Die Flüchtlinge in Deutschland: Die Reformation neu denken. Die Reformation muss weitergehen

Weiter denken:   3 Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Oktober 2015.

Im Angesicht der Flüchtlinge: Die Reformation muss weitergehen.

(Ein Hinweis: Wir haben uns erlaubt, diese weitreichenden, in die nahe Zukunft weisenden Fragen zu erörtern, obwohl wir wissen: Die Zustände heute in den Flüchtlingsheimen, oft in Zelten, die bei bitterer Kälte keine Zuflucht bieten, sind katastrophal, das sagen Betroffene wie Beobachter an vielen Orten, auch in Berlin. Diese Situation ist sicher auch Ausdruck einer bürokratischen, unbeweglichen, phantasielosen Haltung der zuständigen, aber überforderten Staats-Diener. Ohne die bis zur Erschöpfung arbeitenden Ehrenamtlichen wäre die “Flüchtlingshilfe” längst total zusammengebrochen, und das Elend HIER noch größer. Welchen langfristigen Eindruck von der “Willenkommenskultur” haben die Flüchtlinge? Wie wid sich das in Zukunft auswirken? Man lese bitte über die Flüchtlings”hilfe” in Berlin den Beitrag im “TAGESSPIEGEL” vom 15. Oktober 2015, Seite 9, unter dem realistischen, keineswegs etwas “herbeiredenden ” Titel: “Angst vor der Katastrophe”…Nur am Beispiel der medizinischen Versorgung: “Es droht eine humanitäre Katastrophe”, so wird dort der Caritas-Sprecher Thomas Gleissner zitiert….

Jedenfalls gilt: Die Ehrenamtlichen sind sozusagen, wenn das Wort erlaubt ist, die Helden in diesem Staat. Diese reale Not schließt ja nicht aus, sich Gedanken zu machen über eine hoffentlich bessere gemeinsame Zukunft  von “Einheimischen” und “Flüchtlingen”. Ob diese bessere gemeinsame Zukunft überhaupt real wird, zumal angesichts der rassistischen Entgleisungen aus dem rechtsextremen Umfeld, siehe die “Pegida” Demos etwa in Dresden, die entsetzlich vielen Brandanschläge auf Flüchtlingsheime usw., ist eine Hoffnung, die Demokaten tätig-kritisch gestalten. Christian Modehn am 15. Okt. 2015)

1. Die Reformation Martin Luthers zielte auf den Wandel des Bewusstseins: Nicht mehr eingeschliffene religiöse Traditionen sollten unbefragt respektiert werden, sondern die Grundideen einer befreienden Botschaft, Evangelium genannt. Bisher hat sich alles Reformationsgedenken vor allem auf diese explizit religiöse Veränderung bezogen. Wäre es heute nicht dringend geboten, den Reformationsbegriff zu weiten und ihn auf die Veränderungen unserer Gesellschaft angesichts der Flüchtlinge zu beziehen? Also etwa eine Reformation des Denkens insgesamt zu fördern und zu pflegen unter dem Motto: Die Flüchtlinge auch als Partner wahrzunehmen? Als Partner im kulturellen Dialog, von dem beide Seiten profitieren?

In meinen Augen war das Entscheidende an der Reformation Luthers sein Plädoyer für das „Priestertum aller Glaubenden“. Das war der große Schritt in die religiöse Autonomie, mit der dann die Aufwertung der Ethik, der moralischen Selbstbestimmung, schließlich auch das demokratische Prinzip und die Selbstverantwortung in Fragen des allgemeinen Wohls einhergingen. Das „Priestertum aller Gläubigen“ war Luthers größte und folgenreiste Idee, gewiss eine Idee, damals im 16. Jahrhundert keineswegs realisiert, bis heute nicht vollständig realisiert. Aber das, was wir jetzt angesichts der doch immer noch auf beeindruckende Weise anhaltenden Hilfsbereitschaft erleben können, gehört in die Geschichte der Verwirklichung der reformatorischen Einsicht, dass es auf jeden und jede ankommt, dass jeder und jede gleich unmittelbar zu Gott ist, frei ist zum Tun des Guten und Gerechten, weil wir wissen, dass für uns gesorgt ist und wir uns im Grunde unseres Dasein anerkannt und geborgen wissen können. Das war die befreiende Botschaft der Reformation, das Evangelium. Sie trägt im Grunde auch heute noch. Nur gilt es, wie Sie richtig sagen, sie in die Gesellschaft zu tragen.

Ich bin immer noch beeindruckt davon, wie die Bundeskanzlerin das macht. In dem Fernsehinterview mit Anne Will hat sie wieder und wieder auf die Mitarbeit der unzählig vielen Menschen verwiesen, ohne die ihre Politik der unbeschränkten Aufnahme aller Asylsuchenden nicht durchzuhalten sei. Was es jetzt zusätzlich noch braucht, das wäre in der Tat eine Reformation unserer Denkungsart auch über die Flüchtlinge und, in der Konsequenz, ein besseres Asylrecht, eines, das sehr viel schneller zu der Entscheidung führt, ob sie bleiben dürfen und, sofern dies der Fall ist, ihnen dann auch Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. So käme es zu konkreten Schritten, die zeigen, dass wir sie nicht als Versorgungsfälle ansehen, sondern als Partner behandeln, von denen schließlich auch wir enorm profitieren werden.

2. Christliche Gemeinden und zahlreiche Christen helfen oft vorbildlich den Flüchtlingen. Sollten sich Gemeinden auch darauf einstellen, dass sich sehr bald die Flüchtlinge mit ihnen über Lebensfragen, über Elend und Not und neues Leben in einer neuen Heimat, tiefer austauschen wollen? Natürlich auch über religiöse Themen. Werden die Gemeinden also zu Orten des vielseitigen Gespräches?

Initiativgruppen in Kirchengemeinde haben sich wirklich vorbildlich in der Flüchtlingshilfe engagiert, längst bevor das jetzt eine gesellschaftliche Bewegung geworden ist. Das war bewundernswert und das Vorbild, das bestimmte Kirchengemeinden in der Asylfrage geben, könnte, wenn jetzt die gesellschaftliche Kraft wieder erlahmen sollte, erneut ganz wichtig werden. Aber was dieser Einsatz für die Flüchtlinge für die Gemeinden selbst bedeutet und wie die Flüchtlinge die Gemeinden selbst verändern, dass muss erst noch in den Blick kommen. Dass das bedeutet, die Flüchtlinge als Partner anzuerkennen, sie damit gewissermaßen in die Gemeinde selbst aufzunehmen. Dass es dann zum Austausch in den Gemeinden kommen wird. Die Flüchtlinge könnten ihre Geschichte erzählen, woher sie kommen, was sie auf der Flucht erlebt haben, was sie hier jetzt, von ihrer neuen Heimat erwarten. Die hiesigen Gemeindeglieder könnten umgekehrt aber auch erzählen, was ihnen wichtig ist, was sie von den Flüchtlingen erwarten, wovor sie Angst haben. Religiöse Themen würden dabei zweifellos ebenfalls vorkommen, aber so, wie sie ins Leben gehören, als zugehörig zur Kultur der Menschen, als Ensemble der Werte, an denen sie sich orientieren, als Artikulation dessen, was ihnen wichtig ist, ihnen Halt gibt und den Mut, jetzt in der neuen Situation nicht den Mut zu verlieren.

Mit der Offenheit, in der Gemeinden sich jetzt in der Flüchtlingsarbeit engagieren, ist eine große Chance auch für diese Gemeinden verbunden. Sie können sich dem lebendigen Austausch über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg öffenen. Damit werden sie einen enormen Beitrag zur Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft leisten.

3. Über „den“ Islam wird in den nächsten Jahren noch intensiver debattiert werden, er ist deutlicher Teil der deutschen Gesellschaft. Über die Frage wird schon jetzt gestritten, ob der Gott „des“ Islams mit „dem“ christlichen Gott identisch ist. Wer vermag das schon so allgemein gesehen wissen? Wäre es nicht hilfreicher, sich auf eine gemeinsame ethische Basis zu besinnen? Was verbindet uns alle als Menschen? Der Dalai Lama sagte treffend: Ethik ist wichtiger als Religion. Sehen Sie das auch so?

Ja, ich meine, dass wir mit der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ eine solche Ethik haben. Mit ihr kann die Integration der Flüchtlinge gelingen, unter Einschluss der Anerkennung ihrer verschiedenen Religionszugehörigkeiten. Denn die Religionsfreiheit, im positiven wie negativen Sinn, gehört ja auch zu den Menschenrechten. Nur, damit sich ein solches Menschenrechtdenken durchsetzen kann, braucht es die Akzeptanz dessen, dass die Menschenrechte selbst eine religiöse Grundlage haben, also unbedingte Anerkennung verlangen, von der man sich deshalb auch nicht unter Berufung auf eine andere Religion freisprechen kann, etwa was die Gleichberechtigung der Frau betrifft.

Worum es im Austausch zwischen den Religionen, in unserem Fall insbesondere zwischen Islam und Christentum, gehen muss, ist, an der Vereinbarkeit der jeweils eigenen Religion mit der universalen Religion der Menschenrechte zu arbeiten. Es braucht die Arbeit an Religionssynthesen. Diese Arbeit ist schon weit fortgeschritten. Der Dalai Lama, den Sie zu Recht erwähnen, gibt das beste Beispiel für eine Vermittlung zwischen dem Tibetischen Buddhismus und der Religion der Menschenrechte, Gandhi für die Verbindung des Hinduismus mit der Religion der Menschenrechte, Martin Luther King für die Umformung des Christentums in eine Religion der Menschenrechte. Mehr und mehr gibt es auch Stimmen aus dem Islam, die für die Integration des Islam in die Religion der Menschenrechte eintreten und konkret zu zeigen versuchen, wie das gehen kann.

Ich würde also nicht die Religion gegen die Ethik ausspielen, sondern in Orientierung am Kriterium des Menschengerechten an einer religiösen Fundierung der Ethik festhalten. Denn was die Ethik nicht zu geben vermag, das finden wir in der Religion, eine unbedingt verlässliche, uns zum Tun des Guten motivierende, aber auch noch im Versagen unseren Daseinsmut stärkende Lebensgewissheit.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Im Anblick der Flüchtlinge: Freundlichsein – wie Spiritualität lebendig ist. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: Drei Fragen an Professor Wilhelm Gräb

Angesichts der Flüchtlinge: Freundlichsein – Wie Spiritualität ganz weltlich, ganz menschlich lebendig wird.

 Die Fragen stellte Christian Modehn, veröffentlicht wurde das Interview am 9.9.2015.

Es ist nicht zu hoch gegriffen: Deutschland erlebt wieder (wie 1989) eine historische Wende: Deutschland gilt jetzt als das beliebteste Land, wo Flüchtlinge Zuflucht suchen und hoffentlich auch Zuflucht und eine neue Heimat finden. Und dabei werden sie zunächst von so unglaublich vielen „normalen Bürgern“ auf fast unbeschreiblich freundliche und wohlwollende Weise willkommen geheißen, mit Geschenken, Lebensmitteln, ehrenamtlichen Diensten usw. Wobei man die prekären Unterbringungen und den bürokratischen Aufwand in der Anerkennung des Flüchtlings-„Status“ nicht verschweigen darf. Dennoch: Die meisten Menschen in Deutschland leben ihre Freundlichkeit und Großzügigkeit. Wenn Sie als Theologe diese Situation betrachten: Zeigt sich da eine praktisch gelebte „weltliche“ Spiritualität, die nun offensichtlich Teil unser Kultur ist?

Auch mich hat die Entscheidung der Bundeskanzlerin bewegt, ohne großes Wenn und Aber die in Budapest auf ihre Weiterreise hoffenden Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen; erst recht dann der freundliche Empfang der ihnen in Deutschland von so vielen ihnen wohlwollenden Menschen bereit wurde. Sowohl die Entscheidung der sonst kühl abwägenden Kanzlerin wie die spontane Hilfsbereitschaft der Menschen in München und an vielen anderen Orten der Republik gehen weit über das hinaus, was Moral und Recht zu gebieten bzw. zu bewirken im Stande sind. Natürlich, es ist moralisch geboten, Menschen, die aus ihrer Heimat wegen Terror und Krieg oder auch bitterer Armut und Perspektivlosigkeit fliehen mussten, zu helfen, wenn es nur irgendwie möglich ist. Schließlich steht die Geltung der Menschenrechte, die in unser Grundgesetz Eingang gefunden hat, mit jedem Flüchtling, der um sein Recht auf Leben kämpft, auf dem Prüfstand. Es bleibt daher weiterhin zu beklagen, dass unser Asylrecht seit den frühen 1990er Jahren immer mehr ausgehöhlt wurde. Es ist aber zweifellos auch eine riesige Herausforderung, die auf unser Land zukommt. Insbesondere die Verwaltung in den Ländern und Kommunen ist gefordert, wenn nun immer wieder neue Unterkünfte geschaffen und die Möglichkeiten einer schnelleren Integration in unsere Gesellschaft ausgebaut werden müssen. Wenn die Bundeskanzlerin dennoch meint sagen zu können, „Wir schaffen das!“, dann beruft sie sich dabei nicht nur auf die ökonomische Stärke unseres Landes und die eingespielten Routinen einer effizienten Bürokratie. Sie appelliert an das, wofür sie selbst mit ihrer unbürokratischen Entscheidung ein gutes Beispiel gegeben hat. Sie nimmt eine unsere Zivilgesellschaft öffnende Bewegung der Herzen in Anspruch, eine spirituelle Kraft, die Menschen über ihr moralisches Wollen und rechtliches Denken hinaus ergreift und zu einem liebevollen Handeln befähigt. Was wir in diesen Tagen erleben, hat, so kann man durchaus sagen, eine in religiöse Tiefendimensionen reichende Qualität.

Über das Moralische, Politische und Rechtliche hinaus, dieses zugleich grundierend und ermöglichend, bricht sich eine von Herzen kommende Menschlichkeit Bahn. Die Flüchtlinge, die plötzlich auch so genannt werden, werden von so vielen Menschen unseres Landes, ohne dass sie dazu aufgefordert oder darum gebeten worden wären, mit offenen Armen empfangen: Warum nur? Sicher auch, um ein deutliches Zeichen gegenüber denen zu setzen, die Brandbomben auf Asylheime werfen. Aber doch nicht allein deswegen. Die solidarischen Menschen handeln aus einem Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen, die um ihr nacktes Leben kämpfen müssen.

Die spontane Hilfsbereitschaft resultiert keineswegs nur aus moralischen Verpflichtungsgefühlen, sondern aus einem Sich-Berühren-Lassen von der Not anderer. Und dieses Sich-Berühren-Lassen kommt aus dem Empfinden einer Zusammengehörigkeit in der einen Menschheitsfamilie, über alle nationalen, religiösen und kulturellen Grenzen hinweg. Aus dem Gefühl einer solch spirituellen, rational gar nicht genau erklärbaren Verbundenheit heraus, öffnen sich die Menschen, nehmen sie die Fremden bei sich auf, applaudieren sie einer Politik, die sich zu unbürokratischen Entscheidungen der Menschlichkeit durchringt – alle Bedenken, dass die eigenen Kräfte vielleicht doch überschätzt werden, zurückstellend.

Wie wir das auch 1989 beim Fall der Mauer erlebt konnten, gibt es offensichtlich immer wieder geschichtliche Situationen, in denen es zu kulturellen Transformationen kommt. Sie entstehen ohne politischen Steuerungswillen, schlicht dadurch, dass Menschen diese spirituelle Erfahrung machen, mit der sie über sich selbst hinaus gerissen werden. Plötzlich haben sie das Gefühl, dass sie Teil eines großen Ganzen sind, zugehörig zu einer Nation oder eben, wie das auf wunderbare Weise jetzt der Fall ist, zur einen großen Menschheitsfamilie, in der es auf jeden einzelnen ankommt, in der keiner einfach so verloren gegeben werden darf. Dieses Gefühl unbedingter, alle innerweltlichen Grenzen überwindenden Verbundenheit und Zugehörigkeit ist ein religiöses Gefühl. Mit ihm teilt sich uns mit, dass wir alle von Voraussetzungen leben, die wir in unser eigenes Tun und Denken nicht einzuholen im Stande sind. In letzter Hinsicht sind und bleiben wir alle abhängig von dem uns tragenden und ermöglichenden, göttlichen Seinsgrund, dem wir uns in unserem Tun und Denken, mit unserem ganzen Dasein, wer auch immer wir sind, verdanken.

Vielleicht ist der Hinweis auf diese tatsächlich gelebte humane Spiritualität so wichtig, wenn man an den bald erforderlichen „langen Atem“ der Hilfsbereitschaft denkt, wenn es also gilt, mit aller Kraft der Argumente und der Gesetze Widerstand zu leisten gegenüber Menschen, die in den „anderen“, den Flüchtlingen, nur eine Bedrohung sehen und gar nicht daran denken, dass in der Begegnung mit den Fremden auch der eigene Lebensentwurf positiv erweitert wird? Dass also eine neue europäische Kultur des Miteinanders entstehen kann.

Es kommt jetzt darauf an, da auch die Medien (von der SZ bis zu den Boulevardblättern) diese kulturelle Transformation hin zu einem Europa, das sich solidarisch macht mit denen, die an seinen Grenzen auf Einlass drängen, auch als eine solche Transformation zu kommunizieren. Es kommt darauf an deutlich zu machen, dass sich die Hilfe, die den Flüchtlingen zuteil wird, aus der spirituellen Erfahrung einer tiefen Verbundenheit mit ihnen in der einen Menschheitsfamilie speist. Diese Einsicht kann eine Kultur der Öffnung den Fremden gegenüber „krisenfest“ machen. Sie muss dann nicht sofort wieder kollabieren, wenn sich die Schwierigkeiten der Integration einer so großen Zahl von Neuankömmlingen in unserer Gesellschaft zeigen und in der rechten Szene weiterhin der Fremdenhass und die feindseligen Anschläge wüten. Es kann in unserem Land vielmehr die rationale Erkenntnis wachsen, dass wir Zuwanderung angesichts der demographischen Entwicklung in Deutschland sehr gut “gebrauchen” können, wie eben auch dass die Begegnung mit fremden Kulturen und Religionen unser eigenes Leben enorm bereichert.

Wir wollen niemanden theologisch vereinnahmen und schon gar nicht jeden freundlichen, solidarischen Menschen zu einem Heiligen erklären. Dennoch könnte eine Erkenntnis aus dieser hoffentlich bleibenden bewegenden Freundlichkeit gewonnen werden: Wer in seiner Ethik auf diese Weise lebt, ist den Spuren der Transzendenz, des Göttlichen, nicht fern. Können Sie als Theologe auch der Erkenntnis von Immanuel Kant folgen, der alle religiösen Gefühle in dem guten, dem moralischen Leben gründete. Wie religiös erschiene dann aber die Welt der Menschen, sogar die angeblich entkirchlichte Gesellschaft Europas?

Es ist die spirituelle Erfahrung der Selbst-Transzendierung, also das Gefühl, auf verstehbare Weise in das große Ganze des Menschheitsuniversums einbezogen zu sein und in tiefer Verbundenheit mit allem Lebendigen zu stehen, aus der das moralisch gute Handeln seine Energie bezieht. Wir müssen deshalb die kulturelle Transformation, in der unsere Gesellschaft sich momentan neu erfindet, so deutlich machen, um auf diese säkulare Präsenz des Religiösen aufmerksam zu machen. Es gilt endlich damit aufzuhören, die Religion an Konfessionalität und Kirchlichkeit, an Religionszugehörigkeit und dogmatische Bekenntnisse zu binden. Das Gefühl tiefer Verbundenheit mit der einen, im göttlichen Daseinsgrund wurzelnden Menschheit fundiert jede Moral, die ihren Namen verdient. Aus diesem Gefühl speist sich auch die Bereitschaft, jedem Menschen eine unverletzliche Würde und das Recht auf ein Leben in Würde zuzuerkennen, somit auch das, was die moralische Basis der Menschenrechte ist. So bietet der kulturelle Wandel, den wir glücklicherweise gerade in unserem Land erleben, sogar die Chance, dass man – allen Szenarien der angeblichen Entchristlichung zum Trotz – zur Einsicht kommen kann, wie sehr sich das christliche Erbe Europas in Gestalt einer gelebten Religion der Menschenrechte fortschreitend verwirklicht.

Erwähnung verdient allerdings auch, dass viele Kirchengemeinden für diese kulturelle Transformation, die jetzt weitergeht und die Zivilgesellschaft ergriffen hat, eine Vorreiterrolle übernommen haben. Die gelebte Religion der Menschenrechte verwirklicht sich nicht an den Kirchen vorbei, sondern sie wird von diesen ganz entscheidend mitgetragen.

Copyright: Prof.Wilhelm Gräb, Berlin, und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Keine Angst vor der Auswahl “heiliger Texte”. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken im August 2015: Drei Fragen von Christian Modehn an Prof. Wilhelm Gräb

Keine Angst vor der Auswahl „heiliger Texte“

Schon Martin Luther war überzeugt, dass es im Neues Testament Texte gibt, die Christus deutlicher „treiben“, also das Evangelium der Gnade, eines „geschenkten Lebens“, bezeugen, als andere Texte. Wenig bedeutend waren für Luther der Hebräerbrief und der Jakobusbrief. Von einer „Mitte“ des Glaubens ist auch die Rede in der lateinamerikanisch geprägten Befreiungstheologie mit ihrer Bevorzugung der Exoduserfahrung oder der prophetischen Kritik. Das sind nur zwei Hinweise dafür, dass spirituelle Menschen immer schon, von ihrer jeweiligen Lebenssituation ausgehend, sich eben auswählend gegenüber biblischen Texten verhalten. Ist diese Auswahl persönlich relevanter biblischer Texte für Sie theologisch gesehen ein Irrweg oder eine Normalität?

Es gelten für das Verhalten gegenüber biblischen Texten keine anderen Regeln als sonst auch. Wenn wir einen Text lesen, sei das ein Roman, eine wissenschaftliche Studie oder ein Zeitungsartikel, haben wir immer unsere eigene Brille auf. Es ist geradezu notwendig, dass ich das eigene Interesse, meine Fragen und mein Denken über die Sache, um die es in einem Text geht, mitbringe, wenn ich diesen verstehen will. Nur dann wird der Text sich mir öffnen, werde ich herausfinden, was er mir zu sagen hat.

Bei „heiligen“ Texten ist das genauso. Sie sind zu „heiligen“ Texten ja erst dadurch geworden, dass einzelne Menschen, dann eine religiöse Gemeinschaft, ihren Glauben, ja, sich selbst in ihnen gefunden haben. Die Bibel ist die Heilige Schrift der Christen durch den Gebrauch, der von ihr gemacht wurde und wird, in der Liturgie und Verkündigung der Kirche, in der häuslichen Andacht oder auch der persönlichen Gottsuche. Das religiöse Interesse, die Suche nach Gott, das Heilsverlangen, sie machen die Bibel zu Gottes Wort, dort, wo sie von Menschen als ein solches Wort gelesen, gehört und aufgenommen wird. Dann wird sie zu einem Wort, das Menschen gut tut, das sie tröstet in der Not, das ihrem Glück einen Ausdruck gibt, das für sie zur Segenzusage wird, das sie in ihrer Hoffnung bestärkt und ihnen hilft, mit Schicksalsschlägen und Leiderfahrungen besser zurecht zu kommen.

Nicht alle Texte der Bibel sind dazu zu jeder Zeit und in jeder Lebenslage gleichermaßen geeignet. Das hat man auch in der Theologie immer so gesehen – wie Sie das gerade an Luthers Urteil über bestimmte biblische Schriften gezeigt haben. Es waren für Luther nur diejenigen biblischen Texte Gottes heiliges Wort, in denen er die seine reformatorische Grundeinsicht tragende Botschaft von der göttlichen Rechtfertigung des Sünders erkennen konnte. Er suchte in der Bibel nach Heilsgewissheit, nach der verlässlichen Grundlage für ein unbedingtes Zutrauen zum (ewigen) Leben. Und dort, wo er diese Zusage fand, dort wurde ihm die Bibel zur Heiligen Schrift.

Dass spirituelle Menschen sich auswählend gegenüber biblischen Texten verhalten, ist in der Tat immer schon so gewesen und muss so auch sein. Damit sich die biblischen Texte dem spirituellen Interesse, der Suche nach Gott, der Sehnsucht nach Befreiung und ewigem Heil erschließen, müssen sie geradezu mit spirituellem Interesse gelesen werden. Sonst kommt es nicht zu einer spirituell lebendigen Begegnung ihnen.

Die moderne Bibelwissenschaft pflegt freilich längst noch einen ganz anderen Umgang mit der Bibel. Da wird sie zur historischen Quelle, um die Geschichte Israels oder der frühen Christenheit zu erforschen. Sie wird als ein historischer Quellentext in Gebrauch genommen und mit historischer Erkenntnisabsicht gelesen. Das religiöse Interesse, das danach fragt, was die biblischen Texte uns für unser Leben und unseren Glauben bedeuten, kann dabei ganz ausgeklammert bleiben. Mit Theologie bekommt diese historische Lesart biblischer Texte erst dann wieder zu tun, wenn die historische Dimension so weit ausgeleuchtet wird, dass die weitergehende Frage in den Blick kommt, warum wohl diese Texte als Altes und Neues Testament zur Heiligen Schrift der Christen bzw. als Tanach (der weitgehend dem AT entspricht) zur Heiligen Schrift der Juden geworden sind und bis heute im religiösen Gebrauch stehen.

Die Fragen, die im Christentum die Zuordnung oder gar Rangordnung von Altem und Neuem Testament betreffen – das Judentum hat dieses Problem nicht – sind theologische Fragen, bei denen ebenfalls persönlich spirituelle Interessen im Spiel sind. Auf sie müssen wir im Grunde immer zurück gehen, wenn wir verstehen wollen, warum die Bibel wichtig ist und weshalb es um sie Streit gibt.

Wenn die Bevorzugung bestimmter Texte als Quelle persönlicher Inspiration offenbar ein vernünftiges Verhalten ist und zum Kern eines „Glaubens aus freier Einsicht“ gehört: Wie können dann spirituell interessierte Christen mit schwierigen Texten aus dem Alten Testament umgehen, mit den Fluchpsalmen etwa oder mit den Texten, die uralte jüdische Gesetzgebungen in den Mittelpunkt stellen?

Mit dieser Frage, so würde ich zunächst sagen, tritt hervor, weshalb die historische Betrachtung und Erforschung der biblischen Texte auch spirituell interessant sein kann. Die historisch-kritische Textanalyse ermöglicht es, den Sitz im Leben solcher Texte, die uns als Texte der Bibel fremd und unzugänglich sind, zu rekonstruieren. Im Blick auf die Fluch-Psalmen oder auch andere Texte im Alten Testament, in denen Gott in seinem Zorn über die Bosheit der Menschen ganze Völker vernichtet, kann durch die Erforschung der Überlieferungsgeschichte dieser Texte gezeigt werden, dass sie sich auch als Klage und Protest und als Aufschrei gegen Erfahrung der Unterdrückung lesen lassen. Liest man die Fluch-Psalmen aus der Perspektive derer, über die die Geschichte gnadenlos hinweggegangen ist, die zu den Entrechteten und Namenlosen gehörten, dann kann man den Vernichtungswillen Gottes auch als Ausdruck der Hoffnung darauf lesen, dass Gott niemanden verloren gibt, er Recht und Gerechtigkeit wieder aufrichten wird. Dann kann auch in Gesetzes- und Rechtstexten ein Heilsversprechen erkannt werden. Freilich adressiert an die Ohnmächtigen, nicht an die, die die Herrschaft auf Erden ausüben, sondern an die, die unwiederbringlich verloren wären und für die es keine Erlösung gäbe, wenn nicht ein Gott ist, der letztendlich das Gute für alle Menschen will.

Es kommt bei allen biblischen Texten auf die Perspektive an, in der sie gelesen werden. Die Bibelwissenschaft ist dazu da und erfüllt so auch als historisch-kritisch arbeitende Wissenschaft einen spirituellen Zweck, wenn sie uns um andere Perspektiven und neue Lesarten bereichert. Sogar das zunächst Anstößige und Befremdliche in biblischen Texten wird dabei möglicherweise auf ein spirituelles Interesse hin durchsichtig. Fluch-Psalmen können, wie ich zu sagen versuchte, verstanden werden als Ausdruck des Aufstands der Erniedrigten und Gequälten gegen ihre Peiniger und Unterdrücker. Indem sie diese in Gottes Namen verfluchen, geben sie zugleich der unbändigen Hoffnung Ausdruck, dass Gott nicht auf der Seite der Mächtigen und Gewaltigen stehen möge, sondern er das Recht und die Gerechtigkeit endlich zur Durchsetzung bringen wird.

Befremdliche und anstößige Texte gibt es aber keineswegs nur im Alten Testament. Auch im Neuen Testament sind uns harte Jesus-Worte überliefert. Da sagt er, dass er nicht gekommen sei, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Matthäus 10, 34) oder er fordert diejenigen, die ihm nachfolgen, auf, ein für allemal Vater und Mutter zu verlassen Matthäus 19, 5) oder auch die Toten ihre Toten begraben zu lassen (Matthäus 8, 22). Dann wieder begegnen wir in der Offenbarung des Johannes schrecklichen Untergangsvisionen, und im Hebräerbrief muss viel Blut fließen, damit wenige gerettet werden.

Immer also kommt es auf die Perspektive an, auf die Situation, aus der heraus Menschen die Bibel lesen, um dort ihre religiösen Gefühle und Gedanken ausgedrückt oder auch eine Orientierung für ihr Handeln zu finden. Das ist nie ungefährlich, natürlich auch nicht der Umgang mit den Fluch- und Rache-Psalmen oder den harten Entscheidungsworten Jesu. Sie können ja auch dazu dienen, eigensüchtigen Rachegedanken und Gewaltphantasien freien Lauf zu lassen. Immer braucht deshalb der spirituell interessierte Umgang mit der Bibel selbst noch einmal ein ethisch-religiöses Kriterium.

Es läuft die Frage nach dem angemessenen Umgang mit „heiligen“ Texten, mit der Bibel, letztlich immer darauf hinaus, wie wir unser Leben verstehen, welche spirituellen Interessen wir verfolgen und was es aus uns macht, dass wir meinen, uns Christen nennen zu können. Letztlich ist es, gerade weil der persönlich-wählerische Umgang mit biblischen Texten sich gar nicht vermeiden lässt, nötig, ein Kriterium zu haben, das uns einen guten von einem schlechtem, einen akzeptablen vom einen inakzeptablen Umgang mit ihnen unterscheiden lässt.

Was ist heute das Wesentlich Christliche und dies so, dass wir dazu in freier Einsicht und mit begründeter Überzeugung stehen können? Ich meine, dass wir die Antwort auf diese Frage nicht in der Bibel finden, schon gar nicht, indem wir uns dabei vorrangig an das Neue Testament halten und das Alte Testament zurückstellen, auch nicht in einer theologische Grundsätze formulierenden und Verweisungszusammenhänge zwischen beiden Testamenten aufmachenden theologischen Dogmatik. Wir müssen nach einer für uns heute orientierungskräftigen religiösen Ethik Ausschau halten. Ich schlage eine Ethik vor, die sich im Wesentlichen an dem Gedanken der unverletzlichen Würde jedes Menschen und der universalen Geltung der Menschenrechte ausrichtet.

Dieser freie, durchaus subjektiv-wählerische Umgang mit religiösen Texten aus dem Neuen wie aus dem Alten Testament respektiert letztlich die Eigenständigkeit dieser literarisch so unterschiedlichen Bücher. Es gibt dann keine Unterordnung des Alten unter das Neue Testament mehr. Vielleicht wächst sogar der Respekt vor dem Alten Testament, wenn es nicht immer in christlich-arroganter Weise als Vorstufe zum Christentum und zur Kirche gelesen wird.

Alle diese Zuordnungen von Altem und Neuem Testament, um die sich die christliche Theologie seit ihren Anfängen immer wieder bemüht hat und die aktuell erneut zum Streit um die Gleichrangigkeit des Alten Testaments mit den Neuen geführt haben, entspringen einem dogmatisch-theologisch gesteuerten Ringen um die Identität des Christentum. Deshalb spielt dabei die Bestimmung des Verhältnisses zum Judentum eine wichtige Rolle. Das ist durchaus verständlich.

Dennoch muss man sich darüber im Klaren sein, dass es sich um ein Problem speziell des Christentums und keinesfalls des Judentums handelt, um eine innerchristliche Debatte gewissermaßen, aber mit interreligösen und interkulturellen Weiterungen. Diese müssten von der Theologie sehr viel energischer angegangen werden als dies bislang geschieht. Biblisch-theologische Konstruktionen oder dogmatische Aufstellungen zur Zu- oder Unterordnung der beiden Testamente helfen überhaupt nicht weiter, da sie selbst immer schon Ausdruck einer bestimmten spirituell-religiösen Position sind, dabei entweder auf die Abgrenzung des Christentums vom Judentum oder, was heute auch gar nicht selten ist, auf die Integration des Christentums ins Judentum abzielen.

Wir sollten den Tatbestand, dass sich die frühe Christenheit dafür entschieden hat, die neutestamentlichen Texte dem Alten Testament hinzuzufügen und aus beidem zusammen die christliche Bibel zu machen, wertschätzend anerkennen. Des Weiteren käme es darauf an, alle biblischen Texte, unabhängig davon, ob sie dem Alten oder dem Neuen Testament zugehören (fremd sind uns diese Texte im Grunde alle), dem spirituellen Selbstdeutungsinteresse der Menschen überlassen. Schließlich wäre dieser offene Umgang mit der Bibel dadurch vor Beliebigkeit oder auch gefährlichem Missbrauch zu schützen, dass wir ihn in ein Gespräch über die Lebensdienlichkeit der religiösen Orientierungen, die wir in der Bibel gewinnen oder die wir uns als die unsrigen zuschreiben, hineinziehen.

Dieses Gespräch wird eine interreligiöses und interkulturelles sein und von jedem Überlegenheitsgefühl, die eigene Religion betreffend, frei bleiben müssen.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Von der Lust zu reisen: Über Orte der Sehnsucht. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Wo wollen wir hin? Über Orte der Sehnsucht und die Lust zu reisen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Die Reiselust ist in Europa und den reichen Ländern ungebrochen groß. Noch fehlt eine Theologie des Reisens. Befassen wir uns heute mit dem freiwilligen Reisen, also nicht mit dem erzwungenen Weggehen aus der Heimat, das Flüchtlinge erleben, sie „verreisen“ ja eigentlich nicht. Die Frage klingt einfach: Warum wollen so viele eigentlich so oft wie möglich weg von Zuhause? Warum halten wir es zu Hause nicht aus, wie der Mystiker Blaise Pascal einmal behauptete?

„Es ist ein Sehnen tief in uns…“, so beginnt eines der neueren Kirchentagslieder. „Es ist ein Sehnen tief in uns, nach Dir, o Gott“, so geht es weiter. Es mag übertrieben erscheinen, wenn ich behaupte, dass das stimmt. Aber wenn wir denken, dass Gott die Fülle des Lebens ist, das Vollkommene, der absolute Sinn, dann wird verständlich, dass dahin doch recht eigentlich all unser Verlangen geht.

Der Alltag bleibt immer dahinter zu zurück. Das ist es demnach, so denke ich, was uns von Zuhause wegzieht, dieses Gefühl, dass dies nicht schon das Ganze gewesen sein kann. Die Meisten sind mit so vielem beschäftigt, das sie zwar in Bewegung hält, immer schneller und schneller, aber die Stunden und Tage, die wie im Fluge vergehen, sind doch keine erfüllte Zeit. Die Resonanz bleibt aus. Es kommt zu wenig zurück. Es verstärkt sich der Eindruck, nicht gemeint zu sein, eigentlich gar nicht vorzukommen, letztlich belanglos.

Deshalb zieht uns unsere Sehnsucht nach einem intensiveren Erleben des Lebens in die Ferne. Und es ist ja auch so, schon das Zeiterleben verändert sich am fremden Ort. Die Zeit vergeht langsamer. Das nennt man dann heute Entschleunigung. Und wir meinen damit genau dies, dass im Ausstieg aus den Routinen des Alltags und den fremdgesteuerten Beanspruchungen, Resonanzräume entstehen. Dann reagieren die Dinge wieder ganz neu auf uns und wir auf sie.

Das ist es, was wir erwarten, wenn wir verreisen. Endlich wieder Resonanz zu erfahren: Zeit zu gewinnen, die mir gehört, Landschaften zu sehen, die mich ansprechen, in Kirchen oder Museen zu gehen, die meinen Horizont erweitern.

Wo wollen wir eigentlich hin? Selbst, wenn wir am (Ferien) Ziel angekommen sind? Sind wir dann (bei uns selbst) angekommen? Ist jede Reise vielleicht auch mehr, etwa das Verlangen nach einem anderen Leben?

Die Sehnsucht nach Sinn, die uns von zuhause forttreibt, sie hat im Grunde kein konkretes Ziel. Ein solches kann es gar nicht geben. Dennoch müssen wir uns vornehmen, an einen bestimmten Ort zu reisen. Diesen suchen wir danach aus, ob er das Versprechen bei sich hat, dort etwas von dem zu finden, worauf unsere Sehnsucht geht: Ruhe, Natur, Bewegung, Entspannung, Zeit für sich selbst und miteinander.

Ich denke nicht, dass es ein anderes Leben ist, das wir suchen, manchmal vielleicht auch das. Vor allem aber verlangt uns danach, das eigene Leben, das, das wir haben und das uns im Alltag doch zugleich immer wieder entgleitet, intensiver zu spüren, wieder zusammenzufinden, mit dem Partner, der Partnerin, den Kindern. Schlicht der Ortswechsel tut schon gut. Er hilft, die Welt neu wahrzunehmen und wieder neu ein Empfinden dafür zu gewinnen, dass in sie hineinpassen, ja, sie einem sogar entgegenkommt.

Deshalb dürfen die Enttäuschungen auch keinesfalls zu groß sein. So neigen wir dazu, unsere Ferien im Nachhinein eher zu verklären. Wir zehren zudem von der Erinnerung, wenn wir wieder zuhause sind und der Alltag mit seinem Stress wie mit seiner Leere erneut einkehrt. Diese Erinnerung ist zugleich das immer noch nicht ganz eingelöste Versprechen, dass alles viel schöner sein könnte. Dieses Versprechen legt sich über die Wirklichkeit. So kompensieren die Ferien übers Jahr vieles von dem, was unser Leben in ein fades Grau in Grau taucht.

In den biblischen Erzählungen ist oft von Aufbruch und Aufbrechen aus der Heimat die Rede, etwa schon im Mythos von Abraham. Was unterscheidet eigentlich den biblischen „Aufbruch“ vom modernen Reisen? Können, sollten wir heute mehr „Aufbrechen“ (radikale Veränderung), als die kurzfristige Form des Verreisens zu wählen?

Der Abraham-Mythos bringt die religiöse Idee, die auch noch hinter unseren Ferienträumen steht – davon, dass wir in die Ferien „aufbrechen“ reden wir ja auch – zu einer präzisen Vorstellung. Wie wir im 1. Buch Mose, zu Beginn des 12. Kapitels lesen, bekam Abraham von Gott den Auftrag, in ein Land aufzubrechen, das er, Gott, ihm zeigen werde. Das sollte ein Aufbruch ins völlig Ungewisse sein. Doch über dieser Aufforderung zum Aufbruch ins Ungewisse stand zugleich die Verheißung der Fülle, eines gesegneten Landes und einer reichen Nachkommenschaft.

Was den biblischen „Aufbruch“ vom modernen Reisen unterscheidet, ist somit die Ausdrücklichkeit der religiösen Idee, die dahinter steht. Sie motiviert im Grunde aber auch unser heutiges Reisen. Auch wir suchen die Fülle. Auch wir erwarten, dass etwas zu uns zurückkommt, von dem was wir selbst in unsere Arbeit, in unsere Partnerschaft, in unsere Kinder investiert haben. Nur ist uns die religiöse Transzendenz, in die unsere Sehnsucht hineinreicht, vielfach nicht mehr bewusst.

In den Besitz der Fülle des Lebens zu gelangen, das wird uns Menschen nie möglich sein. Genau deshalb sehen wir die „schönsten Wochen des Jahres“, in denen wir, wie wir ebenfalls sagen, „die Seele baumeln lassen können“ immer wieder herbei. Ein Vorgeschmack von der verheißenen Fülle zu erlangen, das zumindest soll es dann doch sein.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der Glaube ist auch Poesie? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Der Glaube ist auch Poesie?

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Es gibt erfreulicherweise immer mehr „Poesie-Festivals“ in verschiedenen Städten, in Berlin nun schon zum 16. Mal. Gute Gedichte sind anspruchvoll, keine Frage: Sie sind Kunst. Das wäre ein Grund mehr, dass sich die Kirchen und die Theologen deutlicher als bisher für die Poesie einsetzen. Sind doch die wichtigsten Gebete in den Gottesdiensten die Psalmen, also Gedichte. Aber welche Bedingungen sollten erfüllt sein, dass sich Menschen von heute auch in den uralten Psalmen wieder finden?

Dass die Poesie auf den Poetry-Slams, sowie dem Poesie-Festival, wie es Mitte Juni in Berlin wieder gestaltet wurde, große Aufmerksamkeit findet, ist ein hoch erfreulicher Sachverhalt. Denn poetische Texte führen über den bloß instrumentellen Gebrauch der Sprache hinaus. Poetische Texte bilden die vorhandene Wirklichkeit nicht ab, sondern sie schaffen eine neue. Dazu arbeiten sie mit der metaphorischen, verändernden Kraft der Sprache. Die Poesie bewegt sich in der Umgangssprache, gibt den Wörtern aber eine andere, ein neues Denken anregende Bedeutung. Das müssten die Kirchen und Theologen eigentlich alle wissen. Denn auch die Bibel ist voller Poesie, nicht nur in den Psalmen, aber diese sind natürlich ganz besonders. Um gleich die Poesie der Psalmen ein wenig zu Gehör zu bringen –, so sind wir Menschen dort, Ps. 103, „wie Gras“ oder „wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.“ Solche Sprachbilder beschreiben die Wirklichkeit, aber ungleich tiefer und vor allem existentiell berührender als es die bloße Feststellung des Faktischen zu tun in der Lage wäre. Wenn wir diese Verse aus dem 103. Psalm hören, wird uns nicht nur bestätigt, was wir längst wissen, eben dass wir zerbrechliche, endliche Wesen sind. Wir werden zugleich hineingetrieben in die Frage danach, was das Ganze dennoch uns bedeuten will bzw. bedeuten könnte, die ganze Anstrengung, die das Leben immer auch ausmacht, gerade dann, wenn wir es gestalten wollen, Verantwortung übernehmen, Gutes tun. Was bleibt? Bleibt überhaupt etwas?

Die Poesie, die Verdichtung der Sprache, die sie schafft, der metaphorische, übertragene Gebrauch, den sie von den Wörtern unserer Alltagssprache macht, schließen die Welt und unsere Erfahrungen in ihr in den Bedeutungen auf, die sie für uns haben oder – wenn wir nur Augen hätten, zu sehen – haben könnten. So ist die Poesie der das Wissen und die Wissenschaft transzendierende Zugang zur Wirklichkeit.

Die Wissenschaft findet weder im Universum noch in den kleinsten Bausteinen der Materie einen Sinn. Dass sie dennoch einen solch enormen Eindruck auf uns macht, ist das Versprechen einer durch die Erfolge der Technik fortschreitenden Erlösung von der Mühsal des Lebens. Diese Erlösung tritt natürlich nicht ein und wird auf diese Weise nie eintreten. Aber der Glaube an die Wissenschaft und die Hoffnung auf die Wunderkraft der Technik leben ungebrochen fort, obwohl nur der kleinere Teil der Menschheit von ihren Erfolgen profitiert und die problematischen ökologischen Kehrseiten allzu offensichtlich sind.

Die Poesie jedoch schafft – und deshalb ist sie die größte, mit der Religion zusammengehörende Kulturleistung – einen ganz anderen, recht eigentlich erst lebensdienlichen Zugang zur Wirklichkeit. Sie klärt uns über unsere merkwürdige Stellung in der Welt auf, dabei zuletzt oft den allein noch rettenden Gott anrufend oder – häufiger – sein Schweigen beklagend.

Der 103. Psalm wendet die Erkenntnis eines Lebens, das wie Gras verwelkt und wie eine Blume auf dem Felde vergeht, in das Lob des Gottes um, dessen Gnade währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Das ist keine Beschreibung einer wissenschaftlichen Erkenntnis, aber vielleicht der Impuls für die Einsicht, dass wir von Voraussetzungen leben, die selbst hervorzubringen wir nicht in der Lage sind. Sie aber geben uns das Gefühl, nicht vergeblich da zu sein und Freude an unserem merkwürdigen Dasein haben zu können.

Gerade in den Psalmen haben Menschen über die Jahrtausende diese Sprache gefunden, die das ganze Spektrum der Lebenserfahrungen in sich aufnimmt, die Erfahrungen des Glücks, des Gelingens und der Schönheit ebenso wie die der größten Not, der Verbitterung und Enttäuschung, der Verfolgung, der Gewalt und unversöhnlicher Feindschaft. Indem all diese Erfahrungen eine Sprache finden, die in unserm Innern nachklingt, öffnet die Poesie zugleich den Raum für Gedanken, die ausgreifen auf den rettenden Gott, der uns dennoch in der Welt hält.

Die Psalmen entwerfen großartige Sprachbilder für die rettende und bewahrende Gegenwart des Göttlichen in der Welt; wenn etwa der Beter des 36. Psalms ausruft: „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und dein Wahrheit, so weit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe.“

2. In den Kirchen wird moderne Kunst allmählich ernst genommen und auch die Musik zeitgenössischer Komponisten hat manchmal einen Platz in den Gottesdiensten. Nur die zeitgenössische Poesie kommt kaum vor im kirchlichen Raum und wird auch nicht als Inspiration für die private Spiritualität empfohlen. Welche Vorschläge hätten Sie, damit das kunstvolle Wort, das Gedicht, wichtig wird auch unter religiösen Menschen?

Wichtig wäre es zunächst einmal, überhaupt ein Verständnis dafür zu gewinnen, was es eigentlich heißt, religiös zu sein. Dass es da nicht darum geht, an Dogmen oder die Bibel zu glauben, sondern unser merkwürdiges Dasein in dieser Welt tiefer zu verstehen. Die bildende Kunst und die Musik, sie führen uns in Erfahrungen, die Resonanzräume eröffnen. Kunst und Musik sind menschliche Schöpfungen. Sie errichten Bild- und Klangwelten, deren Besonderheit darin liegt, dass sie uns zugleich uns selbst in unserem auf die Welt bezogenen Dasein erkennen lassen. Sie erzeugen eine Rückbetroffenheit, klingen in uns nach. So machen sie es, dass wir das Gefühl gewinnen, in die Welt zu passen. Ebenso lassen sie uns den Schmerz tiefer empfinden, über die Risse, Widersprüche und Unvereinbarkeiten, die durch die Welt und unser eigenes Leben gehen.

Wie die Kunstobjekte und die Musik versucht all dies auch die Dichtung zu sagen. Da sie dies mit Worten tut, zielt sie sogar direkter auf die Erfüllung des Anspruchs, den alle große Kunst erhebt und der alle große Kunst letztlich zur Sprache der Religion macht: uns Menschen über unser merkwürdiges Dasein in dieser Welt zu verständigen. Aber da die Poesie dies mit Worten, also auf diskursive Weise tut, im Unterscheid zur bildenden Kunst und zur Musik, die uns ganzheitlich, sinnlich unmittelbar anzusprechen in der Lage sind, erweist sich die Poesie oft als schwerer zugänglich – für viele Werke zeitgenössischer Kunst und Musik gilt dies freilich auch, dass sie oft hohe Anforderungen ans Verstehen stellen.

Der Vorschlag, den ich habe, der geht somit dahin, die auf den ersten Blick, aufs erste Lesen oder Hören hin, sich als schwer zugänglich erweisende Dichtung, als Chance zu begreifen, tiefer zu greifen in der Arbeit des Verstehens unseres Daseins, zu dem sie uns doch auf inspirierende Weise auffordert. Was uns die Dichtung, mehr als andere Weltdinge, erschließt, ist der Tatbestand, dass wir resonanzkräftig mit der Welt verbunden sind. Sie lässt uns immer wieder das Glück empfinden, das es bedeutet, nicht einem sinnleeren Universum ausgesetzt zu sein, sondern einer höheren, göttlichen Bestimmung zu folgen.

3. Wenn spirituelle Anregungen und Provokationen nicht nur von Psalmen oder Gebeten etwa Paul Gerhardts ausgehen: Wäre es nicht an der Zeit, so genannte weltliche, tatsächlich aber spirituelle Poesie viel deutlicher im Raum der Kirche zu platzieren? Warum also nicht ein Rilke Gedicht im Gottesdienst oder Poesie von Hilde Domin oder Rose Ausländer?

Nirgendwo besser und theologisch tiefgreifender finde ich eine religiöse Poesie, durch die ich mich über mein eigenes religiöses Gefühl verständigt empfinde, als in Rilkes „Herbstgedicht“:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
Als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
Sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
Aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
Unendlich sanft in seinen Händen hält.

Wie im Psalm 103, aber in der Sprache unserer Zeit, werden wir in diesem Gedicht auf das Bewusstsein unserer Endlichkeit angesprochen. Zugleich läuft es aber auch auf die affirmative Gewissheitsbehauptung des Aufgehobenseins in dem unendlich Einen zu.

Was bei Rilke zum Ausdruck religiöser Gewissheit wird, ist anderen Dichtern der Moderne eine offene Frage. Doch so oder so artikuliert sich in meinen Augen eine Spiritualität, die Ausschau hält nach dem Sinn, der unserem einmaligen, aber so zerbrechlichen menschlichen Leben innewohnt.

Wie das „Herbstgedicht“ von Rilke, so könnte man genauso auch das Gedicht Gottfried Benns, dem dieser den Titel „Nur zwei Dinge“ gegeben hat, ins Zentrum eines Gottesdienstes oder einer religiösen Andacht rücken.

Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.

„Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du“. Die überlieferten Antworten der Religion, die Bergung und Orientierung boten, dem Ich seine Identität zuschrieben, dem Wir seinen Zusammenhalt gaben und die Vertrauensbasis für das Du schufen, sind längst vergangen. Zurück bleibt nur die ewige Frage: Wozu“.

„Das ist eine Kinderfrage“, fährt der Dichter fort und gesteht zugleich ein, dass es auf sie dennoch keine leichte Antwort gibt. „Ertrage dein fernbestimmtes: Du musst.“ Das ist die Antwort. Du bist letztendlich zu der Einsicht genötigt, dass du über deinen Lebensgang nicht allein verfügst, dass es da ein fernbestimmtes „Du musst“ gibt.

Zur unhintergehbaren Vorausgesetztheit unseres Lebens, will der Dichter sagen, können wir uns einsichtsvoll verhalten. Wir können die Zeichen, die sich in unsere Lebensgeschichte eingeschrieben haben, als die Spuren göttlicher Fügung und Bewahrung deuten.

Solche Deutung anzuregen, ist das, worum es in religiöser Rede geht. Dabei nicht nur von der Poesie der Bibel, sondern auch von zeitgenössischer Dichtung auszugehen, kann höchst anregend sein. Dies insbesondere deshalb, weil den Dichtern, die unsere Zeitgenossen sind, die traditionelle religiöse Sprache selbst zerfallen ist. Deshalb nennen sie den „Einen“, wie Rilke es in seinem Herbstgedicht tut, nicht beim Namen oder, wie es bei Benn der Fall ist, stellen sie neben den „Einen“, dem unsere Lebenszeichen sich verdanken, noch ein Zweites. Dem gezeichneten Ich droht immer auch das zweite „Ding“, die Leere, in die es stürzen könnte.

Aus der Arbeit an einer immer wieder neuen Deutungssprache und der Suche nach noch unverbrauchten Metaphern kommt die spirituelle Kraft zeitgenössischer Dichtung. In den Sprachräumen, die Poesie entstehen lässt, finden Menschen, die danach suchen, vielfältige Anregung zu einer auf Ganze gehenden und damit in religiöse Tiefendimensionen reichenden Verständigung über unser merkwürdiges Dasein.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Das Göttliche ist auch weiblich. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb: Maria, das Göttliche ist auch weiblich

Die Fragen stellte Christian Modehn   Der Beitrag wurde am 17. 5. 2015 publiziert.

1. Die Verehrung Marias, der Mutter Jesu, ist fast ausschließlich in der katholischen (und orthodoxen) Spiritualität zuhause. In einer breiteren Öffentlichkeit wird über Maria, wie sie im Neuen Testament erwähnt wird, manchmal bloß geschmunzelt, etwa in einem (oberflächlichen) Verständnis der Jungfrauen-Geburt. Kann denn in einer neuen liberal-theologischen Perspektive die Auseinandersetzung mit der Gestalt Marias wichtig und sinnvoll sein?

Ich muss gestehen, dass ich persönlich mit der Gestalt Marias immer noch recht wenig anfangen kann. Die protestantische Prägung sitzt auch bei mir tief. Jesus Christus allein ist der Weg zu Gott, so hatte ich es von früh auf gelernt. Später dann, im Studium der Theologie, wurde es mir sogar zur tiefen Überzeugung, dass all diese Heiligen, allen voran die Gottesmutter Maria, die die katholische Kirche ins Christentum eingeführt hat, lediglich dazu angetan sind, die Macht der Kirche zu steigern. Die Heiligen – und allen voran eine die Kirche symbolisierende Maria – werden, so hatte ich gelernt, im Katholizismus zwischen Christus und die Gläubigen gestellt. Sie sind religiöse Mittlergestalten, die dafür aber auch gewisse Dienstleistungen von den Gläubigen verlangen. Im evangelischen Christentum hingegen, so hatte ich gelernt, ist der einzelne Gläubige, dann, wenn er allein auf Christus, den mit Gott eins seienden Menschen blickt, selbst unmittelbar verbunden mit Gott und in ihm des unbedingten Sinns seines Daseins gewiss.

Der Einspruch gegen die Heiligenverehrung, ja, gegen die die Kirche selbst in ihrer Mittlerstellung symbolisierende Maria, war der Grundimpuls der Reformation. Er beschreibt immer noch die grundlegende Bedeutung der reformatorischen Rechtfertigungslehre und damit, nach protestantischem Selbstverständnis, des wahren Grundes christlicher Freiheit, Freiheit auch und gerade vom zwanghaften religiösen Regulierungswahn der Kirche.

Inzwischen bin ich gegenüber solchen theologischen Argumentationen sehr viel vorsichtiger geworden. Ich halte sie zwar auf der theologisch-argumentativen Ebene immer noch für richtig. Auch denke ich, dass sie religionskulturelle Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus, insbesondere was die unterschiedliche theologische Bedeutung, die der Kirche und vor allem dem Priesteramt zugeschrieben wird, immer noch ganz gut erklären. Dennoch, so denke ich heute, ist diese die kirchlichen Dogmen und Lehren erklärende Theologie unendlich weit weg von der gelebten Religion und den spirituellen Interessen der Menschen. Eine heutige liberale Theologie denkt aber nicht mehr von den Dogmen und kirchlichen Lehren her, sondern versucht die gelebte Religion der Menschen tiefer über sich zu verständigen und die spirituellen Bedürfnisse der Menschen aufzunehmen.

Der religiöse Sinn der reformatorischen Rechtfertigungslehre war es, dass wir, allein auf Jesus Christus blickend, dessen gewiss sein können, mit Gott auf dem Grunde der je eigenen Seele innerlich eins zu sein. In der alten liberalen Theologie, wie sie von dem Berliner Theologen Friedrich Schleiermacher um 1800 auf den Weg gebracht und um 1900 von dem Berliner Kirchenhistoriker Adolf von Harnack mit dem historischen Denken vermittelt wurde, begegnet in dem irdischen Jesus die beeindruckende und zu eigenen Gottvertrauen ermutigende Gestalt des mit Gott innerlich verbundenen Menschen. Der mit Gott einige Mensch ist in der alten liberalen Theologie der irdische Jesus, fraglos der Mann Jesus.

Unter den gewandelten, in Genderfragen ungleich sensibleren religionskulturellen Bedingungen der Gegenwart, könnte sich eine neue liberale Theologie durchaus offen zeigen für die Maria, die in die Vorstellungswelt des Christentums eingelassene, weibliche Symbolgestalt eines mit Gott innerlich verbundenen Lebens. Auch der biblische Bezug wäre dafür gegeben. Von Maria wird in einem der bekanntesten Texte der Bibel, der Weihnachtserzählung des Lukasevangeliums (Lk 2), das Wichtigste gesagt, was von einem Menschen überhaupt gesagt werden kann: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ (Lk 2, 19), die Worte von der Geburt des Erlösers.

So ist es eben nicht der Mann Jesus allein, in dem wir dem zur Welt gekommenen Gott begegnen. Wir blicken ebenso auf Maria, die Frau, die Mutter, die uns zeigt, wie es zugeht, wenn in einem Menschen Gott zur Welt kommt. Das geht so zu, dass Menschen die Geschichte, die von ihrer Erlösung erzählt, in ihrem Herzen bewegen, sie sich das Wort von der liebevollen Nähe Gottes innerlich aneignen. Das zeigt Maria, die Gottesmutter. Sie zeigt, wie Gott im Menschen zur Welt kommt.

Gott wohnt nicht droben im Himmel, er herrscht auch nicht über die Menschen. Er wirkt die Geburt des wahren Menschen. Dabei erschließt sich, wozu des Menschen Dasein in dieser Welt bestimmt ist. Davon haben die Engel über dem Stall von Bethlehem, in dem Maria, die Gottesmutter, den Gottessohn zur Welt gebracht hat, gesungen: Vom Frieden auf Erden und dem Wohlgefallen, das allen Menschen, die guten Willens sind, werden soll.

2. Wer die religiöse Praxis an katholischen Marien-Wallfahrtsorten kritisch betrachtet, kommt oft zu der Überzeugung: Für viele religiöse Menschen dort ist Maria die weibliche Seite Gottes. Und die „brauchen“ sie förmlich. Ist diese Erfahrung etwas Erstaunliches, sollte sie vertieft werden in das Bekenntnis: Gott ist (auch) weiblich. Gott ist mütterlich? Oder sollten solche Gott-Vater- und Gott-Mutter Vorstellungen vom einzelnen eher abgewehrt werden?

Wenn wir Gott in seinem Verhältnis zur Welt denken, erscheint es wenig plausibel, Gott als weiblich oder männlich, oder auch als beides, aufzufassen. Gott ist der Sinn des Ganzen. Gott ist es, der in uns Menschen die Kraft freisetzt, für das Gelingen aller guten Dinge einzustehen. Dennoch kann ich der Vorstellung von der Gottesmutter einen tiefen religiösen Sinn abgewinnen. Die Vorstellung von Gott als dem Vater bleibt ja immer mit patriarchalen Herrschaftsverhältnissen verbunden. Auch wenn wir das Beschützende und Bewahrende im göttlichen Handeln an uns betonen und im Bild des Vaters, der den aus der Fremde zurückkehrenden, verlorenen Sohn liebevoll in seine Arme schließt, alle strengen und Angst machenden Züge getilgt haben, die männliche Seite Gottes bleibt doch diejenige, die die Distanz zwischen Gott und uns aufrechterhält.

Maria hingegen, sie ist die Frau. Maria ist die Mutter. Aus der Frau wird das neue Leben geboren. In Maria, der Gottesmutter, erscheint uns das Bild des vollkommen sich zu Gott verhaltenden menschlichen Lebens. Oder besser noch, in Maria erscheint uns das Bild des wahren Menschen, des Menschen, in dem Gott zur Welt kommt, des Menschen, zu dem zu werden wir alle bestimmt sind.

Eine neue liberale Theologie hat allen Anlass, deutlich zu machen: Gott ist in unseren Vorstellungen von ihm bzw. von ihr nicht nur männlich, sondern auch weiblich. Die weibliche Seite Gottes ist die, die uns die Einheit mit ihm fühlbar macht. Der mütterliche Gott ist die, die uns die Gewissheit schenkt, dass wir im Grunde unseres Daseins anerkannt, ja geliebt werden, aus einer Liebe leben, die nichts auf dieser Welt je uns nehmen kann. Alle leben in und aus dieser Liebe, alle, die aus Gott geboren sind.

3. Die Marien-Frömmigkeit im allgemeinen führt zur Frage an Protestanten, zumal eher kopflastige, vernunft-betonte liberale Protestanten: Brauchen sie nicht mehr Emotionen, mehr Bilder und Mythen, auch im Gottesdienst? Das ist ja keine taktische Frage angesichts der Erfolge der emotionalen Pfingstkirchen. Und die emotionalen Taizé-Lieder können ja auch nicht „die“ Lösung sein.

Dass wir aus Gott geboren sind und es die Kraft des göttlichen Geistes ist, aus der in Wahrheit wir unser Leben als ein sinnbewusstes und zielorientiertes führen, das können wir nicht gegenständlich vor uns bringen. Das können wir nicht wissen, nicht rational zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen. Gott, der die Quelle unseres sinnbewussten Lebens ist, dessen mütterliche Nähe vor allem, können wir nur fühlen. Aber, was heißt hier „nur“? Das Gefühl ist es, das uns in einen unmittelbaren Kontakt zu uns selbst bringt. Fühlend sind wir uns selbst gegenwärtig, allerdings, ohne dass wir diese Selbsterschlossenheit in ihrem göttlichen Grunde zu bestimmen in der Lage wären. Genau dazu brauchen wir die religiösen Symbole und mythischen Bilder, die rituellen Inszenierungen und ästhetischen Performanzen, alles das, was der religiöse Kult zu ermöglichen versucht. Die Bilder der Religion sind es, die die Objekte der religiösen Anschauung schaffen. Die Musik und die Bewegung des Körpers sind es, die jene innere Erregung schaffen, die es macht, dass wir uns zu dem göttlichen Grunde unseres sinnbewussten Daseins auch bewusst verhalten.

Die bildende Kunst hat wunderbare Marienbilder geschaffen. Wenn wir es lernen, der emotionalen Seite der religiösen Erfahrung wieder größere Aufmerksamkeit zu schenken, dann dürfte Maria als die Mutter des Gottes, der im eigenen Herzen zur Welt kommt, auch in den protestantischen Spielarten der christlichen Religionskultur größere Aufmerksamkeit finden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Vom Recht und von der Pflicht zum Widerstand. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken: Vom Recht und von der Pflicht zum Widerstand

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn

In den Kinos läuft jetzt der „Georg Elser-Film“. Der Regisseur Oliver Hirschbiegel zeigt sehr dicht am tatsächlichen Leben jenen Mann, der sehr früh die Verbrechen des Nationalsozialismus erkannte und mit seinem klug inszenierten Attentat auf Hitler am 8. November 1939 leider dann doch scheiterte.

Nun ist sicher nicht jeder zum Tyrannenmörder berufen. Aber anlässlich des zweifellos großartigen Films könnte sich doch jeder fragen: Gehört zum geistvollen Leben eines jeden Menschen nicht immer auch der Widerstand? Das Nein, um die Menschenrechte in dieser Welt zu schützen und durchzusetzen?

Was an Georg Elser besonders beeindruckt: Er hat als Einzelner gehandelt. Gewiss, er sympathisierte mit der Kommunistischen Partei. Er ging, obwohl Protestant, in München in die katholische Messe. Da waren politische und auch religiöse Prägungen. Dann zeigt der Film aber, wie da ein Mensch nicht nur sieht, was alle sehen konnten: Die Kriegsvorbereitungen, die Verfolgung der Juden, die Hetze gegen die Kommunisten, sondern den Entschluss fasst, zu handeln. Es stand keine Organisation hinter ihm, schon gar keine der Kriegsgegner, obwohl das die Nazis sofort behauptet haben. Er hat aus eigener Einsicht gehandelt, getragen, so könnte ich auch sagen, von einem souveränen Glauben, vom Vertrauen in die Rechtfertigung seines zugleich Schuld auf sich ladenden Handelns. Er hat das durch Hitler und seine Gangster-Bande vor aller Augen verübte Unrecht erkannt und sich deshalb zum Attentat entschlossen, wäre dieses gelungen, es hätte möglicherweise der Holocaust so nicht stattgefunden und der Krieg wäre früher zu Ende gewesen.

Wir wissen das nicht. Aber Menschen wie Georg Elsner oder Dietrich Bonhoeffer zeigen unmissverständlich, dass verantwortliches Handeln aus eigener Einsicht in seine Notwendigkeit möglich ist, wobei wir von Bonhoeffer genau wissen, wie sehr er auch theologisch um die Rechtfertigung, ja, um das göttliche Gebot seines Tuns gerungen hat.

Im November 1939 wusste längst jeder in Deutschland, was mit den Juden geschieht und der verbrecherische Krieg hatte bereits begonnen. Doch zum Widerstand waren nur wenige bereit. Warum? Ich denke, nicht nur deshalb, weil es Mut dazu brauchte, sondern auch, weil es an der Bereitschaft und der Entschlossenheit fehlte, aus eigener Einsicht in das, was Recht ist, zu handeln – und auf die Kraft des Glaubens zu vertrauen.

Ob solche Bereitschaft und Entschlossenheit zu handeln in den politischen, gar gewaltbereiten Widerstand führen muss, ist allerdings eine sehr schwierige Frage. Denn das Widerstandrecht setzt die Aufhebung demokratischer Verfassungszustände voraus. In demokratischen, rechtsstaatlichen Verhältnissen, wie wir sie heute haben, ist die Religion zwar zur öffentlichen Stellungnahme und zur Einmischung in die gesellschaftlichen Belange berechtigt, ja, ich würde sogar sagen, verpflichtet. Es kommt ihr aber nicht zu, die demokratischen Prozesse der Willensbildung, Gesetzgebung und Machtausübung zu umgehen, gar den Einsatz von Gewalt auch nur zu erwägen. In Diktaturen, die das Recht mit Füßen treten und das Leben von Menschen fordern, ist das völlig anders.

Dennoch, auch in demokratischen Verhältnissen geschieht immer wieder so viel Unrecht, das unseren Widerstand herausfordert. Denken wir nur an unser viel zu restriktives Asylrecht, an die vielen Flüchtlinge, die dennoch in unser Land kommen und dann auch hier bei uns wieder um ihr Leben fürchten müssen.

Wir haben uns dieser Tage an die Ermordung des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer vor 70 Jahren erinnert. Haben religiöse Menschen, zumal in den christlichen Traditionen, nicht eigentlich eine besondere Sensibilität für politische und soziale Missstände? Ist die Verteidigung der Menschenrechte für sie genauso wichtig wie das Nachsprechen der uralten Glaubensbekenntnisse?

Die Religion hat viele Gesichter. Das war auch zu Bonhoeffers Zeiten so, als die Mehrheit der Protestanten „Deutsche Christen“ waren und aus deutschnationaler Gesinnung Hitler folgten. Bonhoeffer gehörte zur Bekennenden Kirche. Auch die Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche bedeutete jedoch keineswegs die Bereitschaft zum oder gar die Teilnahme am politischen Widerstand. Vielen in der Bekennenden Kirche ging es lediglich um die Wahrung kirchlicher Selbständigkeitsinteressen. Bonhoeffer war anders. Er schloss sich dem politischen Widerstand an, was ihn dann auch zur Mitbeteiligung an dem Attentat auf Hitler führte.

Es war für ihn durchaus schwierig, diese Entscheidung ethisch zu verantworten. Aber er hat sie getroffen, weil er sich, auch eigene Schuld auf sich ladend, um des allgemeinen Wohls und der Rettung unschuldigen Lebens willen, dazu herausgefordert sah. Sein Widerstand war ihm in einem göttlichen Auftrag begründet. Aber er meinte eben deshalb, die Situation, in der es Widerstand bis hin zum Attentat auf Hitler zu leisten galt, als eine Ausnahmesituation auffassen zu müssen. Dass es eine Ausnahmesituation war, ist für uns heute klar. In der Situation selbst war das keineswegs eindeutig, sondern verlangte ein waches, kritisches politisches Bewusstsein. Ein solches Bewußtsein, das können wir Heutigen immer noch von Bonhoeffer lernen, gehört zur Religion dazu, wenn diese zu einem kritischen, prophetischen Handeln befähigen soll.

In Bonhoeffers Augen fehlte es den Kirchen an politischer Wachsamkeit und öffentlich-gesellschaftlicher Mitverantwortung. Auf die bürgerliche Behäbigkeit der Kirchen zielte ja auch die Religionskritik, die er in seinem Briefen aus dem Gefängnis vorgetragen hat. Seine Religionskritik war Kritik an einer selbstgenügsamen Kirche, die im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt ist, sich um das Seelenheil zu kümmern vorgibt, während sie die zum Himmel schreienden Missstände in Politik und Gesellschaft übersieht, ihre Stimme nicht erhebt, obwohl die Würde von Menschen missachtet und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden..

Mit seinem prophetischen Auftreten ist Bonhoeffer bis heute ein positives Beispiel – auch wenn unser Widerstand gegen eine falsche Politik, sofern wir uns zu diesem aus eigener, freie Einsicht herausgefordert sehen, „durch die Institutionen hindurchgehen“ muss. In einem demokratischen Rechtsstaat ist der politische Widerstand gegen üble Zustände, selbst wenn er sich auf Gottes Willen berufen kann, auf die Schaffung von Mehrheiten und den argumentativ erzeugten Konsens angewiesen.

Offenbar muss die „schweigende Mehrheit“ lernen: Widerstand zu leisten, Nein sagen zum Unrecht, ist eine positive, durchaus auch eine vitale Kraft im Leben. Erschließt sich der Sinn des Lebens und meines Lebens vielleicht erst im Nein? Im Widerstand gegen das Unrecht?

Der Sinn des Lebens erschließt sich mir, wenn ich ganz bei einer Sache bin, wenn ich mich engagiere und das Gefühl gewinne, etwas Wichtiges und Gutes zu tun. Manchmal empfinde ich dieses Gefühl besonders intensiv, wenn ich gegen Widerstände angehen muss, eben weil dies zugleich anstrengend und immer auch gefährlich ist. Besonders, wenn ich mich dabei auf mich allein gestellt finde. Dann gerate ich auch leicht in Unsicherheit: Ist es wirklich richtig, was du da tust? Du könntest ja auch irren. Sehen denn alle anderen gar nicht, dass sie in die falsche Richtung gehen? Oder ist es gerade umgekehrt, dass ich derjenige bin, der sich verirrt hat wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn.

Sich der „schweigenden Mehrheit“ anzuschließen ist in der Regel der bequemere Weg. Aber wachsam zu sein, wo Gefahr droht, gegen Missstände vorzugehen, auch dort, wo ich dadurch in Konflikte mit der herrschenden Meinung oder etablierten Machtstrukturen gerate, macht oft wichtige Veränderungen erst möglich. Nur, ich muss es noch einmal sagen, gerade der Widerstand gegen die massiven Unrechtverhältnisse in unserer Welt kann bei zeichenhaften Handlungen nicht stehen bleiben. Er verlangt den Eintritt in demokratische Prozesse und die Mitarbeit in Institutionen.

Denken wir nur an die nach wie vor Elend, Hunger und Tod verursachenden wirtschaftlichen Verhältnisse der Ungleichheit, wie sie nicht zuletzt durch ein völlig undurchschaubares Finanzsystem gesteigert werden. Das verlangt unseren Widerstand. Aber wenn dieser nicht nur eindrückliche Zeichen setzen will, wie es zuletzt die Occupy-Bewegung getan hat, dann muss versucht werden, auf die Ordnungsstrukturen, die den Weltmarkt regulieren, Einfluss zu nehmen, was wiederum den Aufbau global wirksamer politischer und ökonomischer Institutionen verlangt.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin