Der Philosoph Giambattista Vico grenzt den Verstand ein
Ein Hinweis von Christian Modehn
Gedenktage müssen nicht nur eine kulturpolitische Pflichtübung sein. Zumal dann, wenn man nicht auf die „runden Gedenktage“ fixiert ist, sondern auch die „eckigen Gedenktage“ beachtet, etwa an den Tod des großen italienischen Philosophen Giambattista Vico am 23. 1. 1744 denkt. Es ist wohl zutreffend, wenn man sagt: Vico ist heute – leider – nur in Fachkreisen bekannt. Das sollte sich ändern. Biographische Hinweise bieten Lexika, auch wikipedia. Ich will nur auf zwei zentrale Erkenntnisse seiner Philosophie hinweisen.
Giambattista Vico wurde am 23. Juni 1668 in Neapel geboren; und dort ist er am 23. Januar 1744 gestorben. Er war als vielseitig gebildeter Philosoph auch Professor für Rhetorik, und nebenbei: Angesichts seines Hauptwerkes war er mit einem sehr hohen Selbstbewusstsein ausgestattet… Vielleicht zurecht, denn Vico kann als einer der wichtigsten Philosophen der Hermeneutik gelten.
Bei der Gelegenheit möchte ich gleich das Buch von Thomas Sören Hoffmann empfehlen. Der Titel „Philosophie in Italien. Eine Einführung in 20 Porträts“, erschienen im MARIX Verlag, Wiesbaden. Die meisten Porträts gelten Philosophen der Renaissance. Vico gehört zum Übergang in die Moderne, wesentliche Aspekte seines Denkens werden auf den Seiten 351 bis 367 dargestellt.
Warum also Erinnerung an Vico?
Weil sein Denken eine Alternative zu dem damals völlig im Mittelpunkt stehenden Descartes bietet: Es gibt andere Bereiche, andere Fragestellungen, so Vico, als die von Descartes strengem Rationalismus vorgestellten. Vico wird zum „Gründervater“ der Geistes-Wissenschaften. Diese haben das Ziel, geistige, kulturelle Erscheinungen zu verstehen, und Verstehen ist etwas Anderes als das naturwissenschaftliche Rechnen und Erfinden. Thomas Sören Hoffmann spricht von einer „Frontstellung Vicos gegen die Rationalisierung der Welt“ (S. 354).
„Scienza nuova“ heißt das Hauptwerk Vicos, es vermittelt ein Bild von der sprachlich und geschichtlich geformten Welt. Um das Verstehen der Geschichte geht es. Und die können Menschen selbst in großem zeitlichen Abstand die anderen, die Fremden, verstehen, weil deren Texte Ausdruck des menschlichen Geistes und der Freiheit sind: Der eine allgemeine Geist ist anwesend in den kulturellen Werken, die sich in der Geschichte zeigen. „Die Wahrheit ferner Welten ist uns erreichbar“, schreibt der Philosoph Hoffmann über Vicos zentrale Erkenntnis. „Was von Menschen hervorgebracht worden ist, ist für andere Menschen erkennbar“ (S. 358). Vico schreibt: „Als wahr erkennen wir nur das, weil wir Menschen es selbst gemacht haben“! Eigentlich eine Aussage, die heute eher eine wie eine Selbstverständlichkeit klingt: Aber sie hat nach wie vor höchste Bedeutung, weil total Fremdes in der Menschenwelt ausgeschlossen ist. Keine vergangene wie gegenwärtige Kultur kann gegenüber einer anderen, etwa „unserer“ heutigen, behaupten: Diese ist und bleibt uns fremd.
Fremdheit kann vor allem durch Einfühlen überwunden werden. Einfühlen: Die ist eine Haltung, die nicht nur fürs Verstehen der Historiker gilt. Einfühlen ist eine Haltung, die für jeden Menschen gilt … und die lernbar ist! Gerade in Zeiten eines zunehmenden Rassismus und Antisemitismus. Im Verstehen des Fremden, der fremden Kultur, werden diese in ihrer Fremdheit natürlich nicht total nivelliert, angepasst oder aufgelöst: Sie bleiben „anders“, aber es wird Aspekte geben, für den jetzt Verstehenden hilfreich, wichtig, inspirierend sind.
Irritierend bleibt in Vicos Werk, dass sein Misstrauen gegenüber der autonomen Vernunft des Menschen umfassend wird. Vico spricht sogar von einer „Barbarei der Reflexion“ und dem „Zerstörerischen der Vernunft-Erkenntnis“. Er hält allein die Emotionalität für die Quelle der Kultur. Rationales Denken (der Verstand) sei zerstörerisches Denken: Eine These, die sich dann immer weiter sich bis in unsere Gegenwart durchsetzte, etwa derart, dass die Rationalität sogar zu Auschwitz geführt habe. Aber die Widerlegung dieser These ist ein anderes Thema.
In jedem Fall haben wir Vico zu danken für seine deutliche und aktuelle Aussage: Die Menschen sollten ihre reflektierte Emotionalität pflegen, wenn sie den anderen verstehen wollen.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin