Die Reformation braucht eine Reformation. Zum 31. 10. ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Zum Reformationstag: Einmal radikaler die Reformation denken.

Die Erinnerung an die Reformation Martin Luthers hat sehr oft nur den Cha-rakter des kritischen Rückblicks und der Wiederholung alter Standardthemen, wie etwa der Rechtfertigung des Sünders. Sollten nicht neue Gotteserfahrungen besprochen werden, etwa der “Gott in uns”, die Sakralität der Person; das Göttliche, das in der Musik (in jeder Musik?) oder auch in der Erotik erlebt wird? Oder in der Solidarität mit Verarmten und Leidenden?
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Eine Theologie, die gut über den Menschen redet. Über eine “neue Berliner Theologie”

Eine Theologie, die gut über den Menschen redet. Über eine “neue Berliner Theologie”

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität
Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben in Ihrem Interview im August darauf hingewiesen, dass Theologie zu verstehen sei als „Auslegung des gelebten Lebens” der einzelnen. Ist damit auch die Aufforderung gemeint, dass wir viel stärker noch als bisher, “unser je eigenes Leben” nun auch sprachlich ausdrücken, für uns wie für andere? Und wie geht dann ein Theologe mit diesen Auslegungen um?

Ja, ich denke so: die Theologie, die hier und heute an der Zeit ist, muss eine Theologie sein, die die Menschen als die Subjekte ihres Lebens Ernst nimmt und keine anderen Interessen verfolgt, als den Menschen zur besseren Klarheit über sich selbst zu verhelfen. Wer sich den Anforderungen des Lebens stellt, hat Fragen genug, auf die es keine einfachen, ja vielleicht überhaupt keine Antworten gibt. Diese Fragen wach und sie auszuhalten, ob mein Leben einen Sinn hat, ob ich in der Unendlichkeit des Universums dennoch nicht verloren gehe, ob jeder Mensch dessen gewiss sein kann, auf keinen Fall vergeblich zu leben – ist die Aufgabe der Theologie. Dann wird sie zur Auslegung der Lebensdeutungen, die wir alle, so wir bewusst unser Leben führen, so oder so immer schon vollziehen.
Natürlich, als Theologie denkt sie den Gottesgedanken und damit die Idee, dass das Ganze dieser Welt und eines jeden Lebens in ihr sinnvoll ist, auch wenn es unsere Fassungskraft übersteigt. Aber damit weiß sie auch, dass Gott kein Gegenstand in dieser Welt ist, es ihn nicht gibt, wie es die Dinge, Gedanken und Gefühle gibt. Gott als der Sinn des Ganzen, so weiß eine zeitgemäße Theologie, lässt sich immer nur zum Sinnangebot machen. Eine gute Theologie versucht Gott zu einem möglichst plausiblen, einleuchtenden Sinnangebote zu machen.
Nennen wir sie ruhig die „Neue Berliner Theologie“, in konstruktiver Bezugnahme auf die Berliner Theologie, die einst, 1799, der Prediger an der Charité, Friedrich Schleiermacher, mit seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ dem „aufgeklärten“ Berlin vorgeschlagen hat. Heute, nach dem Jahrhundert der menschenverachtenden Ideologien von rechts und von links, braucht Berlin eine Theologie, die gut über den Menschen redet und seine Freiheit verteidigt, auch und gerade seine religiöse Freiheit. Denn die Freiheit zur Religion, sich selbst für oder gegen sie entscheiden zu können und die Freiheit in der Religion, Gott selbst denken und nach eigener Einsicht in seine Wahrheit glauben zu können, ist der Anfang aller Freiheit.

Wenn Theologie die jeweiligen Sinnentwürfe der heutigen Menschen wahrnimmt und reflektiert, welche normativen Aspekte wird dann diese liberale Theologie zur Geltung bringen?

Die Norm dieser Theologie ist allein die menschliche Freiheit. Menschen sollen zur Klarheit über sich selbst und die Bestimmung ihres Lebens finden. Dabei muss die Theologie, bzw. genauer der Theologe, die Theologin zur Klarheit über sich selbst kommen, über ihr eigenes Gott denken und Gott glauben. Dann nur können sie mit den nach einem letzten Sinn suchenden Menschen so ins Gespräch über Gott kommen, dass Gott sich diesen selbst als ihre Idee vom Sinn des Ganzen erschließt.

Nun gibt es in der langen christlichen Tradition eine Fülle von Glaubenslehren und Dogmen. Könnte man diese Aussagen, die manche Kirchenführer noch für definitiv halten, auch als Ausdruck des religiösen Lebens deuten und dadurch wiederum relativieren?

Die Glaubenslehre und Dogmen, selbst die Bibel verlieren in dieser Theologie ihren normativen Status. Diese Theologie betont stattdessen das kreative, die religiöse Selbstauslegung anregende Potential der religiösen und theologischen Überlieferungen. So, wie wir überhaupt die Sprache, die wir sprechen und vermittels derer wir uns über uns selbst und die Dinge des Lebens verständigen, nicht erfinden, sondern in sie hineinwachsen, so ist es auch mit der religiösen Sprache.
Das Problem ist nur, dass die religiöse Sprache der Tradition für die meisten zur Fremdsprache geworden ist. Die Aufgabe der Theologie wird es daher, die religiöse Sprache der Tradition in unsere heutige Alltagssprache zu übersetzen. Das wiederum gelingt uns am ehesten dann, wenn wir darauf achten, dass und wie in der religiösen Sprache der Tradition sich die religiöse Selbstauslegung der Menschen von damals ausgesprochen hat. Wir können die überlieferten Texte uns als Ausdruck religiöser Erfahrung verständlich machen.
In der Tiefe existentieller Grundfragen, in der Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, mit den Situationen des Glücks und der Not bleiben sich die Menschen aber auch erstaunlich gleich. Deshalb enthalten die Texte der religiösen Tradition, trotz einer uns vielfach unverständlich gewordenen Sprache, immer noch ein großes religiös-spirituelles Anregungspotential.

Wie geht eine neuen Berliner Theologie mit diesen “vorgegebenen” Traditionen und Dogmen um, wenn sie sich der gegenwärtigen und eigenen spirituellen Wahrnehmung gegenüber “sperren” und als nicht nach vollziehbar empfunden werden?

Klar, nicht alle Glaubenssätze der Tradition enthalten für uns ein religiös-spirituelles Anregungspotential. Nicht alle können wir zum Ausdruck der Deutung unseres eigenen Lebens und Selbstverständnisses werden lassen. Dann müssen wir sie zurücklassen und sie der Theologie- und Dogmengeschichte übergeben. Entscheidend für uns ist ja eben dieses Verständnis des Glaubens, wonach es in ihm nicht um die Anerkennung von Glaubenssätzen geht, sondern darum, dem Ausdruck zu verleihen, worin sich uns selbst unsere Lebenszwecke versammeln und unsere Daseinsgewissheit begründet.
Sofern wir zur Klarheit darüber kommen, dass wir eine letzte Rückbindung nur in dem Gott finden, auf den wir unser Vertrauen setzen, kann sich solches Vertrauen immer wieder an den Zusagen und Verheißungsworten aufrichten, in denen Menschen der Vergangenheit religiösen Halt gefunden und mit denen sie zugleich den Grund ihres Glaubens zur Sprache gebracht haben. Wo der Glaubensüberlieferung diese religiös inspirierende Kraft fehlt, funktioniert sie in der je gegenwärtigen religiösen Kommunikation nicht mehr. Dann sollen sich die Historiker unter den Theologen mit diesen Texten und Denkmälern befassen.

