Weiter denken: Wer ist mein Nächster? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin.

Wer ist mein Nächster?

Diese Frage gehört ja auch zentral zur religiösen Tradition des Christentums. Sie setzt offenbar voraus, dass wir im Alltag oft gar nicht wissen und spüren, wer denn mein Nächster ist. Deswegen klingt diese Frage heute beinahe so, wo denn die Fidschi-Inseln liegen? Was verbirgt sich hinter diesem offensichtlichen Zweifeln, wer denn mein Nächster ist?

Wie wir uns im Alltag verhalten, hängt enorm davon ab, wie wir uns selbst im Umgang mit anderen erfahren. Und da scheint es mir doch so zu sein, dass wir uns in erster Linie als Konkurrenten wahrnehmen. Das fängt schon in der Schule an. Erfolgreich müssen wir sein und das heißt, besser als andere. Dann bekommst du die Stelle und nicht der andere, dann machst du das Rennen und nicht die andere, dann gehörst du zu den Siegern und die anderen sind die Verlierer.

Es wird oft gesagt, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei. Doch das stimmt nicht, man sucht sie nur an der falschen Stelle. Sie werden nicht mehr von den Religionen oder den Lebensphilosophien verbreitet, sondern von der Ökonomie. Und die kennt keine Nächsten, sondern nur Wettbewerber um Aufträge und Arbeitsplätze. Und das weltweit. Im Zuge der Globalisierung konkurrieren alle um Aufmerksamkeit und Platzvorteile, Menschen und Staaten, Religionen und  Kulturen.

Wehe, es kommt mir einer zu nahe! Das kann nur gefährlich werden. Dagegen muss ich mich zur Wehr setzen. In der globalen Kapital- und Marktgesellschaft gibt es keine Nächsten, keine solchen jedenfalls, denen ich zutraue, dass sie mir Gutes tun wollen oder mit denen ich zum gemeinsamen Vorteil kooperieren könnte. Allenfalls von oben herab, aus der Position der Stärke, wenn andere mein Mitleid erregen, erinnere ich mich möglicherweise an das ethisch-religiöse Gebot der Nächstenliebe. Aber zur Liebe führt das nicht, allenfalls zur herablassenden Geste eines Almosens.

Kann es ein Gespür für den Nächsten erst dann geben, wenn ich mir selbst nahe bin? Aber wie kann ich mich als „einmaliges Wesen“ lieben lernen?

Dass ich einen anderen Menschen wertschätze, ja, vielleicht sogar ihm gegenüber Liebe und Zuneigung zu empfinde, dahin kommt es nur, wenn ich mich selbst angenommen fühle, akzeptiert, anerkannt als der, der ich bin. Nächstenliebe setzt Selbstliebe voraus, eine Einsicht, die sich der jüdisch-christlichen Religionsüberlieferung verdankt („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ein Wort Jesu, das dieser bereits der hebräischen Bibel entnommen hatte). Selbstliebe, innere Festigkeit macht nicht nur zur Nächstenliebe fähig, sondern verwirklicht sie auch. Denn dann begegne ich dem anderen auf Augenhöhe, als meinem Partner, meiner Partnerin. Dann fällt der Konkurrenzdruck ab. Dann suche ich die Kooperation, den gemeinsamen Vorteil in der Gemeinschaft mit anderen (mein Traum: in der großen Menschengemeinschaft aller Völker, Nationen, Kulturen und Religionen).

Und wie lerne ich mich selbst zu lieben? Indem ich achtsam werde auf die Liebe, die mir seit jeher, mit meinen ersten Atemzügen schon, durch andere zuteil geworden ist und zuteilwird.

Wenn wir nicht gerade als Eremiten leben, sind wir ja ständig und täglich von vielen Menschen umgeben. Wie kann ich unter all den vielen (m)einen Nächsten erleben, ihm nahe kommen?

Diese Frage hat man Jesus schon gestellt: „Wer ist denn nun mein Nächster?“ Daraufhin erzählte Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Der Samariter war der, der im Unterschied zu anderen nicht an dem unter die Räuber Gefallenen vorbeiging, sondern ihm aufhalf. Wer ist mein Nächster? Jesu Antwort: Das liegt nicht objektiv fest. Darüber sind keine allgemeinen Aussagen zu machen. Das entscheidet die Situation. In dieser Geschichte wurde dem unter die Räuber gefallenen derjenige zum Nächsten, der, wie Jesus sagte, „die Barmherzigkeit an ihm tat“.

“Den” Nächsten gibt es nicht. Zum mir Nächsten wird der, dem ich begegne, weil unsere Blicke sich treffen, weil er meine Hilfe braucht, weil wir etwas gemeinsam unternehmen, weil sich durch diese anderen mein eigenes Leben mit Inhalt füllt.

Wir Menschen sind elementar aufeinander angewiesen. Wenn wir das im Umgang miteinander spüren und uns entsprechend verhalten, dann geschieht es bereits, dass wir uns mehr und mehr zu Nächsten werden. Manchmal so sehr, dass wir von Liebe zueinander sprechen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Religion – Eine Angelegenheit des Menschen. Ein Vortrag von Wilhelm Gräb

 

Wilhelm Gräb: Religion – eine Angelegenheit des Menschen

Vortrag auf der internationalen Tagung „Menschsein und Religion. Anthropologische Probleme und Perspektiven der Glaubenskultur des Christentums“ in Wien, 9.4. – 12.4.2014

 1. Von einer aufgeklärten Theologie mit Leidenschaft für den Menschen

Vom Menschen gilt es auszugehen, in aller kirchlichen Praxis. Das ist es, wozu die Kirche da ist, dass die Menschen in eine tiefere Verständigung über sich selbst und die Bestimmung ihres Daseins finden. Dass der Mensch sein Leben in Würde zu führen vermag, dazu braucht er Religion und dazu ist die Kirche da. Das ist keine Entdeckung aufgeschlossener Theologie von heute. Es war bereits das Projekt der Theologie der Aufklärung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, vorangetrieben von Theologen, die zugleich im kirchlichen Beruf standen. Die Erinnerung an die durch die Aufklärungstheologie betriebene Umformung des Christentums zur Humanitätsreligion, die dem Gedanken der unantastbaren Würde des Menschen und sei-ner unveräußerlichen Rechte auch von kirchlicher Seite den Boden bereiten half, soll deshalb in meinem Beitrag den Anfang machen. Eine Theologie und kirchliche Praxis, die heute ihr Bestreben wieder darauf richtet, zur Geltung finden zu lassen, dass der christliche Glaube eine bestimmte Kultur humanen Sich-selbst-Verstehens ermöglicht, kann sich durch Impulse der kirchlichen Aufklärungstheologie dazu anregen lassen.

 

In seiner frühen Schrift „Die Bestimmung des Menschen” (1748)1 ging der Berliner Aufklärungstheologie und Prediger an St. Nikolai Johann Spalding darauf zurück, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt ist und wie er zu leben hat. Der Mensch ist vielmehr dasjenige Wesen, das sich selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen muss. Er ist fähig, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren.

 

Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen nahm die Gestalt einer Selbstbe-trachtung an. In der Achtung vor dem selbst entworfenen Gesetz des guten Lebens ist dessen Sinn und Ziel zu finden. Sie kommt der Achtung vor dem Wert des eigenen, vernünftigen Daseins gleich. Die Bestimmung des Menschen ist ein Leben, das aus der Kraft zur Selbstbe-stimmung geführt wird. Zu ihr fähig zu sein, ermöglicht dann auch die Selbstachtung, somit ein Leben, das im Gefühl der ihm eigenen Würde gelebt werden kann.

 

Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen ist dabei immer mitgegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, so meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.”(2) Menschen zu solcher Selbstüberlegung zu befähigen, das ist jetzt die Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge, nicht ihnen von oben herab zu sagen, was sie zu glauben und wie sie zu leben haben. Schon die kirchlichen Aufklärungstheologen ha-ben das Ende der heteronomen kirchlichen Autoritätskultur ausgerufen.

 

Andere kirchliche Aufklärungstheologen wie Marezoll, Töllner, Teller und Jerusalem teilten Spaldings Auffassungen energisch und unternahmen den groß angelegten Versuch, das Ver-ständnis vom Christentum in eine Religion der freien Einsicht in das Gute umzuformen. Einer Ethik der autonomen Selbstbestimmung sollte ein souveräner Glaube, der als der eigene aus persönlicher Überzeugung vollzogen wird, entsprechen.(3)

Johann Gottlieb Töllner brachte in seinen „theologische(n) Untersuchungen” (4) das neue Ver-ständnis vom humanen Sinn der christlichen Religion auf den Begriff, wenn er eine seiner Abhandlungen unter das Thema stellte: ”Die ganze Religion Dank: und die ganze Religion Vertrauen” (5). Auch Töllner ging es um das Verständnis vom Menschen und die Frage, wie er religiös so anzusprechen ist, dass ihm deutlich wird, es ist die christliche Religion, die der Selbstbestimmung keineswegs entgegensteht, sondern zu ihrer Wahrnehmung befähigt. Deshalb richtete Töllner sich gegen die Lehre der lutherischen Orthodoxie, wonach der Mensch von Natur aus böse ist, ein verlorener Sünder, dem mit der Predigt des Gesetzes ein heiliger Schrecken einzujagen sei, auf dass er mit der Botschaft von Gottes gnädiger Vergebung wieder erhoben werden kann. Nein, sagte Töllner, „ich glaube klar zu sehen, daß dieses gar nicht die wahre Methode sey, deren sich ein Seelsorger zu bedienen hat: und daß sein ganzes Be-mühen dahin gerichtet seyn muß, Vertrauen zu Gott in seinen Zuhörern aufzurichten, wenn er von dem Wunsche belebt wird, wahrhaftig die Religion in ihnen aufzurichten.” (6) Der rechte Seelsorger vermittelt – wie Töllner weiter ausführte – das Vertrauen auf Gott, indem er zur Einsicht bringt, dass Gott Güte ist und die Menschen liebt. (7) Damit ist die Anerkenntnis ver-bunden, dass der Mensch zwar nicht von Natur aus gut ist, wohl aber von Natur aus fähig zur vernunftbestimmten, freien Einsicht in das, was ihm und seinesgleichen guttut. Ein Gott, der Güte und Liebe ist, lässt dankbar sein für alle guten Gaben, mit denen er die Menschen ge-schaffen hat. Er ist der Grund des Vertrauens auch auf der Menschen Güte. Wer auf des Menschen Güte vertraut, der aber begegnet ihnen nicht mit „Gesetzespredigten”( 8), nicht nach der „gewöhnliche(n) Bekehrungsmethode”, nicht auf dem Wege der Einschüchterung und Anklage, sondern „sogleich” mit „Liebe und Vertrauen” (9). So soll daher der Seelsorger auch vorgehen. Dann lässt er die Menschen erfahren, wie Gott ist. (10)

Auf eine menschenfreundliche Anschauung des Menschen sowie den daraus folgenden anderen Umgangsstil unter den Menschen, wollte Töllner das alte Buß- und Bekehrungschristentum umgeformt wissen. Es sollte wegkommen vom Glauben an die dunkle Macht der natürlichen Sündhaftigkeit des Menschen. Statt die Lehre „Von der Erbsünde” (11) weiterzuverbreiten, sollte das Vertrauen auf die „Güte der menschlichen Natur” (12) treten. Die Menschen in ihrer Selbstgewissheit zu stärken, das sollte die Richtschnur für die aufgeklärte kirchliche Predigt und Seelsorge werden. Die Menschen sollten in der Kirche die Erfahrung machen können, dass sie anerkannt und geliebt sind, solche, die zum Tun des Guten aus eigener Einsicht fähig sind. Gott, so sagten es die Aufklärungstheologen in ihrer Predigt, ist derjenige, der zum Tun des Guten befähigt und die Erwartung künftigen Glücks bekräftigt. Dass dies beides, das Tun des guten wie das zukünftige Glück aus einem vertrauensvollen Gottesverhältnis erwachsen kann, dafür hat Jesus das eindrücklichste Beispiel gegeben.

 

Grundlegend für den Entwurf dieses Humanitätschristentums war ein theologisches Denken vom Menschen her, eine Anthropologie, so könnte man sagen, in theologischer Absicht. Nicht von Gott in seiner biblischen Offenbarung, nicht von der Hl. Schrift als dem alleinigen Prinzip theologischer Erkenntnis gingen die Aufklärungstheologen aus. Sie setzten beim Menschen und seinem Gottesbewusstsein an, wollten zunächst einmal die Religion als eine konstitutive Dimension der humanen Natur verstanden wissen, bevor sie ihr christliches Proprium als die entscheidende Antriebskraft in der Perfektibilität, in der Vervollkommnung des Menschen explizierten.

 

Die anthropologische Begründung der Religion und einer die christliche Religion in ihrer Lebensdienlichkeit explizierenden Theologie hat mit Breitenwirkung vor allem wieder Spalding dargelegt. Zu verweisen ist hier auf die zunächst anonym erschienenen „Vertraute(n) Brie-fe(n), die Religion betreffend” (13), sowie seine Altersschrift „Religion, eine Angelegenheit des Menschen” (14). ”Religion eine Angelegenheit des Menschen”, schon mit diesem Titel seiner Schrift wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas ist, das wir uns angelegent-lich sein lassen sollten, dass sie etwas jeden Menschen Angehendes ist. Insbesondere wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.”(15)

Spalding schloss mit seinen Religionsschriften direkt an seine über 40 Jahre hinweg in unzähligen Auflagen erschienen populäre Schrift „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen” an. Die Frage des Menschen nach sich selbst, nach dem, was ihn seiner Würde und seines Wertes gewiss macht, sollte nicht nur für Theologie und Kirche zur wichtigsten Frage werden, sie allein führt auch zum angemessenen Verständnis von der Religion und von dem Gott, zu dem die Religion die Beziehung herstellt.

Die Religion aber, das ist die Beziehung des Menschen zum Göttlichen, die den ganzen Menschen ergreift und umwandelt, ihn in seinem Fühlen, Denken und Wollen bestimmt und zu einem Leben in vertrauens- und hoffnungsvoller Zuversicht befähigt. In seinen „Vertrauten Briefen, die Religion betreffend“ drückt dies Spalding so aus, dass er sagt: die ”Religion ent-hält schon unstreitig solche Erkenntnisse und Ueberzeugungen, die, vermittelst einer anschau-enden Betrachtung, nothwendig rühren, große Empfindungen aufwecken, Bewunderung, An-dacht, Freude, Zuversicht und Hoffnung, überhaupt Bewegung, Erhebung und Veredlung der Seele wirken müssen.” (16) Doch, damit wir Gott so als die innere Kraft unseres Lebensglaubens und unserer Ewigkeitshoffnung erfahren können, müssen wir, so Spalding, von „einer ernsthaften Nachfrage bey uns selbst und der genauen Beobachtung unserer wesentlichen, von der menschlichen Natur untrennbaren Anlagen” (17) ausgehen.

 

Die Aufklärungstheologen haben Schleiermachers Apologie der Religion bereits kräftig vor-gearbeitet. (18) Gewiss, Schleiermacher vollzog in seiner Religionsschrift von 1799 sehr viel energischer die Unterscheidung von Religion und Moral. Auch zielte er im Gegensatz zu Spalding, von dem er freilich dennoch viele Anregung, auch hinsichtlich der Bedeutung des Gefühls in der Religion, erlangt hatte, (19) auf eine nichttheistische Fassung des religiösen Be-wusstseins.20 Aber auch Spalding hat die Religion keineswegs den Zwecken einer Glückse-ligkeitsmoral untergeordnet, sie nicht, was ihm oft vorgeworfen wurde, für den durchaus vorherrschenden Eudämonismus funktionalisiert. Er hat vielmehr deutlich gemacht, dass die Religion dem Menschen zu seiner Menschlichkeit verhilft. Sie tut dies, weil sie den Menschen auf Gott als den Sinn des Ganzen von Welt und Leben ausrichtet und in jedem Menschen das Gefühl einer unendlichen Bedeutung weckt.

 

2. Vom heutigen Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen

Der gesellschaftliche Resonanzverlust der Kirchen hält an. Dennoch stimmt die These nicht, die für die Auswertung der jüngsten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung leitend war. Diese behauptet, es nähme die Indifferenz der Religion gegenüber immer weiter zu, nur die kirch-lich Hochverbundenen wären noch an ihr interessiert. Ihr Engagement steigere sich angesichts der sonst dominierenden Indifferenz sogar noch, weshalb es kirchenstrategisch geboten sei, sich in Zukunft sehr viel stärker den Treusten der Treuen zuzuwenden. (21) Religiöse Indifferenz bescheinigt man der Mehrheit der Kirchenmitglieder und man schreibt sie erst recht denjenigen zu, die der Kirche nicht oder nicht mehr angehören. Von der Überlegung, dass die Men-schen sich von der Kirche abwenden, weil sie die kirchliche Religion nicht als lebensdienlich erfahren, ist die neue EKD-Studie zur Kirchenmitgliedschaftsentwicklung noch weiter entfernt als es ihre Vorgängerstudien auch schon waren. Dabei lässt sich das Interesse an einer Kirche, die die Menschen auf innerlich ergreifende Weise anzusprechen vermag, weil sie für die Rechtfertigung des Menschen eintritt, schon mit einiger Aufmerksamkeit auf literarische Zeitansagen feststellen.

 

Zum Beleg verweise ich zunächst auf das Buch des französischen Sozialphilosophen Bruno Latour: „Jubilieren. Über religiöse Rede“ (22). Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehle, wenn die Kirche sich nicht mehr auf eine die Menschen ansprechende religiöse Rede versteht. Was dann fehlt, sind „Worte, die wieder aufrichten“ (23), die „Leben spenden“ (24), Worte, die heilsam sind. Die Kirche, so meint Latour, hat diese Worte verlernt. „Die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an historisch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet“ (25).

Die Kirche hat, „die Worte, die Leben spenden“, davon zeigt sich der sich zu seinem Atheis-mus bekennende Philosoph überzeugt, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den rich-tigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Darauf, so Latour, käme es heute deshalb entschei-dend an, dass die Kirche „dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungsfreiheit verschaff(t), diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetzlich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Ver-kapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heilbringend, heute auf sei-ner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ihren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“ (26)

Die Sprache der Religion zu finden, ist aber eben keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Religion. Und die Wahrheit der Religion ist, so Latour, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt ebenso unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Ge-nau dafür gilt es, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbrin-gend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.“ (27) Würde sich die Kirche darum bemühen, „gut über die Gegenwart zu reden“, dann wäre sie heute nötiger denn je.

 

Meinen zweiten Beleg für das heutige Interesse an der Religion als einer Angelegenheit des Menschen habe ich in dem Buch des Journalisten Jan Ross gefunden: „Von der Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird“ (28). Dass die Religion eine Angelegenheit des Menschen ist, die uns ganz wichtig sein sollte, macht Ross der Präsenz der biblischen Metapher von der Gottebenbildlichkeit des Menschen im heutigen Diskurs über die Unantastbarkeit der Menschenwürde deutlich. Solche Rede, so meint er, lässt sich „nüchtern gesprochen, in ein hermeneutisches Prinzip übersetzen, in einen Verständnisschlüssel, eine Suchrichtung für die Deutung des Menschen: in ihm im Zweifel eher mehr zu vermuten als zu wenig, etwas Unausgeschöpftes, einen Überschuss.“ (29) Jan Ross tritt für Gott ein, weil es ihm um die Verteidigung des Menschen geht, letztlich um seine Heiligung. Nur mit Gott, so meint er, sei ein ebenso realistischer wie universaler Humanismus möglich.

 

Der Mensch, so fährt Ross fort, gerät dort, wo ihm Gottes Ebenbildlichkeit zugeschrieben und Gottes unbedingte Rechtfertigung zugesprochen wird, unter den „Schutz des religiösen Tabus“ (30). Genau das, meint er, ist heute so wichtig. Denn „ohne den Schutz des religiösen Tabus wird der Mensch berechenbar für die Wissenschaft, kontrollierbar für die Macht, eine Funkti-on der biologischen, psychischen und sozialen Realität. Warum nicht versuchen, ihn zu dres-sieren, zu verbessern oder abzuschaffen? Der geheimnislose Mensch ist der verfügbare Mensch.“ (31) Und er fügt sogar noch hinzu: „Noch heute, in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, wird von der Heiligkeit der menschlichen Person als Grundlage der Mensch-rechte und der Menschenwürde geredet. Man kann offenbar kaum anderes, als für den letzten Schutz der Humanität auf ein religiöses Motiv zurückzugreifen. Das ist die Ausdrucksweise, in der die Kultur über die großen Fragen redet: Wenn sie ihren Mund auftut und das Aller-wichtigste sagt, spricht sie die Sprache des Glaubens“ (32)

Die Kultur spricht die Sprache des Glaubens, sagt der Journalist Jan Ross. Die Menschen in ihrer Alltagswelt sprechen die Sprache des Glaubens. Was ist ihre Sprache des Glaubens? Es ist die Sprache, mit der sie ihre elementaren Lebensinteressen äußern, ihre Ängste und Hoffnungen, ihre Sinnerfahrungen und Sehnsuchtsbilder. Die Sprache des Glaubens ist die Sprache, in der die Menschen selbst das aussprechen, was ihnen das Allerwichtigste ist. Die Sprache des Glaubens, so könnte man auch sagen, ja, so müsste die Theologie wieder zu sagen sich trauen, ist die Sprache der Menschenseele.

 

3. Von der Seele, durch die die Religion der Menschen ihre Sprache findet

 

Weil der Mensch eine Seele nicht nur hat, sondern ist, können wir von ihm reden als einem Wesen, das im bewussten Verhältnis zu sich steht. Als Seele ist der Menscheins mit seinem Leib und in der Einheit von Leib und Seele sich in seinem Lebensvollzug immer auch selbst gegenwärtig. Als Seele ist der der Mensch ein solcher, der sich selbst zu verstehen gegeben ist, auch und gerade in dem, was ihn auf unbedingte Weise angeht. Eine Theologie, die dem Menschen, seiner Verständigung über sich und seine elementaren Lebensinteressen, gilt, muss den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam wer-den für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

 

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen. (33) Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenverhältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Le-bens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung  den Seelenbegriff wieder konstruktiv aufnehmen. Damit könnte sie dann auch wirksam werden für eine Kirche, die sich darauf besinnt, eine seelsorgliche Kirche zu werden, eine Kirche für die Religion der Menschen.

Wir meinen mit der Seele ja eben noch einmal etwas anderes als die „Psyche“. Zur Psyche gehört der Körper, zur Seele gehört hingegen der Leib. Wir haben einen Körper, aber wir sind in unserem Leib. Der Leib gehört zu uns wie die Seele. Mit der Seele wie mit dem Leib geht es gewissermaßen um den ganzen Menschen, Seele und Leib sind die beiden konstitutiven Dimensionen der Subjektivität des Menschen.33 Die Psyche und der Körper sind hingegen Subsysteme im Menschen als einem organischen System. Leib ist der Mensch im Außenver-hältnis zu einer Umwelt, als existierend in einer Welt, als ein Wesen das auf die Welt einwirken und sie erkennen kann, das wahrnehmbar ist für andere und sich zu anderen verhalten kann. Weil der Mensch Leib ist, kann er denken, reden und handeln, hat er Gefühle und kann sie äußern. Seele ist der Mensch im Innenverhältnis, als bewusste Beziehung auf sich, als Selbstbewusstsein. Alles das, was er als Leib im Außenverhältnis ist, ist ihm in der Einheit mit seiner Seele zugleich subjektiv auf privilegierte Weise zugänglich. Als Seele habe ich meine Gedanken, Absichten, Gefühle und Handlungen immer auch für mich selbst. Ich bin mir meiner selbst in meinen leibhaften Zuständen auf exklusive Weise bewusst. Ich denke mein Denken, fühle mein Fühlen, will mein Wollen.

Als Seele gerate ich deshalb aber immer auch in Widerspruch zu mir selbst. Ich merke, dass mich bestimmte Gedanken, Gefühle oder Willensabsichten motivieren, oder auch dass sie mir unangenehm sind, sie mir Angst machen. Als Seele, der ich zugleich in meinem Leib bin, entstehen mir deshalb all die Fragen und Probleme, die mit meiner personalen Identität zu tun haben. Als Seele frage ich, wer ich bin und worauf ich hinauswill, was der Sinn meines Lebens ist, wie mein Leben gelingen kann. Als Seele wird mir bewusst, spüre ich, wenn ich den Kontakt zu verlieren drohe, zu mir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur. Ich notiere den Resonanzverlust. Dann beschleicht mich vielleicht das Gefühl, dass ich eher gelebt werde als dass ich mein Leben selbstbestimmt führe. Von einem ‚seelenlosen Betrieb‘, in den ich einge-spannt bin, reden wir dann vielleicht und wenn alles viel zu schnell gegangen ist, sagen wir: ‚Die Seele geht zu Fuß‘. Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern in der Einheit unseres Leibes sind, nehmen wir uns selbst und unsere Welt immer in einer bestimmten Färbung wahr, leben wir immer in einer gewissen Gestimmtheit, die uns gewissermaßen atmosphärisch ergreift und umgibt.

Dieses Präsenzgefühl aber, ist die die Präsenz des Religiösen, ist die Erschlossenheit der Zuständlichkeit unseres Daseins für uns selbst. Weil wir in der Einheit unseres Lebens eine Seele sind, empfinden wir, etwa wenn wir krank werden, auch nicht nur die Defekte im Organismus unseres Körpers, sondern es stellen sich uns zugleich die Sinnfragen, die letztlich wiederum religiöse Fragen sind, Fragen, die auf die Einheit, die Bestimmung und das Ziel des Ganzen unseres Daseins gehen.

Die Einheit unseres Selbstverhältnis aber ist genau von der Art, dass sie uns nicht gegenständlich gegeben wie eben die Seele selbst nicht gegenständlich gegeben ist. Wie sollte die Seele mir gegenständlich gegeben sein, so dass ich sie erkennen kann, wenn sie doch mein unmit-telbares Wissen mit ihr, davon, dass ich bin und dieses Leben habe, selbst umgreift. Ich kann mich gar nicht ohne sie denken. Daraus entspringen dann auch die Vorstellungen von der Un-sterblichkeit der Seele. Sie sind ein Resultat eben dessen, dass ich mein eigenes Nichtsein nicht denken kann. Die Seele, die ich bin, ist ein Gegenstand nicht des Wissens, sondern des Glaubens, so dann auch ihre Unsterblichkeit – aber kann es die Seele anders als in der Einheit ihres Leibes geben?

Die Psyche und der Körper sind differente Systeme im menschlichen Organismus, der sich wissenschaftlich analysieren und therapieren lässt. Der Mensch als Seele in der Einheit seines Leibes ist der ganze Mensch in seinem bewussten Selbstverhältnis. Als solcher ist er für sich das in seinem Selbstgefühl, auf dessen Basis er seine Einheit spüren und dann auch im Geiste denken, aber eben nicht erkennen kann. Wir können jedoch in der Seelsorge nicht auf den Begriff der Seele verzichten. Aber auch in unserer Alltagssprache im Grunde nicht. Inzwi-schen wird die Seele besonders in der Philosophie auch wieder Ernst genommen. Man erin-nert sich nicht nur daran, dass der Begriff der Seele bis in die Neuzeit einer der wichtigsten Begriff der Philosophie war, sondern auch heute durch Begriffe wie „Geist“, das „Subjekti-ve“, das „Mentale“ oder das „Psychische“ ersetzt werden soll und doch nicht ersetzt werden kann. Der Grund dürfte eben der sein, dass alle diese Begriffe konstitutive Funktionen menschlichen Lebens beschreiben, aber nie das integrative Ganze eines individuell selbstbe-wussten Lebens in der Einheit seines Fühlens, Denkens und Wollens erfassen. Wir brauchen aber einen Begriff für dasjenige, was alle Lebensfunktionen im Innersten zusammenhält und zugleich das personale Bewusstsein ihrer Einheit begründet. Der Begriff der „Seele“ kann dies leisten.

 

Weil wir eine Seele nicht nur haben, sondern sind, wissen wir um unsere Identität und sind uns doch zugleich immer um sie bemüht. Weil wir eine Seele sind, sind wir uns selbst zu-gleich ein Gegenstand der Sorge, brauchen wir ebenso andere, die unsere Sorgen zu teilen bereit sind. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt aufmerksam zu sein auf die tiefsten Ängste und mächtigsten Hoffnungen, auf das was das Sinnvertrauen eines Menschen erschüt-tert und ihn in die Verzweiflung treibt. Die Regungen der Seele wahrzunehmen, heißt wahr-zunehmen, was Menschen unbedingt angeht. In den Regungen der Seele stoßen wir auf die Religion, die eine Angelegenheit des Menschen ist. Eine Kirche, die die Regungen der Seele versteht und im Lichte des Evangeliums zu deuten unternimmt, wird zu einer Kirche für die Religion der Menschen.

 

4. Von einer Kirche, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird

Eine Kirche für die Religion der Menschen ist eine seelsorgliche Kirche, eine Kirche, die sich um die Seele der Menschen sorgt, damit um das, was sie in ihrem je eigenen Selbstverhältnis als sie unbedingt angehend betrifft. Sie redet die Menschen auf die Fragen des Lebens an, die ihnen in den Erfahrungen ihres Lebens entstehen.

Ist das wirklich so? Spricht die Kirche die Menschen als die Subjekte ihres Lebens an? Oder meinen die professionellen kirchlichen Religionsagenten doch wieder oder immer noch, sie müssten den Menschen sagen, wie sie zu leben und was sie zu glauben haben? Bevor die Theologie der Aufklärung den christlichen Glauben auf die Füße des sein Glück erstrebenden Menschen stellte und die Religion zu einer Angelegenheit des zur Selbstbestimmung fähigen Menschen erklärte, hat die christliche Theologie ja doch eher ein negatives Menschenbild befördert. Sie tut es auch heute noch in kirchlichen Liturgien und der Moral frommer Gemeinschaften, nach denen Menschen sich allenfalls im Bewusstsein eigener Unwürdigkeit sich Gott zu nähern wagen dürfen. Schuld daran ist diese Sündentheologie, die behauptet, dass der Mensch wie er von Natur aus ist, gar nicht in die rechte Beziehung kommen kann, weder zu sich, noch zu seinem Nächsten und schon gar nicht zu Gott. Als der Sünder hat er immer schon die Beziehung verloren, zu sich, zu seinem Nächsten und zu Gott. Nur das göttliche Gnadenwunder kann ihn retten. Mit einem solchen Menschenbild im Kopf können kirchliche Religionsagenten nur mit Mühe zu der Auffassung gelangen, dass sie die christliche Rechtfertigungsbotschaft Menschen zu sagen haben, die selbst schon die Subjekte ihre Glaubens wie ihres Lebens sind, in einem bewussten Verhältnis zu sich stehen, auf die Sprache ihrer Seele hören, ein Empfinden dafür haben, was ihnen fehlt wie auch, dass ihr Leben gelingen könnte. Eine Kirche hingegen, die zur Kirche für die Religion der Menschen wird, ist eine Kirche, die mit Liebe und freudig interessiert den Menschen begegnet. Sie sucht das Gespräch mit ihnen, auf Augenhöhe, über die Beziehungen, die ihr Leben sind, die ihr Glück bedeuten und unter denen sie leiden. Und jetzt eben in Kontakt mit ihnen als Personen, als den souveränen Subjekten ihre Lebens und ihres Glaubens. Jeder und jede einzelne ist dann als Subjekt in Bezie-hungen gefragt. Wer für die christliche Religion spricht, sollte jedoch die Menschen eben als die souveränen Subjekte ihres Lebens und Glaubens auch explizit anerkennen. D.h. nicht, sie als fertige Persönlichkeiten anzusehen, das bin ich ja selbst auch nicht, keiner ist je fertig , schon gar nicht fertig mit den Fragen, die die eigentlichen Lebensfragen und zugleich die zentralen Fragen der Religion sind.

Eine Kirche, die Kirche für die Religion der Menschen ist, sucht das Gespräch über die Lebensfragen, auf die sie genauso wenig eine einfache und abschließende Antwort weiß wie sie: Woher die Liebe, warum dieser Hass, diese Rivalität, aber auch diese wunderbare Freundschaft? Wie kann zerstörtes Vertrauen wieder erneuert werden? Warum tun Menschen einan-der so vieles Böses an, Leid und Zerstörung? Warum müssen manche Menschen so früh steren, warum muss das Sterben überhaupt sein. Sich in die Komplexität dieser Fragen zu verstricken, Fragen, bei denen die Antwort offen und der Ausgang ungewiss bleibt, das heißt, die Menschen als Subjekte ihres Lebens und Glaubens anzusehen. Wo das in der Kirche der Fall ist, dort werden Gottesdienst und Predigt Seelsorge und Unterricht als Beziehung, als offener Dialog realisiert. Da kommt es zum Hö-ren und Reden auf beiden Seiten, wozu dann auch die Stille und das Schweigen gehören wer-den.

Die Religion gehört zum Menschen. Sie ist die Dimension der Tiefe in allen Lebensfragen, die uns auf unbedingte Weise in unserer Existenz betreffen. Nur im religiösen Bezug kann überhaupt die Frage nach dem Sinn des Ganzen ernsthaft aufgenommen werden. Diese Frage führt uns ins die Unendlichkeit einer Welt, die uns als Ganze nie gegeben ist. Aber aus dem religiösen Glauben, der auf Gott sein Vertrauen setzt, kann die Gewissheit in der Seele entste-hen, dass wir aus dem unendlich Ganzen einer von uns nie fassbaren Welt auf uns selbst zu-rückkommen und somit nie verlorengehen.

 

5. Von der Rechtfertigung des Menschen

Das ist die zentrale Botschaft des Christentums an den Menschen: „dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28). Die Rechtfertigungsbotschaft ist das befreiende Lebensdeutungsangebot des Christentums.

Aber gerade sie wird in Theologie und Kirche immer noch dem menschlichen Selbständigkeit- und Autonomiestreben entgegengesetzt. Immer noch gibt es eine Theologie, die das Evangelium so meint verstehen zu müssen, als würde es die Menschen vor die Alternative stellen, entweder zu Glauben oder ein freier Mensch zu sein. Das will ich exemplarisch an Wilfried Härles Aufstellungen „zur Gegenwartsbedeutung der ‚Rechtfertigungs‘-Lehre“ (34) zeigen.

Härle geht genau so vor, dass er dem Menschen, so wie er sich selbst erlebt, nicht das Recht zugesteht, ein angemessenes Verständnis von sich zu gewinnen. Wie er sich in Wahrheit, d.h. vor Gott zu verstehen hat, das muss er sich auf alle Fälle von der Bibel sagen lassen. Die Rechtfertigungszusage des Paulus, so wird er belehrt, gilt dem Sünder, der der Rechtfertigung Gottes in Jesus Christus bedürftig ist. Dass es so ist, kann der Mensch von sich aus gar nicht wissen, denn zu seinem Sündersein gehört es ja gerade, dass er sich selbst nicht als solcher erkennt. Sein Selbstsein, sein Selbstbestimmungsstreben sind insofern die ultimativen Aus-drucksformen seiner Sünde. Nur im Lichte der göttlichen Rechtfertigung, kann er zu einem seiner wahren Situation angemessenen Selbstverständnis kommen.

Obwohl Härle sich dafür interessiert, worin die „Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre“ besteht, darf der gegenwärtige Mensch doch nicht sagen, wie er zu seiner Art zu leben gefunden hat und wie er sich darin versteht. Härle sieht zwar, dass die Theologie heute sich als Anthropologie zur Durchführung bringen muss, wenn sie überhaupt eine Chance haben soll, den heutigen Menschen zu erreichen. Aber die Anthropologie, die er entwickelt, geht nicht vom heutigen Menschen, seinem Erleben und seiner Selbstdeutung aus. Härle konstru-iert vielmehr, ausgehend von der paulinischen Rechtfertigungslehre und in deren weltbildhaf-tem Horizont, das christliche Wirklichkeits- und Menschenverständnis. In dieses muss der heutige Mensch sich einfügen. Nur dann kommt ihm zu, was der Mensch vor Gott ist, dass er sich als gerechtfertigt und in seiner Würde anerkannt wissen kann.

Heutige Menschen nehmen sich zumeist selbst als das Zentrum ihres Erlebens wahr. Sie suchen aus sich selbst heraus danach, wie sie eine ihnen zustimmungsfähige Art zu leben finden können. Sie entwickeln ihre Vorstellungen davon, was für sie ein gelingendes Leben wäre. Sie reflektieren darauf, was sie tun können, um mit sich und ihrem Wollen in Übereinstim-mung zu kommen Für alle diese Menschen ist in dem christlichen Wirklichkeitsverständnis, das Härle im Anschluss an Paulus als für christlich Glaubende normativ setzt, kein Platz. Die Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungslehre besteht dort vielmehr gerade darin, dass sie dem Menschen seinen trügerischen Selbstbestimmungswahn austreibt.

Es findet dabei natürlich auch keine Berücksichtigung, dass Menschen sich heute in viele Wirklichkeiten hineingestellt finden, in denen sich unterschiedliche Wirklichkeitsverständnis-se zur Durchsetzung bringen. Gibt es das überhaupt, das christliche Wirklichkeitsverständnis? Müssten, wenn es das gäbe, nicht die vielen Differenzierungen, die moderne Gesellschaften formieren, zurückgebaut werden? Ist aber eine christentumskulturell integrierte, auf dem christlichen Wirklichkeitsverständnis aufgebaute Gesellschaft überhaupt vorstellbar – und wünschenswert? Solche Fragen interessieren den Dogmatiker des christlichen Wirklichkeits-verständnisses nicht. Vor allem, und das ist das eigentlich Schlimme, lässt er sich nicht darauf ein, den gegenwärtigen Menschen als einen solches anzusehen, der immer schon sich selbst in seinem Erleben des Lebens wahrnimmt und darauf aus ist, sich in seinem Erleben auch zu verstehen, es ihm um ein Gelingen seines Lebens und deshalb auch die richtige Art zu leben geht. Einem solchen Menschen kann man nicht Bescheid geben wollen, wie er sich zu verste-hen hat, wenn ihm denn das Evangelium soll gelten können. Dem seiner Freiheit bewussten Menschen, sollte, so meine ich, auch das Evangelium als eine Möglichkeit in Aussicht gestellt werden, mit der er sich des Grundes seiner Freiheit gewiss werden kann, das ihm somit hilft, sein Leben selbstbestimmt zu führen.

 

6. Von einer kirchlichen Praxis, die Gutes über den Menschen sagt

Die Rechtfertigungsbotschaft eröffnet die Chance, über den Menschen, wer er auch sei und was immer er auch getan hat, Gutes zu sagen. Er ist der, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Er kann sich auf alle Fälle mit Gott verbunden wissen, denn der Gott Jesu ist Liebe, Gnade, Vergebung, bedingungslos. Dies ist das Evangelium, dass nur Gutes über den Menschen ge-sagt wird. Die Rechtfertigungsbotschaft gibt ihm die Möglichkeit sich auch noch in dem, was er an sich selbst als unannehmbar erlebt oder auch von anderem ihm zu Vorwurf gemacht wird, sich dennoch als anerkannt und akzeptiert zu verstehen. Der aus der Rechtfertigungszu-sage lebende Mensch ist der Mensch, der zu sich stehen kann und aus einer unwahrscheinli-chen Freiheit zu leben vermag.

Dass ein Mensch diese Botschaft annehmen kann, sich vertrauensvoll auf sie einzulassen be-reit ist, also das tut, was die Theologie „glauben“ nennt, dazu gehört freilich, dass sie ihm nicht nur in dürren Worten und im Stil kerygmatischer Zusagen begegnet. Er muss die Erfah-rung dieser Zusage machen können. Für sie stehen die positiven Erfahrungen des Lebens. Worauf es daher in der Kirche ankäme, ihrer Predigt und ihren Gottesdiensten, ihrem Unter-richt und ihrer Seelsorge, ist, dazu beizutragen, dass Menschen dabei positive Erfahrungen machen. Positive Beziehungserfahrungen sind Erfahrungen des Beachtetwerdens, der Anerkennung, Erfahrungen eines liebevollen Interesses an der eigenen Person.

Eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und der Freundschaft, das ist die Glaubenskultur des Christentums. Jeder Mensch kann merken, trotz allem, was er in seinen Beziehungskonflikten an Bösem erfährt und selbst anrichtet, dass er ein unendlich liebenswertes Geschöpf ist.

Die Glaubenskultur des Christentums ermöglicht einen unerschütterlich positiven, auch unge-heuer frustrationstoleranten Umgang der Menschen miteinander. Da kann Freiheitsluft geat-met werden. Da weht der Geist vorbehaltloser Anerkennung und wird göttliche Liebe emp-funden. In Räumen und Atmosphären, in denen Menschen das erleben können, gewinnen sie ein positives Selbstgefühl, Selbstvertrauen und oft auch neuen Lebensmut.

Da ist eine unbedingt gute Vorgabe, steht dann auch über der Kirchentür. Nenne sie Gott, Liebe, Geschenk des Daseins. Sein Leben von einer unbedingt guten Vorgabe her zu verste-hen, heißt christlich glauben. Glaubst du, dann lässt du diese Vorgabe unbedingt für dich selbst wahr sein. Dann lernst du, dass das Wichtigste im Leben sich nicht deinem eigenen Tun und Leisten verdankt. Es wird dir klar, dass du dir das Wichtigste im Leben schenken lassen musst. Das heißt aus Gottes Rechtfertigung leben. Es heißt einfach nur Mensch zu sein, dankbar, gelassen, heiter und frei.

COPYRIGHT: WIlhelm Gräb, Berlin.

 

Zu den Fußnoten:

1 Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginie-rung)

 

2 A.a.O. 4

 

3 Spalding hat in der Einleitung zur 13. und letzten, insgesamt erheblich erweiterten Ausgabe seiner Schrift über „Die Bestimmung des Menschen” (so die neue Titelformulierung in der Ausgabe von 1794) hinzugefügt, dass die überkommenen, „gewöhnlichen Grundsätze der Sittlichkeit und Religion” (A.a.O. Ausgabe 1794, 1) in der neuen Zeit eines alles relativierenden Historismus und mit alternativen Lebensformen konfrontierenden Plura-lismus keine hinreichende Lebensorientierung mehr zu geben vermögen. Das neue Bild vom Menschen, seiner ethischen Autonomie und der damit verbundenen Würde, ist – so wollte er sagen – im beschleunigten Kultur-umbruch unumgänglich geworden, auch für Kirche und Christentum. Anders als im Versuch, ”von vorn anzu-fangen; nichts als wahr anzunehmen oder als Vorurteil zu verwerfen, was ihm nicht bei dieser neuen und strengen Prüfung in seiner eigentümlichen Gestalt erscheinen würde”, kann es dem neuzeitlichen Menschen nicht mehr gelingen, wie der alte Spalding sagte, ”ein System des Lebens bei sich festzusetzen, woran er sich zu allen Zeiten halten könne” (A.a.O. 4 f.).

 

Von vorn anfangen, alles Überkommene einer kritischen Prüfung unterziehen, „das, was er auf die Art unleug-bar findet, zu sammeln und zu verbinden” (A.a.O. 4), war und blieb Spaldings Devise. Es stellte dies gewisser-maßen die Aufforderung zu einem synkretistischen Verfahren beim Bau des „System(s) des Lebens” dar. Der eigene Lebensentwurf sollte möglich sein, auf der Basis eben derjenigen Evidenzen, die sich im jeweils eigenen Innern einstellen. Was Eingang finden kann in das symbolische Gefüge der eigenen Lebensorientierungen, muss in kritischer Prüfung persönlich einleuchten. Und das gilt nun auch und gerade für die Religion, die kirchlichen Überlieferungen, die theologischen Lehrsätze. Auch die überkommene Symbolwelt des Christentums muss der kritischen Prüfung unterzogen werden. Und Maßstab der Kritik muss die Frage nach ihrer Lebensdienlichkeit sein. Sind die großen Erzählungen des Christentums hilfreich bei der Klärung der existentiellen Sinn- und mora-lischen Orientierungsfragen? Schenkt die christliche Religion Lebenserfüllung, nicht aufgrund autoritärer Vor-gaben, was zu glauben ist und wie man sich verhalten sollte, sondern weil da in ihren heiligen Schriften subjek-tiv Evidentes überliefert ist, Erzählungen von Gott und seinem Handeln, die auf persönliche Resonanzen rech-nen können, Vertrauen auf Gott und sich selbst entstehen und Dank empfinden lassen für das wunderbare Geschenk des Lebens? Das waren die Fragen, die Spalding sich vorgelegt und die er mit seinen populartheologi-schen Schriften, im Interesse auch einer neuen kirchlichen Publizistik, bearbeitet hat.

 

 

 

4 Johann Gottlieb Tönners theologische Untersuchungen, Riga 1772

 

5 A.a.O. Erster Band, erstes Stück, 108-161

 

6 A.a.O. 110

 

7 A.a.O. 142 f.

 

8 A.a.O. 137

 

9 A.a.O. 142

 

10 ”Daher dazu lasset uns, Brüder im Herrn, unmittelbar handeln, und auch bei den lasterhaftesten Leuten han-deln, daß dieses und jenes in ihnen werde. Lasset uns sie überzeugen, daß Gott die Menschen liebt und auch sie liebt. Ich sage überzeugen: Also es ihnen nicht bloß sagen und versichern, sondern zeigen und erweisen. Auch es nicht bloß mit einem Spruche aus der Bibel sagen und versichern. Die in derselben aufgestellten göttli-chen Religionslehrer thun das selbst nicht bloß, sondern geben Beweise. Christus sagt nicht blos, daß Gott auch seine Feinde liebt; er beweiset es mit der Erfahrung.”(A.a.O. 142)

 

11 A.a.O. Erster Band, drittes Stück, 105-159

 

12 A.a.O. 159-200

 

13 Breslau 1783, 31788 (hier zitiert); erst am Ende der ”Zugabe” zur 3. Aufl. nennt sich Spalding als Verfasser

 

14 Berlin 1797, 41806

 

15 A.a.O. 3

 

16 Vertraute Briefe die Religion betreffend, 251 f.

 

17 Religion, eine Angelegenheit des Menschen, 10 f.

 

18 Es ist zwar richtig, Spalding und die übrigen Aufklärungstheologen wiesen der Religion keinen eigenen anth-ropologischen Ort zu, obwohl sie auch schon erstaunlich viel von der Bedeutung des Gefühls für die Religion zu sagen wußten. Sie exponierten es noch nicht im Sinne der Erschlossenheit des Selbst im Ganzen der Anschau-ung einer Welt, wie dann Schleiermacher in seiner von romantischem Geist und transzendentaler Philosophie durchprägten Religionsschrift. Anders war auch, daß die Aufklärungstheologen das religiöse Bewußtsein nicht von den irrationalen Kontingenzerfahrungen des menschlichen Lebens und ihrer handlungssinntranszendenten Bewältigung her plausibel zu machen versuchten. Für Schleiermacher waren Geburt und Tod religiös relevant, die Erfahrung des unableitbaren Gegebensein des endlichen, menschlichen Lebens, der Faktizität seiner Frei-heit. Da sah er die Unbedingtheitdimension der Wirklichkeit aufscheinen sah, ihren im Unendlichen zerfließen-den Horizont. Auf irrationale Kontingenzerfahrungen, durch die religiöse Anschauungen und Gefühle ausgelöst werden, hat er die Aufmerksamkeit gelenkt. Demgegenüber sahen die Aufklärungstheologen das religiöse Be-wußtsein aufs engste mit der dem Menschen natürlichen Treibfeder zum moralischen Handeln verknüpft.

 

19 Vgl. Albrecht Beutel, Aufklärer höherer Ordnung? Die Bestimmung der Religion bei Schleiermacher (1799) und Spalding (1797). In: Ders., Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 266-298.

 

20 Schleiermacher wollte zeigen, daß das religiöse Bewußtsein des Menschen die Wirklichkeit anders ansieht als das moralische. Der Religion geht um die Sinn erschließende Anschauung des Universums, um ein intuitives Erfassen des Ganzen der Wirklichkeit, dabei dann auch um die Stellung, sowie die Verfassung des individuellen, menschlichen Daseins in ihr. Die Religion schaut die Grundverfassung der Wirklichkeit. Die Moral weiß demge-genüber, daß sie zu bilden, vom Menschen Gutes getan werden muß. Der Moral geht es um die durch das Tun des Guten verbesserliche Welt. Deshalb braucht sie aber auch Religion, soll sie auch nach Schleiermacher zwar nicht aus Religion, aber mit Religion getan werden. Denn die Erkenntnis dessen was gut ist für Welt und Mensch, setzt deren Anschauung voraus. Die Moral braucht die Anschauung vom Ganzen der Wirklichkeit und ein Wissen um die Bestimmung des Menschen in ihr. Nur im Horizont einer letztinstanzlich religiösen, ganzheit-lichen Weltanschauung kann das moralische Handeln für Schleiermacher Orientierung und Sinn erfahren.

 

21 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrg.), Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis, Hanno-ver 2014.

 

22 Vgl. Bruno Latour, Jubilieren. Über religiöse Rede, Berlin 2011, franz. Original: Jubiler – ou les tourmentes de la parole religieuse, 2002.

 

23 A.a.O. 80.

 

24 A.a.O. 82.

 

25 A.a.O. 82.

 

26 A.a.O. 8f.

 

27 Ebd.

 

28 Jan Roß, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012.

 

29 A.a.O. 37.

 

30 A.a.O. 38.

 

31 A.a.O. 38f.

 

32 A.a.O. 39.f.

 

33 Vgl. Ulrich Barth, Selbstbewusstsein und Seele. Kant, Husserl und die moderne Emotionspsychologie, in: dersb., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 441-465.

 

34 Vgl. Wilfried Härle, Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: ZThK 95, Beiheft 10, 1998, 101-–139. Härles Beitrag steht im Zusammenhang einer breiten Debatte um die Stellung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre im Ganzen der christlichen Lehre, die dann bald darauf durch die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) noch einmal enorm verstärkt worden ist. Auf Härles Text nehme ich im Folgenden als einen solchen Bezug, der nicht nur eine breite Debattenlage gut dar-stellt, sondern dabei auch selbst eine Position vertritt, die von vielen geteilt wird. Ich beziehe mich auf Härle, weil er eine in der systematischen Theologie dominant vertretene Postionen repräsentiert und ich an seinem Text zur Rechtfertigungslehre gut zeigen kann, dass eine systematisch-theologische Verhandlung der Gegen-wartsbedeutung der Rechtfertigungslehre, wie sie von ihm auf exemplarische Weise vorgenommen wird, zwar die Probleme richtig erkennt, dann aber, weil sie das praktisch-theologische bzw. homiletische Vermittlungs-problem doch gravierend unterschätzt, in eine Sackgasse läuft. Das gibt dann natürlich auch wieder zu kriti-schen systematisch-theologischen Rückfragen Anlass.

 

Im Hintergrund der in diesem Text von Härle vorgetragenen und auf die „prinzipielle“ Bedeutung der Rechtfer-tigungslehre für das Gesamtverständnis des christlichen Glaubens ausgehenden Argumentation steht die 20 Jahre früher, gemeinsam mit Eilert Herms verfasste Schrift W. Härle / Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirk-lichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, 1979. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Versuch einer Aktualisierung der paulinischen Rechtfertigungslehre im Kontext des neuzeitlich-modernen Wirklichkeitsver-ständnisses, in Verbindung mit einer Reflexion auf die Konsequenzen, die dieses Unternehmen in der kirchli-chen (Predigt-)Praxis hat bzw. haben könnte, habe ich damals bereits zusammen mit Dietrich Korsch vorge-nommen, in: Wilhelm Gräb /Dietrich Korsch, Selbsttätiger Glaube. Die Einheit der Praktischen Theologie in der Rechtfertigungslehre, Neukirchen-Vluyn 1985. Dort liegt auch ausführlicher diejenige subjektivitätstheoretische Interpretation der paulinischen Rechtfertigungslehre vor, an die hier mit knappen Bemerkungen angeschlossen wird.

 

 

Theologie für die Öffentlichkeit? Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Theologie für die Öffentlichkeit?

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität zu Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn am 21. März 2014

Trotz zahlreicher theologischer Fakultäten in Deutschland haben doch viele Beobachter den Eindruck, dass evangelische – wie auch katholische – Theologie in der Öffentlichkeit keine sichtbare Rolle mehr spielt, verglichen etwa mit den Jahren 1970, als Bücher von Theologen in allgemeinen Buchhandlungen zu Tausenden verkauft wurden. Man denke auch an die populären Bücher etwa von Heinz Zahrnt oder Hans Küng. Heute gibt es ja auch kaum noch theologische Buchhandlungen. Wie erklären Sie die geringe Sichtbarkeit theologischen Denkens in der Öffentlichkeit?

Es gibt kaum noch theologische Buchhandlungen, aber deren Esoterik-Abteilungen werden immer größer. Milliardenumsätze werden mit einer für Religionsfragen offenen Lebensberatungsliteratur gemacht. Öffentliche Theologie konnten in den 1970er Jahren in der Tat noch Theologen wie Heinz  Zahrnt oder Hans Küng betreiben. Dass sie öffentliche Aufmerksamkeit fanden, hing freilich entscheidend auch damit zusammen, dass damals beide Kirchen noch gewissermaßen ein Monopol  für Religion hatten. Heute haben wir einen religiösen Markt, auf dem sich viele Anbieter tummeln, seriöse und weniger seriöse – wobei auch professionelle Theologen und Kirchenleute auf diesem Markt erfolgreich sind, allerdings zumeist eher die weniger seriösen, wie z.B. Margot Käßmann.

Mein Eindruck ist freilich, dass es Autoren, die nichts mit Kirche und Theologie zu tun haben, denen es aber gelingt, die existentiell-religiösen Lebensfragen aufzunehmen, das öffentliche Interesse an Religion, von dem ich keineswegs glaube, dass es weniger geworden ist, aufzunehmen vermögen. Ich denke da etwa an den Komiker und Fernsehmoderator Hape Kerkeling, der aus seinen Reflexionen auf dem Jakobs-Weg einen Bestseller gemacht hat („Ich bin dann mal weg“), an die Bücher von Rüdiger Safranski, insbesondere das über die „Romantik“, an die Bücher des Philosophen Wilhelm Schmid über die „Lebenskunst“ und den „Sinn des Lebens“, an die Bücher des von der analytischen Schulphilosophie in Literatenfach gewechselten Peter Bieri, vor allem das über die „menschliche Würde“.  Dieses Buch von Peter Bieri , der unter dem Pseudonym Pascal Mercier mit seinem „Nachtzug nach Lissabon“ eine große Leserschaft gefunden hat, beschäftigt sich mit der einen Frage, die auch die Grundfrage der Religion ist: „Was ist das eigentlich für ein Leben, das wir da als Menschen leben müssen?“ Und Bieri’s Absicht ist keine andere, als, wie er sagt, „den Leser in meine Gedankengänge zu verwickeln und ihn zum Komplizen zu machen im leidenschaftlichen Versuch Klarheit zu gewinnen“. Klarheit über sich selbst, über die eigene Art zu leben will er gewinnen, über die Gefährdungen, die das zerbrechliche Leben mit sich bringt und die Möglichkeiten, die sich zeigen, diese Gefährdungen einigermaßen in Schach zu halten.  Was Bieri verspricht, sind keine neuen Erkenntnisse, schon gar keine Heilsversprechen, die er von höherer Warte aus zu geben in der Lage wäre. Am Ende der Einleitung sagt er etwas, wovon ich denke, dass es heute auch die angemessene Art der religiösen Rede, auch der Predigt als religiöser Rede, ist. Bieri wünscht sich einen Leser, der am Ende sagt: „Nichts von dem, was ich gelesen hat, war mir wirklich neu. Vieles habe ich wiedererkannt. Aber ich bin froh, dass einer es in Worte gefasst und im Zusammenhang dargestellt hat. Und froh bin ich auch, dass er nicht verschweigt, wie vieles an den Rändern der Gedanken unklar und unsicher bleibt.“

Wie gesagt, am mangelnden Interesse an den existentiell-religiösen Lebensfragen liegt es nicht, dass die Theologie ihre öffentliche Resonanz verloren hat.

Die Theologie hat ihren kirchlichen Geltungsschutz verloren. Nun müsste sie damit Aufmerksamkeit gewinnen, dass sie zu einer tieferen Selbstverständigung unseres Lebens beiträgt und die Potentiale der biblischen und theologischen Überlieferungen dafür fruchtbar zu machen versteht. Doch angesichts dieser Herausforderung ist ein nahezu komplettes Versagen zu konstatieren.
Liegt das eher geringe öffentliche Interesse an der christlichen Theologie, das ja auch in Holland, Frankreich, Spanien usw. zu beobachten ist, auch an der (oft komplizierten) Form der Darstellung theologischer Gedanken, vielleicht vor allem auch an den dogmatischen Inhalten, die immer noch – seit Jahrhunderten – übermittelt werden?

Die Wirklichkeit unseres Lebens ist komplizierter als es jeder Versuch, sie in Worte zu fassen, zu sein vermag. Das ist nicht das Problem, dass Theologie kompliziert ist.  Die Kompliziertheit theologischer Texte wird dann ärgerlich, wenn sie dem Imponiergehabe im binnentheologischem Diskurs entspringt. Und ein gravierendes Problem ist dann sehr oft natürlich auch, dass die Theologie die Binnenlogik theologischer Denkfiguren, die schon längst den Anschluss an die existentiell-religiösen Lebensfragen der Menschen verloren haben, höchst aufwändig und mit gesteigerter Argumentationsschärfe verteidigt. Statt zu fragen, was aus der biblischen und dogmatischen Überlieferung für die Artikulation des Sinns, den die Religion heute hat, zu lernen ist, bemüht die Theologie sich darum, den Glaubensausdruck vergangener Zeit für die je eigen Gegenwart verbindlich zu halten. Das ist ein verkrampftes Unternehmen und produziert Kompliziertheit, die von der Sache her nicht gerechtfertigt ist.

Könnte Theologie wieder neu in den öffentlichen Disput treten, wenn die Theologen, also auch schon die Pfarrerinnen und Pfarrer, eine breitere Ausbildung erhielten, also etwa auch Literatur und Kunst, oder wahlweise eben auch Psychologie oder Religionswissenschaft, intensiver studieren sollten?

Ich plädiere ja schon lange für eine Neuausrichtung des Theologiestudiums, weg von der historisch-philologischen und den theologischen Binnendiskurs führenden Theologentheologie, hin zu einer religions- und kulturhermeneutischen Theologie. Diese hätte zum einen die biblische und theologische Überlieferung daraufhin zu untersuchen, mit welchen Deutungsmustern menschlichen Sich-Selbst-Verstehens sie auch uns Heutige inspirieren kann. Sie hätte zum anderen den religiösen Motiven nachzugehen, die sich in der ästhetischen Kultur der Gegenwart finden und dort oft große Aufmerksamkeit finden. D.h. dann, nach der Religion in Musik und Literatur, Kunst und Theater zu fragen. Vor allem die Literatur, Kultur- und Medienwissenschaften sind von daher für die Theologie heute ganz wichtige Gesprächspartner.

Die Frage nach der Zukunft der Theologie ist ja kein Randthema, denn ohne eine kritisch erneuerte, muntere und Neues wagende Theologie wird wohl auch die Kirche selbst nicht in Schwung kommen. Welche Hinweise hätten Sie da den kirchenleitenden Gremien und den Gemeinden vorzuschlagen?

Ich muss gestehen, dass mir zu dieser Frage nichts mehr einfällt. Von den kirchenleitenden Gremien erwarte ich auf absehbare Zeit kein Umdenken. Sie waren an Theologie ohnehin eigentlich noch nie interessiert. Ihnen geht es um kirchliche Machterhaltung. Was dieser theologisch nützlich erscheint, wird dann als „theologische Begründung“ kirchlichen Handelns ausgegeben. Anders sieht es freilich in den Gemeinden aus, sofern die Gemeinden die Menschen sind, die der Kirche (noch) zugehören. Unter ihnen sind viele, die auf eine ihr merkwürdiges Leben zum besseren Verständnis bringende religiöse Ansprache warten.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Belin

Glauben ist “einfach”: Was ist das Wesen des Christentums?

Glauben ist “einfach”: Was ist das Wesen des Christentums?
Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn

Papst Franziskus spricht oft von der armen Kirche als dem Ideal christlichen Lebens, also Bescheidenheit und Solidarität sind oberste Tugenden. Aber sollten sich die Kirchen, wenn sie denn arm werden wollen, nicht auch auf eine “arme” Theologie besinnen, also auf eine ganz dem Wesentlichen verpflichtete Lehre? Was wäre in Ihrer Sicht heute, etwa für Westeuropa gesprochen, das Wesen des christlichen Glaubens?

Wie kommt es denn, dass Papst Franziskus vom christlichen Leben spricht, dann von Tugenden wie Bescheidenheit und Solidarität, die das christliche Leben auszeichnen? Deshalb doch hat er sich nach dem hl. Franziskus benannt, als erster in der Geschichte des Papsttums: Weil es ihm wie Franz, dem Begründer des Ordens der „Minderen Brüder“, um die „Imitatio Christi“, um ein Leben in der Nachahmung Christi geht. Das ist nicht allein moralisch, sondern auch religiös gemeint. Der Papst appelliert nicht, bescheidener zu leben. Er ermahnt nicht nur zu mehr Solidarität, indem er die zerstörerischen Auswüchse eines um soziale Gerechtigkeit unbekümmerten Kapitalismus brandmarkt. Es geht diesem Papst tatsächlich um das, was für den christlichen Glauben wesentlich ist: Dass dieser ein bedingungsloses Vertrauensverhältnis zu Gott ist.
Gott ist dem christlichen Glauben die unerschöpfliche Quelle allen Lebens. Aus ihr strömen allem Leben unaufhörlich Mut und Tatkraft, vor allem aber die Hoffnung zu, wenn die Kräfte schwinden und wir ganz und gar am Ende scheinen. Dieses Vertrauensverhältnis zu Gott als dem unergründlichen Geheimnis des Lebens hat Jesus gelebt. Aus ihm heraus war er fähig zu liebender Hingabe an die Kranken, die Armen, die in ihrer Schuld Gefangenen. Aus diesem unbedingten Vertrauensverhältnis zu Gott als der unerschöpflichen Kraftquelle des Lebens hat Jesus Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortet, sondern sich in den Tod am Kreuz dahingegeben. In das unbedingte Vertrauensverhältnis zu Gott, das Jesus gelebt hat, ist insofern auch die Hoffnung auf Auferstehung, d.h. die unendliche Lebensenergie, die aus Gott kommt, einbezogen.
Im biblischen Weltbild ist der Glaube als unbedingtes Vertrauen auf die göttliche Liebe als das Geheimnis des Lebens in Vorstellungen ausgedrückt, die wir Heutigen als Mythen auffassen: Dass Christus von den Toten auferstanden ist, erhöht wurde zur Rechten Gottes des Vaters. Das sind Vorstellungen, die eine jenseitige Parallelwelt voraussetzen, wenn man sie nachvollziehen will. Der Glaube an diese jenseitige Parallelwelt existiert aber nur noch in den kirchlichen Liturgien und in einer komplizierten, den Mythos in eine spekulatives Gott-Denken überführenden, mit metaphysischen Setzungen operierenden Theologie. Aber diese Theologie versteht nur, wer zugleich in der neuplatonischen Philosophie der frühen christlichen Jahrhunderte bewandert ist.
Einfach wird die Theologie erst dann wieder, wenn sie die mythischen Vorstellungen von dem auferstandenen und zur Rechten des Vaters erhöhten Christus als Symbole und Metaphern liest, als bildliche Vorstellungen, mit denen wir die unendliche Liebe zum Leben, die Jesus gelebt hat, in ihrer göttlichen Tiefendimension zum Ausdruck bringen. Wenn wir den Mythos nicht einfach beiseite schaffen, sondern als Mythos, als Bild vom unsagbaren, göttlichen Geheimnis des Leben deuten, dann bleibt der Glaube einfach, aber gewinnt an religiöser Tiefe, wird somit vor einem Abgleiten in trivialmoralische Appelle geschützt.

Wenn man sich theologisch stark konzentriert auf Gott als Geheimnis des menschlichen Lebens: Wie lässt sich dieses Geheimnis heute den Menschen vermitteln, wie kann es Hinweise darauf geben?


Auch da setzt der Papst im Grunde die richtigen Zeichen. Dass Gott das Geheimnis des Lebens ist, das lässt sich niemanden andemonstrieren. Davon kann man Menschen nur überzeugen, wenn man darauf zeigt, zu welcher Lebenshaltung solcher Glaube befähigt. Der Gott, der das Geheimnis des Lebens ist, ist ja gerade kein Gegenstand, nichts, was in dieser Welt auf beobachtbare Weise vorhanden wäre. Gott ist der, der alle Welt und unser Leben in ihr trägt, die Quelle unseres Lebensmutes und unserer auch noch den Tod übersteigenden Lebenszuversicht. Zu einem solchen Gott gehört der Glaube als das bedingungs-, ja grundlose Vertrauen auf ihn. Ohne den Glauben ist auch der Gott nicht. Der „Beweis“ seiner Existenz ist der Glaube. Der Glaube, der grundloses Vertrauen ist, erbringt den Gottesbeweis.
Für jeden, der einiger Selbstbeobachtung und dann auch Selbstachtung fähig ist, zeigt sich in den Erfahrungen des Lebens alltäglich, wie sehr wir angewiesen sind auf Liebe, Zuwendung und Anerkennung. Wir können ohne Anerkennung gar nicht leben und sehnen uns nach der vollkommenen, unaufhörlichen Liebe, solange wir sind. Solange die Liebe nicht aufhört, sind auch wir, eine jeder und eine jede von uns, unendlich. Gottes Liebe hört nimmer auf. Darauf verlässt sich der christliche Glaube. Das Zeichen seiner Wahrheit hat er in dem unserem Lebensvollzug eingeschriebenen, unendlichen Liebesverlangen.

Wenn Gott als Geheimnis verehrt wird, entsteht dann ein völlig bildloser Glaube? Welche Rolle spielen dann noch Kunst und Literatur etwa?


Das Urbild des Glaubens an Gott als Geheimnis des Lebens, der der christliche Glaube ist, bleibt ganz ohne Frage der Mensch Jesus. Er hat diesen grundlosen Glauben gelebt, bis in seine Selbsthingabe in den Tod am Kreuz. Jesus war aus seinem Gottvertrauen heraus fähig zum Tun der Liebe, zu vorbehaltloser Solidarität mit den Verachteten, Armen und Elenden. Damit wurde er zum Christus, zu dem Menschen, der alle anderen zum grundlosen Gottvertrauen ermutigt und dazu, das Leben in Bescheidenheit und Solidarität zu führen.
Wichtig ist, dass wir nicht meinen, wir müssten Jesus als das Urbild des Glaubens in eine himmlische Parallelwelt erhöhen und zum Gegenstand unserer Anbetung machen. Es kommt vielmehr darauf an, dass wir uns von Jesu Glaubenszuversicht und Lebensmut anregen lassen und ihm darin nacheifern. Das freilich fällt oft entsetzlich schwer, angesichts der Ströme von Blut, die nach wie vor die Menschheitsgeschichte durchziehen, angesichts all der Gräuel und Ungeheuerlichkeiten, die Menschen einander angetan haben und fortwährend antun. Denken wir gegenwärtig nur an die Syrien, eines der Länder, in denen das Christentum seinen Ursprung hatte.
Der Glaube ist nicht bildlos. Er hat und behält sein Bild in dem gekreuzigten Christus. Und dessen Darstellung endet eben nicht mit der sog. christlichen Kunst, in dem mit Goldglanz bestückten „Christus Imperator“. Wir finden das Bild des Christus, der sein grundloses Grundvertrauen bis hinein in die Verzweiflung der Gottverlassenheit am Kreuz festhält, in Picassos Guernica ebenso wie in Anrulf Rainers Bildübermalungen. Ganz zu schweigen von der Literatur, die nicht nur voll ist von Erzählungen über die „Liebe in Zeiten der Cholera“, sondern überhaupt davon zeugt, dass das unfassliche Geheimnis des Lebens unaufhörlich danach strebt, in eine Form gebracht zu werden, die es uns möglich macht, dass wir ihm , wenn auch nur mit „Furcht und Zittern“ doch nahe kommen können.

Wenn Gott als Geheimnis ganz im Mittelpunkt des Glaubens steht, ergeben sich dann auch Verbindungen zur Gesellschaft, zur Solidarität? Oder wäre dieser Glaube eher “mystisch” zu nennen?


Dieser Glaube ist ein mystischer Glaube, wenn ein mystischer Glaube meint, dass das, woran der Glaube glaubt, nicht in gegenständlicher Distanz zum Glaubenden verbleibt, sondern der Glaubende auf die Verschmelzung mit seinem Glaubensinhalt aus ist. Mystischer Glaube, so könnte man auch sagen, ist ein in der Lebensgemeinschaft mit Jesus gelebter Glaube, ein mit dem grundlosen Gottvertrauen Jesu eins werdender Glaube. Darin liegt dann aber auch, dass die Lebenshaltung, die aus dem Glauben Jesu folgt, demjenigen, der glaubt, auch zu seiner eigenen wird. Dieser Glaube wird in den Glaubenden zu einem solchen, der zu Liebe und Solidarität, zur Hinwendung zu den Armen und Schwachen befähigt.
Schon der „Altmeister“ der Mystik, Meister Eckhart (1260 – 1328) hat die christologische Dogmatik entgrenzt. Was die Schultheologie Christus alleine vorbehält, spricht er jedem Menschen zu: „Alles, was die Heilige Schrift über Christus sagt, das bewahrheitet sich völlig an jedem guten und göttlichen Menschen.“ Und: „Alles, was Gott Vater seinem eingeborenen Sohn in der menschlichen Natur gegeben hat, das hat er alles auch mir gegeben: hiervon nehme ich nichts aus, weder Einigung noch Heiligkeit, sonder er hat mir alles ebenso gegeben wir ihm.“ (Predigt 5 und Bulle Johannes XXII., Nr. 12 und 11)


Offenbar liegt in Ihrem Vorschlag, Gott als Lebensgeheimnis im Zentrum des christlichen Glaubens zu sehen, auch eine starke Bedeutung im Blick auf andere Religionen, etwa in Richtung Frieden, mit Blick auf Muslime usw. 


Die entscheidende Frage in der Verständigung über Religion, gerade auch wenn wir mit Angehörigen anderer Religionskulturen sprechen, ist nicht mehr primär die nach den Gegenständen des Glaubens. Nicht mehr die Frage, was glaubt ihr, weil es euch die Bibel oder der Koran, die Kirche oder der Imam gelehrt hat, ist dann wichtig. Die entscheidende Frage im Gespräch der Religionen ist jetzt: Wie lebt ihr? Wie lebt ihr, weil das euer Glaube ist, weil ihr darauf euer Vertrauen setzt, weil das für euch die Wahrheit ist. Wenn wir anfangen, uns über unsere Lebenseinstellungen zu verständigen, dann kommt heraus, was an unserem jeweiligen Glauben wesentlich ist. Und möglicherweise merken wir dann auch, dass unter der Decke so verschieden auftretender Religionslehren ein Gemeinsames liegt, nämlich, dass sie uns alle Aufschluss geben über Gott als das Geheimnis des Lebens. Freilich, sie tun es dann eben doch auf sehr verschiedene Weise.
Worauf es also ankäme im Gespräch der Religionen: In dieser Vielfalt sollte die unendliche Fülle der Perspektiven auf das unerschöpfliche Geheimnis des Lebens gesehen werden. Diese Vielfalt würde dann zur Bereicherung. Wir würden sie also gar nicht mehr überwinden wollen, sondern uns an ihr erfreuen. Das würde dann auch für den innerchristlichen Pluralismus gelten. Die Vielfalt der Konfessionen wäre ebenso wenig auf eine Einheitskirche hin zu überwinden. Es braucht die Vielfalt der Konfessionen unabdingbar auf dem unendlichen Weg zu Gott als dem unerschöpflichen Geheimnis des Lebens – selbst wenn dieses Lob des Pluralismus auch dem jetzigen Papst vermutlich nicht gefallen dürfte.


Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Mandela lebt: Gedanken nicht nur zu Weihnachten. Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Mandela lebt. Gedanken nicht nur zu Weihnachten.
Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt Universität Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn

Wir erinnern daran, dass dieses Interview das 20. ist in der Reihe „Funda-mental vernünftig“, die wir mit Prof. Wilhelm Gräb seit eineinhalb Jahren gestalten. Wir, das sind auch die vielen LeserInnen, danken herzlich für diese so freundliche Form der Zusammenarbeit. Sie bleibt hoffentlich noch lange für uns inspirierend, die wir an einer Spiritualität interessiert sind, die der Vernunft gro-ßen Raum lässt und die man – mit einer „Etikette“ – eine zeitgemäße „liberale Theologie“ nennen kann. Prof. Gräb ist einer der wenigen, die da für uns be-sonders inspirierend sind. Diese neue „liberale Theologie“ ist offen für ein lern-bereites Gespräch mit Philosophien, auch deswegen schätzen wir sie so sehr. Zudem erinnern wir daran, dass Prof. Wilhelm Gräb seit vielen Jahren einmal pro Jahr für einige Wochen auch Theologie in Südafrika lehrt, im Gespräch mit den Menschen dort.

Frage: Bei den Abschiedsfeiern für Nelson Mandela zeigte sich in aller Öffent-lichkeit die Überzeugung des Volkes: Mandela lebt. Er ist nicht tot. Mandelas Sache geht weiter. Zeigt sich da auch eine lebendige Überzeugung von einem vernünftig verstandenen Auferstehungsglauben, der auch universales Interesse finden sollte?

Wilhelm Gräb: Die ganze Welt nahm in der vergangenen Woche bewegt von Mandela Abschied. Was macht die Faszinationskraft dieses ungewöhnlichen Menschen aus?
Nelson Mandela hatte als ein Kämpfer gegen die unmenschliche Rassentrennung der Apartheid in Südafrika 27 Jahre lang, unter Androhung der Vollstreckung der Todesstrafe, im Gefängnis gesessen. Er kam nach 27 Jahren Haft frei und konnte seinen Henkern ohne Hass, ohne Rache- und Vergeltungsabsichten be-gegnen. Bedingungslos vergeben konnte er und hat so den Weg zu einer friedli-chen und gedeihlichen Zukunft für Südafrika geöffnet. Das war ein Handeln gleichsam aus göttlicher Liebe.
Ja, man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Mandela war ein göttlicher Mensch. Mandela hat göttlich gehandelt. Das kann man mit dem Apostel Paulus auf theologisch begründete Weise sagen: Durch Mandela hat Gott gehandelt wie er nach Paulus durch Christus gehandelt hat. „Gott“, so sagt Paulus, „versöhnte in Christus die Welt mit sich selbst, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Korinther 5, 19). Was Gott durch Christus getan hat, hat er auch durch Mandela getan. Er versöhnte ein zerrissenes Volk mit sich selbst. Aufgerichtet durch Mandela, sichtbar für die heutige Welt, das Wort von der Versöhnung.
Ganz wie Jesus. Er hat auf Gewalt nicht mit Gegengewalt geantwortet. Eines seiner letzten Worte am Kreuz war: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34) So hat auch Jesus die Spirale von Gewalt und Gegen-gewalt unterbrochen. So wurde neues Leben möglich, die neue Schöpfung von der Paulus sprach. Leben aus tödlichen, todbringenden Verhältnissen. Das ist Auferstehung. Ja, Mandela lebt. Das Wort von der Versöhnung, das er erneut aufgerichtet hat, wirkt weiter.
Vielleicht kann man sogar noch weiter gehen und sagen: In und durch Mandela hat Gott nicht nur gehandelt. Mandela war nicht nur ein Instrument in Gottes Hand, sondern mit Gott eins: In und durch Mandela ist Gott auf besonders sichtbare Weise Mensch geworden, so, wie er in Christus exemplarisch Mensch geworden ist. Deshalb weiter: Überall dort wird Gott Mensch, wo so gehandelt wird wie Mandela gehandelt hat. Gott wird Mensch, wo vorbehaltlo-se, bedingungslose Liebe geschieht. Dort wird es Weihnachten.
Und wie ist Mandela aufgetreten, nachdem er 1990 aus dem Gefängnis entlas-sen worden war? Nicht gebieterisch, nicht mit erhobenem Zeigefinger, nicht auf der Durchsetzung seiner neu gewonnenen Macht bestehend. Nein, immer trat er mit einem heiteren Lachen vor die Öffentlichkeit und wenn sich nur die Gele-genheit bot, dann tanzte er seine Schritte. Er wollte kein Vorbild sein. Er wollte keine unerfüllbare Last auf die Menschen legen, sondern sie mit dem Herzen für den Siegeszug der Liebe gewinnen. Eben wie Jesus. Wie das Kind in der Krippe. Es stellt keine Forderungen. Es sagt uns nicht, dass wir bessere Menschen werden, lieben und vergeben sollen. Es zieht uns zwanglos auf seine Seite, weil es die Freude am Leben in uns weckt, weil es die Liebe, die wir zu einem Men-schenkind empfinden, in uns entstehen lässt. So handelt Gott in dieser Welt, in Jesus, in Mandela, in allen Menschen, die er innerlich verwandelt, indem er sich einnistet auf dem Grunde einer Menschenseele, indem er uns Menschen die Lie-be spüren lässt, in der wir atmen und die wir weiterverströmen können.

Frage: In der Zeit vor Weihnachten ist die Aufmerksamkeit religiöser Menschen auf das Jesuskind in der Krippe fixiert. Aber inspirieren uns die Ereignisse rund um den Abschied von Nelson Mandela nicht auch, Weihnachten mit der Aufer-stehung (und damit auch mit dem Kreuz) zu verbinden, wenn nicht als Einheit zusehen?

Wilhelm Gräb: Die Revolutionierung des Gottesgedankens, die das Christentum ausgelöst hat, tritt deutlich hervor, wenn wir sehen, dass Weihnachten, Karfrei-tag und Ostern eine Einheit bilden. Das Kind in der Krippe wärmt unser Herz, aber doch eben deshalb, weil uns in ihm der Gott, der Grund allen Sinns, so lie-bevoll begegnet. Der christliche Gott ist kein Herrscher, kein Weltenlenker noch gar ein endzeitlicher Richter. Der christliche Gott ist die Macht der Liebe, eine ohnmächtige Macht in den Augen der Welt also. Aber im Leben von Menschen wie Mandela einer war, sehen wir, was die ohnmächtige Macht der Liebe alles vermag. Das geht nicht, ohne zu leiden. Die Liebe, zu der Mandela fähig war, zeigt sich in seiner Bereitschaft zur bedingungslosen Vergebung, im Verzicht auf Vergeltung. Das war der Karfreitag im Leben dieses göttlichen Menschen. Die absolute Selbsthingabe und damit das Ende aller Opfer. Nur so aber ist die neue Schöpfung möglich, wiedererwecktes Leben, das aus der Gefangenschaft in todbringenden Verhältnissen herausführt: Ostern, der Tag der Auferstehung.
Als fielen Weihnachten und Ostern auf einen Tag, so haben die Südafrikaner die Begräbniszeremonien in dieser Woche begangen. Nicht in rückwärtsgewandter Trauer über den Verlust Mandelas, sondern in der freudigen Hoffnung, dass sein Werk der Versöhnung weitergeht.

Frage: Das Johannes Evangelium kennt ja keine Geschichten von der Krippe und dem Stall, in dem Jesus geboren wurde. Hingegen wird für philosophisch Interessierte großartig gesagt: Der Logos wird Fleisch, der Logos wird Mensch. Können und sollen wir nicht daraus folgern: Ja, wir Menschen alle haben An-teil an dem göttlichen Logos? Er ist in uns? Drückt sich in den spontanen Glaubensüberzeugungen, etwas des Volkes in Südafrika jetzt, diese Überzeu-gung aus: Gott, der Logos, ist in uns. Dieser Logos, also auch diese Vernunft, sollte weltgestaltend sein.

Wilhelm Gäb: Die vom griechischen Denken bestimmte Begrifflichkeit, mit der das Johannes-evangelium arbeitet, hilft uns, über die Gegenständlichkeit in der Rede von Gott hinauszukommen. Dann verstehen wir noch besser, dass in Menschen wie dem Jesus von Nazareth oder dem Xhosa Nelson Madiba Mandela lediglich auf ex-emplarische Weise sichtbar und menschheitsgeschichtlich wirksam wird, was doch zugleich, der Potenz nach, in allen Menschen da ist. Wenn wir sagen, dass Gott in Jesus Christus oder in Nelson Mandela Mensch wird, dann gilt das po-tentiell für alle Menschen. Wir alle tragen Gott in uns. Das eben zeigt sich uns in unserer Vernunftbegabung, die es macht, dass wir die Welt erkennen und ges-talten können. Dass da dieses Passungsverhältnis ist, zwischen uns und der Welt, wir uns in ihr Ziele setzen und sie auch erreichen können, wir das Gefühl haben, in ein letztlich sinnvolles Ganzes einbezogen zu sein – das alles hat seinen Grund im göttlichen Logos, an dem wir alle teilhaben.
Wer Gott leugnet, wird wohl nicht an den “Sinn des Ganzen” glauben, wird wohl “Nihilist” werden. Gott als der Logos ist die Idee vom Sinn des Ganzen einer Welt, zu der wir gehören und die wir als Ganze doch nie vor uns bringen können. Wir wissen im Grunde nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. Und dennoch können wir darauf vertrauen, dass sie sich uns erschließt und als lebensdienlich erweist.
Längst nicht immer freilich scheint uns dieses Vertrauen berechtigt. Es ge-schieht so viel Schreckliches in der Welt und die besten Absichten rufen oft nur noch größere Übel hervor, es geht so ungerecht zu, dass uns zumeist eher ein Grundmisstrauen dem Sinn des Ganzen gegenüber angemessen erscheint. Im-mer dann, wenn solches Grundmisstrauen in uns aufkommen will, tut es gut, auf solch ungewöhnliche Menschen wie Jesus oder Mandela zu schauen. In ihnen sehen wir auf beispielhafte Weise, was der göttliche Sinn des Ganzen vermag, wenn Menschen ihn ergreifen und in seiner Richtung handeln.
Dann geschieht es, dass Friede einkehrt, wo Streit und Krieg war. Dann ge-schieht es, dass Feinde sich als Brüder und Schwestern erkennen. Dann schweigen die Waffen, wie es an den Weihnachtstagen des 1. Weltkriegs, für Stunden wenigstens, der Fall war. Die Bedeutung von Weihnachten ist auch heute überall auf der Welt, zumindest als ungefähre Ahnung, präsent. Sie kann ja auch gar nicht überschätzt werden. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen für die Welt, dass die Trauerfeier für Mandela – Obama und Castro gaben sich dort die Hand – wenige Tage vor Weihnachten stattfand. Ja, Mandela lebt – in Ewigkeit. Amen.

Veröffentlicht am 14.12.2013
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon

Glauben ohne Angst. Ein Interview über “Himmel und Hölle” mit Prof. Wilhelm Gräb

Religion ohne Angst
Ein Interview mit dem protestatischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb,
Humboldt Universität Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn

Im Umfeld des Totensonntags oder Ewigkeitssonntags wird auch vom Ende des Lebens gesprochen, manche christlichen Menschen denken dann an das Endgericht Gottes, an mögliche göttliche Strafen.
Sicher werden auch der Begriff und die Bilder von “Hölle” wieder hoch kommen. Was ist für eine liberale Theologie, die “es gut meint mit dem Menschen”, wie Sie früher so deutlich sagten, wichtig im Blick auf den Totensonntag?

Im Jahreszyklus ist der Totensonntag – nach kirchlichem Sprachgebrauch, der Ewigkeitssonntag – ein wichtiger Tag. Es ist der letzte Sonntag im Kirchenjahr und wird gerade von denen, die einen lieben Menschen verloren haben, als Tag des Gedenkens begangen. In vielen gemeindlichen Gottesdiensten werden die Namen der Verstorbenen des vergangenen Jahres verlesen; auf den Friedhöfen finden weitere Andachten am Nachmittag statt. Betont der „Totensonntag“ das Totengedenken, so der „Ewigkeitssonntag“ die christliche Auerstehungshoffnung.

Christlicher Glaube ist in seinem Zentrum Auferstehungsglaube. Aus der Gewissheit, dass Jesus, der den Tod am Kreuz hat sterben müssen, von Gott ins ewige Leben gerufen wurde, ist die christliche Religionsbewegung entstanden. Insofern kann man durchaus sagen, dass es ein und dasselbe bedeutet, christlich zu glauben und die Ewigkeitshoffnung zu gewinnen. Das apokalyptische Weltbild des Neuen Testamentes drückte diese Ewigkeitshoffnung dann in Bildern aus. Sie haben die Totenauferweckung mit dem Gerichtsgedanken verbunden. Dem Eingang in die himmlische Seligkeit steht dann ein finsterer Ort entgegen, an dem Heulen und Zähneklappern sein wird.

Der christliche Grundimpuls war jedoch überhaupt nicht von diesem Dualismus „himmlische Seligkeit contra Hölle“ geprägt. Jesus versprach vielmehr allen, die seinen Weg der Gottes- und Nächstenliebe mitgehen, die unendliche Lebensfülle. Deshalb konnten Jesu Anhänger auch seinen Kreuzestod nur als eine Art Durchbruch durch Elend, Sterben und Tod hinein in die ewige Seeligkeit deuten. Denn so hat Jesus von Gott gesprochen, dass in ihm das Leben ist, ein Leben, das gerade nicht mehr nur diese Krankheit zum Tode ist, das nicht im Tod endet, sondern den Tod überwindet und in Gottes Ewigkeit eingeht.

Das Neue Testament lässt keinen Zweifel daran, dass alle Bilder von Gottes ewigem Leben niemals adäquate Vorstellungen sein können. Alle Vorstellungen sind unserer endlichen, irdischen, widersprüchlichen, tödlichen Wirklichkeit entnommen. Wir können nur symbolisch, in uneigentlichen Sinnzeichen, von
der transzendenten göttlichen Wirklichkeit sprechen. Aber dabei ist vom Neuen Testament her ebenso klar, dass Gott die unendliche Fülle des Lebens, der unverlierbare Sinn des Ganzen der Wirklichkeit ist. Wer im Geiste Jesu an Gott glaubt, setzt darauf, dass der Welt im Ganzen ein unverlierbarer Sinn innewohnt. Er besteht auch darauf, dass Gott jeden, der ihm vertraut, jetzt schon an der Fülle ewigen Leben teilhaben lässt. An Gottes Ewigkeit teilzuhaben, schon mitten in der Zeit und unendlich übers Irdische hinaus, geschieht, wo Menschen im Glauben und in der Liebe ihr Leben gestalten.

An Gottes Ewigkeit gewinnt jeder Anteil, der glaubt. Mehr braucht es nicht. Den Glauben aber braucht es, weil ja nur dann, wenn wir selbst uns in Beziehung zu Gott wissen, wir in der Einheit unseres selbstbewussten Daseins an Gottes ewigem Leben teilhaben. Unser Glaube macht es, dass wir uns selbst als zu Gott gehörig verstehen.

Von der Hölle ist im Christentum in keiner Weise zu reden. Gott ist ewiges Leben. Er ist Leben im Licht und in der Fülle und nicht zugleich auch noch das Gegenteil. Es ist keine Leere und keine Finsternis in ihm. Versteht der christliche Glaube sich richtig, dann redet er also nicht von der Hölle und finsteren Teufelsmächten. Es sähe dann außerdem so aus, als wüssten wir von einer jenseitigen Wirklichkeit, die für die einen eine himmlische Glückseligkeit und für die anderen eine schreckliche Todeswirklichkeit bereithält. So ist es aber nicht.

Alle Aussagen über eine jenseitige Wirklichkeit, sei es die des Himmels, sei es die der Hölle, entspringen, sobald sie vom vertrauensvollen Akt des Glaubens absehen, einer halt- und heillosen Spekulation. Die Hölle ist eine Erfindung derer, die meinen, man müsse den Menschen Angst machen, damit sie sich zum Glauben bekehren und ein ordentliches Leben führen. Die angstmachende Rede von der Hölle verfehlt beides, Gott und den Glauben, die Fülle des Lebens und das grundlose Vertrauen darauf, dass die Fülle allen Menschen versprochen ist.

Sind denn die traditionellen Bilder, die aus dem biblischen Buch der Apokalypse stammen, heute noch existentiell berührend und wichtig?

Es gibt so viel Schreckliches in der Welt, Naturkatastrophen, und vor allem die Kriege, all die Grausamkeiten, die Menschen einander antun. Es ist einfach nur furchtbar! So sieht die Hölle auf Erden aus. Da ist es nur zu verständlich, dass wir auch in der Bibel Vorstellungen und eine Sprache finden, die die Blutströme, die die Menschheitsgeschichte durchziehen, in Bilder eines endzeitlichen Dramas übersetzen, in dem Gott den unerbittlichen Kampf gegen die Mächte des Bösen führt. Diese Bilder des endzeitlichen Schreckens, die sich nicht nur im letzten Buch der Bibel (der Apokalypse), aber dort mit besonderer Wucht finden, zeigen, wie zu einer bestimmten Zeit dem Schrecken und unserem Entsetzen Ausdruck gegeben werden kann.

Die Botschaft der Bibel ist dennoch eine durch und durch von der Angst befreiende Botschaft. Jesus ist gekommen zu retten, was verloren ist, nur dazu. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion und sonst gar nichts.

Der Fehler, der freilich immer wieder begangen worden ist und auch heute begangen wird, liegt darin, den Glauben, den allein der Gott verlangt, an menschlich kontrollierbare Bedingungen zu knüpfen: die christliche Taufe, den Glauben der Kirche, die Zustimmung zu bestimmten Glaubenssätzen, die Einhaltung bestimmter Moralvorschriften. Nur wer in einem bestimmten Sinn glaubt, sich zu einer bestimmten kirchlichen Gemeinschaft der Erwählten hält, geht in die ewige Seligkeit ein, den anderen droht die ewige Verdammnis.

So aber wird die biblische Botschaft im Kern missverstanden. Sie will, „dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1. Timotheus 2,4), wer sie auch seien, welcher Konfession oder Religion sie auch angehören, selbst wenn sie keiner Kirche oder Religion verbunden sind. Die Wahrheit ist, dass Gott die Welt trotz der ungeheuren Macht des Bösen in Liebe zusammenhält und auf den Sinn, den sie im Ganzen hat, ausrichtet.

Allmächtig ist Gott nicht, wäre er es, gäbe es die Macht des Bösen, all die Gewalt in Natur und Geschichte überhaupt nicht. Wäre Gott immer schon alles in allem, die Vollendung der Liebe und die Realisierung des Sinns des Ganzen, dann gäbe es aber auch keine natürliche Evolution und keine die Freiheit der Menschen realisierende Menschheitsgeschichte. Als die Macht der Liebe und als der Sinn des Ganzen von Welt und Leben ist Gott für uns, die wir in der Zeit sind und in eine immer noch unvollendete und undurchschaubare Geschichte verstrickt sind, ein werdender Gott. Gottes Sein ist im Werden, so aber, dass er uns an diesem Werden teilhaben lässt. Dies geschieht in unserem vertrauensvollen Glauben, in unserem Tun der Liebe, in der Hoffnung, mit der wir in allem Widerstreit und allem Kampf auf eine Vollendung der Welt im Guten setzen.

So ist die christliche Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, zu verstehen. Sie setzt keinen Widerspruch, keine Macht des Bösen, nicht einmal eine Zornesmacht in Gott selbst hinein. Sie redet auch keinem Gegengott, keinem Teufel das Wort. Gott ist die Macht einer ohnmächtigen Liebe und damit Weg zur Realisierung des Sinn des Ganzen einer Welt, die von uns als eine solche erfahren wird, in der es ungeheuer viel Leid, Schmerz und Geschrei gibt.

Indem wir Gott denken und an ihn glauben und auf ihn unsere Hoffnung setzen, gehen wir aber davon aus, dass die Liebe das letzte Wort behält und wir auf einen Gott zugehen, der, wie es im letzten Buch der Bibel heißt, „abwischen wird alles Tränen“ (Offenbarung 21,4). So ist Gott der, der überall dort am Werk ist, wo Menschen auch noch in Katastrophen neuen Mut gewinnen, wo sie auch noch in bösen Erfahrungen an den Sieg der Liebe glauben, wo sie im Leiden am trotzigen Dennoch neuen Glücks festhalten, wo sie die Hoffnung nicht aufgeben. Weil es Gott ist, der am Ende Recht behalten wird, deshalb ist es eines jedes Menschen Bestimmung, im unendlichen Ganzen letztlich nicht verloren zu gehen, an der Fülle teilzuhaben, ewig in Gott geborgen zu sein.

Kann es eine religiöse Haltung geben, die ohne Angst auskommt, ohne Angst vor Gott?

In der Religion geht es um nichts anderes, so könnte man geradezu sagen, als eben darum, die Angst, die zu unserem endlichen Dasein gehört (Heidegger hat sie im Anschluss an Kierkegaard ein Existential genannt), zu überwinden. „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Johannes 16, 33) So sagt es Jesus. In der Welt haben wir Angst, denn wir wissen nicht, was sein wird und es kann und wird so vieles geschehen, was wir nicht verstehen und allen unseren Vorstellungen vom Leben wie es sein sollte zuwiderläuft. Aber der Glaube ist gerade darin Glaube an Gott, dass er den Gedanken einer Vollendung fasst, der den Widerstreit der Welt hinter sich lässt und den Sinn uns zeigt, auf den hin wir schon immer leben. Dann werden wir sein wie Träumenden, die eintauchen in ein Meer voller Wärme und Licht.

Sollten wir uns von der Vorstellung „Gott als strafender Richter“ verabschieden?

Radikal! Die Vorstellung von Gott als strafendem Richter ist zwar eng mit der juridischen Auffassung der paulinischen Rechtfertigungslehre verbunden, aber genauso unhaltbar wie diese jurirdische Gottesauffassung insgesamt. Wenn Gottes Sein im Werden ist, dann erfahren wir ihn nur dort, wo wir die Macht des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung erfahren. Gott ist in den Weltprozess selbst verwickelt, oft so, dass wir ihn nicht verstehen, weil wir ihn und seine Liebe nicht zusammenbringen können mit dem, was geschieht. Im Absurden und Desaströsen spricht die Erfahrung nicht dafür, dass einen Gott gibt. Eigentlich spricht die Erfahrung nie direkt für Gott. Sie kann nicht für ihn sprechen. Dennoch ist Gott so ins Weltgeschehen verwickelt, dass er ihm die Richtung gibt, hin auf einen guten Ausgang aller Dinge. Als der Richtungssinn der Geschichte existiert er. Im Vertrauen auf diesen Sinn ist er der Gegenstand unseres Glaubens und der Grund unserer Hoffnung.

Der Gott, der vertrauenswürdig ist, ist kein richtender Gott. Dann müsste er über dem turbulenten Weltgeschehen thronen, um schließlich den Guten den Himmel zu öffnen und die Bösen in die Hölle zu schicken. Der vertrauenswürdige Gott ist der in die Menschen- und Weltgeschichte verstrickte, aber ihr den Richtungssinn gebende Gott, vielfach ohnmächtig in seiner Liebe, immer wieder bösen Mächten unterliegend. Deshalb steht das Kreuz im Zentrum des Christentums. Aber wenn es diesen Gott unseres Vertrauens nicht gäbe, dann hätte diese komplizierte, ebenso schöne wie schreckliche Welt kein Ziel, keines, an das wir glauben und auf das wir hoffen können.

Welche Interessen haben einige Christen, wenn sie noch am Begriff der Hölle und katholischerseits am Fegefeuer festhalten?

Da Gottes Wesen in der Höllen-Predigt völlig verkannt wird, liegt die Vermutung nahe, dass diese Vorstellung ein machtvolles Instrument in der Hand derjenigen ist, die an einen strafenden Gott bei den Menschen immer noch glauben. Sie wollen die Angst steigern bei denen, die in diesen unglücklichen Gottesvorstellungen vielleicht sogar schon erzogen worden sind. Oft wird zwar gesagt, dass mit der Drohung von Hölle und Fegefeuer die Menschen zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung und zum Tun des Guten angehalten würden. Das Gegenteil scheint mir jedoch der Fall. Höllen- und Gerichtsandrohung führen allenfalls zu einer trüben Doppelmoral.
Klerikale Herrschaftsinteressen liegen auf der Hand.
Die Bibel redet eine andere Sprache: „Niemand hat Gott jemals gesehen. So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns… Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe.“ (1. Johannes Brief, 4, 12 und 18)
copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Reformation geht weiter: Der Theologe Wilhelm Gräb über ein angeblich “schwieriges Fest” (2017)

Ein Vorwort: Es melden sich immer mehr (auch evangelische) Stimmen, die behaupten, “was es an der Reformation zu feiern gibt, ist immer noch nicht klar”. So Wolfgang Thielmann in der Beilage zur Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Titel “Christ und Welt”, erschienen am 7. November 2013, Seite 1. Wem das wirklich immer noch nicht klar ist, angesichts der Zustände in den christlichen Konfessionen, sollte die Vorschläge zu einem angemessenen, vernünftigen Reformations – Verständnis lesen, wie sie im folgenden der protestantische Theologe Wilhelm Gräb vorträgt. Das Interview wurde am 26. Oktober 2013 unter dem Titel “Die Reformation der Reformation” auf dieser website veröffentlicht, am 7. November 2013 wurde diese Einleitung vorangesetzt.

Die Reformation der Reformation – Neue Themen für ein wichtiges Ereignis
Der Theologe Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, zum Reformationstag 2103
Die Fragen stellte Christian Modehn

Die Erinnerung an die Reformation Martin Luthers hat sehr oft nur den Cha-rakter des kritischen Rückblicks und der Wiederholung alter Standardthemen, wie etwa der Rechtfertigung des Sünders. Sollten nicht neue Gotteserfahrungen besprochen werden, etwa der “Gott in uns”, die Sakralität der Person; das Göttliche, das in der Musik (in jeder Musik?) oder auch in der Erotik erlebt wird? Oder in der Solidarität mit Verarmten und Leidenden?

Die Reformation muss weitergehen, immer weitergehen. Die des 16. Jahrhun-derts zieht ihre Faszination bis heute aus dem Gedanken religiöser Freiheit, den sie im Rückgriff auf das biblisch verstandene Evangelium aufzustellen gewagt hat. Jeder Mensch ist gleich unmittelbar zu Gott und kann sich selbst aus der Hl. Schrift über das richtige Tun belehren. Doch entstanden sind neue so ge-nannte evangelische Kirchentümer und natürlich auch Theologien, die ihre Aufgabe darin sahen und sehen, die Identität der evangelischen Kirche unter Beru-fung auf die reformatorischen Bekenntnisse zu stabilisieren.
Ich sehe die Aufgabe einer gegenwartsorientierten reformatorischen Theologie anders. Sie muss die Augen öffnen für die Gegenwart Gottes in dieser Welt. Hinweisen muss sie darauf, dass Gott die Idee ist, wonach das Ganze unseres Lebens, ja das Ganze der unendlichen Welt sinnvoll ist, obwohl es unsere Fas-sungskraft übersteigt. Weil ein Gott ist, wird das Ganze zusammengehalten, ge-hen wir im Unermesslichen und letztlich Unverfügbaren doch nicht verloren. Wir empfinden Gottes Gegenwart, wo uns die Welt entgegenkommt, in Men-schen, die wir lieben, mit denen wir eins werden, die uns verstehen oder für die wir uns einsetzen; in der Musik, sofern sie uns anspricht; in Werken der Kunst, sofern diese uns unsere merkwürdige Weltstellung sichtbar machen.
In der Sinngewissheit unseres Lebens schattet sich die Präsenz des göttlichen Seinsgrundes ab. Aber wir brauchen auch die Verständigung über unsere Selbstgefühle und Gottesideen. Das ist die Aufgabe einer gegenwartsbezogenen reformatorischen Theologie. Dann nimmt sie den Freiheitsimpuls der Reformation auf. Dann denkt sie Gott in den Erfahrungen unseres heutigen Lebens als den, der es macht, dass der Gedanke von der unverlierbaren Würde und dem unendlichen Wert eines jeden Menschen nicht nur in der Welt ist, sondern in ihr auch nicht mehr verloren gehen kann.
Nebenbei bemerkt, so verstehe ich auch die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus dem 16. Jahrhunderts. Sie wollte damit sagen, dass Gott das Lebensrecht jedes Menschen vorbehaltlos anerkennt, unabhängig von seiner Leistung und seiner sozialen Zugehörigkeiten. Nur hat sie das Evan-gelium noch in Vorstellungen ausgedrückt, die die unseren nicht mehr sind und auch nicht werden müssen.

Wie tief reicht protestantische Selbstkritik? Welche Traditionen belasten die Kirche in Deutschland heute? Ist sie frei genug, Überorganisation und Büro-kratie zu überwinden zugunsten neuer religiöser „Spielräume”, etwa der freie, umfassende religiöse Dialog außerhalb der Kirchenmauern, in Theatern, Kinos, Cafés, Konzerthäusern, in denen dann selbstverständlich auch neue Themen verhandelt werden.

Viel geschieht in dieser Richtung, mit den Citykirchen, auch hier in Berlin, mit den evangelischen Akademien, (auch den katholischen Akademien) und vielen Bemühungen um kulturelle Zeitgenossenschaft. Aber das alles ist dennoch viel zu wenig. Deshalb ist es so wichtig, dass wir an der Idee eines freien Protestan-tismus festhalten, der nicht mit der evangelischen Kirche zu verwechseln ist. Ihn gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert. In ihm lebt der Freiheitsimpuls der Reformation am deutlichsten fort. Aber er befindet sich selbstverständlich auch nicht in einem ausschließlichen Gegensatz zur institutionalisierten evangelischen Kirche. Beide sind ein Stück weit auch aufeinander angewiesen. Bedauerlich ist jedoch, dass auch die evangelische Kirche immer noch meint, so etwas wie ein „Wächteramt“ über das Religiöse in Kultur und Gesellschaft ausüben zu müs-sen. Sie sieht sich im Besitz von Normen biblisch-reformatorischer Wahrheit, die sie den religiösen Interessen der Individuen entgegenhält. Wo sie sich aber selbst umstellt, verändert, und nichts anderes zu sein versucht als Kirche für die Religion der Menschen, dort kann viel Freiheitsluft auch in sie selbst, in ihre le-bendigen Gemeinden Einzug halten. Dort hört sie auf, sich – theologisch, wie organisatorisch – vor allem mit sich selbst zu beschäftigen.

Heutiges protestantisches Reformationsgedenken wehrt schamhaft die Kritik an der römischen Kirche ab, um der angeblich so guten Ökumene willen, könn-te man meinen. Sollten Protestanten nicht heute auch die Freiheit haben, Miss-stände in der römischen Kirche oder etwa auch in der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats zu benennen? Welche Kritik wäre dann wichtig?
Die Ökumene kommt mir oft so vor, als sei sie vor allem von einem ökono-misch kalkulierten Kartelldenken bestimmt. Man schließt sich zusammen, um das Christentum, mit dem man sich identifiziert, besser gegen die säkulare Ge-sellschaft verteidigen zu können. Weil die evangelische Kirche dem reformatori-schen Freiheitsimpuls schon viel zu zaghaft folgt, will sie von Kirchenkritik nichts wissen. Wer sie übt, gilt schnell als Feind des Christentums und der Religion. Dass die Reformation in ihrem Kern Kirchenkritik war, davon hat auch die evangelische Kirche heute keine Ahnung mehr. Wie sollte da von ihr Kritik an der katholischen oder orthodoxen Kirche erwartet werden können? Es geht zwischen den Kirchen ähnlich zu wie in der Politik. Die Kritik anderer Kirchen schickt sich genauso wenig wie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Der andauernde Freiheitsimpuls der Reformation, der ja doch der des Evangeli-ums ist, der Botschaft von der Menschlichkeit Gottes, kann nur wirksam wer-den, wenn unterschieden wird zwischen der Religion des Evangeliums und der institutionalisierten Kirche. Dann ist jede Kirche, wie immer sie sich nennt, zu kritisieren, wenn sie nicht der Menschwerdung des Menschen dient, seinen e-lementaren Lebens- und Freiheitsrechten. Wo sie sich nicht dafür einsetzt, dass die den Geist des Evangeliums für unsere Zeit formulierenden Menschenrechte jedem Menschen zukommen, unabhängig von deren nationalen und kulturellen Zugehörigkeiten, ihren sexuellen und religiös-weltanschaulichen Orientierungen, ist eine Kirche zu kritisieren. Ich erspare mir jetzt, aufzuführen, was da im Blick auf das Verhalten und die Stellungnahmen der Kirchen – die römische und die orthodoxe Kirche besonders betreffend, die evangelische aber nicht ausneh-mend – konkret anzuführen wäre. Ich denke, es steht uns nur zu deutlich vor Augen.

Copyright: Prof.Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.