allen Dingen“.
Aber welche Konsequenzen hat das für die Ethik?
In dem genannten Interview sagt Schillbeeckx: „Ethik hat als Basis Menschenwürde und Humanität. Dazu hat jeder etwas zu sagen, nicht nur die Kirche. In Fragen der Ethik kann man sich nicht auf Gott berufen. Ethik ist ein menschlicher Konsens, der nach langem Suchen entsteht. Und was die Homosexualität betrifft: Als Gott die Welt und die Natur geschaffen hat, hat er auch Homosexuelle geschaffen. Homosexualität ist eine gute Schöpfung Gottes“.

7.
Und es bezeichnend für den Freimut, in dem Schillebeeckx denkt und auch öffentlich spricht: Wenn er den damaligen katholischen Bischof von Groningen, Wim Eijk, (heute Kardinal in Utrecht und Opus Dei Mitglied) kritisiert: Eijk hatte Homosexualität als Krankheit bezeichnet, die man heilen kann. Dazu sagt Schillebeeckx in dem genannten Interview: „Dies ist ein Torheit, dieser Mann (also der katholische Bischof) ist ein Narr“. Genauso deutlich ist Schillbeeckx gegenüber dem damaligen Erzbischof Simonis von Utrecht: Es sei Unsinn, wenn der Erzbischof behauptet, dass nur im Sakrament, etwa in der Messe eine Gotteserfahrung sich ereigne. „Faktisch macht die Kirche Unsinn, und man muss den Mut haben, das zu sagen“ („E.S. im Gespräch“, a.a.O., S. 86).
In dem NRC Handelsblad sagte er am 20. November 1999: „Der Papst (Johannes Paul II.) ist ein Alleinherrscher, er beschließt alles selbst. Das ist eine verkehrte `Betriebsleitung`. Er versammelt lauter Ja – Sager um sich“ . Und bezogen auf die autoritäre Durchsetzung konservativster Bischöfe in Holland sagt Schillbeeckx:“ Jetzt kommt alle Weisheit aus Rom und die Leute laufen aus der Kirche weg“.
Schillebeeckx hat übrigens immer sehr deutlich zu den Basisgemeinden in Holland bekannt, er war aktiv bei der „Acht-Mei-Beweging“, die als Protestgruppe gegen den Besuch des Papstes (Johannes Paul II) 1985 entstanden war. Schillebeecks hat Partei ergriffen, das zeichnet ihn aus auch gegenüber deutschen katholischen Universitäts-Theologen.

Es ist dieser Mut zur öffentlichen Kritik an katholischen „Amtspersonen“, der Schillebeckx auszeichnete. Und der ihm das Leben gewiss nicht leichter machte, dennoch nannte er sich oft „einen glücklichen Theologen“. In diesem Freimut ist er sicher tief mit der niederländischen Kultur verbunden. So hat er sich auch gegen konfessionelle Parteien ausgesprochen, wie gegen die CDA in Holland, die etwas verwandt ist mit der deutschen CDU. „Denn die Politik selbst ist autonom, ein innerweltliches Gebiet, darum bin ich gegen konfessionelle Parteien. Aber ich glaube, dass es eine Politik von Christen gibt, die verteidigen politisch die Menschen, die unterdrückt sind. In der Hinsicht ist die Partei „GroenLinks“ (Grün-Links) christlicher als die CDA.“

8.
Mit einigen seiner wichtigen theologischen Vorschläge für eine neue Praxis der Kirche ist Schillebeeckx zweifellos gescheitert: Er trat, theologisch gut begründet, dafür ein: Frauen und Männer aus den Gemeinden, also Laien, sollten aus den Gemeinden berufen werden, die Gemeinde zu leiten und damit auch die Eucharistie zu feiern. Dies war, kurz gesagt, sein Vorschlag, um aus den Irrwegen und Engpässen der alten Klerus-fixierten Priesterkirche herauszufinden. Sein Vorschlag, so hilfreich gerade heute, wurde selbstverständlich möchte ich sagen, von den Kirchenführern in Rom zurückgewiesen. Die niederländischen Dominikaner machten 2007 noch einmal einen ähnlichen Vorschlag für die niederländische Kirche: Es ginge ums Überleben der katholischen Gemeinden, weil der Mangel an zölibatären Priestern immer größer wird. Deswegen sollten Laien die Gemeindeleitung und den Vorsitz in der Eucharistie übernehmen. Dazu wurde sogar in Amsterdam ein Kongress veranstaltet: Aber: Das Vorhaben wurde von Rom verboten und die mutigen Dominikaner mussten sich entschuldigen für ihre ketzerischen Thesen. Auf diesem Niveau befindet sich die römische Lehre und die vatikanische Allmacht.

9.
Schillebeeckx` Motto könnte sein: „Wir müssen vernünftig Glaubende sein, der Fundamentalismus in den Religionen, auch im Christentum, führt zum Obskurantismus, also zur geistigen Verwirrung“. (vgl. „E.S. im Gespräch“, S. 149)

10.
Besonders inspirierend finde ich, zumal für theologisch nicht so umfassend gebildete LeserInnen, die beiden Interviewbücher: „Gott ist jeden Tag neu“ (1984, Mainz) und „Edward Schillebeeckx im Gespräch“, Luzern 1994.
Es ist ein Ausdruck für die zunehmende Irrelevanz großer Theologie heute, dass beide Bücher nur noch zu Spottpreisen antiquarisch zu haben sind. Ich empfehle dringend den Kauf … solange der alte Vorrat reicht…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Katholizismus und Aufklärung: „Verdammtes Licht“!

Das neue Buch des Kirchenhistorikers Hubert Wolf
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Der Titel des neuen Buches von Hubert Wolf (katholischer Theologe und Professor für Kirchengeschichte in Münster) ist gut gewählt – und provokativ: „Verdammtes Licht“, so möchte man zusammenfassen, sagten so viele Päpste, Prälaten und Theologen, die sich von der Philosophie und der Lebenseinstellung der Aufklärung abwandten und diese bekämpften: Diese Führer der katholischen Kirche glaubten, selbst über viel Licht, angeblich göttliches Licht, zu verfügen, um die böse Welt, die sündigen Menschen und die immer heilige Kirche zu führen. Was brauchten die Männer Gottes da noch „weltliches“ Licht, das Licht der Aufklärung? Das Licht, das die moderne Zeit auszeichnet, das Licht, das Hell und Dunkel zeigt, mit der Verpflichtung an jeden Menschen: Denke selber nach, folge nicht blind irgendwelchen Autoritäten. Dass dieses Licht missbraucht wurde, ist klar.
2.
Die Abwehr der Aufklärung durch die römische Kirche, die Abwehr dieses „verdammten Lichtes“ (wie der Aufklärer Christoph Martin Wieland sagte), spürt man bis heute: Man denke an die Zurückhaltung des Klerus, der Bischöfe, der Päpste, den sehr umfassenden, international „verbreiteten“ sexuellen Missbrauch im Klerus zu sehen, wahr-zunehmen und die Betroffenen den staatlichen (!) Richtern zu übergeben. „Bloß nicht zu viel Licht in der Öffentlichkeit, das schädigt das Ansehen der Institution Kirche“, dachten und denken diese Kirchenführer.

In diesem hier nur angedeuteten Zusammenhang, so denkt man, können die 10 Studien stehen, die der Kirchenhistoriker zwischen 2005 und 2016 vorgetragen bzw. publiziert hat. Aber es handelt sich dabei um kirchenhistorische Studien mit einer eher speziellen Thematik, vielleicht doch nur für Fachkollegen interessant: Man denke an die Studien in dem Buch über die Bedeutung des Zentrum – Politikers Ludwig Windhorst oder an die Rolle von Matthias Erzberger und seinen damals sehr ernst gemeinten Vorschlag, den Vatikan als Sitz des Papstes und seines Staates entweder nach Liechtenstein oder nach Mallorca zu verlegen. War dieser Vorschlag Ausdruck von Aufklärung? Auch die Studien über die Enzykliken Pius XI. gegen die Nazis sind wohl in dieser Ausführlichkeit eher für Fachkreise relevant.
3.
So weckt also der Titel „Verdammtes Licht“ mit dem Untertitel „Der Katholizismus und die Aufklärung“ viel zu umfassendere Erwartungen, zumal für philosophisch Interessierte: Denn das Thema Aufklärung ist nun einmal explizit ein philosophisches und philosophiehistorisches Thema. Davon ist nur im 9. Beitrag des Buches etwas ausführlicher die Rede. Von der Unterdrückung des Lichtes der Aufklärung im sexuellen Missbrauch durch Priester ist keine Rede. Darüber hat Hubert Wolf auch in seinem ebenfalls neuen Buch ZÖLIBAT geschrieben…
4
So muss man also als Leser eher im Hintergrund der Texte etwas suchen, wo sich denn diese angekündigten Spuren von Licht, verstanden als kritischer Aufklärung, finden. Leitend ist für den renommierten Kirchenhistoriker Wolf freilich die richtige Erkenntnis:“ Es gab eine Abscheu der Päpste vor der Moderne“ (S. 198). Und sehr treffend als Forschungshorizont die aus liberal-protestantischen Theologien seit langem bekannte Erkenntnis: “Die katholische Kirche ist nicht von Jesus Christus gegründet worden. Auch wenn sie sich auf ihn zurückführt, geht ihre institutionelle Gestalt nicht auf ihn zurück…“ (S. 12 f.) Diese Erkenntnis hilft dem Kirchenhistoriker, kleine, versteckte Spuren der Entwicklung der Lehre, auch der Dogmen, im Laufe der Geschichte zu finden. So kann Hubert Wolf durchaus von einer Pluralität der Katholizismen sprechen. D.h. es gab immer auch liberalere Strömungen. Marginal waren sie, das wird so deutlich nicht gesagt!. Wie lange diese liberalen Strömungen Bestand hatten vor der Verfolgung der Konservativen und Reaktionären, wird nicht so deutlich gezeigt von Hubert Wolf. Man hat manchmal den Eindruck, der Autor will unbedingt das Moderne im Katholizismus doch noch – apologetisch? – freilegen.
5.
Wo also gab es denn einige Licht-Spuren der Aufklärung im Katholizismus: Bei dieser Frage muss man bedenken, wie eng die Themen sind, die Wolf hier wählt. Da wird man eben nicht fündig zu Voltaire oder Kant und deren Beziehungen zur institutionalisierten Religion und Kirche. Nein, da geht es nur um innerkirchliche Fachthemen, etwa zur Gestalt des angeblich oder tatsächlich sehr braun nazigefärbten Bischof Hudal im Vatikan. Vielleicht hat er doch die Ideologie der Nazis deutlicher gesehen als angenommen? Und waren die Bischöfe nicht doch etwas aufgeschlossener, als sie nur mit Widerwillen und aus finanziellen Gründen die Priesterausbildung in den kirchlichen Anstalten, Priesterseminar genannt, organisierten! Und nicht die künftigen Priester an Universitäten studieren ließen? Und sind nicht, so fragt Wolf, in den Dokumenten des 2.Vatikanischen Konzils gewisse Durchbrüche zur Akzeptanz der Aufklärung zu erkennen, etwa in der großzügigen Anerkennung des Menschenrechtes auf Religionsfreiheit, im Jahr 1964! Dass der Vatikan-Staat bis jetzt nicht die Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet hat, wird meines Erachtens in dem Buch nicht erwähnt. So viel Licht hatte doch das 2. Vatikanische Konzil auch nicht!
6.
Vieles ist und bleibt eben auch „verdammt“ dunkel und mysteriös, in der jetzigen katholischen Kirche. Etwa der Teufelsglaube, den Papst Franziskus immer noch predigt, die Beliebtheit der Exorzisten, die Abwehr von Frauen als Priesterinnen, die Zurückweisung einer umfassend synodalen, also demokratischen (aufgeklärten!) Kirche und so weiter. Von all dem ist in dem Buch keine ausführliche Rede.
7.
Darum noch einmal: Ehrlicher wäre für das Buch der Titel: „10 Fachstudien über einige Aspekte der katholischen Kirchengeschichte vor allem im 19. und 20. Jahrhundert“. Und als Untertitel: „Vermischt mit einigen grundsätzlichen Thesen zur Notwendigkeit der Kirchenreform“.

Hubert Wolf, Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung
C. H. Beck, München 2019, 314 S. 29,95 €

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Meinungsfreiheit neu definieren!

Hinweise aus philosophischer Sicht.
Von Christian Modehn
1.
Über die Meinungsfreiheit innerhalb eines demokratischen Rechtsstaates wie der Bundesrepublik Deutschland muss heute endlich umfassend debattiert werden. Die Meinungsfreiheit wird hier und heute missbraucht. Das ist kein Zweifel! Die Gesellschaft der freien Meinungen gerät in den Strudel der Beliebigkeit, des Hasses, der Zerstörung. Freie Meinungen kaschieren sich nur als frei; sie sind aber tatsächlich unreflektierte, zerstörerische Ergüsse einzelner, vor allem in den so genannten sozialen Medien verbreitet. Diesen Missbrauch des Wertes „freie Meinungsäußerung“ nutzen rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien und Gruppen in Deutschland und ganz Europa. Leider bedienen sich einzelne demokratisch gewählte Politiker, wie Mister Trump, auch ihrer konfusen subjektiven Ergüsse, um sich des Rechtes der freien Meinungsäußerung zu bedienen.
Die normative Frage: Was ist eine freie (d.h. als freie immer auch vernünftige) Meinungsäußerung muss neu gestellt werden.
Denn Meinungsfreiheit in der Demokratie ist keineswegs eine fixierte, festgelegte Selbstverständlichkeit. Meinungsfreiheit ist eines der wichtigsten Menschenrechte überhaupt. Demokratie lebt von der Meinungsfreiheit, siehe Grundgesetz Art. 5, Abs.1. Und dies gilt es heute zu verteidigen, aber auch neu zu definieren. Die Feinde der Demokratie am Rande, „rechts außen“, müssen als solche benannt und politisch bekämpft werden.
2.
Das Menschenrecht der Meinungsfreiheit muss heute neu bestimmt werden. Die rechtsextremen Kreise profitieren von der demokratischen Meinungsfreiheit auf eine perfide Art, um die übergeordneten Rechte, also die Menschenrechte und die Werte der Demokratie, langsam aber systematisch zu zerstören. Rechtspopulistische und rechtsextreme Kreise leben bewusst im Selbstwiderspruch: Sie bedienen sich der Meinungsfreiheit, um einen autoritären Staat zu errichten. Solche Agitatoren nannte man früher „Totengräber der Demokratie, der Republik“. In Kreisen der AFD Führer wird diese Ideologie verbreitet: Sie behaupten: Die Bundesrepublik sei eine Diktatur, die überwunden werden muss, so wie 1989 die Diktatur der DDR überwunden wurde.
3.
Meinungen sind Worte, auch Taten sind (sichtbare) Worte: Etwa die 169 rassistisch motivierten Mord-Taten seit 1990, wahrscheinlich sind es mehr Morde. Kaum zu zählen ist die Menge der Aggressionen körperlicher und verbaler Art ebenfalls aus rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen. Viele dieser Verbrechen werden nicht umfassend verfolgt und bestraft, weil die Polizei, die Richter, der Verfassungsschutz in unserer der Demokratie versagen, weil sie die Gefahr von Rechtsaußen üblicherweise unterschätzten.
4.
Die rechtsextreme Gewalt (eine Form von Meinungsäußerung!) nimmt auch zahlenmäßig zu. Sie wird durch den Gebrauch der „sozialen Medien“ inspiriert. Man denke an den Massenmord durch Anders Breivik, Oslo; an den Anschlag auf die Synagoge in Halle; an den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke; an den Massen-Mord in den Moscheen von Christchurch, Neuseeland usw.
Über den Zusammenhang von Nutzung sozialer Medien und Gewalt müsste noch umfassender geforscht werden. Diese Notwendigkeit kritischer Forschung gilt auch der Anonymisierung der Autoren von Hasstexten. Ist die Demokratie hilflos einem Schwarm von Wahn und Hass ausgesetzt?
5.
Die demokratischen Verfassungen, der Rechtstaat und die universal geltenden Menschenrechte, sind Resultate der politischen Kämpfe vernünftiger Menschen seit der Aufklärung. Diese Resultate müssen heute wieder verteidigt und entwickelt werden.
Man muss erkennen: Der entsprechende Artikel 5 des Grundgesetzes wurde vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschlossen, zu einer Zeit, als nicht so viele nach dem Ende des Hitler-Faschismus sich vorzustellen wagten: Es käme noch einmal eine Epoche, wie in Weimar, wo Propaganda-Hetze der Nazis die Demokratie zerrütteten.
Angesichts dieser Erfahrungen wissen heute Demokraten: Sie dürfen niemals mehr schlafen, wenn ein Rechtstaat von reaktionären und populistischen Bewegungen auf das Niveau von Diktatur, Einheitspartei und Nationalismus bzw. – damit identisch – Kriegstreiberei, zurückgetrieben wird. Anfänglich geschieht das durch Propaganda-Sprüche und öffentliche Hetz-Hass-Tiraden. Später dann durch das Vernichten demokratischer Grundrechte. Man denke an die Geschichte der Weimarer Republik und den in ihr entstandenen Hitler-Faschismus. Gegen diesen Rückschritt, gegen diese Abkehr von der Humanität, muss sich die Demokratie, müssen sich die Bürger der Republik verteidigen. Das gilt für die heutige Situation in Deutschland, vor allem, aber auch in Österreich, Frankreich, Holland, Italien usw. In Polen und Ungarn sind die jetzigen politischen Verhältnisse schon viel schlimmer…
6.
In den sozialen Medien wie im unmittelbaren Gespräch in sichtbaren, „leibhaftigen“ Gruppen: Immer ist impliziert der Schritt in die Öffentlichkeit: Ich will mich als Redner vernehmbar sprechend dem Disput der anderen stellen. D.h.: Ich setze als Sprechender im Akt des Sprechens schon das Gespräch mit anderen voraus. Man will im Gespräch die eigenen Erkenntnisgrenzen überwinden. Demokratie ist ein Lernprozess, in dem niemand von vornherein Recht hat und etwa behaupten kann, nur „er wäre das Volk“. Dies ist eine Haltung, die nur in eine Diktatur passt.
7.
Philosophisch grundlegend ist: Meinungen eines einzelnen oder Überzeugungen einer Gruppe oder Partei können niemals mit dem Anspruch auftreten, in jeder Hinsicht und für alle gültig zu sein. Es sind immer „meine, unsere Meinungen“, die sich aufgrund meiner subjektiven Verfassung und der immer gegebenen Perspektivität meines Erfahrens und deswegen begrenzten Erkennens ergeben.
Das heißt: Meine Meinungsäußerung als einzelner, als Gruppe, Partei, Kirche etc. ist immer begrenzt. Sie stammt von in jeder Hinsicht endlichen, begrenzten Menschen. Diese Begrenztheit kann niemand abwerfen, loswerden, keine Partei, keine Kirche hat „immer recht“. Lediglich die allgemeine Basis der universalen Menschenrechte ist unaufgebbar!
8.
Kein Demokrat denkt daran, die Meinungsfreiheit einzuschränken. Kein Demokrat denkt daran, die Vielfalt der Meinungen, typisch für die Demokratie, zu verbieten. Kein Demokrat denkt daran, Zensur auszuüben. Das ist die klassische und wahre Überzeugung der vernünftigen Menschen, sie verteidigen die liberalen Freiheitsrechte. Und diese Verteidigung ist kein persönliches, bloß zweitrangiges Hobby, sondern ein Beitrag für die Bewahrung des humanen Lebens der Menschheit, wenigstens in diesem Teil der Welt.
9.
Demokraten sind keine Masochisten. Sie wollen sich von den neuen Rechtsextremen nicht bedrängen und quälen lassen. Sie nehmen es nicht gelassen hin, wenn Feinde der Demokratie die Regeln der Demokratie ausnutzen, um die große reaktionäre Wende und Kehre zurück anzustreben. Demokraten als Verteidiger der Menschenrechte treten deswegen gegen die Gewalttäter an, gegen die Akteure und Ideologen des Antisemitismus und Rassismus, der Homophobie, des ANTI-Feminismus usw.
Dafür brauchen die Demokraten wirksame demokratische Gerichte, demokratisch orientierte Richter und demokratische denkende Polizisten. Dazu gibt es vielfach heftige Forderungen nach dringender „Verbesserung“… Manche wünschen sich bereits, dass wenigstens die bestehenden Gesetze voll umfänglich angewendet würden im Umgang mit Rechtsextremen.
10.
Ein philosophischer Hinweis:
Subjektive Überzeugungen sind absolut anzuerkennen. Es gibt die plurale Breite der politischen demokratischen Meinungsäußerungen, auch in der Kunst, der Literatur…
Subjektive Überzeugungen sind keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, keine mathematische Ableitungen, auch nicht Fakten, etwa derart, dass die Erde um die Sonne kreist. Aber subjektive Überzeugungen, sind ihrerseits bestimmt von objektiv gültigen Kriterien, die ihre Wahrheit überprüfen. Kann denn eine rassistische Überzeugung sich Humanismus nennen? Ist Antisemitismus etwa nur eine beliebige Variante ideologischer Überzeugungen? Philosophisch – ethisch gesehen absolut nicht!
11.
Es gibt also allgemein gültige Erkenntnisse der Philosophie, diese sind sozusagen „Fakten-Erkenntnisse“ eigener Art sind. Und sie sind als Menschenrechte von universeller Bedeutung. Es gibt eine allgemein gültige Erkenntnis von dem, was die Würde eines jeden Menschen ist. Es gibt die allgemeine Erkenntnis des „kategorischen Imperativs“. Wie müssen sich Demokraten zu Menschen verhalten, die die gleiche Würde der Menschen ablehnen? Man muss sie überzeugen, im Gespräch der Argumente, auch in der Anerkenntnis der immer zu verbessernden Demokratie… Es gilt diese Menschen auf die Ebene der Vernunft und ihrer demokratischen Freiheiten zurückholen.
12.
Der Artikel 5 des Grundgesetzes muss heute als ein Impuls zur umfassenden Verteidigung der Meinungsfreiheit verstanden werden. Als Aufruf, diese jetzt bedrohte Meinungsfreiheit nicht nur als große „Errungenschaft“ zu preisen, sondern politisch zu schützen und zu verteidigen. Die Meinungsfreiheit muss um ihrer selbst willen begrenzt werden. Nicht jeder Feind der Demokratie darf in einer Demokratie allen Wahn verbreiten. Es ist schwer, für liberal gestimmte Menschen, dies anzuerkennen. Aber die bedrängende Situation verlangt diese Einschränkung um der Menschlichkeit willen.

Lektüreempfehlungen:
Wichtig ist die Studie des Literaturwissenschaftlers Prof. Heinrich Detering, „Was heißt hier wir?“ (Reclam 2019). Darin wird gezeigt: Unter „wir“ versteht sich die AFD exklusiv als „das“ Volk“. Das Volk, das sind nur „wir“, die Rechtsextremen: D.h: „Wir“ grenzen die anderen, die Fremden, die Flüchtlinge, die Minderheiten aus. Diese Ideologie muss in einer Demokratie praktisch, politisch und gesetzlich zurückgewiesen werden.

Man lese auch noch einmal das schon 1993, also kurz nach der „Wende“, herausgegebene Buch „Deutsche Zustände“(Rowohlt Verlag, hg. von Bahman Nirumand): Von besonderer aktueller Bedeutung sind die vor über 25 Jahren (!) veröffentlichten Beiträge von Asher Reich (Tel Aviv) „Der Nazismus ist nicht tot – er schläft nur“ und Hans Joachim Schädlich (Berlin) „Für Gewalt der Demokratie gegen die Gewalt der Nazis“.

Es wären weiter zu debattieren über die Studien des Soziologen Emile Durkheim, die sich auf die notwendige staatsbürgerliche Moral in der Gesellschaft beziehen. Sie sind unter dem Titel „Physik der Sitten und des Rechts“ als Vorlesungen aus dem Jahre 1896 erschienen. Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth bezieht sich in seinem Buch „Das Recht der Freiheit“ (Suhrkamp Verlag 2011) auf diese Studie Durkheims (dort S. 494 f.) und erinnert an ähnliche Überlegungen des Philosophen John Dewey (S. 497).
Unter „staatsbürgerlicher Moral“ versteht Durkheim, so berichtet Axel Honneth, „die geschriebenen und ungeschriebenen Moralnormen, deren Einhaltung die Mitglieder eines demokratischen Staatswesens dazu befähigt, sich trotz der wechselseitigen Respektierung ihrer individuellen Unterschiede an der gemeinsamen Beratschlagung und Aushandlung von allgemeinverbindlichen Grundsätzen staatlichen Handelns zu beteiligen“ (S. 494).
Ob rechtspopulistische und rechtsextreme Kreise und Parteien an einer gemeinsamen „Beratschlagung“ überhaupt interessiert und in der Lage sind, wäre eine Frage.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die Ehre – das veräußerliche Leben. Das Gegenteil von Würde.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Warum soll man sich mit dem Begriff und der Wirklichkeit der EHRE und der EHR-ERBIETUNG befassen? Wenn Ehre und Ehr-Erbietung zum Mittelpunkt des Lebens werden, wird das Leben selbst völlig veräußerlicht, oberflächlich, unpersönlich. Nicht alle wollen so leben. Deswegen sollten wir uns mit der Ehre und der Ehrerbietung befassen. Etwas anderes ist hingegen die Ehrfurcht.

1. Würde ist mehr als Ehre
Dem Begriff der Würde eines jeden Menschen steht scheinbar der Begriff der Ehre und des Ehrgefühls nahe. Aber nur scheinbar!
Denn Würde ist eine innere Dimension der menschlichen geistigen personalen Existenz. Sie ist eine (meine, deine, unsere) Dimension, die letztlich von keinem anderen Menschen zerstört werden kann. Denn bekanntermaßen können noch unter unmenschlichen, unwürdigen Bedingungen die Opfer ihre innere Würde bewahren und sich so inmitten der Unmenschlichkeit wenigstens seelisch, menschlich retten. Was nicht bedeutet, nicht gegen unmenschliche Zustände aufzustehen und zu rebellieren!

2. Nur der einzelne selbst kann seine innere Würde verlieren.
Die eigene unantastbare Würde kann nur vom einzelnen selbst in seinem eigenen würdelosen Verhalten zu einem gewissen Verschwinden gebracht werden. Ob die „innere Würde“ eines Menschen jemals von ihm ganz zu „töten“ ist, bleibt die Frage. Die KZ-Mörder, ein klassisches Beispiel, wurden im Nazi-System geehrt. Sie haben aber als Menschen, die sie ja waren, fast ganz ihre innere Würde – durch eigene Tat – verloren. Und diese Würde ist vor allem eine „innere“ Realität, im Geist, in der Seele, im Gewissen zu spüren. Vielleicht kann eine gewisse Fürsorge der KZ Mörder noch für die eigenen Kinder als ein kleiner Restbestand von eigener Menschenwürde deuten. Das würde meiner These entsprechen, dass kein Mensch seine Würde total verlieren kann. Dies ist auch ein Argument gegen die Todesstrafe: Man hofft immer noch auf eine gewisse Resozialisierung selbst de Mörders…

3. Veräußerlichtes Gefühl, „geehrt zu werden“
Ehre und Ehrgefühl des einzelnen sind äußerliche Zuschreibungen anderer. Die Literatur des 20. Jahrhunderts ist voller Darstellungen dieser „Ehren-Problematik“ bzw. Sucht, als ehrenwerter Mensch angesehen zu werden. Man denken nur an Hermann Broch und vor allem an den ersten Teil seiner „Schlafwandler-Trilogie“.
Das ist typisch: In einer hierarchisch verfassten Gesellschaft bzw. einem hierarchisch geprägten Staat (und diese gibt es immer) werden bestimmte „hohe“ Amtsträger wie automatisch von anderen als „ehrwürdig“ betrachtet und angesprochen. Zum Beispiel: So müssen wohl oder übel die demokratischen Politiker bei Staatsbesuchen etwa bei Mister Trump oder Mister Orban oder bei afrikanischen bzw. arabischen Despoten gewisse „ehrerbietige“ Höflichkeitsregeln befolgen, obwohl die genannten Herren diese Ehre eigentlich nicht verdienen. Aber die Diplomatie schreibt Verlogenheit vor. Aber die Überzeugung, dass es sich bei den Genannten (Trump usw.) um würdelose Wesen handelt, ist doch sehr zurecht angesichts von deren Taten und Worten sehr weit verbreitet. Hinterlässt aber bei der demokratischen kritischen Bevölkerung immer noch Hilflosigkeit. Diktatoren lieben das Ostentative, die Monumentalität etwa in ihren Bauvorhaben. Dieses sollen die Ehre, das Prestige erhöhen. So nimmt etwa Erdogans Palast das Vierfache des Schlosses von Versailles ein und das Fünfzigfache des Weißen hauses in Washington. Bezogen auf Erdogan, Türkei, schreibt der Philosoph Marcel Hénaff: “In vielerlei Hinsicht konnte man diese Art Pathologie (des Monumentalen-Wahns) bereits im Monumentalismus bei den Nationalsozialisten, Faschisten und Stalinisten beobachten” (Lettre International, Frühjahr 2018, S. 77).

4. Respekt und Achtung
Achtung gebührt dem (gerechten) Gesetz, wie Kant treffend bemerkte. Und wenn man eine „Amtsperson“ achtet, dann nur wegen des (gerechten) Gesetzes, „wovon jene Person uns das Beispiel gibt“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten).
Respekt bezieht sich auf den Umgang mit anderen Menschen. Dieser Respekt gilt prinzipiell jedem Menschen, darin drückt sich die Anerkennung der Würde, des „Wertvollen im Menschen“, aus; diese Würde ist etwas Unantastbares, einem jeden Menschen „Innerliches“.

5. Der gute Ruf und die bürgerliche Moral
Wer hingegen geehrt werden will, ist bedacht auf seinen (angeblichen) guten Ruf. Er will nach außen hin, bei anderen, „etwas“ gelten, als etwas Besonderes erscheinen. „Mehr Schein als Sein“ ist das unzerstörbare Lebensprinzip dieser „Ehrenvollen“. Man freut sich etwa über Auszeichnungen. Die können im Falle für sportliche oder für künstlerische Leistungen sinnvoll sein; selbst wenn diese Auszeichnungen oft eher durch zufällige (auch parteipolitische) Konstellationen oder „connetions“ zustande kommen. Sehr oft wird bei einer Ehrung nicht die Person als solche hervorgehoben oder gar als Vorbild gepriesen. In der Ehrung wird das von der Person immer noch verschiedene künstlerische, literarische „Werk“, die „Leistung“, geehrt. Ist die Leistung etwa durch Doping betrügerisch erschlichen worden, wird auch die Person eher höchst kritisch betrachtet. Und von der Masse der Enttäuschten geächtet.
Diese Ehrungen in der Kultur, vor allem in der Politik sind oft sehr problematisch, weil übereilt: Man denke an angebliche „Friedenspolitiker“ wie Obama, er erhielt 2009 den Friedensnobelpreis. Man denke auch daran, welche merkwüridgen Gestalten etwa auf die „Ehre der Altäre“ als Heiliggesprochene und ehrenvolle Vorbilder erhoben wurden: Etwa der Scharlatan und Volksheilige Pater Pio in Italien oder der reaktionäre Papst Pius IX. oder der Gründer des katholischen Geheimclubs „Opus Dei“, Pater Escriva y Balaguer… Zu diesen so ehrenvollen Herren sollen also die frommen Katholiken um himmlischen Beistand bitten!

6. Der gute Ruf als Ehre in der Familie
Spielt die Ehre noch im alltäglichen Familienleben eine Rolle? Vielleicht ist das Insistieren auf der Bedeutung der Ehre für die Familie in nicht-muslimisch geprägten Familien West-Europas nicht mehr so groß wie noch vor 60 Jahren: Als etwa die braven, (klein)bürgerlichen Eltern den Kindern extravagante Kleidung oder Rock-Musik oder Formen der sexuellen Freiheit verboten hatten mit dem Argument: Wer das tut, schädigt den guten Ruf, die Ehre der Familie. Wie oft hörte man das Argument: „Was sollen denn dann die Nachbarn denken?“
Die Ehre wird selbst noch in Deutschland heute verteidigt, man denke daran, dass es christlich geprägte Familien für eine Schande halten, wenn der Sohn oder die Tochter sich öffentlich als homosexuell outen.
In muslimisch geprägten Kulturen spielt die Bewahrung der Ehre (also das äußerlich korrekte Verhalten nach den Geboten der Traditionen) eine sehr große Rolle, aber das ist ein eigenes Thema. Ein Stichwort wären: Ehrenmorde. Oder die „arrangierten Ehen“, die die Würde der Mädchen und Frauen verletzen. Ehre zeigt sich hier besonders als Ausdruck einer grausamen „Macho-Religion“.

7. Die Ehre als Mittelpunkt
Die Ehre war vor allem im 18. und 19. Jahrhundert in Europa eines der „höchsten Güter“. Es war eine Art „symbolisches Kapital“, wie es in der „Geschichte des privaten Lebens“ (Band IV, S. 270) heißt. Je mehr Ehre einem Menschen, einer Familie oder einer Firma zugesprochen wurde, um so bedeutender und erfolgreicher konnte man gelten und leben. Aber dieses Kapital der Ehre war stetst gefährdet, durch üble Nachrede konnte es zerstört werden. Davon handelten die ständigen, heftigen Streitereien der Menschen, etwa schon in Paris des 18. Jahrhunderts. Da gab es die staatlich angestellten „commissaires“, an die sich die Beleidigten wenden konnten, um die verlorene Ehre rechtlich wiederherzustellen.
Man wollte ja schließlich wieder „angesehen“ zur „Gesellschaft“ gehören.

8. Das Duell
Auf die lange Jahrzehnte dauernde, beinahe übliche Praxis des Duells kann hier nur hingewiesen werden, erst nach 1918 wurde das Duell verboten, 1970 gab es noch ein Duell in Uruguay.
Man bedenke aber, dass in dem allgemein bis zum 2. Vatikanischen Konzil verbindlichen „Handbuch der katholischen Moraltheologie“ von Heribert Jone (Paderborn 1953), das Duell noch als erlaubt galt, wenn denn dadurch das Gemeinwohl geschützt werden kann. So in § 216, S. 180 in diesem Buch, das den ganzen Klerus bis ca. 1965 prägte. Hingegen wird das nur aus privaten Gründen praktizierte Duell als schwere Sünde bezeichnet: Wobei unklar bleibt, ob nicht auch das private Duell irgendwie dem Allgemeinwohl dienen kann. Man denke etwa an den Wahn, mit dem sich die katholischen Feinde des (jüdischen) Hauptmanns Alfred Dreyfus ins Duell stürzten, in der Überzeugung, dadurch der Nation Frankreich zu dienen und den Juden Dreyfus zu bekämpfen….Nebenbei: Für diese Moraltheologie von Heribert Jone ist hingegen, so wörtlich, „ein Kampf mit Stöcken und Ruten noch kein Duell“, also erlaubt (S. 180 in Jone). Diese kirchliche Duldsamkeit fürs Schlagen mit Stöcken wurde gelegentlich in kirchlichen und staatlichen „Elite“-Schulen und Internaten angewendet. Schlagen war ja offiziell kirhlich nicht verboten. Man sieht hier die ideologische Abhängigkeit kirchlicher Moralvorstellungen von der herrschenden, aber verblendeten Moral. Der Theologie fiel es immer sehr schwer, selbstkritisch diese ideologischen Bindungen überhaupt zu erkennen. Man hielt das Gesagte oft genug für „Gottes-Wort“.

9. Das 8. Gebot
Die Ehrerbietung, also die Praxis der Ehrenbezeugung, spielt in den Religionen immer noch eine große Rolle.
Dass im 8. Gebot, von Gott an Moses angeblich übergeben, auch die Ehre von Vater und Mutter eine zentrale Rolle spielt, sollte weiter untersucht werden. Wenn man den häufigen Umgang heutiger Söhne und Töchter mit den alten Eltern betrachtet, meint man, in einer gottlosen Zeit zu leben..

10. Der Kult der Ehrerbietungen:
Der Dalai Lama wird auch hierzulande mit „Seine Heiligkeit“ angesprochen. Der Papst wird selbst in weltlichen Medien „Heiliger Vater“ genannt. Wer wagt es schon, etwa im Interview Papst Franziskus einfach und normal mit „Herr Bergoglio“ anzusprechen. Ehrerbietung und Achtung vor dem Amt spielen da fast zwanghaft zusammen. Katholische Pfarrer hießen und heißen in manchen Gegenden immer noch „Hochwürden“, Nonnen werden „ehrwürdige Schwestern“ genannt. Wer sich mit den Katholikentagen der neunzehnhundertfünfziger Jahre befasst, etwa mit dem Berliner Katholikentag 1958, wird immer wieder auf die Anrede „Seine Durchlaucht“ stoßen als Anrede für den obersten katholischen Laien damals, einen gewissen Karl Fürst zu Löwenstein. Ich habe als Kind damals so oft das Wort „Durchlaucht“ gehört und dachte, es handle sich dabei um ein Schiffbrüchigen oder vom Hochwasser Durchspülten
Die Ehre, die für die Frommen einzig dem transzendenten Gott selbst zukommen sollte, wurde und wird also pervertiert angewandt auf Menschen. Nebenbei: Welcher klerikale Hochwürden hat schon einmal einen Armen, der sich durchs Leben recht und schlecht kämpfen muss, wegen seines ungebrochenen Lebenswillens „Hochwürden“ genannt. Der Arme und die Bettlerin hätten diesen Titel verdient.

11. Jesus – der Mensch ohne Ehre
Es kann hier nur daran erinnert werden, dass die Gestalt des Propheten Jesus von Nazareth von den Herrschenden als ehrlose, störende Gestalt gewertet wurde. Aber dieses Lebensmodell Jesu war gerade seine Würde. Sein Tod und die Form seiner Hinrichtung sind das Ehrloseste, das in der damaligen Gesellschaft gab. Christen verehren also zunächst einmal den „Ehrlosen“, der sich dann aber in der Überzeugung der Gemeinde als der Würdevollste, überhaupt zeigte: In dem Selbstbewusstsein der Gemeinde wuchs die Überzeugung: Gerade dieser Mensch Jesus birgt förmlich Göttliches in sich, also Ewiges, das den Tod überdauert. Und dieses Ewige, so wuchs die Überzeugung, gilt für alle Menschen. (Als dringende Buchempflehlung: “Der schwierige Jesus“ von Gottfried Bachl, Tyrolia Verlag 1996. Bachl war Theologieprof. (Dieses Buch, nur 100 Seiten, ist antiquarisch noch vorhanden. Besonders die Kapitel „Der nackte Jesus“ und „Der hässliche Jesus“ geben zu denken.)

12. Ehrfurcht und Gehorsam geloben
Der Kult um die Ehre und damit die Ehrerbietung der Hierarchen ist ungebrochen im römischen Katholizismus. Das sei allen gesagt, die irgendwie von einem fortschrittlichen, d.h. vernünftig-human gewordenen Katholizismus träumen. Bestes Beispiel, das die seelische Prägung der Priester insgesamt betrifft: Die jungen Männer, die sich im Dom vom Bischof zu Priestern weihen lassen, legen sich als Zeichen der Unterwerfung ganz flach auf den steinernen Boden. Sie sollen förmlich als Nichts, als Untertane, als Staub gelten.
Dann versprechen diese neu geweihten Prister auch dem Bischof, als ihrem Vorgesetzten, ausdrücklich „Ehrfurcht und Gehorsam“: Die Priester, alle Priester des römischen Systems, sollen ihrem Chef, voller Ehrfurcht und voller Gehorsam begegnen. Ob sie das dann de facto auch tun, ist eine andere Frage. Aber: Ehrfurcht, Zuweisung von Ehre und auch Angst vor der Amtsperson gehören zentral ins innere Gefüge der römischen Kirche.
Sicher kennen auch andere große hierarchische Organisationen solchen Zwang zur Ehrerbietung gegenüber dem Chef. Die Untertanen gehen dabei selbst seelisch sozusagen vor die Hunde, weil sie buckeln müssen und ergeben erscheinen müssen. Auch die Mafia kennt solche Bindungen durch Ehrerbietung und Gehorsam. Und sie erzeugt dabei ein tödliches System.

13. EHRFURCHT vor dem Leben
Wie der Begriff schon andeutet, ist in der Haltung der Ehr-Furcht auch die Haltung der FURCHT enthalten. Ob Furcht in Angst übergeht, ist eine andere Frage: Angst vor der zu ehrenden Person, das gibt es ständig: Einer „hohen“ Person soll also dem Begriffe nach voller Furcht begegnet werden, weil sie Macht hat. Man soll förmlich erschaudern vor dieser „Amtsperson“.
Da muss aber wieder die bleibende Einsicht Kants ins Spiel kommen: Nicht die Person wird ehr-fürchtig verehrt, sondern das (gerechte) Gesetz, das sie repräsentiert.
Ehrfurcht gegenüber Menschen sollte es also eigentlich nicht geben. Kant sagte ja in seinem berühmten so viel zitierten Satz: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und EHRFURCHT: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir (also der kategorische Imperativ).“
Albert Schweitzer sprach von der „Ehrfurcht VOR DEM LEBEN“, also vor der Natur als der geschenkten Schöpfung sollen wir uns ehrfürchtig, also nicht herrschsüchtig, nicht destruktiv, verhalten. Ein Beispiel für unsere Welt ohne Ehrfurcht: Das verbrecherische Abholzen etwa der Amazonas Wälder durch den rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro in Brasilien, von evangelikalen Kirchen dort heftig unterstützt, widerspricht total der Ehrfurcht vor dem Leben. Dieser von den Einwohnern gewählte Präsident – “Diktator” ist schon fast würdelos: Er will wie ein Rassist das Leben der indigenen Völker am Amazonas offenbar vernichten und einzig aus ideologischer Verblendung und Frauenfeindlichkeit das „ungeborene Leben“ schützen…Das schon lebende personale Leben ist diesem Rechtsextremen und seinen frommen Anhängern egal. Und die Bewahrung der Natur, „Schöpfung“ eigentlich in seiner religiösen Ideologie, sowieso, solange sie Geld bringt und die reichen Nationen durch das verbrecherische Abholzen der Wälder mit Soja und Rindfleisch versorgt.
Das Motto dieser evangelikal frommen Leute und Diktatoren ist: „Nach uns die Sintflut“. Oder „Sünd-Flut“, als Flut unserer Sünden ? …
Warum ist die demokratische Welt nicht in der Lage, einen solchen Politiker in dauer-hafte Pension zu schicken?

14.
Ehre und Würde sind doch gelegentlich verbunden
Tzvetan Todorov schreibt in „L Honneur“ (Paris 1991, S. 221 ff.) über den Aufstand im Warschauer Getto 1943 und der Stadt Warschau 1944: Immer wieder betonen dort die Widerstandskämpfer, sie wollten in Ehre sterben. Ehre heißt: Kämpfen bis zum Ende. Sich nicht wie geduldige Schafe töten lassen“. Selbst an den Häuserwänden im Getto stand: „Sterben in Ehre, ehrenvoll sterben“. Ehre hieß: Das Aussichtslose tun.
Ehre erscheint als einziger Wert in dieser Situation:
Ehre ist hier auch bezogen auf die Wahrnehmung anderer: Sie sollten, wenigstens später, nach dem Grauen, sehen, dass Juden sich wehrten.
Aber hier ist dieser „Ehr- Begriff“ auch stark verbunden mit der Würde: Diese Widerstandskämpfer wollten in ihrem Tun ihre menschliche Würde bewahren. .

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Richtig falsch. Philosophische Impulse für ein richtiges, ein humanes Leben

Hinweise zu einem neuen Buch von Michael Hirsch.
Von Christian Modehn

1.
Das oft zitierte und weit verbreitete Buch von Theodor W. Adorno „Minima Moralia“ (verfasst 1944) hat den Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“. Der Untertitel legt nahe zu denken, also aus einem „bloß“ „beschädigten“ Leben und nicht aus einem total zerstörten und hoffnungslos korrupten Leben. Das gilt vor allem wohl, wenn man den besonders häufig nachgesprochenen Satz aus „Minima Moralia“ hört: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ ( S. 43, in: Gesammelte Schriften, Suhrkamp). Kann also in einem insgesamt falschen Leben, etwa in einem falschen System, auch mein und unser Leben insgesamt nur falsch sein? Wahres humanes Leben ist dann offenbar unmöglich.

2.
Gegen diese eher defätistische Interpretation des Adorno – „Spruches“ wendet sich in seinem neuen Buch „Richtig falsch“ der Philosoph und Politikwissenschaftler Michael Hirsch: Er hat ein überaus anregendes philosophisches Buch ganz eigener Art verfasst: 123 kurze Essays oder „längere Aphorismen“ lassen sich von diesem Satz Adornos inspirieren, sie umkreisen ihn förmlich und kritisieren und korrigieren ihn. Und diese Leistung finde ich sehr hilfreich! Denn Michael Hirsch weitet das Denken insgesamt. Für mich sind manche Beiträge philosophische Meditationen, Texte zum Innehalten. Zu einer neuen Form des Umgangs mit philosophischen Erkenntnissen wird man förmlich aufgefordert.

3.
Das Buch, so wird vom Autor betont, wendet sich an „linke Intellektuelle“. Auf diese Gruppe bezieht er sich kritisch, auch mit neuen Vorschlägen. Zum Trost für die sich nicht als „Intellektuelle“ verstehenden LeserInnen: Man sollte den Begriff „Intellektuelle“ sicher nicht zu eng verstehen und bedenken: Jeder Mensch, der selbstkritisch umfassend reflektiert, ist in gewisser Hinsicht ein Intellektueller. Insofern sind Intellektuelle jene, die unter den widerwärtigen Verhältnissen der Gesellschaft, Rassismus, Ausgrenzung, Ungleichheit etc. leiden und doch noch reflektierend in der Praxis Auswege suchen. Die Grundüberzeugung ist: Es darf jedenfalls nicht so weiter gehen wie bisher. „Es reicht“ (26).

4.
Bei allem differenzierten Wohlwollen für Adorno wird der „berühmte Adorno – Spruch“ kritisch betrachtet. Der Autor meint explizit, Adorno sei dabei im Irrtum: „Der Einzelne kann nicht nicht nach einem guten Leben suchen – unter welch schlechten und falschen Bedingungen auch immer“ (38, auch 34). Auf Seite 165 spricht er von Adornos Obsession, überall nach Falschem und nach Schuldzusammenhängen zu suchen…Und das sei sein Fehler…“Wir müssen die kleinen Spuren des Richtigen festhalten und genießen“ (165). Andererseits hat der Spruch doch noch die Möglichkeit eines dialektischen Sprungs: „Dort, wo das Ganze, wie Adorno sagt, als das Unwahre erscheint, dort schlägt Erkenntnis in die Möglichkeit messianischer Rettung um“ (141). Diese „messianische Rettung“ ist eine „Grundmelodie“ im Buch von Hirsch.
Der Autor bietet Hinweise dafür, dass die als falsch erlebte Gesellschaft gerettet werden könnte: Wenn die Menschen wieder imstande wären, auch zu „empfangen“ (sic!) und nicht nur zu „machen“. Diese Haltung wäre die „Außerkraftsetzung der Herrschaft, der Hierarchien der bestehenden Ordnung. Darin konvergieren emphatisches philosophisches Denken und Religion“,
Die große Veränderung, der wahre Fortschritt (!) der Gesellschaft „hängt nicht nur von uns ab, steht nicht ganz in unserer Macht.“ (S. 141) Wir stehen vielmehr im Zusammenhang „eines göttlichen Elements der Rettung“ (ebd.) Die religionsphilosophischen Thesen beziehen sich auf ein sozusagen konfessionsfrei formuliertes „Göttliches“!

5.
Ich finde es jedenfalls erstaunlich, mit welcher Intensität der Autor in diesen doch knappen Kapiteln Themen religiöser Traditionen aktualisiert, vor allem auch im III. Kapitel: Dort wird im Gedenken an Kafka auch vom Gebet gesprochen. Wobei Michael Hirsch von der im Gebet geschehenden „Magie des Rufens und Herbeirufens“ (des Göttlichen) spricht, und dann betont: „Das Heil oder das Heile muss nicht neu erfunden oder erschaffen werden, sondern es ist immer schon da, es liegt irgendwo verborgen…Unsere Aufgabe ist es, diese Herrlichkeit des Lebens zu suchen, immer wieder und immer von neuem“ (71f.) Allerdings finde ich Hirschs Qualifizierung des Betens als „Magie“ unzutreffend. Wenn man philosophisch Gebet als „göttliche“ Poesie versteht, ist sie eine freie Leistung des Menschen, der seine ihm gegebene (!) schöpferische geistige Kraft lebendig werden lässt. Dann ist Gebet keine Magie mehr. Man staunt eher über die gegebenen (!), also geschaffenen geistigen Möglichkeiten…

6.
Das Buch bietet viele weitere, der Form des Buches entsprechend knapp formulierte Anregungen, Impulse, die zu denken „GEBEN“. Nur noch ein Beispiel: Zum Umgang mit der Arbeit: Diese wird heute als Zwang zur Selbstvermarktung erlebt und entsprechend erlitten. Gemeint ist das unternehmerische Selbst. „Handle unternehmerisch, heißt der Imperativ“. Damit wird umfassende Selbstverwirklichung, Muße, Zeithaben, politisch Aktivsein usw .fast ausgeschlossen. Das ist „Kapitalismus pur“.

7.
Interessant ist, dass Hirsch Denkmotive Heideggers aufgreift, etwa wenn von der „Fülle des Seins“ die Rede ist, in der „uns alles zufällt“ (167), als Gabe. Hirsch spricht wie Heidegger vom „Geheimnis einer Existenz, die als Öffnung, als Da des Seins erscheint“ (158). Auch wenn man den Heidegger der „Schwarzen Hefte“ ablehnt: Die Aussagen Heideggers aus „Sein und Zeit“ haben eine Gültigkeit.
Das von Hirsch präsentierte Denken und denkende Leben setzt sich ab von einer passiven, zuwartenden Existenzform. Sondern tritt ein für das politische Handeln. Ideen haben für Hirsch entschieden „Gebrauchswerte“ (171). „Denken hat eine verändernde Kraft“ (174). Und die Veränderung gilt der Beförderung der Menschenwürde für alle und der Überwindung einer neoliberalen Welt der Herrschaft der Privilegierten und der so genannten Eliten.
Wichtig ist: Wir haben „das Begehren“ in uns, jene unstillbare geistige Leidenschaft, für eine wahre, humane Welt. Bei einer noch so klugen bloß theoretischen Analyse des Elends darf es also nicht bleiben. Das Elend des Ichs, der Gesellschaft, der Welt ist kein Schicksal. Noch einmal: Denn wir leben immer schon inmitten der Utopie des wahren Lebens: Sie spendet das Licht der Erkenntnis. „Diese Utopie lehrt uns, dass wir noch unendlich weit entfernt sind von unseren wahren Möglichkeiten. Das ist die Wahrheit, von der wir ausgehen“ (167).

8. Ich würde mir wünschen, dass bald ein weiteres Buch von Michael Hirsch folgt, in dem seine angedeuteten religionsphilosophischen Hinweise vertieft werden. Und in dem auch die aktuellen Fragen der Natur, der Ökologie, des Klimas und die vielleicht noch mögliche Rettung der Welt einbezogen werden … sowie die Gleichheit aller Menschen, auch der Flüchtlinge (in Deutschland und weltweit).

Michael Hirsch, „Richtig falsch“. „Es gibt ein richtiges Leben im Falschen“. TEXTEM Verlag, Hamburg, 2019, 192 Seiten. 16 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Würde des Menschen: Im Gehirn angelegt, aber etwas Absolutes im Menschen.

Das Buch „WÜRDE“ von Gerald Hüther
1.
Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher in Deutchland, argumentiert in seinem Buch über die „Würde“ des Menschen vor allem als Biologe. Zum Thema hat er einen praktischen Vorschlag, begründet in der Erkenntnis des Naturwissenschaftlers: Jeder Mensch kann seine absolut geltende menschliche Würde durch praktische, auch leibliche Erfahrungen, seit der frühen Kindheit, aufbauen und pflegen. Schon Kleinkinder machen Kontrast-Erfahrungen, erleben also Momente, in denen sie spüren: Diese Situation im Umgang mit anderen Menschen sollte es für mich nicht geben. Es gibt also etwas in unserem Gehirn, „das von ganz allein aktiv wird, wenn etwas geschieht, das nicht so ist, wie es sein sollte… Dies ist für Kleinkinder nur eine Empfindung, noch kein Wissen, sondern ein ungutes Gefühl“ (S. 113). Diese Wahrnehmungen werden zum Gehirn geleitet; und dann als Widerspruch zum Menschlichen schon vom Kind gespürt.
2.
Die Menschen-Würde kann im ganzen Leben wieder „aufgeweckt“ werden, wenn sie durch negative Erfahrungen verdeckt wurde. Wenn hingegen ein Mensch positive Erfahrungen in einer Umgebung erlebt, die Geborgenheit und Verbundenheit mit anderen lebendig erfahrbar macht, kann der einzelne seine Autonomie und Gestaltungsfähigkeit, also seine Würde, (wieder)erlangen. Diese Erfahrungen werden „im Gehirn verankert“ (S. 87). Es sind die je neu gestaltbaren „Verschaltungen im Gehirn“, die Würde erlebbar machen. „Jeder Mensch ist in der Lage, ein Gespür für das zu entwickeln, was seine Würde ausmacht. Diese Fähigkeit ist bereits im kindlichen Gehirn angelegt“ (S. 133). Wenn die ersten Erfahrungen mit anderen Menschen negativ sind, also keinen Sinn wecken für die eigene Würde, so kann es doch möglich sein, „dieses tief im Hirn verankerte Empfinden (für die eigene unantastbare Würde, CM) durch spätere, günstigere Beziehungserfahrungen wiederzuerwecken“. Mit anderen Worten: Würde ist selbst noch den lange Zeit würdelos (wie Objekte) behandelten Menschen vermittelbar. Wer seine eigene Menschenwürde kennt und schätzt oder diese Menschenwürde wieder gefunden hat, der hat einen „inneren Kompass“ zur Lebensgestaltung, betont Gerald Hüther. Dass Menschenwürde immer auch mit Rechten (und Pflichten) in Gesellschaft und Staat verbunden ist, wird meines Erachtens zu wenig in dem Buch erörtert. Wie können Menschen in dem reichen Europa heute von ihrer eigenen Menschenwürde noch überzeugt sein, wenn ihre Politik, ihre Ökonomie, zur Würdelosigkeit sehr vieler arm gemachter Menschen in Afrika führt?
3.
Ich finde die letztlich knappen Ausführungen des Biologen Hüther auch philosophisch sehr relevant: Denn so wird die philosophische Erkenntnis etwa zum Gewissen, zum Kategorischen Imperativ oder zur transzendental-notwendigen Bindung an das Gute biologisch „verortet“. Ohne dass dabei naturwissenschaftlich gesagt wird: Diese Bindung an das Gute oder diese Bindung an das Gespür der eigenen Würde, seien „nichts als“ ein materielles und deswegen manipulierbares und sogar auch auslöschbares Nerven-Geschehen. Bekanntlich ist es doch so: Wenn es einen materiellen, leiblichen „Ort“ gibt für die mit dem Menschsein schon immer mitgebrachten neuronalen Verschaltungen, dann sagt diese Herkunft nichts aus über die geistige Qualität des Erlebten, etwa der Würde. Man muss grundsätzlich „Genesis und Geltung“ unterscheiden, wie der Philosoph Vittorio Hösle betont: Mit anderen Worten: Was im Materiellen generiert wird, kann doch eine universale geistige Geltung haben. Gerald Hüther spricht vom „Ende des genetischen Determinismus“ (S. 167).
4.
Diese Erkenntnis Hüthers scheint mir besonders wichtig zu sein: Bei einem Menschen ist keine Haltung definitiv, für immer (negativ), festgelegt: Eine gerechtere, bessere Welt der würdevoll lebenden Menschen ist also möglich und als Ziel auch zu gestalten. Naturwissenschaftlich gesagt: Durch neue, das Bewusstsein der eigenen Würde stärkende Erfahrungen können die alten, negativ stimmenden neuronalen Verknüpfungen „im Gehirn ÜBERFORMT werden“, wie Hüther schreibt (vgl. S. 172).
Dabei deutet der Autor durchaus auch politische Konsequenzen an, wenn er etwa an die friedliche Revolution in Deutschland und an die politische Entwicklung danach erinnert: Die Menschen in Ostdeutschland, „müssen spüren, dass sie in der freiheitlich-demokratischen Ordnung auch von ihren Mitbürgern gesehen, wertgeschätzt und ernst genommen werden. Dass sie nicht weiter zu Objekten gemacht werden. Dass ihnen andere Menschen, auch Politiker, Meinungsmacher, Lehrer usw. so begegnen, dass das Empfinden, die Vorstellung und das Bewusstsein ihrer eigenen Würde gestärkt wird“ (S. 172).
Dabei ist Gerald Hüther realistisch: Dass sich unsere Welt tatsächlich zu einer Welt der in Würde lebenden Menschen entwickelt, ist alles andere als sicher oder gar bloß wahrscheinlich. „Es ist allerhöchste Zeit aufzuwachen“ (S. 160), betont er, und „öffentlich auszusprechen, was man (politisch, ökologisch) nicht länger hinzunehmen bereit ist. Und dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nicht länger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird“ (ebd.).
5.
Gerald Hüther äußert sich in dem Buch auch zur Pädagogik und möglichen Reformen der Erziehung. Und er zeigt auch Aspekte seiner Philosophie: Denn für ihn wird in der Verteidigung der Würde des Menschen deutlich: „Es gibt etwas Überzeitliches, Zeitloses, etwas Göttliches, das man nicht vernichten kann“(S. 58). Dieses unterstörbar Göttliche im Menschen ist die Menschen-Würde. Die Gültigkeit dieser Idee kann kein Mensch vernichten, selbst wenn Menschenwürde so selten erfahrbare Realität ist.
6.
Der Philosoph Franz Josef Wetz hat in seinem Aufsatz “Illusion Menschenwürde” (in “Der Wert der Menschenwürde”, Paderborn 2009, S. 45ff) darauf Wert gelegt, die Menschenwürde gerade NICHT “religiös-metaphysisch” zu begründen: Einmal, weil diese Begründung zur pluralistischen und säkularen Gesellschaft nicht passe und dann auch wegen des “zunehmend naturwissenschaftlichen Weltbildes” (S. 61). Dass gerade Naturwissenschaftler wie Gerald Hüther offenbar das Gegenteil behaupten, zeigt nur, dass es eben “die” Naturwissenschaft nicht gibt. Und auch “die” “säkulare” Gesellschaft, von der Wetz spricht, wird von etlichen Philosophen und Religionssoziologen zurecht als “postsäkulare” Gesellschaft wahrgenommen.
Aber schwerer wiegt meines Erachtens, dass Franz Josef Wetz die Auffassung von menschlicher Würde lediglich und nur als “reinen Gestaltungsauftrag” (S. 54) definieren will “ohne weltanschauliche Hintergrundannahmen”. Dabei wird überspielt: Dass die Annahmen von Wetz auch weltanschaulich geprägt sind, sie sind alles andere als “neutral” (S.61). Aber noch entscheidender ist: Wer die Geltung der menschlichen Würde, also die Würde eines jeden Menschen, aus dem Bereich der absoluten Unantastbarkeit (Grundgesetz!) heraushebt und sie lediglich als eher subjektiven “Gestaltungsauftrag” sieht, gefährdet diese unantastbare Würde. Denn Gestaltungsaufträge können je nach politischer und ökonomischer Konjunktur mal so und mal anders gedeutet und praktiziert werden. Die Menschenwürde ist aber nichts, was der gestalterischen Freiheit und Willkür bestimmter einzelner (Herrscher) überlassen werden darf. Sie ist eben unantastbar. Wetz redet Klartext: (Seite 58): Wenn er die Menschenwürde nur als Gestaltungsauftrag sieht, dann “wird die metaphysisch begründete Vorstellung von der vorgefundenen Wertabsolutheit des Menschen und der unantastbaren Heiligkeit seines Lebens hinter sich gelassen”. Man lese das Grundgesetz, das ist anderer Meinung, Gott sei Dank möchte man fast sagen.
Und: Wer würde denn leugnen, dass mit der Annahme der unendlichen Würde eines jeden Menschen, gültig bereits VOR jeder Anerkennung durch Staat und Gesellschaft, die praktische “Gestaltung” dieser Würde ausgeschlossen wäre? Die unendliche Würde eines jeden Menschen erfordert gerade die von Wetz geforderte “Gestaltung”. Aber diese Gestaltung gestaltet etwas unantastbar Heiliges eines jeden Menschen. Da darf nicht herum modelliert werden, je nach Laune der Herrschenden oder eines sich zurecht naturalistisch nennenden Philosophen wie Franz Josef Wetz. Dass er Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung ist, soll nur, ohne jede Polemik, der Vollständigkeit halber am Rande bemerkt werden. Franz Josef Wetz hat auch interessante Bücher geschrieben, wie etwa über Schelling…

Gerald Hüther: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. Pantheon Verlag, 2019. Taschenbuch. 189 Seiten, 14 EURO.