Ostern – Karfreitag – Karsamstag: “Der ohnmächtige Gott der Liebe”. Von Prof. Wilhelm Gräb

„Der ohnmächtige Gott der Liebe“

Ostern – Karfreitag – Karsamstag: Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin.

Die Fragen stellte Christian Modehn. Das Interview wurde 2013 veröffentlicht. Wir meinen, es ist nach wie vor wichtig für alle, die nach dem Sinn von Karfreitag, Karsamstag und Ostern fragen. CM am 2. April 2015

Das Osterfest wird in der christlichen Tradition als Ereignis der Auferstehung Jesu begangen. Wie kann die Erfahrung der ersten Christen “Jesus ist lebendig über den Tod hinaus” heute im Blick auf Jesus selbst verstanden werden. Und welche Bedeutung hat dieser Auferstehungsglaube für die religiösen Menschen heute?

Sie formulieren ja selbst schon so, dass das Missverständnis vermieden wird, die Auferstehung Jesus sei ein beobachtbares Faktum gewesen, in dem Sinne, dass der zuvor gekreuzigte Jesus am Ostermorgen seinen Jüngern und Jüngerinnen erschienen und das Grab, in das man den Leichnam gelegt hatte, leer gewesen sei. Es mag sogar alles tatsächlich so gewesen sein wie die neutestamentlichen Texte berichten. Die Behauptung der Tatsächlichkeit des Geschehens sagt aber über dessen religiöse Bedeutung gar nichts aus. Darauf machen die neutestamentlichen Texte selbst aufmerksam, insbesondere Paulus. Das Neue Testament ist im Wesentlichen eine Sammlung von Deutungen des Todes und der Auferstehung Jesu. Nie geben sich die Texte mit der Behauptung des Faktischen zufrieden, immer geht es ihnen um die existentiell-religiöse Bedeutung der Worte und Taten, des Lebens und Sterbens Jesu.

Entscheidend für das Verständnis des Auferstehungsglaubens scheint mir eben diese Unterscheidung zwischen dem Ereignis und seiner Deutung zu sein. Indem Sie, lieber Herr Modehn, davon sprechen, dass es die „Erfahrung der ersten Christen“ war, dass Jesus „über den Tod hinaus lebendig“ sei, nehmen sie diese Unterscheidung ebenfalls vor. Die Überzeugung, die sich den Jüngern und Jüngerinnen Jesu in der Begegnung mit dem irdischen Jesus gebildet hat, war die: Dieser Mensch ist unzertrennbar mit Gott verbunden. Er kann und wird aus dieser Verbundenheit nicht herausfallen. In der Lebensgemeinschaft mit ihm, als die an ihn Glaubenden, kann auch uns nichts von der Liebe Gottes trennen. So die Interpretation des Kreuzes Jesu, explizit durch Paulus: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben… kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8, 38f.)

Der Glaube an die Auferstehung Jesu ist kein Fürwahrhalten eines Wunders, eines Mirakels, also der Wiederbelebung eines Leichnams. Sondern es ist eine persönliche Überzeugung, die ihren biblischen Anhalt an dieser Deutung des Kreuzestodes Jesus hat. Wer zu der Überzeugung kommt, zu der die ersten Jünger und Jüngerinnen und seither viele Christen gefunden haben, dass Jesus lebt, ja, dass er mit seiner Hoffnungsbotschaft in uns selbst lebendig ist, in dem keimt dann möglicherweise auch die Hoffnung auf die eigene Auferstehung. Dann setze ich darauf (was kein Wissen ist und niemals sein kann), dass es nicht unsere menschliche Bestimmung ist, letztlich nur eine „Krankheit zum Tode“ zu sein, sondern Gott uns ewig in seinen „Händen“ hält.

Vor der Auferstehung gedenken Christen am Karfreitag der Kreuzigung und des Todes Jesu. Welchen Sinn hat es heute noch zu sagen: Durch Jesu Blut wurden wir erlöst? Gibt es zugänglichere Aussagen, die andeuten: Dieser Tod hat eine große Bedeutung, weil er auf einen bedeutenden, vielleicht einmaligen Menschen bezogen bleibt?

Die Vorstellung vom erlösenden Opferblut Jesu sollten wir in der Tat ablegen. Sie entspricht auch nicht dem Grundsinn der Deutung des Todes Jesu, die das Neue Testament gibt. Dieser geht selbst dort, wo die Opfervorstellung angesprochen wird, dahin, in Jesu Gang ans Kreuz das Ende aller Opfer zu sehen. Jesus wurde ja nicht zum Opfer gemacht, sondern er hat sein Leben gegeben, sein Leben zum Einsatz gebracht – damit alle, die darauf schauen, das ewige Leben haben.

Diese Bedeutung des Todes Jesu geht aus seinem Leben hervor. Mit seinem Leben hat Jesus gezeigt, was unbedingt wichtig ist und dieser Welt eine gute Zukunft eröffnet: Dass dies die Gottes- und Nächstenliebe ist, dass nur die Liebe zählt, die vorbehaltlose Verbundenheit mit Gott und der Menschen untereinander – unbedingt und radikal, über alles uns Trennende hinweg, unabhängig von unseren religiösen, nationalen, kulturellen Zugehörigkeiten, unserer Hautfarbe und unserem Geschlecht. Diese universale Gottes- und Menschenliebe hat Jesus gelebt. Sie aber vertrug sich nicht mit den Gesetzen und Herrschaftsinteressen in dieser Welt. Sie tut es bis heute nicht. Deshalb musste Jesus sterben. Die Bedeutung seines Todes liegt insofern darin, dass wir die Unbedingtheit seiner liebenden Selbsthingabe erkennen. Sie war für ihn selbst nicht ohne Schmerzen, nicht ohne den tiefsten Schmerz der Gottverlassenheit.

Zwischen Karfreitag und Ostersonntag liegt der “Karsamstag”, ein traditioneller kirchlicher Feiertag, dessen Bedeutung so schwer zu fassen ist. Hegel hat ja in seiner Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie so eine Art Karsamstagsphilosophie angedeutet, indem er auf den alten Liedvers (von 1628) verwies: “O große Not, Gott selbst ist tot”. Ist also der Karsamstag das Fest des – zumindest vorübergehend – toten Gottes?

Blicken wir auf den Menschen Jesus, dann erkennen wir die Bedeutung seines Lebens und seines Sterbens darin, dass er die völlige Verbundenheit mit Gott und der Menschen untereinander gelebt hat, ja, dass er an dieser Verbundenheit festgehalten hat, auch noch als ihn in der Stunde seines Todes das Gefühl überkam, jetzt doch von Gott und aller Welt verlassen zu sein. Gerade im Lichte des Schreis der Gottverlassenheit am Kreuz kann – von Gott aus betrachtet – der Tod des die Einheit mit Gott lebenden Jesus auch als der Tod Gottes gedeutet werden. Das meinte Hegel mit dem „spekulativen Karfreitag“, dass Gott, der das Leben, lebendiger Geist ist, in sein Gegenteil eingeht. Doch nicht um in der bloßen Negativität zu verharren, sondern um sie ihrerseits zu negieren, den Tod in den ihn überwindenden absoluten Geist, in das ewige, alles einigende Leben der Liebe aufzuheben.

So ist Jesus derjenige, der Gott uns als den bekannt gemacht hat, der mit hineingeht in unsere menschliche Situation, auch noch in unser Sterben und unseren Tod, der sogar die Verzweiflung der Gottverlassenheit mit erleidet. Doch nicht, um uns darin allein zu lassen, sondern mit der Hoffnung auf den Sieg der Liebe über den Tod zu erfüllen. Der Gott, der am Kreuz stirbt, ist Gott der Allmächtige. Der Gott, der seit Ostern der Grund unserer Hoffnung ist, ist der ohnmächtige Gott der Liebe, der Gott, der in den Schwachen mächtig ist und den wir in der Kraft eines unwahrscheinlichen Lebensmutes jetzt schon in uns wirksam fühlen. Dieser Gott lässt uns nicht allein, auch wenn wir sterben müssen.

Copyright: Prof. Wihelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gotteslästerung: Sinn und Unsinn, ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Erneut publiziert – angesichts des Films in ARTE am 14. 12. 2016 um 22.05.

Ein Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, Berlin. Die Fragen stellte Christian Modehn.

Wenn man beim Thema „Gotteslästerung“ nur die so genannten christlich geprägten Länder beobachtet: Dann fällt auf, dass in letzter Zeit immer wieder Künstler angeklagt wurden (wie in Moskau beim Pussy Riot – „Prozess“), in ihren Aktionen und künstlerischen Arbeiten „Gott zu lästern“. Warum reagieren vor allem Politiker und Kirchenführer so heftig?

Auffällig ist in der Tat, dass immer wieder Künstler der Vorwurf der Gotteslästerung trifft. Denken wir an Madonnas Video-Clip „Like a Prayer“, die Madonna als Gekreuzigte zeigt, an die Jeans-Werbung von Otto Kern, die das „Abendmahl“ von Leonardo da Vinci persiflierte oder an den Film „Die letzte Versuchung“ von Martin Scorsese, in dem Jesus im Liebesakt mit Maria Magdalena gezeigt wird – immer waren Vertreter der Katholischen Kirche und fundamentalistische Protestanten mit dem Blasphemie-Vorwurf zur Stelle. Die Koalition mit der politischen Macht, die jetzt im „Prozess“ gegen Mitglieder der russischen Rockband „Pussy Riot“ offenkundig wurde, ist in den demokratischen westlichen Gesellschaften so allerdings nicht mehr gegeben – bislang jedenfalls nicht.

Nach der Revision des STGB in den 1960 Jahren ist die „Gotteslästerung“ in der Bundesrepublik Deutschland nur noch strafbar, wenn sie den „öffentlichen Frieden stört“.  Es wäre zutreffender gewesen, hätte man damals den Gotteslästerungsparagraphen ganz aus dem Strafgesetz herausgenommen. In dem Zusammenhang wird deutlich:  Der sog. Gotteslästerungsparagraph, also STGB § 166, aber auch § 167, soll den religiösen Pluralismus gewährleisten, nicht aber die freie und kritische Äußerung in Religionsangelegenheiten einschränken. Es sei daran erinnert, dass es gerade protestantische Kirchenführer wie der Präses der Rheinischen Kirche, Joachim Beckmann (1901 – 1987), waren, die anlässlich der Strafrechtsreform in der Bundesrepublik in den frühen 1960er Jahre angemahnt hatten, dass der Gotteslästerungs – Paragraph überhaupt nicht mehr in die Verhältnisse einer pluralistischen Gesellschaft passe, weil er politisch dazu missbraucht werden könne, die Meinung Andersdenkender zu unterdrücken. Präses Beckmann war übrigens ein Mann der „Bekennenden Kirche“ im Kampf gegen das Nazi Regime und die „Deutschen Christen“: Es steht, so sagte Beckmann in den 1960 Jahren, der Kirche gut an, „dass sie von sich aus auf einen weitergehenden strafrechtlichen Sonderschutz gegen Religionsdelikte verzichtet und jede auch nur entfernte Erinnerung an eine strafrechtliche Verketzerung Andersdenkender vermeidet“.

In letzter Zeit mehren sich allerdings auch in Deutschland wieder Stimmen, sie kommen vorwiegend  aus dem katholischen Raum, die das Verbot der Gotteslästerung wieder ernster genommen wissen möchten. Gotteslästerung wittern sie dort, wo christliche Symbole in die Regie freier, kritischer, auch vor der Persiflage nicht zurückschreckender Darstellung genommen werden – also insbesondere in der Bildenden Kunst, in der Literatur, im Film, im freien Journalismus, in der Popmusik. Der renommierte katholische Schriftsteller Martin Mosebach oder auch der katholische Philosoph Robert Spaemann haben sich diesbezüglich zuletzt besonders hervorgetan. Sie meinen daran erinnern zu müssen, dass der Gottesbezug in unserer Verfassung stehe und fordern, da der die Wertgrundlagen der Gesellschaft garantierende Gott nur der christliche Gott sein könne, den politisch und rechtlich sanktionierten Schutz des christlichen Gottes. Es sei, so meinen sie, nicht länger zu ertragen, dass die Muslime ein Anrecht auf den Schutz ihrer religiösen  Gefühle geltend machen könnten, Christen hingegen sich jede öffentliche Schmähung ihres Gottes gefallen lassen müssten. Weiterlesen ⇘

Die erlösende Kraft von Weihnachten. Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Weiter Denken: Drei Fragen an Wilhelm Gräb:

Die erlösende Kraft von Weihnachten

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Jesus Christus wird zu Weihnachten in vielen Liedern und Gebeten als der Erlöser gepriesen. Was bedeutet das, Jesus Christus Erlöser zu nennen?

Ich muss gestehen, dass ich mir die ungeheure, weit über die Kirche und die Gemeinde der Frommen hinausreichende Leuchtkraft von Weihnachten gar nicht anders als aus seiner erlösenden Wirksamkeit verständlich machen kann.

Die Botschaft des Engels an die Hirten, die auf den Feldern rings um Bethlehem ihre Herden hüteten, wollte und konnte eine große Freude auslösen: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Retter (griechisch: Sotèr, von Luther mit „Heiland“ übersetzt) geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ (Lukas 2, 10f.) Darauf geht zurück, dass an Weihnachten Jesus Christus als der Erlöser „gepriesen“ wird, wie Sie sagen. Und es ist doch auch so, mir jedenfalls geht es so, wenn ich im Gottesdienst an Heilig Abend diese Engelsbotschaft höre, dann spüre ich tatsächliche eine Freude in mir aufkommen. So ganz erklären kann ich mir das nicht, aber eine unwahrscheinliche Wärme breitet sich aus und umhüllt mich.

Allerdings, Sie haben dennoch recht, ich habe die allergrößten Schwierigkeiten, zu verstehen, was damit eigentlich gemeint sein könnte, dass Jesus Christus unser Erlöser ist. Dann jedenfalls, wenn mit dem Erlösungsgeschehen dieses heilsgeschichtliche Drama gemeint sein sollte, die Intervention eines Gottes, der, durch die Sendung seines geliebten Sohnes, die in ihrem verkehrten Wesen gefangene Menschheit vor den ewigen Sündenstrafen errettet.

Mit diesen messianischen Vorstellungen und dem ganzen mythologischen Szenarium, die hinter dieser Vorstellung von Christus als dem Erlöser stecken, komme ich nicht zurecht. Und eben auch nicht mit der Behauptung einer exklusiven, mit Geburt und Tod Jesu Christi verbundenen Heilstatsache. Was geht mich diese an? Warum sollte dieses Ereignis, wenn es denn eines war, für mich geschehen sein? Das verstehe ich nicht. Auch, weil ich mit der Vorstellung einer Heilsgeschichte überhaupt, einer Geschichte, die der wirklichen Geschichte parallel laufen, aber nur dem gläubigen Auge sichtbar sein soll, nichts anfangen kann. Für mich gibt es nur die eine wirkliche Geschichte, mit ihren vielen großen und kleinen, schönen und schrecklichen Geschichten, mit der Geschichte auch, in der damals, so erinnert sie das Lukas-Evangelium, die Hirten jene Engelsstimme hörten, die ihnen das Zeichen von der Geburt des Erlösers gab.

Diese schöne Geschichte erzählt der Evangelist Lukas. Aber Lukas erzählt diese Geschichte so, dass sie von jeder Gegenwart gehört werden kann als würde sie gerade jetzt geschehen: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Euch – Heute! Nicht damals, nicht nur der Maria und dem Joseph, nicht nur den Hirten und schon gar nicht allein vor 2000 Jahren. Nein, Euch, also mir und dir, heute, gerade jetzt, jetzt da ihr von der großen Freude über die Geburt des göttlichen Kindes hört.

Klug, wie der Engel war, fährt er fort: „Und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“ Ein Zeichen ist die Geburt dieses göttlichen Kindes. Ein Zeichen für die göttliche Lebenskraft in euch allen. Seht selbst, ihr erlebt es doch, mit jedem Atemzug, das Wunder des Lebens. Ihr seht, was euer Leben reich macht. Es ist die Liebe, die ihr erfahrt und anderen geben könnt. Es ist die Fürsorge, mit der ihr einander helfen könnt. Es ist der Sinn, der euch in eurem Handeln trägt. Es sind der Mut und die Hoffnung, mit denen ihr, täglich neu, an eure kleinen und großen Aufgaben geht.

In allem, was euer Leben reich macht, ist Gottes Liebe wirksam, heute und alle Tage. Dass das so ist, dafür ist dieses göttliche Kind das Zeichen, für die unscheinbare und doch so überwältigende, uns ins Lebens bringende und im Leben erhaltende Gegenwart Gottes.

Das Kind in der Krippe ist dafür ein Zeichen bloß, aber was heißt schon, ein Zeichen bloß – dann vor allem, wenn zugleich wir die Botschaft des Engels von der großen Freude hören, die, folgen wir nur diesem Zeichen, unser Herz erfüllen wird. Denn dann kommen wir zur Krippe und stehen vor dem Kind, das der Welt ihren Glanz zurückgibt. Von dem göttlichen Kind strahlt die Weihnachtsfreude aus, alle Jahre wieder. Denn es ist das Zeichen für die Unendlichkeit der göttlichen Liebe. Weil von ihr im Anblick des göttlichen Kindes – ja, vielleicht müssen wir sogar sagen, jedes neugeborenen Kindes – eine Ahnung aufkommt, deshalb können sich alle, auch die, die mühselig und beladen sind, im Anblick des neugeborenen Kindes frischen Lebensmut gewinnen, an allen Tagen des Jahres, und seien sie noch so dunkel

2. Jesus Christus wird zu Weihnachten der Retter genannt. Wie kann eine ferne Gestalt, gestorben vor 2000 Jahren, Retter sein? Sollten wir nicht Neues sagen und betonen: Wir Menschen heute sollen einander zu Rettern werden?

Wirklich und wirksam wird die Gegenwart Gottes immer nur in der eigenen Seele. Ein vergangenes Heilsgeschehen hilft mir in der Tat gar nichts. Die religiöse Bedeutung der Weihnachtsbotschaft erschließt sich in unserem Innern. Eine jede Zeit und jeder Mensch können mit ihr gleichzeitig werden. Dann, wenn wir die tiefe Kluft zwischen Jesus und uns überwinden. Dann bringt uns die Erzählung von der Geburt des Retters eine Wahrheit nahe, die im Grunde allen Menschen gilt. „Frieden auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen“, so endet die Botschaft des Engels an die Hirten. (Lk 2,14)

Das Zeichen, das auf das göttliche Kind im Stall von Bethlehem zeigt, verweist auf etwas, das für alle Menschen ein Grund zur Freude ist. Nicht nur das Jesuskind ist aus Gott geboren. Alle Menschen können und sollen erkennen, dass sie aus Gott geboren, göttlichen Ursprungs sind, mit göttlicher Lebenskraft begabt, zur Gestaltung einer Welt berufen wie Gott sie schon mit dem ersten Schöpfungstage gemeint hat: Eine Welt, die für alle die Fülle des Lebens bereit hält, in der alle als Gottes Kinder in der einen Menschheitsfamilie friedlich zusammenleben.

Das erscheint uns als eine allzu verwegene Hoffnung. Sie aber hatte der Engel über den Fluren Bethlehems im Sinn, als er das Versprechen des Friedens auf Erden und eines Wohlgefallens für alle Menschen gab. In der universellen Bedeutung des Zeichens, das auf das Kind in der Krippe zeigt, liegt dessen rettende und erlösende Kraft. Kein anderer hat das so gut zum Ausdruck gebracht wie Paul Gerhardt in seinem Lied, das uns, indem wir es mitsingen, selbst vor die Krippe treten lässt. Dabei geschieht die mystische Verschmelzung zwischen uns und dem göttlichen Kind, gipfelnd darin, dass ich selbst zur Krippe werde, in der Gott rettend, d.h. uns Menschen mit der Welt und untereinander, ja, mit allen Kreaturen in Frieden verbindend, zur Welt kommt: „So lass mich doch dein Kripplein sein, komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Weihnachten lebt nicht aus der Erinnerung an ein vermeintliches Heilsgeschehen, das sich vor 2000 Jahren ereignet haben soll. Solche Zeitrechnungen kennt die Religion gar nicht. Die Religion lebt von mythischen Bildern und deutungskräftigen Zeichen, die, wenn sie wahr sind, uns ganz gegenwärtig zur tieferen Verständigung über unser merkwürdiges Dasein führen. Wenn sie wahr sind, d.h. die Wirklichkeit erschließen, dann sind sie in jedem Heute wahr. Das Kind in der Krippe, auf das der Weihnachtsengel zeigt, ist ein solches deutungskräftiges Zeichen für Gottes unendliche Liebe zu seiner Schöpfung. Es zeigt darauf, dass alle Menschen Geschwister in der einen großen Menschheitsfamilie sind, geliebte Gotteskinder – aufeinander angewiesen, trotz aller Gegensätze und tödlichen Streits, zutiefst doch miteinander verbunden – in dem Gott, der die Welt und uns mit ihr in seinen Händen hält.

3. Jesus von Nazareth wurde, so der Mythos, offenbar in einem armen Stall geboren. Wenn man an diesem Bild festhält: Ist da nicht ein Wink, ein Hinweis, der ersten Christen: Nicht in der Idylle ist der Gottmensch zu suchen, sondern in der Armut? Ist das nicht ein Fingerzeig, dass der –engagierte- Blick der religiösen Menschen auch in die Hässlichkeit, in den Stall, die Obdachlosigkeit, ja auch zu den Tieren, gehen sollte? Ist in diesem Milieu nicht das Göttliche auch zu suchen?

Das Kind in der Krippe ist uns das unübersehbare Zeichen, dass Gott, der Grund und Sinn alles Seins, nicht droben über den Wolken und schon gar nicht jenseits der Welt zu finden ist, sondern mitten in ihr, ganz unten zudem, bei denen, die mühselig und beladen sind. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören die Flüchtlinge aus unseren Tagen, die Menschen, die wegen Krieg, Naturkatastrophen und Hunger ihre Heimat verlassen müssen. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören die Obdachlosen und Armen, jede bedrängte, leidende, gequälte Kreatur. Zu den Mühseligen und Beladenen gehören letztlich wir alle, die wir sterben müssen.

Doch nun ist über allen das Zeichen aufgerichtet, das auf das göttliche Kind zeigt: Dass alle Menschen, dem Augenschein und der Erfahrung zum Trotz, Gottes geliebte Kinder sind, dazu bestimmt, an der Fülle teilzuhaben. Alle sollen im Anblick dieses Kindes das Gefühl bekommen können, mit Wohlwollen beachtet, in ihrem Lebensrecht anerkannt, geliebt zu sein.

Damit das geschieht, und die Freude am Leben nicht erlischt, wird gerade in der Weihnachtszeit viel unternommen, nicht zuletzt mit Suppenküchen und Spendenaktionen. Zudem, in schönen Weihnachtsgottesdiensten kann es geschehen, dass wir spüren, wie der Glanz zurückkehrt in die Welt. Die meisten Weihnachtslieder sind Freudenlieder. Sie können uns mitreißen, Mut machen und neue Kraft zum Leben geben.

Copyright: Professor Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

A-theistisch an Gott glauben. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

A-theistisch an Gott glauben

3 Fragen an Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

So sehr auch die Freude bestimmend ist über den Fall der Mauer vor 25 Jahren: Kritische Fragen bleiben, wenn man nur die religiöse „Szene“ in Ost- und West-Berlin sowie in den alten und neuen Bundesländern anschaut. D.h.: Es gibt nach wie vor eine „Mauer“, die die Kommunikation stark einschränkt: Es gibt zu wenig Austausch zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen. Was behindert die Suche nach Gemeinsamen, Verbindenden, zwischen so genannten Atheisten und Menschen, die sich christlich bzw. kirchlich nennen?

Der Fall der Mauer vor 25 Jahren hat ohne Zweifel zu einer starken Polarisierung zwischen „Religiösen“ und „Nicht-Religiösen“, „Gläubigen“ und „Ungläubigen“ geführt. Das wiedervereinigte Deutschland sah sich plötzlich mit einem konfessorischen, also „bekenntnismäßigen“ Atheismus und einer weltanschaulich programmatischen Abgrenzung von der Religion konfrontiert. Das führte zur Stärkung fundamentalistischer Kräfte auf beiden Seiten, bei den „Kirchenverbundenen“ wie den „Konfessionslosen“. Dogmatische Verhärtungen sowohl im Verständnis des Glaubens wie des Atheismus bestimmten in den letzten 25 Jahren mehr und mehr das kirchliche und gesellschaftliche Klima. Abgrenzungsbestrebungen sind auf beiden Seiten sehr viel stärker geworden als Versuche, ins Gespräch darüber zu kommen, ob es nicht auch viel Verbindendes und Gemeinsames gibt. Solange der „konfessorische Dogmatismus“ der Glaubensgrundsätze, sei es, dass sie sich für oder gegen Gott aussprechen, nicht überwunden wird, dürfte die Verständigung zwischen den beiden Lagern auch nicht vorankommen. Eine Annäherung kann m.E. nur dann erfolgen, wenn wir es lernen, kritisch-reflexiv uns zu unseren religiös oder a-religiös formulierten Weltanschauungspositionen zu verhalten. Und dabei zu fragen: Worum geht es eigentlich? Welche Werte sind uns wichtig? Was ist unsere Antwort, wenn es um mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden in unserer Gesellschaft und in der zerrissenen Welt geht. Möglicherweise kommt, sobald wir über diese Fragen ins Gespräch kommen, heraus, dass es Grenzen gibt, die quer zu den Lagern von Religiösen und Nicht-Religiösen, Frommen und Atheisten verlaufen. Vielleicht breitet sich dann die Einsicht aus, dass es mit dem, woran wir glauben, sei dies ein Gott oder irgendetwas anderes, letztlich immer um unsere je eigene Antwort auf diese beiden Existenzfragen geht: Was hält uns am Leben und wie wollen wir leben?

Vielleicht wäre die Geburt eines neuen Christentums erforderlich mit weniger Macht und weniger dogmatischer Rechthaberei („kenosis“ sagt Paulus). Vielleicht sollte ein „Christentum ohne Mauern“ entstehen, in dem der Mensch mehr zählt als die Lehre. Wenn das so ist, was wären die Bedingungen der Möglichkeit für ein solches Christentum ohne Mauern?

Dieses Christentum, das ein Christentum wahrer Menschlichkeit wäre, ist hier in Berlin schon während der Aufklärung entwickelt worden. Noch vor Schleiermachers berühmten „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ (1799), war es der einflussreiche Prediger an St. Nikolai, Johann Joachim Spalding (1714-1804), der das Christentum als eine Religion der Humanität verständlich machen wollte. (Wir feiern in diesen Tagen seinen 300-jährigen Geburtstag)

Spalding entwickelte, ganz im Geist der Aufklärung, eine anthropologische Begründung der Religion. Seine 1797 veröffentliche Religionsschrift trug den – für meinen Geschmack – bis heute attraktiven Titel: „Religion, eine Angelegenheit des Menschen”. Darin wies Spalding darauf hin, dass die Religion etwas jeden Menschen Angehendes ist. Wenn von Religion die Rede ist, so Spalding, sollten wir nicht gleich an die Nötigung denken, die Existenz eines Gottes glauben zu müssen. Wir sollten uns vielmehr auf das angesprochen finden, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.” In der Religion, so wäre heute im Anschluss an Spalding zu sagen, geht es um den Sinn, der unser Leben trägt, um die Klarheit hinsichtlich dessen, was wir zu wissen glauben und warum wir uns unser Engagement für das allgemeine Wohl angelegentlich sein lassen.

Fast noch interessanter ist allein schon wiederum der Titel der Erstlingsschrift Spaldings, 1748 erschienen, danach unzählige Auflagen erreichend: „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen”. Das war damals für einen Prediger der Kirche geradezu revolutionär und ist dies eigentlich bis heute. Nicht die biblischen und kirchlichen Sätze des christlichen Glaubens legte der junge Theologe Spalding in seiner Dissertation aus. Ihm ging es darum, wie sich einem Menschen die Bestimmung seines Lebens klärt: Wozu bin ich auf dieser Welt? Was verschafft mir das Gefühl, nicht vergeblich zu leben? Diese Fragen wurden ihm zu den zentralen Fragen der Religion. Von daher wollte er den Glauben an Gott als etwas aufgefasst wissen, wozu eigentlich jeder finden kann, der nur genügend Achtung vor dem Wert des Lebens entwickelt.

Spaldings Schrift über „die Bestimmung des Menschen“ kann man als das eigentliche Gründungsdokument der theologischen Aufklärung bezeichnen. Mit ihr hat der dennoch bis zum Ende seines Lebens im kirchlichen Amt stehende Spalding nicht nur die anthropologische Wende in der Theologie eingeleitet, er hat zugleich diejenigen Gesichtspunkte artikuliert, mit denen das aufgeklärte Christentum sich endlich für die Anerkenntnis der unantastbare Würde jedes Menschen und dessen unveräußerlichen Rechte stark zu machen bestrebt sein sollte. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seines unendlichen Wertes gewiss macht, wollte er zur wichtigsten Frage für Theologie und Kirche machen.

Das aufgeklärte Humanitätspathos, so Spaldings bis heute beachtliches Statement, führt allererst zu einem angemessenen Verständnis von der christlichen Religion und von dem Gott, zu dem die christliche Religion die Beziehung herstellt.

An den Berliner Theologen Spalding und seinen Schüler Schleiermacher, den Mitbegründer der Berliner Universität und ersten Dekan ihrer Theologischen Fakultät, könnten wir heute wieder anschließen, wenn es uns ernst ist damit, ein „Christentum ohne Mauern“ zu leben. Es wäre dies ein undogmatisches Christentum, das, von dem Jesus der Feindes- und Nächstenliebe herkommend, dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft – dadurch, dass es ihn seinen letzten Halt und gewissen Grund in dem Gott, der die Liebe ist, finden lässt, dann auch das ermutigende und hoffnungsstarke Gefühl der Bedeutung eines tätigen Lebens für diese Welt weckt und erhält.

Sollten explizit liberal-theologisch Interessierte in Modellen zeigen, wie ein Christentum ohne Mauern Gestalt wird, etwa in offenen Foren einer Art Agora, in der alle, auch Atheisten, Skeptiker, Agnostiker und Mitglieder anderer Religionen willkommen sind. Um nichts anderes zu tun, als gemeinsam Leben zu lernen? In London ist ja sehr erfolgreich die eher atheistisch orientierte „School of Life“. Wäre School of Life nicht auch der treffende Titel für eine „moderne“ Gemeinde heute?

Darauf käme es in der Tat an, dass wir zeigen, wie es zu einem fruchtbaren Religionsgespräch kommen könnte. Gerade nicht so, wie es jetzt auch hier in Berlin-Mitte mit diesem „Haus der Religionen“, in dem Juden, Christen und Muslime zusammenfinden sollen, unternommen wird. Da geht man von den Mauern aus, die die Religionen zwischen sich und manchmal noch stärker zur sog. säkularen Welt errichtet haben. Man wird diese Mauern, insbesondere zu den Atheisten, Skeptikern und Agnostikern durch solche Unternehmung wie es ein „Haus der Religionen“ darstellt, nur noch unüberwindlicher werden lassen.  Was man braucht, ist ein „Haus des Lebens“ oder eben eine „Schule des Lebens“. Das wären Orte, an denen eine Verständigung darüber gesucht wird, ob es nicht Werte gibt und ob es nicht einen Sinn gibt, an die Menschen, die guten Willen sind, „glauben“, an denen sie sich orientieren, auf die sie sich verlassen, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie sich zu einer der großen Religionen bekennen oder allen vorgegebenen Glaubenspostionen skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen.

Roland Dworkin (1931-2013), der amerikanische Rechtsphilosoph hat kurz vor seinem Tod ein Buch veröffentlich, das den Titel trägt „Religion ohne Gott“. Es zielt in die auch hier vorgeschlagene Richtung. Das Motto seines Buches, in der er zeigen möchte, dass die geläufige Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen viel zu grob ist, lautet: „Weil wir sterblich sind, glauben wir, dass es einen Unterscheid macht, wie wir leben.“

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Gebet und Gedenken. Individuelle Arbeit am Sinn der Geschichte. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

WEITER DENKEN: 3 Fragen an Wilhelm Gräb:

Gebet und Gedenken – Individuelle Arbeit am Sinn der Geschichte

Beten als eine Form religiöser Poesie wird von kulturell interessierten Menschen längst nicht mehr leichtfertig beiseite geschoben. Wenn das Sich Aussagen des eigenen Lebens vor dem Unendlichen gelingt, kommt auch die Sinndimension hinein, das Bewegtsein von der Frage: Was ist der Sinn meines Lebens? Was trägt mich? Was bewahrt mich vor Verzweiflung und resigniertem Abstandnehmen von dieser Welt, in der heute offensichtlich so unglaublich viel Unsinn besteht?

Wer betet, wird sich seiner selbst in der Zugehörigkeit zur Welt gesteigert bewusst – nimmt nicht gedankenlos hin, dass er das Leben hat und alles was er zum Leben braucht, bleibt nicht gleichgültig, wenn anderen oder auch ihm selbst Entscheidendes zum Leben fehlt. Wer betet, dankt für das Glückende, klagt an, wenn ihm und anderen elementare Lebenschancen verweigert werden. Wer betet, resigniert nicht vor dem Elend der Flüchtlinge, der ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der rücksichtslosen Gewalt und Arroganz der Mächtigen. Er hält Ausschau nach dem, was Hilfe bringt – wagt es vor allem, seine Anklagen und Bitten vernehmlich vorzubringen.

Wer betet, richtet seinen Dank, seine Anklage, seine Bitte an Gott – recht verstanden aber nicht an einen Gott der außerhalb oder über der Welt ist. Was und wie könnte ein solcher Gott außerhalb oder über der Welt uns in der Welt helfen?

Gott ist in der Welt, wenn er denn der Grund von allem Sein und Sinn ist. Der uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis gründende, des Sinns welthaften Daseins uns vergewissernde Gott ist bei uns und geht mit uns, in allem was wir denken und tun. Weil er in der Welt ist, fühlen wir seine Gegenwart, gerade dann, wenn wir bewusst Anteil nehmen an dem, was mit uns und unserem Dasein in dieser Welt geschieht, was uns ängstigt und Sorge bereitet, mit Freude erfüllt und zur Hoffnung ermutigt.

Wer betet, gewinnt deshalb aber auch zusätzliche Kraft, am Sinn seines Tuns und Vorhabens festzuhalten, auch wenn ihm viel Sinnloses entgegensteht und die eigenen Anstrengungen aussichtslos erscheinen. Wer betet, richtet sich gerade in den Sinnabgründen an Gott – den unverlierbaren Sinngrund der Welt und des eigenen Daseins in ihr. Wer betet, nennt die Missstände beim Namen, schonungslos – weil er die Welt, weil er keinen und keine je ganz verloren gibt.

Es gibt kein größeres Missverständnis des Gebets als die Vorstellung, Betende würde sich an einen Gott außerhalb bzw. über der Welt wenden, darum bittend, dass er doch in diese Welt eingreifen und in ihr etwas zu deren und dem eigenen Wohl tun möge. Diesen Gott außerhalb bzw. über der Welt gibt es nicht. Es gibt aber den Gott, der die Welt als Ganze in seinen Händen hält. Diesen Gott finden wir und zu diesem Gott beten wir, wenn wir – von uns selbst und der Sinngewissheit unsers Daseins ausgehend – den Sinngrund benennen, der uns trägt und zum Widerstand ermutigt, wenn wir mit dem Sinnlosen und Absurden konfrontiert sind.

Wo wir uns der Verantwortung für uns selbst, für das Wohl anderer, für eine verbesserliche Welt bewusst werden, dort macht dieser göttliche Sinngrund sich in unserem Selbstgefühl bemerkbar – ob wir nun ausdrücklich in die Haltung und Poesie des Gebets finden oder nicht. Der Gott, der der Grund unsers Daseinssinns ist, zeigt sich im weltlich grundlosen Gefühl eines unerschöpflichen Lebensmutes. Ob wir uns in der Sprache des Gebets oder in meditativer Selbstbesinnung zu diesem Sinngrund (ihn als Person imaginierend oder nicht) verhalten, es wird uns bewusst, wem wir uns verdanken, was uns einen unbedingt verlässlichen Halt gibt und wozu es unseren Einsatz hier und jetzt in der Welt braucht.

Nun haben Sie in Ihrem Vortrag auf dem „Europäischen Kongress für Theologie“ im September 2014 in Berlin ( Thema: Geschichte und Gott) darauf hingewiesen, dass Beten keineswegs nur die individuellen Lebensfragen thematisiert und dadurch deutlicher bewusst macht. Beten ist auch „Arbeit“ als Suche nach dem Sinn der Geschichte. Was meinen Sie mit diesem weit ausgreifenden Thema „Sinn der Geschichte“?

Statt „Geschichte“ können wir, wie ich das in meiner Antwort auf die vorige Frage getan habe, auch „Welt“ sagen. Wir sind als Individuen immer zugleich in eine Welt einbezogen. Nur in Bezug auf sie werden wir überhaupt dessen bewusst, dass wir unser Leben zielorientiert führen. Nur in Bezug auf eine Welt, zu der wir gehören und die uns vor Aufgaben stellt, entstehen uns mit den individuellen Lebensfragen auch die Probleme, die uns in Politik und Gesellschaft herausfordern.

Die Welt, zu der wir gehören und die uns permanent vor Aufgaben und Herausforderungen stellt, ist die wirkliche Welt. Die wirkliche Welt aber ist die geschichtliche Welt, die Welt der großen und kleinen Geschichten, der Völkergeschichten, der Kriegs-und Friedensgeschichten, der Gesellschaftsgeschichten und der unendlich vielen Lebensgeschichten. Die Welt, zu der wir gehören und mit Bezug auf die wir überhaupt nur uns unseres individuellen Daseins und seines Sinns bewusst werden können, wird nur als Geschichte und in Geschichten für uns konkret. Umgekehrt muss man aber auch sagen, es gibt keinen Sinn der Geschichte unabhängig davon, dass eben wir es sind, die sich mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte des Sinnes unseres eigenen individuellen Daseins zu vergewissern suchen.

Der Sinn der Geschichte, der großen Geschichte, der politischen Geschichte, der Weltgeschichte, wie auch der individuellen Lebensgeschichten ist nie eine absolute Größe. Dort, wo der Sinn der Geschichte als eine solche absolute Größe behauptet wird, begegnen wir den gewaltsamen Ideologien, müssen wir an Volksbewegungen und ihre Führer denken, die sich, den Gebetsruf „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern, zu Vollstreckern dieses angeblich objektiven Sinns der Geschichte gemacht haben und immer wieder machen (denken wir an die selbsternannten „Gotteskrieger“ von heute) – und dabei über Leichen gehen.

Von einem „Sinn der Geschichte“ zu reden, ist hochgefährlich. Wir können im Grunde nur vom Sinn der Geschichte reden, wenn wir dabei von uns selbst ausgehen, von der unser Denken und Handeln tragenden Sinngewissheit und damit unserer je eigenen Verantwortung für den guten Fortgang aller Dinge. Das genau geschieht aber auch, wenn wir beten. Wir danken Gott für unser Leben, wir klagen ihm unser Leid angesichts alles dessen, was in dieser Welt fehlt zum Gelingen. Wir bitten Gott um die Kraft, bessern zu können, was dem Wohl des Ganzen dient wie auch hinnehmen zu können, was sich offensichtlich nicht mehr ändern lässt.

Im Gebet identifizieren wir nicht unsere immer partikularen Interessen und Zwecke mit einem ‚objektiven‘ Sinn des Ganzen. Wir versuchen auch nicht, Gott unserem Willen gefügig zu machen. Im Gegenteil, wir überlassen uns und alle Welt Gottes unerforschlichem Ratschluss. Dergleichen sieht dann zwar wiederum nach demütiger Unterwerfung unter eine göttliche Schicksalsmacht aus. Das ist es aber nicht, wenn wir Gott, von uns selbst ausgehend, als den unser Sinnbewusstsein und damit unsern Lebensmut gründenden Sinn des Ganzen der Geschichte denken. Dann wird uns das Beten, mit dem wir uns unter Gottes Willen beugen, zur Stärkung unserer Lebenssinngewissheit, damit dann aber auch zur Befähigung, selber zu denken und eigenverantwortlich zu handeln.

Wenn wir uns in der religiösen Poesie, Gebet genannt, des Lebenssinns im Ganzen versichern können, was muss geschehen, dass dies auch praktisch gelingen kann? Sind die Kirchen Orte solcher Praxis? Können sie das noch sein? Oder sollte die Form des Betens nicht auch in der kulturellen Szene außerhalb der Kirchen präsent werden?

Wenn wir das Beten als selbstbewusste Reflexion auf den Sinn des Ganzen verstehen, wird überall gebetet, wo Menschen sich darauf besinnen, was mit ihrem Leben und der Welt, in der sie es verantwortlich zu führen haben, der Fall ist. Beten ist kein mehr oder weniger frommes Verhalten von Menschen, die, um sich selbst zu entlasten, einen (hoffentlich) wundersam in diese Welt eingreifenden Gott anrufen. Ich bin eher der Meinung, dass ein solches, den Menschen von sich selbst und seiner Weltverantwortung wegführendes Beten eine ebenso gottlose wie selbstvergessene Angelegenheit ist.

Zur zornigen Anklage, zum verzweifelten Schrei um Hilfe, zum Drängen nach Zuwendung käme es nicht, wenn da nicht zugleich ein ungeheurer Wille zum Leben wäre. Immer wenn Menschen, trotz allem, was den Lebensmut rauben und in die Resignation treiben möchte, das Ganze doch nicht verloren geben, beten sie.

Dieses Beten geschieht ständig und überall. Dieses Beten begleitet all unser Denken und Handeln. Das merken wir, sobald wir uns in unserem Engagement, in unserem Sorgen und Planen der abgrundtiefen Abhängigkeit von dem uns dabei tragenden, unser Sinnbewusstsein stabilisierenden göttlichen Sinngrund bewusst werden.

Auf besonders eindrückliche Weise werden wir in solches Beten, das sinnreflexive Selbstthematisierung ist, auf den Theaterbühnen verwickelt, im Kino, in den Kunstateliers und zwischen Bücherdeckeln. Und es geschieht natürlich auch – die, die daran teilnehmen, aktiv einbeziehend – in den Gottesdiensten der Kirchen, ja, gebetet wird im rituellen Zentrum aller Religionen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Leere Kirchen – lebendige Spiritualität. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Leere Kirchen – Lebendige Spiritualität?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Von Christian Modehn

Besonders im Sommer, im Urlaub, besuchen viele Menschen während der Woche Kirchen, leere Kirchen, in denen im Augenblick kein Gottesdienst stattfindet. Viele laufen bloß neugierig herum, etliche, so meine Beobachtung, ruhen sich aus, verweilen, sammeln sich, beten vielleicht auch.

Was macht aus Ihrer Sicht den Charme leerer Kirchen aus? Fördern Sie irgendwie die individuelle Spiritualität, das stille Suchen nach dem eigenen Weg?

Leere Kirchen reduzieren die Nebengeräusche. Es gibt weniger Störungen von außen. Man muss sich vor allem nicht auf ein Geschehen einlassen, das, wie es bei jedem Gottesdienst der Fall ist, besondere Verpflichtungen einschließt. Wird in einer Kirche Gottesdienst gefeiert, dann werde ich konfrontiert, mit liturgischen Formeln, Chorälen, Predigten, gar sakramentalen Handlungen wie dem Abendmahl, der Eucharistie oder der Taufe. Sofort bin ich gezwungen, mich irgendwie zu dem zu verhalten, was da geschieht. Das kann aufregend und anregend sein. Das kann ärgerlich oder langweilig sein. Wie auch immer, ich bin dazu gezwungen, mich mit Zumutungen von außen auseinanderzusetzen. Aber vielleicht wollte ich genau dies nicht, sondern einfach nur die Kirche besichtigen, weil sie kunsthistorisch wertvoll ist, weil sie ein ästhetisch beeindruckendes Raumerlebnis verspricht, vielleicht auch nur, weil es in ihr an heißen Sommertagen so schön kühl ist.

Etwas anderes kommt hinzu, in der Regel ist es eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert. Wenn ich zu dieser Gemeinde nicht gehöre, fühle ich mich fremd, vielleicht sogar als Eindringling in eine vertraute Gemeinschaft. Da will ich nicht stören. In einer leeren Kirche bin ich willkommen, sofern ich mich still und rücksichtsvoll verhalte.

Das Wichtigste scheint mir zu sein: Leere Kirchen lassen sich zum privaten Meditationsraum machen. Wenn es ästhetische ansprechende Räume sind, verbreiten sie eine sakrale Aura. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zur Andacht einlädt. Sie öffnen unser Herz, weiten unseren Verstand, ergreifen uns mit allen unseren Sinnen. Dadurch stimulieren sie unser religiöses Gefühl. Das ist das Gefühl jener Selbstvertrautheit, die all unseren Anstrengungen der Selbstreflexion und Selbstfindung immer schon vorausliegt. In ihm werde ich des Sinnes gewiss, der mein Leben trägt, kann mir die Nähe Gottes aufgehen, bin ich ohne Anstrengung zugleich ganz bei mir. Ich finde mich gleichsam passiv in mich selbst und den mich tragenden göttlichen Grund eingesetzt.

Leere Kirchen aktivieren das religiöse Gefühl. Sie laden ebenso zu dessen reflexiver religiöser Deutung ein. Dann sagen Menschen, dass sie an diesem heiligen Ort sich selbst und Gott gefunden haben. So kann sich gerade in leeren Kirchen ereignen, was schon Augustin in den Confessiones als das Motiv wie als das Ziel der Selbst- und Sinnsuche beschrieb: “Mein Herz ist unruhig, bis dass es Ruhe findet, o Gott, in Dir“.

Viele leere Kirchen, gerade hier in der Mark Brandenburg oder Mecklenburg, sind nur als begehbare Ruinen erhalten, etwa das ehemalige Kloster Chorin. Diese Orte und auch bloß notdürftige reparierte Dorfkirchen finden viel Interesse bei Besuchern. Spüren diese Menschen vielleicht, dass diese Kirchenruinen Symbole sind für untergegangene alte und veraltete Glaubenformen? Sind diese Kirchenruinen ein stiller Hinweis auf den eigenen, zerbrochenen Glauben, der vielleicht nach Neuem Ausschau hält?

Schon der Romantiker Caspar David Friedrich hat am liebsten zerfallende Kirchen gemalt. Heute erst recht sind Kirchen für viele Menschen Denkmäler. Sie steht für die Kultur der Erinnerung an Zentren geistlichen Lebens oder symbolisieren das ideelle Zentrum eines Dorfes. Deshalb kümmern sich in Brandenburgs oder Mecklenburgs Dörfern die Kirchbau- und Kulturvereine um den Erhalt der Kirchen. Sie wollen dort nicht wieder Gottesdienst feiern. Aber das Gebäude ist ihnen wichtig, weil es für den verlorenen Mittelpunkt des Dorfes steht.

Dieses erstaunlich breite Interesse an der Erhaltung alter Dorfkirchen wollen jedoch, ebenso wie die touristische Aufmerksamkeit, die Kirchenruinen finden, das soll noch tiefer verstanden sein. Es geht den Menschen, die diese Kirchen besichtigen und erst recht denen, die sie erhalten, nie nur um das kulturelle Gedächtnis. Für sie spielt, auch wenn sie ansonsten ganz unkirchlich sein mögen, eine enorme Rolle, dass es Kirchen sind, Orte des Glaubens. Diese lassen eine fromme Erinnerung lebendig werden werden: Da muss doch einmal ein Glaube gewesen sein, der den Menschen viel bedeutete, ihnen Halt gab und sie über das Geschäftliche hinaus in einer geistigen Tiefe miteinander verbunden hat!

So wecken die Kirchen, selbst wenn nur noch die Grundmauern stehen, eine heilige Wehmut: Es könnte vielleicht doch sein, dass uns Heutigen etwas fehlt. Das wäre das Zugeständnis einer Sehnsucht nach Religion, nach einem unbedingt verlässlichen Lebensunterhalt, nach einer bergenden Gemeinschaft, nach einem Gott, der die Liebe ist.

In vielen großen Kirchen finden gerade in den Sommermonaten Konzerte statt. Sind diese oft gut besuchten Veranstaltungen „nur“ Kulturveranstaltungen oder haben sie – gerade in diesen Räumen – auch eine spirituelle oder religiöse Dimension? Sind Musikveranstaltungen oder Lesungen oder Ballett in den Kirchengebäuden nicht eigentlich Gottesdienst?

Je deutlicher wir darauf aufmerksam werden, welch enorme Bedeutung das Gefühl in der Religion spielt, desto besser verstehen wir auch die religiöse Tiefendimension, die die Ästhetik der Kirchenbauten und Kirchenräume öffnet. Wir können uns dabei die innere Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung klar machen. Ästhetische Erfahrung, wie wir sie im Hören von Musik oder in der Begegnung mit Werken bildender Kunst machen, ist sinnlich vermittelte Sinnerfahrung. Sinnliche Sinnerfahrung, in der uns die Welt ebenso beglückend wie verstörend entgegenkommt. So macht die Kunst uns auf die Ambivalenz von Sinn aufmerksam. Sie fordert unsere Sinndeutung heraus. Dabei kommt den kirchlichen Räumen eine wichtige Rolle zu. Sie motivieren die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung und ermöglichen den Umgang mit ihren Ambivalenzen.

Die in Kirchenräumen zur Aufführung kommende Kunst schließt das kulturelle Gedächtnis an die religiösen Deutungswelten biblischer Sprache an wie auch an die Ikonographie der christlichen Überlieferungen. Selbst wenn die Kunst den alten Glauben nicht erneuern kann, macht sie doch den spirituellen Sinn für Tiefenschichten bewusst, an dem teilzuhaben die kirchlichen Räume einst Gelegenheit boten.

So halten die alten Kirchen, gerade dann, wenn geistliche Musik in ihnen zur Aufführung kommt, die Ahnung lebendig, dass im Ganzen der Welt ein Sinn ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Käme diese Musik im Konzertsaal zur Aufführung, so würden wir sie dort nicht in der gleichen Weise erleben. Kirchengebäude öffnen Menschen, so säkular sie auch eingestellt sein mögen, für die spirituelle Tiefendimension ihrer Existenz. Besonders wenn die Werke Johann Sebastian Bachs in den alten Kirchen aufgeführt werden, stellt sich das Empfinden ein: Auch wenn wir unser eigenes Leben und schon gar die Welt, zu der wir gehören, nie ganz verstehen, wir können doch nicht in ihr verloren gehen.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 17.August 2014

Das Göttliche, in allen und allem. Zur Gegenwart der Mystik. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

Das Göttliche, in allen und allem
Zur Gegenwart der Mystik

3 Fragen an Wilhelm Gräb im Juli 2014, die Fragen stellte Christian Modehn

1.
Wer von den Veränderungen des religiösen Bewusstseins im heutigen Europa spricht, wird auch – für viele neu – erleben, dass die Mystik wichtige Anregungen bietet für eine Neuorientierung. Unter dem Titel Mystik sind unterschiedliche Texte versammelt; berühmt und (trotz aller Verdächtigungen durch die römische Kirche) immer noch weltweit geschätzt ist der Dominikanermönch Meister Eckart (1260 – 1318). In seinem umfangreichen Werk läuft alles auf die Einsicht hinaus: Jeder Mensch ist mit Gott verbunden. Sogar, wie Eckart radikal formuliert, jeder Mensch ist in gewisser Hinsicht Teil des Göttlichen.
Hat diese Erkenntnis Eckarts auch heute aktuelle Bedeutung für eine neue liberale Theologie und für Menschen, die sich von ihr inspirieren lassen?

Meister Eckhardt bewegte sich zwar in ganz anderen philosophisch-theologischen Denkzusammenhängen als sie der modernen, historisch- und erkenntniskritischen liberalen Theologie eigen sind. Schon Ernst Troeltsch freilich, der Meisterdenker der liberalen Theologie um 1900, hat auf die Nähe der Mystik zu einem modernen, undogmatischen Christentum hingewiesen. Was uns Heutige an der Mystik eines Meister Eckhardt fasziniert, ist in der Tat die Entgrenzung der personalen Gottesvorstellung in die universale Weite der Wirklichkeit des Göttlichen.

Die personale Gottesvorstellung verlangt den Glauben an einen Gott, der ins Weltgeschehen eingreift, anstelle von uns Menschen handelt – und das über unser menschliches Vermögen hinaus. Dieser Gott dient zur Entlastung des Menschen. Er handelt ohne dass wir Menschen handeln, vor allem dann und dort, wo wir mit unseren Möglichkeiten am Ende sind. Der Gott der Mystik hingegen ist über solche Personalisierungen, Verendlichungen und Vergegenständlichungen Gottes hinaus.

Der Gott der Mystik ist die Gottheit bzw. das Göttliche. Die Gottheit bzw. das Göttliche sitzt nicht droben im Himmel. Das Göttliche ist vielmehr die schöpferische Kraft, die uns Menschen die Wirklichkeit erkennen und zielorientiert gestalten lässt. Der Mensch hat das Göttliche bzw. die Gottheit nicht als das andere seiner selbst außer sich. Der Mensch steht der Gottheit auch nicht gegenüber, sondern er hat an ihr teil. Das Göttliche gehört zum Menschen. Es ist die Dimension der Tiefe im Sein des Menschen, dessen wahres Wesen.

Wahre Selbsterkenntnis führt zur Gotteserkenntnis und umgekehrt. Was dem Menschen fehlt, um zur Lebenserfüllung zu finden, ist nichts anders als die Besinnung auf sich selbst und den Ermöglichungsgrund seiner Freiheit. Der Wirklichkeit Gottes begegnet der Mystiker auf dem Grund der eigenen Seele. Er erkennt in ihr den grundlosen Grund seines Grundvertrauens.

Das Göttliche ist im Unterschied zu dem Gott, der droben im Himmel ist, kein Gegenstand des Glaubens. Das Göttliche ist nicht einigen Menschen, den Gläubigen, zugänglich, während es den anderen, den Ungläubigen, prinzipiell verschlossen bliebe. Das Göttliche ist vielmehr dasjenige in uns Menschen, was uns überhaupt fähig macht, der Wirklichkeit wirksam zu begegnen. Als von Gott erfüllte Wesen können wir ganz bei den Dingen dieser Welt sein und in Liebe einander zugewandt. Was jetzt „Glaube“ heißt, ist das Vertrauen in den göttlichen Seins- und Sinngrund allen Lebens. Wer religiös ist, investiert bewusst sein Vertrauen in diesen göttlichen Grund seines Lebensmutes, seiner Daseinszuversicht und seiner Liebesfähigkeit.

Das ist das Moderne an der Grundeinsicht in die Teilhabe der Menschen am göttlichen Lebensprinzip. Sie ermutigt uns dazu, statt von Gott vom Göttlichen zu reden und dieses in der Tiefe einer jeden Menschenseele zu finden. Wer im Menschen, in sich selbst und in anderen den göttlichen Grund alles Seins wie alles Sinns erkennt, der achtet den Wert des Lebens und liebt die Menschen.

2.
Wenn Nähe und Vertrautheit des Menschen mit Gott bzw. dem Göttlichen (Eckart spricht von „Gottheit“) erfahrungsmäßig gegeben sind: Könnte man darin auch den Kern des Glaubens erkennen, also das so viel besprochene „Wesen des Christentums“?

Das Göttliche im Menschen zu erkennen, wird Eckardt vom Gedanken der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus her möglich. Das christologische Dogma hat er so verstanden, dass es die christliche Sicht auf den Menschen nicht nur ausdrückt, sondern auch wirksam einer jeden Gegenwart mitteilt. Eckardt verstand die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gerade nicht exklusiv. Was die Bibel von Jesus Christus sagt, gilt von jedem Menschen. Jeder Mensch ist eins mit Gott, so er nur des göttlichen Grundes seiner Menschlichkeit sich bewusst wird.

Das ist zugleich das am Christentum religiös Wesentliche. Das Christentum hat diesen Blick auf den Menschen, der jedes Individuum in seiner Unverfügbarkeit und Unantastbarkeit sehen lässt, in die Menschengeschichte eingeführt. Die Mystiker praktizieren diese Grundeinsicht des Christentums, die aus dem Gedanken der Menschwerdung Gottes hervorgeht. In der Aufklärung gelangt sie dann mit der Erklärung der unverletzlichen Menschenwürde und den daraus abgeleiteten unverlierbaren Menschenrechten zur Durchsetzung in Gestalt einer universalen Ethik des Humanen. Was es noch braucht und wofür eine heutige liberale Theologie eintritt, das ist die Überführung der Ethik des Humanen in die politische Wirklichkeit. Deshalb auch die Nähe von liberaler Theologie und Befreiungstheologie.

3.
Eckart, der Mystiker, lobt in seiner Predigt über Maria und Martha, also über die fromm – zuhörende und die tätige – hilfsbereite Frau, ausdrücklich die Aktive, also Martha. Eckart sieht in Martha das wichtige Vorbild. Sollten wir dieser Spur folgend auch umdenken und nicht länger Mystik mit frommer Betrachtung verwechseln? Warum ist also der wahre Mystiker – im Sinne Eckarts – der tätige, der engagierte Mensch?

Das war genau der Grund, weshalb Dorothee Sölle, diese große Kämpferin für eine politische Theologie der Befreiung, sich zugleich zur Mystik hingezogen fand. Sie hat immer das Ineinander von Kontemplation und Aktion betont. Die Kontemplation führt in die gesteigerte Bewusstheit für die göttlichen Kraftquellen des Lebens. Sie macht dankbar für das wunderbare Geschenk des Lebens. Sie weckt die Liebe zu allen Geschöpfen. Sie gibt niemanden verloren. Denn sie nährt den Glauben, dass der göttliche Grund allen Seins und allen Sinns wirksam ist in allen und allem.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin