Putin – der Faschist. Und die neue Form eines totalen Krieges.

Der Diktator und seine Ideologie.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.5.2022.

1.
Eine allgemeine philosophische Erinnerung: Jegliches politisches Tun, also auch jede Untat, also ein Krieg, hat den Ursprung in einer geistigen Haltung, in einer Option bzw. Präferenz für bestimmte Werte und Unwerte. Diese „fügen“ Politiker in reflektierter und freier Entscheidung in die Wirklichkeit „ein“, wie Hegel sagte. Diese Werte bzw. Unwerte werden also politisch bzw. auch kriegerisch verwirklicht.
Diese Einstellungen und Überzeugungen kann man Ideologien nennen. Dabei ist in der demokratischen Welt der Begriff „Ideologie“ eher negativ geprägt, von einer „demokratischen Ideologie“ würde kein Demokrat sprechen, hingegen von einer kommunistischen oder einer faschistischen Ideologie. Kommunisten oder Faschisten würden ihre eigene inhaltliche Überzeugung nicht Ideologie nennen, sondern „Wissenschaft“ bzw. „Weltanschauung“; die Nazis wehrten sich etwa gegen den Einbeziehung ihrer eigenen Ideologie in den allgemeinen Ideologiebegriff. Sie haben deswegen „ideologisch“ durch „theoretisch“ zu neutralisieren versucht.

Hier soll der Begriff Ideologie erneut darauf aufmerksam machen, dass alles Handeln der Politiker und Kriegsherren, von geistigen Konzepten bestimmt ist. Also auch der Krieg Putins gegen die Ukraine oder eben auch die westliche Demokratie und universal geltenden Menschenrechte.

2.
Putin ist von einer Ideologie bzw. von einem Gemisch verschiedener ideologischer Elemente beherrscht. Selbst wenn es in seinem Russland noch eingeschränkt Wahlen gab und bis vor kurzem eine gewisse scheinbare und begrenzte Pressefreiheit, war sein Regime nie eine Demokratie im emphatischen Sinne. Putins alles bestimmende Werte-Ordnung (bzw. Unwerte-Ordnung) als Ideologie formuliert, heißt Faschismus. Ich habe früher schon von Putins Nihilismus gesprochen, LINK, aber Nihilismus ist wohl eher ein zentraler Teilaspekt der umfassenden faschistischen Haltung und Praxis Putins.

3.
Putin – der Faschist: Diesem Urteil stimmen längst viele Politologen und Russland-Kenner (wie etwa der deutsche Politiker und Russland-Kenner Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, siehe „Phoenix“ am 20.5. 2022 um 18.00 bis 18.30) zu. Der us-amerikanische Historiker Prof. Timothy Snyder spricht in der ZEIT (vom 19. Mai 2022, Seite 10) eine deutliche Sprache: Auf die Frage, inwiefern und seit wann das russische Regime faschistisch sei, antwortet Snyder: „Seit Februar dieses Jahres 2022 führt Russland einen Zerstörungskrieg mit dem Ziel der Vernichtung eines anderen Volkes. Zudem gibt es immer stärkere Unterdrückung im Innern und einen Kult des Anführers, des Sieges, des Todes…. Putin sprach seit 2010 von kulturellem Raum, Russland müsse andere Räume absorbieren.“ Damit werden wichtige Elemente faschistischen Denkens und Handelns genannt.
Putin ist für Snyder aber mehr als ein „einfacher Faschist“. Vielmehr: Putin denkt und handelt in einer extremeren Form, als „Schizofaschist“. Das heißt: Er handelt selbst nach den Maximen des Faschismus, nennt aber seine nicht-faschistischen Feinde Faschisten, um von seinem eigenen Faschismus abzulenken. Um die Kriegsbegeisterung der Russen gegen die Ukraine zu entfachen und zu stärken, war es für ihn naheliegend, den Feind Ukraine (und sogar den jüdischen Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj), faschistisch zu nennen. Eine solche Zuweisung beeindruckt immer in Russland: „Antifaschist“ zu sein, war im Sowjetkommunismus (auch in der DDR) die höchste Tugend.

“Der Spiegel” berichtet  am 22.5.2022, dass zahlreiche Neo-Nazis für Russland und für Putin in der russischen Armee gegen die Ukraine kämpfen. LINK.

In seinem Buch “Über Tyrannen” (C.H.Beck Verlag München, 8. Auflage 2022) betont Timothy Snijder, wie Putin 2015 dem verängstigten Frankreich ein “Cyberkalifat” vorgaugelte, “damit die Franzosen den Terror noch mehr fürchteten, als sie es ohnehin berteits taten. Ziel war es vermutlich, dem rechten (rechtsextremen !, CM) Front National Wähler in die Arme zu treiben, einer Partei, die von Russland finanziell unterstützt wird” (S. 107). Putin hat also als Faschist das ideolohgisch naheliegende Ziel,”ein demokratisches System zu destabilisieren und der extremen Rechten (also seinen Freunden, CM) Rückenwind zu verschaffen” (S. 108).

4.
Weitere Kennzeichnen des Faschismus: Sie nennt der vielfach ausgezeichnete britische Journalist Paul Mason in seinem Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ (Suhrkamp, Berlin, 2022) etwa S. 322 ff. „Da die Entmenschlichung den Kern seiner Ideologie darstellt, beginnt der Faschismus im Verlauf seiner Radikalisierung und Mobilisierung für den Krieg, über einen Genozid nachzudenken…“ (S. 324). Das trifft auf Putin zu…Wer als Faschist denkt und handelt, betont Mason, hat vor allem „Angst vor der Freiheit, die durch eine Ahnung von Freiheit geweckt wird“.Das heißt: Auch der Faschist spürt ansatzweise, was Freiheit (demokratische Freiheit etwa) für ihn bedeuten könnte: Aber davor hat er Angst und schließt sich in einem repressiven und totalitären System ein. Hinweise, die an Putins Angst erinnern vor der demokratischen Freiheit, wie sie die Ukraine und die westliche Welt lebt. Diese demokratischen Werte sollen niemals Russland bestimmen! Das steht für Putin fest, dafür kämpft er. Paul Mason schließt sich der Definition des Faschismus des Historikers Robert Paxton an: „Man muss nicht zusammenfassen, was der Faschismus ist, sondern was er tut“ (S. 326).
Putin als Faschist – diese Erkenntnis wird, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, auch von der Internetzeitung „Infosperber“ aus der Schweiz unterstützt. LINK

Dort wird Jason Stanley zitiert, Professor für Philosophie an der Yale-Universität, USA. Auch er „bezeichnet Putin als faschistischen Autokraten und anerkannten Anführer der weltweiten extremen Rechten“.
Weitere Beispiele: Der „russische Ökonom Wladislaw Inosemzew, Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau, sagt in der NZZ: Putin ist «ein lupenreiner Faschist». LINK

Wikipedia berichtet: Im Frühjahr 2022 erklärte Inosemzew, Putin erfülle „mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht“ und nannte in diesem Zusammenhang vier Säulen: „Militarisierung als Kernstück der Ideologie; eine fortschreitende Etatisieren der russischen Wirtschaft im Sinne einer durch Bürokraten beherrschten Wirtschaft; eine Umstrukturierung der Verwaltung hin zu einem absoluten hierarchischen Durchgriff von Macht und Gewalt sowieSymbolik und Propaganda“.
Und weiter: Der Historiker Zee Sternhell hat mehrere Studien zum Faschismus veröffentlicht. In der Zeitschrift „Philosophie Magazine“ (Paris) sagte Sternhell schon im Mai 2014: „Der Faschismus will die Welt verändern, (d.h. die Demokratie abschaffen, CM), eine moralische Revolution bewerkstelligen, eine Nation errichten mit Hilfe der Mythen, dabei aber will der Faschismus die ökonomischen Strukturen intakt lassen. Es geht nicht mehr darum, die Bourgeoisie niederzuschlagen, sondern sie in den Dienst der Nation zu stellen“ (S. 44). Sternhell fährt fort: „Die faschistische Ideologie lebt bis heute weiter. Es gibt keinen Grund zu denken, der Faschismus sei mit den Trümmern in Berlin 1945 begraben worden“ (S. 45).

5.
Für den Faschismus (bzw. der Schizo-Faschismus) Putins ist auch auch eine religiöse Überzeugung und eine philosophische Ideologie wichtig: Die Bindung an die zwanghafte Vorstellung, dass allein Russland noch die Welt retten könne angesichts der angeblich moralisch verkommenen westlichen demokratischen Gesellschaften. Diese Überzeugung bindet Putin auch an die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihren gleiches denkenden Patriarchen Kyrill I. von Moskau. „Eine der Haupt­quellen Putins sind auch faschistische Denker der russischen Gegenrevolution, insbesondere die Schriften des Philosophen Iwan Iljin. Er war ein adliger russischer Emigrant, der in den Zwanziger- und Dreissiger­jahren in Berlin und danach bis zu seinem Tod 1954 in der Schweiz lebte. Er war ein glühender Verehrer von Mussolini und Hitler und pflegte auch in der Schweiz Verbindungen zu prominenten Nazis.»
„In wichtigen, programmatischen Reden hat sich Putin immer wieder auf Iljin berufen“ (Infosperber).
Iljin (1883-1954) ist sozusagen der beliebte und viel zitierte „Hausphilosoph“ Putins, Iljin hat von Russlands Unschuld geträumt, das von westlichen Herrschern missbraucht wird, er fantasierte, dass Russland ohne die Erbsünde belastet ist usw. Er kann das Trauma Putins überwinden helfen, das er mit dem Zusammenbruch des Sowjetreiches – in Dresden – erlebte. Siehe dazu den instruktiven Beitrag von Norbert Matern: LINK
Timothy Sneijder sagt in der „Zeit“ vom 19.5.2022: „Putins Lieblingsautor Iwan Iljin beschreibt eine verworrene und zerbrochene Welt, die Russland mit Gewalt heilen müsse, und zwar mithilfe eines starken Führers, der die Demokratie zum reinen Ritual macht. Das Projekt heißt: Die Welt ist nicht sie selbst, solange sie nicht russische Werte lebt.“
Das ist interessant und wird viel zu wenig beobachtet: Etliche Bücher von Iljin sind in der Edition „Hagia Sophia“ in Wachtendonk erschienen, ein Verlag, der sich auf der Linie der christlichen Orthodoxie befinden will: Gregor Fernbach Verlag Hagia Sophia in 47669 Wachtendonk, dort erscheinen auch Titel unter der bekannten Putinschen Ideologie „Eurasia“. Das Buch von Georg Redete aus dem Verlag Hagia Sophia wird auch in dem rechtsextremen Antaios Verlag vertrieben. Der Leiter des Verlages „Hagia Sophia“ ,Gregor Fernbach, war ein Referent einer Tagung über Russland, organisiert von der neurechten Zeitschrift „Eigentümlich frei“ am 15. Nov. 2014 in Zinnowitz/Ostsee.

6.
Warum ist es wichtig, Putin als einen Faschisten eigener Prägung zu wissen? Dadurch werden Illusionen endgültig zerstört, die lange Jahre das Denken westlicher Politiker und Bürger bestimmten: Putin sei nur eine Art Nachfolger Jelzins und damit befasst aus dem großen russischen „Reich“ ein demokratisches System zu schaffen. Anders lassen sich auch die in heutiger Sicht total naiven Beifallsstürme im Deutschen Bundestag nach der auf Deutsch gesprochenen, sich demokratisch gebenden Rede Putins nicht bewerten (am 25.9.2001). Später haben westliche Politiker eine Art Putin – Blindheit praktiziert – allein weil sie sich ökonomische Vorteile von guten Beziehungen zu dem „guten Putin“ erhofften. Jetzt sollte Klarheit herrschen: Putin ist ein Faschist, sein Regime ist faschistisch. Entsprechend deutlich und heftig muss er bekämpft werden auch als Kriegstreiber gegen die Ukraine. Die Frage ist also: Wie können demokratische Staaten eine faschistischen Diktator besiegen, der über all die Jahre Krieg in Tschechenien, Georgien, Syrien, Krim, Donbas) führte? Wie kann ein die Ukraine und die ganze westliche Welt bedrohender „infamer“ (sagt Bundeskanzler Olaf Scholz) Diktator besiegt werden? Putin muss immer als KGB Mann verstanden werden, zu den obersten indoktrinierten Untugenden des KGB und seiner Nachfolge-Organisation gehört die Lüge.

7.
Die demokratische Welt erkennt: Dieser Krieg Putins gegen die Ukraine ist nicht regional begrenzt! Dieser Krieg Putins ist ein totaler Krieg, der die ganze Welt durcheinander wirbelt, ökonomisch, ruinös für die Volkswirtschaften mit immer höheren Ausgaben für Waffen, mögliches Ansteigen eines Rechtsradikalismus, Sehnsucht nach dem starken Führer allerorten. Die Hungersnöte in Afrika wegen fehlender Weizenlieferungen werden hoffentlich auch diese bislang sich neutral gegen Putin verhaltenden Staaten zu Putin-Kritikern werden lassen! Sicher aber ist: Putin will in seinem eigenen Krieg, der nur als auf neue Weise totaler Krieg genannt werden kann, Hunger-Flüchtlinge aus Afrika in die westlichen Länder treiben. Auf diese Weise, durch Hungersnöte, von Putin inszeniert, sollen die westlichen Gesellschaften, selbst in finanzieller Bedrängnis wegen der enormen Rüstungsausgaben und der Inflationen, verunsichert werden, d.h. Putin will den Rechtspopulismus und den Rechtsextremismus und den Faschismus in Europa fördern. Und Demokratie auf diese Weise zerstören. In den USA sind faschistische Tendenzen schon jetzt mächtig, bekanntlich auch in Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Österreich, Brasilien … und Deutschland usw…

8.
Für die eher explizit philosophischen Debatten ist wichtig: Paul Mason nennt in seinem genannten Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ als einen philosophischen „Ursprung“ des Faschismus auch die Haltung des „Irrationalismus“ (S. 170 f.) und er denkt dabei vor allem auch an den Philosophen Friedrich Nietzsche. „Nietzsches Werk stellt das umfassendste Bekenntnis zum Irrationalismus dar, das je verfasst wurde“ (S. 173). Irrationalismus bedeutet bei Nietzsches: Es gibt keine allgemeine, universale und kategorisch geltende Wahrheit, es gibt keinen Fortschritt, keinen Sinn in der Geschichte, keine Begründung für die Gleichberechtigung der Frauen, keine Begründung für einen Widerstand gegen den Kolonialismus. „Nietzsche gelangt wieder und wieder zu dem Ergebnis: Die Gewalt der Elite ist gerechtfertigt“ (ebd.) Aber Mason betont: „Wir können Nietzsche – und anderen Philosophen wie Spengler oder Bergson – nicht die Schuld am Faschismus geben… Aber diese philosophische Bewegung des Irrationalismus gab der reaktionären Politik einen modischen, rebellischen Anstrich“. (183).
Diese Interpretation Paul Masons, Nietzsche könne als ein Wegbereiter des Faschismus verstanden werden, wird übrigens von Philosophen unterstützt, etwa von Prof. Vittorio Hösle (Indiana, USA). In seinem Buch „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“ (C.H. Beck Verlag München, 2013) ist ein Kapitel Nietzsche gewidmet mit dem Titel „Die Revolte gegen die universalistische Moral: Friedrich Nietzsche“ (S. 185-207). Hösle schreibt: „Warum Nietzsche ein langes Kapitel widmen? Weil dieser Mensch wirklich Dynamit war. Kein anderer Denker hat so viel zerstört wie dieser philosophische Terrorist“ (S. 186). „Ein Widerwillen gegen Demokratie und soziales Denken ist eine der wenigen Konstanten Nietzsches“ (S. 189). „Es liegt nahe, den Nationalsozialismus als Versuch des Heroismus im Bösen zu deuten, von dem Nietzsche auch inhaltlich einige Ideen vorwegnimmt“ (S. 199).

9.
Anstelle eine vorläufigen Schlusswortes: Was können wir gegen den Faschismus (Putins) tun? „Es braucht eine wehrhafte Demokratie mit Gesetzen, die es erlauben, faschistischen Bestrebungen Grenzen zu setzen. Außerdem brauchen wir eine neue Version der Volksfront – ein Bündnis zwischen der Mitte und der Linken ist Erfolg versprechender, als wenn diese einzeln kämpfen. Und es braucht ein antifaschistisches Ethos aller Kräfte. Das ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft. Den Linken, die Olaf Scholz und Emmanuel Macron als ihre größten Feinde sehen, will ich sagen: Wacht auf! Der Feind steht schon vor der Tür. Der Feind sind die Leute, die unsere Demokratie zerstören wollen“. Das sagt der Faschismus-Forscher Paul Mason in einem Interview mit der TAZ vom 21.5.2022.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Geschichtsphilosophie der Gegenwart – pessimistisch, aber nicht falsch.

Ein Hinweis von Christian Modehn zum neuen Buch von Vittorio Hösle “Globale Fliehkräfte“

1.
Vittorio Hösle will in seinem neuen Buch die vielfältigen politischen Fakten und Daten der Gegenwart zusammentragen und auf den Begriff bringen. Das bedeutet wohl der merkwürdige, gar nicht philosophische Begriff im Untertitel „Kartierung“. Es handelt sich also um eine „zeitkritische Schrift“ (129), sie soll durchaus dem Titel „Geschichtsphilosophie“ gerecht werden. Dass Geschichtsphilosophie zu den besonders umstrittenen „Abteilungen“ der Philosophie gehört, weiß natürlich Vittorio Hösle. Die ins Totalitäre abrutschende Geschichtsphilosophie des Faschismus oder des Leninismus, Stalinismus usw. hat als Ideologie allgemein tiefe Skepsis gegenüber diesem für Hegel noch so wichtigen Thema „Geschichtsphilosophie“ hervorgerufen.
Dennoch ist es für mich eine beachtliche Leistung des Philosophen Hösle, dass er sich an eine – wie Hegel – von empirischen und politischen Daten „gefütterte“ Philosophie als Verstehen der Gegenwart, eben an eine Geschichtsphilosophie, heranwagt. Also gewissermaßen eine philophierende Gesamtschau der Gegenwart bietet, dabei aber durchaus normativ argumentierend. Denn Hösle, das ist bekannt, vertritt als kritischer Metaphysiker mit aller Deutlichkeit Positionen der ethischen Universalität. Er wehrt sich also kraftvoll gegen die allgemeine Beliebigkeit erzeugende Postmoderne. Hösle weiß zurecht, dass nur die universal geltenden Menschenrechte Widerstandsreserven gegen den heutigen Verfall demokratischen Bewusstseins (Populismus, Neofaschismus) bieten. Wer die Menschenrechte verteidigt, sieht natürlich klar, dass die lautstarken verbalen Verteidiger der Menschenrechte in der politischen Praxis auch absolut gegen den Geist der Menschenrechte agieren, siehe die Politik der USA in den letzten Jahrzehnten. Alle – auch ökonomisch motivierten – Verbrechen wurden und werden mit „Verteidigung der Menschenrechte“ (oder „Reformen“ genannt) kaschiert! Aber dieses Faktum spricht nicht gegen die absolute Gültigkeit der Menschenrechte. Und auch die Tatsache, dass sie in der europäischen Kultur wohl zuerst deutlich formuliert wurden, sagt ja nichts gegen die universale Geltung der Menschenrechte. „Genesis und Geltung müssen unterschieden werden“, schreibt Hösle kurz und wahr in seinem ebenfalls empfehlenswerten Buch „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, München 2013, S.194.
2.
Trotz dieser in gewisser Hinsicht gegebenen Zustimmung zum Grundanliegen des Buches bleibt es für mich erstaunlich bzw. durchaus irritierend, dass die von Hösle beschriebene tiefe Krise der Gegenwart nicht so deutlich mit dem heute allherrschenden Kapitalismus in Verbindung gebracht wird, an dessen Ideologie des ständigen ökonomischen Wachstums praktisch alle teilhaben. Die einen als Akteure bzw. ständigen Gewinner, die anderen, die große Masse der von den Gewinnern Arm-Gemachten! Hösle schreibt am Schluss seines Buches (204), es gehe dringend darum, einen “weltweiten Wertekonsens zu erzielen, der die verschiedenen Kulturen zu einen vermag”. Dieser weltweite Wertekonsens muss aber über die von allen gelebte Anerkennung der universalen Menschenrechte hinaus selbstverständlich auch die Überwindung des Kapitalismus zum Inhalt und Ziel haben oder wenigstens diesen sehr stark und wirksam eingeschränken. Das ist keine Utopie, sondern die Voraussetzung für ein Überleben der Menschheit.
3.
Das sehr dicht geschrieben Buch „Globale Fliehkräfte“ kann in einer eher knappen Rezension nur ansatzweise gewürdigt werden. Hösle selbst nennt Horst Köhler, Theo Waigel (CSU) und Bundesminister Gerd Müller CSU), sie hätten “auf freundlichste Weise” (17) zu diesem Buch ermuntert. Ich kann nicht verschweigen, dass ich es auch treffend gefunden hätte, wenn auch heutige Grüne- oder SPD- oder gar Linke Politiker den Philosophen Hösle zu diesem Buch Projekt „ermuntert“ hätten, also mit ihm in einem ebenso freundschaftlichen Dialog ständen. Aber vielleicht gibt es einen Graben zwischen (den wenigen) katholischen Philosophen an katholischen Universitäten und Politikern, Autoren etc., die sich mit dem grünen bzw. linken Spektrum verbunden fühlen. Mich freut aber dann doch, dass Vittorio Hösle in seinem Vorwort Greta Thunberg lobend erwähnt, „die in der allgemeinen Verlogenheit die Wahrheit sagt“ (18). Das werden die genannten „Ermunterer“ aus der CSU sicher mit großer Wonne zur Kenntnis nehmen.
4.
Hösle zeigt sich als ein guter Kenner der internationalen politischen Entwicklungen der Gegenwart, dabei kommt ihm zugute, dass er seit 20 Jahren in den USA lebt, er ist Professor für Philosophie an der renommierten katholischen Privatuniversität Notre Dame im Bundesstaat Indiana unter Leitung des katholischen “Ordens vom Heiligen Kreuz” (CSC). Hösle stellt sich selbst vor als ein Philosoph mit „besonderem Interesse an der politischen Philosophie“ (13). Er nennt sein 224 Seiten umfassendes Buch eher bescheiden einen “Essay“ (15), er wurde in der ersten Hälfte des Jahres 2018 verfasst. Ein Essay, der die Gefährdungen der Gegenwart klar benennt: Der „Liberalismus“ (verstanden als Eintreten für Grundrechte und Demokratie) sei gerade auch in den USA sehr bedroht, der Autor zitiert etwa zustimmend Madeleine Albright, wenn sie von der Gefahr des Faschismus, nicht in ihrer Heimat, den USA, sondern weltweit, spricht. Ein gewisser Pessimismus durchzieht förmlich diese Geschichtsphilosophie Hösles: „Aber nur wer die Gefahren in den Blick nimmt, hat das Recht Optimist zu sein“ (18).
5.
Von den sieben Kapiteln des Buches interessiert mich „vom Philosophischen her“ am meisten das 4.Kapitel „Die Zersetzung politischer Rationalität“ (96 – 136).
Ich nenne nur einige Stichworte, die die Zersetzung des demokratischen Bewusstseins deutlich machen sowie die Abkehr von der kritisch reflektierten Erkenntnis der Idee des Fortschritts: Das Gemeinwohl ist keine leitende politische Vorstellung mehr. Die Lobbyisten setzen sich mit Bravour in den Parlamenten durch, dabei haben die Lobbyisten der Reichen und Mächtigen förmlich eine Allmacht errungen, so dass sie politisch, in der Gesetzgebung machen können, was sie wollen (118). Man denke in Deutschland nur daran, dass es nicht gelingt einen absolut unfähigen Verkehrsminister Scheuer (CSU) aus dem Amt zu jagen. Er ist wohl der von Auto-Lobbyisten abhängigste Politiker, das sage ich als Meinungsäußerung.
6.
Es herrscht für Hösle insgesamt eine Vergiftung des politischen Diskurses, in dem sich die kritischen Bürger eher als die Unterlegenen fühlen. Die Rechtsextremen setzen sich mit aller Bravour durch. Sehr klar sind Hösles Worte über die rechtsextreme Tea-Party-Bewegung in den USA: „Sie repräsentiert auf idealtypische Weise die Ignoranz, Dummheit und Vulgarität von Millionen durchschnittlicher Amerikaner“ (110). Fest steht, dass zu den militanten Anhängern dieser Tea-Party vor allem Evangelikale gehören, die in Blindheit und Dummheit auch Trump gewählt haben und ihn wohl in der beschriebenen Haltung 2020 wieder wählen werden. Mir fehlt bei Hösle in dem Zusammenhang eine ausführliche Darstellung der christlichen Kirchen und des Islams: Wo liegt deren Beitrag für den Niedergang der demokratischer Kultur? Von der unerfreulichen Rolle der Evangelikalen (etwa in den USA) war schon die Rede.
In seinem Schlußkapitel “Auswege aus der Krise” denkt Hösle dann doch etwas ausführlicher an eine konstruktive Rolle der Religionen zum Schutz und zur Bewahrung der Demokratie. Denn ohne die allseitige Geltung moralischer Prinzipien könne eine Demokratie auf Dauer nicht bestehen. Da seien Religionen vonnöten! “Sofern eine Religion das grundlegende liberale Prinzip der Religionsfreiheit akzeptiert, ist sie in der Regel eher eine Stütze als eine Gefährdung des liberalen demokratischen Staates” (199). An der Stelle wäre eine Diskussion mit dem in ähnliche Richtung denkenden Jürgen Habermas interessant! Hösle schätzt die prinzipiell mögliche positive Bedeutung der (vernünftigen) Religion höher ein als die Leistungen einiger zeitgenössischer Philosophien. Er spricht etwa von der “naturalistischen Ideologie” (200), “die den Menschen nur als materielles Zufallsprodukt einer blind und ziellos evolvierenden Natur sieht”. Schon zuvor hatte Hösle den (atheistischen) Naturalismus zurückgewiesen wie auch den postmodernen Konstruktivismus: “Keine wird etwa der Natur moralischer Verpflichtungen gerecht” (106). Zu den Erkenntnissen könnten sich spannende Debatten entwickeln. Wieweit bestimmte Formen des Islam “eine Stütze der liberalen Demokratie” sind bzw. werden könnten und sollten, sagt Hösle nicht!
7.
Interessant, wenn auch allgemein bekannt sind dann die Hinweise zur Problematik der so genannten sozialen Medien: Twitter reduzieren die Komplexität (115), schreibt Hösle, so dass die Twitter Leser also auf Dauer sehr schlicht im Denken werden, falls sie es nicht schon sind.
8.
Hösle bietet einen vorsichtigen Versuch, auch einige Erkenntnisse von Oswald Spengler (Untergang des Abendlandes) wieder zu bedenken. Dennoch bleibt Hösle ein von der kritisch reflektierten Fortschritts-Idee doch überzeugter Philosoph. „An der moralischen Verpflichtung am Fortschritt zu arbeiten, ist nicht zu rütteln“ (131). Und Hösle meint gar, dass es einen intellektuellen, moralischen und rechtlichen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte „seit den Griechen“ gegeben habe (131). Ob man da die „Hinsichten“ auf den genannten Fortschritt noch weiter spezifizieren muss, scheint mir eine Notwendigkeit zu sein. Wie sonst will man den Massenmord im Kolonialismus oder den Massenmord an den europäischen Juden philosophisch in einen Fortschritt „einordnen“? Zeigt die Ökokrise, die Klimakatastrophe, das Fehlen von elementaren Gerechtigkeitsstandards weltweit nicht eher, wie wenig Fortschritt politisch faktisch greifbar ist, selbst wenn so viele von Ökokrise, Klimakrise und Gerechtigkeit schwadronieren. Das Bewusstsein der Freiheit ist ja doch noch in einigen Kreisen außerhalb der Herrscher da. Aber dieses Bewusstsein kann und darf nicht politisch real Gestalt werden. Das ist die Schande der Gegenwart. Diese Blockade, dieser Stillstand, diese Egofixierung. Sie wird den Demokraten zugemutet von den sich bloß demokratisch nennenden Herrschern, die sich Präsidenten und Politiker nennen dürfen. Hösle hat recht: Auch dieses Kapitel hinterlässt alles andere als optimistische Gedanken. Hegel konnte noch schreiben, seine Geschichtsphilosophie dürfe nicht mit einem „Misston enden“. Heute müssen leider Geschichtsphilosophen eher mit einem „Misston“ enden. Um die letzten verbliebenen kritischen Geister auf diese Weise anzustacheln, zu ermutigen und zu ermuntern!
9.
Oder ist es doch eher noch der Glaube an die “göttliche Vorsehung” im Sinne von Leibniz oder der Glaube an die sich duchsetzende “unsichtbare Hand” im Sinne von Adam Smith, wenn Vittori Hösle in den letzten Zeilen seines Buches schreibt: “Man SOLL für den Fortschritt der Menschheit arbeiten, auch wenn man nicht wissen, sondern nur hoffen kann, dass er sich trotz aller Krisen und Verfallspozesse auf teilweise unvorhersehbaren Wegen durchsetzen wird” (205). Ohne Glauben kommt also auch Philosophie nicht aus. Und Philosophen glauben daran, dass sie die Wahrheit sagen und recht haben.

Vittorio Hösle, „Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart“. Mit einem Geleitwort von Horst Köhler. Verlag Karl Alber, Freiburg. 2019, 224 Seiten. 24 Euro.

Copyright: Christian Modehn
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