Manche “orthodoxen” Kirchenführer und Lehrer werfen dieser Haltung (mit ihrer nun einmal notwendigen “Auswahl” von heute noch relevanten Traditionen) eine zu starke “Selbstermächtigung des einzelnen” vor. Wie geht eine neue Berliner Theologie mit diesem Vorwurf um, der ja von orthodoxer Seite schnell mit dem Vorwurf des Häretischen verbunden wird.

Die Freiheit ist immer die Freiheit des einzelnen, sonst ist sie keine Selbst-Bestimmung. Das freilich heißt nicht, dass sie mit Beliebigkeit zu verwechseln wäre. Auch geht sich selbst recht verstehende individuelle Freiheit nicht mit einer Missachtung von Traditionen und Institutionen einher. In ihnen entfaltet sie sich vielmehr, findet sie auch nur zur Verständigung mit anderen und zu gemeinschaftlicher Verbundenheit in den wichtigen Fragen des Lebens. Aber die religiöse Kommunikation kommt dort zum Erliegen, wo die überlieferten Dogmen und Glaubenssätze mit normativem Anspruch auftreten, und dann auch noch die Anerkennung der gegenständlichen Wahrheit ihres Inhalts verlangen. Dann ergibt sich das Missverständnis, als bestünde der religiöse Glaube in der Akzeptanz unwahrscheinlicher Behauptungen über metaphysische Gegebenheit und Ereignisse.
Die Sätze des Glaubens sind nicht als gegenständliche Wahrheit vorgegeben, sondern sie folgen der lebendigen spirituell-religiösen Erfahrung als deren Ausdruck nach. Dabei machen wir, indem wir unseren Glauben ausdrücken, von der Sprache der Bibel und den kirchlichen Glaubenslehren Gebrauch. Aber wir transformieren sie zugleich immer auch in die heute verständliche Sprache, bilden neue Metaphern, suchen nach ansprechenden Analogien, produzieren andere Texte. Wenn man so will, ist zu sagen: Ohne häretische Momente gibt es gar keine lebendige religiöse Kommunikation, keinen kräftigen Ausdruck eigener Spiritualität.

Diese – schwierigen – Fragen hier sind ja keine theologischen und religionsphilosophischen Sandkastenspiele. Sie gelten dem Bemühen, auf eine für heute mögliche Spiritualität hinzuweisen. Warum sind für Sie gerade als “praktischem Theologen” diese Fragen so dringend?

Die Praktische Theologie will Theologen und Theologinnen religiös sprachfähiger machen, kundig in der Auslegung von Texten wie in der Auslegung des gelebten Lebens. Dabei liegt das eine im anderen. Immer entsteht Religion, bildet sie sich, wird sie gestärkt durch religiöse Ansprache. Freilich auch nur deshalb, weil die Menschen auf Religion prinzipiell ansprechbar sind. Das spirituelle Interesse, das ja doch das Interesse am Sinn des eigenen Lebens ist, ist in allen lebendig. Woran es oft jedoch fehlt, das ist die Gelegenheit, die spirituelle Sinnarbeit ins Gespräch zu ziehen.
Diesem Defizit versuche ich, so gut dies durch akademische Ausbildung geht, als Praktischer Theologe abzuhelfen Wir sollen als Theologen nicht meinen, wir müssten die Menschen permanent ändern. Es ist doch alles da. Wir sind die Subjekte unseres Glaubens und Lebens. Aber tiefer verstehen wir uns in dem, was wir sind und haben, erst dann, wenn wir darüber miteinander ins Gespräch kommen. Dieses Gespräch anzuregen, das ist die Sache der Theologie und alle Theologie ist, wo sie nur wirklich bei der Sache ist, praktische Theologie.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine menschliche Religion. Neue Themen für eine neue Berliner Theologie

Fundamental vernünftig
Für eine menschliche Religion
Die neuen Themen einer (neuen) Berliner Theologie
Das 16. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, August 2013.
Die Fragen stellte Christian Modehn

Seit über 200 Jahren gibt es protestantische Theologie in Berlin. Ei-ner der ersten Theologen an der heutigen Humboldt – Universität war Friedrich Schleiermacher. Er widmete sein Buch „Über die Religion“ ausdrücklich den „Gebildeten unter ihren Verächtern“. Brauchen wir in Berlin wieder diesen theologischen Schwung, auch die gebildeten (warum nicht auch die weniger gebildeten) Verächter der Religion anzusprechen und in den Dialog einzuladen?

Der Schwung, den Schleiermachers Reden über die Religion besaßen, kam daher, dass er die Religion als eine Dimension des Menschseins beschrieb. Religion, so seine Reden, hat zunächst einmal nichts zu tun mit dem Glauben an Kirche, Dogmen, Bibel und Bekenntnis. Religion ist „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“. Wir würden heute dazu sagen, Religion ist Sinn und Geschmack für das, was wirklich wichtig ist im Leben. Besinnung auf das, worüber nachzudenken, wofür sich einzusetzen, woran sein Herz zu hängen sich lohnt. Religion ist ge-steigerte Aufmerksamkeit aufs Leben, Sinn für den Sinn des Lebens.
Darauf sollte deshalb auch der interreligiöse Dialog zielen. Nicht auf eine Verständigung über die Lehren der Religionen, sondern um eine Verständigung über die richtige Einstellung zum Leben.

Welche Themen sind Ihrer Meinung heute dringend, wenn sich eine neue, mit Schleiermacherschem Schwung ausgestattete Berliner Theo-logie an die Verächter des Religiösen wendet?

Die neue Berliner Theologie hat keine vorgegebenen Themen mehr. Sie hat sie jedenfalls nicht so wie die alte Dogmatik ihre Themen dem überlieferten Glaubensbekenntnis entnimmt (Schöpfung, Sünde, Ver-söhnung, Erlösung). Das Thema der neuen Berliner Theologie ist die Religion der Menschen. Sie ist genau dadurch eine Fortsetzung der alten Berliner Theologie, der Theologie der Berliner Aufklärung. Schleiermacher stand für die Theologie, die die Religion als eine „Provinz im Gemüthe“ zum Thema macht. Aber auch der Berliner Aufklärungstheologe und Prediger an St. Nikolai hat 1804 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Religion, eine Angelegenheit des Men-schen“.
Religion ist das, was den Menschen unbedingt wichtig ist, was ihnen heilig ist, worin sie den Sinn ihres Lebens sehen. Eine Theologie, die in der so verstandenen Religion der Menschen ihr eines und einziges Thema hat, verhandelt nicht mehr die alten Themen des kirchlich ko-difizierten Glaubensbekenntnisses. Sie versucht vielmehr den Men-schen, die die Religion haben (und das sind potentiell alle Menschen) Anleitung beim jeweils eigenen Nachdenken über das Leben zu ge-ben.
Diese neue Theologie ist nicht Auslegung der Bibel und des kirchli-chen Bekenntnisses. Sie ist gesteigerte Reflexion auf das, was wirk-lich trägt im Leben und dieses mit Inhalt füllt. Sind das Güter und Be-sitz, ist das die Macht, ist das der Intellekt? Viele glauben an diese Dinge. Sie hängen daran ihr Herz. Warum? Weil sie sich selbst als den Mittelpunkt von allem sehen und immer mehr haben wollen, an Gü-tern, Macht und Intellekt. Aber glücklich macht diese Lebenshaltung nicht, denn sie ist begleitet von der Angst, dass andere immer noch mehr besitzen, mächtiger und so viel klüger sind.
Wir haben aber auch die Möglichkeit, anders auf uns selbst und die Dinge des Lebens zu sehen, eben von den anderen und ihren Bedürf-nissen her. Wir können uns unendlich überschreiten, aufmerksam dar-auf werden, dass die Schönheit des Lebens um jeden und immer in ih-rer ganzen Fülle bereit liegt – wenn auch in der Tiefe, verborgen und oft auch verschüttet. Die Bereitschaft zur Selbsttranszendierung: ge-nau das ist die religiöse, spirituelle Einstellung zum Leben. Aus ihr heraus können wir für andere da sein, für sie sogar Opfer bringen. Aus ihr heraus können wir unendlich aus uns herausgehen, uns selbst verlassen – und dies in der Gewissheit in unendlicher Distanznahme von uns selbst, uns selbst doch nie verloren zu gehen. Das ist Religion, sich selbst unendlich überschreiten zu können und dies in dem Gefühl zu tun, im Unendlichen geborgen zu sein.

Nun gibt es angesichts des konfessionellen Wandels auch Verächter der klassischen Kirchenordnungen, etwa die vielen, die aus der Kir-che austreten, aber spirituell interessiert bleiben. Was hat eine libera-le Berliner Theologie diesen Menschen vorzuschlagen?

Dass es auf die Einübung und Pflege des Sinns fürs Unendliche an-kommt, und nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Kirche. Schon gar nicht darauf, an Bibel und Bekenntnis zu glauben. Das an der Religion Wesentliche ist der andere Blick auf das Leben, derjenige, der die Dinge des Lebens aus der Selbstbezogenheit befreit. Dieser andere Blick macht mich selbst frei dazu, den unendlichen Wert jedes Men-schenleben zu erkennen, mich für andere zu öffnen. Aus mir heraus-zugehen, weil die Angst weg ist, ich könnte zu kurz kommen oder gar in der Hinwendung zum anderen mir selbst verloren gehen.
Gott, das ist das Wort dafür, dass das Ganze der Welt und unseres Le-bens, das wir nie überschauen, das wir letztlich nicht begreifen, Sinn macht. Gott ist der Sinn des Ganzen. An ihn zu glauben, bedeutet, sich des unbedingten Sinns des eigenen Daseins gewiss zu sein – was auch immer geschehen mag. Dieser Glaube vermittelt das Gefühl einer letz-ten, auch noch Erfahrungen des Nicht-Sinns aushaltenden Geborgen-heit.

Es gibt viele unterschiedliche Religionen in Berlin, etwa Buddhismus, Islam, Hinduismus. Welche Themen hat eine neue Berliner liberale Theologie auch mit diesen Menschen zu besprechen.

Wir müssen wegkommen von der üblichen Auffassung eines „Dia-logs“ der Religionen. Es geht weder darum, sich auf die gemeinsamen Schnittmengen zwischen den Religionen zu verständigen, sozusagen den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, noch gar darum die schlichte Behauptung zu verstärken, die verschiedenen Religionen seien doch nur verschiedene Wege zu dem einen Gott. Dieser Gott e-xistiert nicht, wie überhaupt kein Gott als eine höhere, metaphysische Wirklichkeit existiert. Die verschiedenen Religionen sind verschiede-ne menschliche „Verfahren“, sich zum letztlich unverfügbaren und nie gegenständlich gegebenen Ganzen der Wirklichkeit zu verhalten. Die neue liberale Theologie will mit Buddhisten, Hinduisten und Musli-men genauso wie mit Atheisten und Agnostikern darüber sprechen, was ihnen unbedingt wichtig ist in ihrem Leben, was ihnen Hoffnung gibt und sie antreibt, was ihnen Trost gibt, auch noch in Erfahrungen des Desaströsen und Absurden. Die Berliner liberale Theologie führt dieses Gespräch in großer Offenheit. Sie gibt Auskunft über die christ-lichen Antworten (es gibt immer mehrere davon) auf diese Lebensfra-gen. Sie ist begierig, von den Antworten der anderen zu lernen, reicher zu werden in den Möglichkeiten, die Erfahrungen des Lebens zu deu-ten und aus diesen Deutungen heraus dann das Leben auch bewusst zu führen.

Statistiken zeigen: Vor allem junge Menschen (bis 40 Jahre) haben extrem viel Mühe, mit der christlichen Tradition und den Kirchen ü-berhaupt vertraut zu werden. Welchen Vorschlag hat eine neue libera-le Theologie diesen jungen Menschen zu machen?

Der Vorschlag wäre der, zu einem anderen Umgang mit der Tradition zu finden und die Kirchen mit neuen Ideen zu besetzen. Mit der Tradi-tion neu umzugehen, meint, ein ästhetisch spielerisches Verhältnis zu ihr zu gewinnen. Sie enthält keine zeitlosen, absoluten Wahrheiten. Sie gibt auch nicht die Themen des Glaubens vor, auch wenn im kirchlichen Unterricht oder im Religionsunterricht der Schule noch so getan werden sollte. Was die Tradition zu bieten hat, das aber sind viele starke Worte und sinntiefe Symbole. Der 23. Psalm z.B., „Der Herr ist mein Hirte…“ oder das Symbol vom Menschen als dem E-benbild Gottes wie es im Schöpfungsbericht auf den ersten Seiten der Bibel entfaltet wird. Solche starken Worte tragen ihre Wahrheit in sich selbst und sie zu hören oder in schwerer Zeit mitzusprechen, tut der Seele unendlich wohl. Solche Symbole geben zu denken und vertiefen unseren Sinn fürs wahrhaft Menschliche und die Unendlichkeit seines Wertes.
Ja, und die Kirche, ihre Räume sind als Meditationsräume zu nutzen und ausgeschlossen bleibt dabei keineswegs, dass auch in ihnen starke Worte zu hören sind und sinntiefe Symbole zu ausdrucksstarker Auf-führen kommen, in religiösen Reden, in bildnerischer Gestaltung, mit einer zu Herzen gehenden Musik.

Brauchen wir in Berlin – wie schon in Bremen, in der Remberti – Ge-meinde – eine eigene, explizit protestantisch-liberale Gemeinde, wo die genannten Themen auch weiter in breiteren Kreisen besprochen werden und wo Gottesdienste gefeiert werden, die dem Geist liberaler Theologie entsprechen? Welche Vorschläge haben Sie da?

Ja, das wäre natürlich sehr zu wünschen. Aber leider hat sich die neue Berliner liberale Theologie noch nicht so stark durchgesetzt, dass sie als eine Möglichkeit für Berlin auf breiterer Basis erkannt wäre. Die Bremer Remberti-Gemeine hat eine lange Tradition, die bis auf die alte liberale Theologie um die Wende zum 20. Jahrhundert zurück-geht.In Berlin ist diese Tradition abgebrochen. Auch die evangelische Kirche ist hier in eine für sie gefährliche Minderheitensituation hi-neingeraten, gefährlich deshalb, weil dies fundamentalistischen Stre-bungen entgegenkommt. Man schottet sich ab gegen die vermeintlich säkulare, atheistische Mehrheit. Doch hoffen wir, dass immer mehr Menschen, die noch etwas von der Kirche erwarten, merken, dass dies der falsche Weg ist.
Aber auch dann wird es die neue, liberale Theologie nicht leicht ha-ben. Denn sie ist unweigerlich verbunden mit einem Verlust an Inhalt-lichkeit. Sie hat keine vorgegebenen Wahrheiten zu bieten. Sie sagt nicht, was richtig und was falsch ist. Sie will zum Selbst-Denken und Selbst-Glauben verhelfen. Ich meine, es gibt viele Menschen, die nach einer Gemeinde suchen, wo sie ihre Religion der freien Einsicht im Gespräch mit anderen leben können. Es werden sich Wege zur Sammlung dieser Gemeinde finden.

Copyright: Wilhelm Gräb. Und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

“Sinnvertrauen wecken”: Über religiöse Rede

“Sinnvertrauen wecken”: Über religiöse Rede

Das 15. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb (im August 2013) in der Reihe “Fundamental Vernünftig”

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sie haben gerade ein Buch geschrieben, das sich mit der religiösen Rede, vor allem der Predigt, befasst. Worin sehen Sie heute die wich-tigste Forderung an einen Prediger, eine Pastorin oder einen Pfarrer, etwa in einer europäischen Großstadt, z.B. in Berlin?

Von der kirchlichen Predigt, sonntags oder bei alltäglichen Gelegen-heiten, im Gottesdienst oder in der urbanen Welt der Medien wird immer noch viel erwartet. Die Erwartung ist die, religiös angespro-chen zu werden, bewegend, tröstlich, ermutigend. Das ist es deshalb auch, was von Prediger und Predigerinnen zu fordern ist: Existenziell sollte ihre Predigt sein, den Glauben und die Botschaft ins Leben zie-hen, um das Sinnvertrauen der Menschen zu stärken.

Aus welcher Position heraus sollte ein Prediger heute sprechen: als Wissender, als Spezialist oder als Fragender, als Suchender wie die Gemeinde der Zuhörenden?

Wer predigt sollte sich auf die Religion verstehen. Wer sich auf die Religion, also auf des Menschen Verhältnis zum Göttlichen versteht, der aber bleibt ein Suchender und Fragender, da der Glaube kein Wis-sen ist und nie zu einem solchen werden kann. Das Wissen ist immer Wissen von dem, was es gibt. Der Glaube ist auf das gerichtet, was uns in all unserem Wissen von dem, was es gibt, stärkt, uns überhaupt im tätigen Vollzug unseres Lebens trägt. Der religiöse Glaube gibt uns das Gefühl, dass das Leben seinen Sinn in sich selbst trägt. Doch dar-in, wie das Leben so geht und es um unser immer fragmentarisches Wissen bestellt ist, zeigt sich unser aller Angewiesenheit auf die zum Glauben ermutigende und das religiöse Gefühl stärkende Rede.

Wer religiös spricht, und das ist es, was die Predigt tun sollte, redet nicht über die Religion oder die Religionen, nicht über die religiösen Institutionen, nicht über die Kirche. Wer religiös spricht, redet aus Re-ligion, aus religiöser Überzeugung, weil sie ihm selbst wichtig ist – was aber gerade nicht heißt, dass er keine Fragen an den eigenen Glauben mehr hätte, schon gar nicht, dass er nicht ein Suchender blie-be, um die rechten Worten ringend, immer wieder zweifelnd, ob der Glaube nicht doch ins Leere geht. Dennoch, nur der, dem die religiöse Sinngrundierung des Lebens selbst immer wieder aufleuchtet, will von ihr zu anderen sprechen. Er muss sehen, wie das gehen kann, ohne aufdringlich zu werden. Wie die Balance zu finden ist, von Nähe und Distanz. Wie kann ich, der ich aus Religion reden möchte, dies so tun, dass andere sich über sich selbst und ihr Sinnvertrauen verständigt finden, in ihm gestärkt und zu neuem Lebensmut befähigt? Auf diese Fragen habe ich in meinem Buch, das zum religiös inspirierten Predi-gen anleiten möchte, nach Antworten gesucht.

Sollte in christlichen Gottesdiensten immer die Möglichkeit gegeben werden, auf die Rede, die Predigt, zu reagieren? So dass aus dem Monolog ein vielfältiger Dialog wird?

Die kirchliche Predigt ist in der Tat viel zu sehr zum geradezu zwang-haft verordneten Element kirchlicher Rituale geworden, zu denen die meisten Menschen aber keinen Zugang mehr finden. Die Predigt steht unter enorm hochgeschraubten liturgischen, dogmatischen, biblisch-exegetischen und professionstheologischen Voraussetzungen, die es selbst den Freunden der Religion schwer machen, ihr zu folgen. Sie hat sich weithin auch selbst damit abgefunden, nur noch diejenigen anzusprechen, die die kirchliche Zeichensprache verstehen, mit der Liturgie des Gottesdienstes etwas anfangen können, den hohen An-spruch, dass hier „Gottes Wort“ verkündigt wird, akzeptieren, gar selbst formulieren?

Damit hat sie sich von ihrem Anspruch, öffentliche religiöse Rede zu sein, mehr oder weniger verabschiedet. Ich meine jedoch, die Kultur der Gegenwart gibt Hinweise genug, dass es berechtigt ist, diesen An-spruch aufrecht zu erhalten. Nicht weil davon der Fortbestand der Kir-che und der durch sie ins Predigtamt Berufenen abhängt, sondern weil den Menschen die Religion, die lebenswichtig ist und doch immer nur durch Ansprache in einem Menschen entsteht, verlorenginge.

Ob die Menschen, die eine Predigt hören, dann auch sofort selbst zu Wort kommen, ist m.E. nicht so entscheidend. Es hat auch Vorteile, einmal zuhören, der Entfaltung eines religiös erbaulichen Gedankens folgen zu können und in eine dem Ganzen gemäße Gestimmtheit sich versetzt zu finden. Der Dialog kann auch ein impliziter sein. Das zu leisten wird damit allerdings auch wieder zur Forderung an die Predi-ger und Predigerinnen.

Viele Prediger selbst verwechseln Rede/Predigt mit einem bloß sub-jektiven Zeugnisgeben. Gibt es Forderungen nach „rationaler“ Kon-trolle und Nachvollziehbarkeit der Argumente für Prediger?

Die Predigt steht und fällt damit, dass sie ihre Botschaft auf einleuch-tende, überzeugende und somit argumentativ durchsichtige Weise ent-faltet. Deshalb muss sie erfahrungsnah sein, und vor allem dialogisch. D.h. eben keineswegs, dass sie immer ein Gespräch eröffnen müsste. Eine der Form nach monologische Rede kann auch indirekt einen Dia-log mit den Hörenden führen, ihre potentiellen Einwände ansprechen und Argumente aufbieten für die Behauptungen, die sie aufstellt. Dass etwas in der Bibel steht, ist kein Argument. Entscheidend ist die sub-jektiv plausible Nachvollziehbarkeit.

Ist die Rede heute das wichtigste „Instrument“, um in der Gesellschaft von Religion zu sprechen? Welche anderen Möglichkeiten würden Sie vielleicht stärken oder bevorzugen?

Zunächst und vor allem möchte ich sagen, dass ich die Predigt, wenn es ihr gelingt, zur religiös erbaulichen Rede zu werden, tatsächlich immer noch für das wichtigste Instrument halte, um auf eine der Reli-gion gemäße Weise von Religion zu sprechen.

Um diese These zu bekräftigen möchte ich einen nicht aus der Kirche, sondern aus der Kultur der Gegenwart stammenden Hinweis geben. Verweisen möchte ich auf das Buch des französischen Sozialphiloso-phen Bruno Latour: Jubilieren. Über religiöse Rede. (2011) Dieses Buch führt emphatisch Klage darüber, dass der Gesellschaft und dem einzelnen Menschen etwas Lebensnotwendiges fehlen würde, wenn die religiöse Rede verstummte oder, da sie ja im kirchlichen Ritual fortwährend ergeht, ihre Heil bringende Kraft verlöre. Was dann feh-len würde, sind „Worte, die wieder aufrichten“, die „Leben spenden“, Worte, die heilsam sind. Das Schlimme für Latour ist: Auch die Kir-che versteht sich nicht mehr auf die religiöse Rede. Sie hält „die Reli-gion für gewunden, für verschlungen, ganz als müsse sie uns über ei-nen schmalen, fallengespickten Pfad zu dunklen und fernen Geheim-nissen führen.“ In entfernte Gegenwelten hat die Kirche die Religion entrückt und „die Worte, die Leben spenden sollen, werden (sc. in der Kirche) in einer fremden Sprache ausgesprochen, die sich an histo-risch, räumlich, kulturell entfernte Menschen richtet.“
Dennoch, daran hält Latour fest, die Kirche, sie hat sie, „die Worte, die Leben spenden“, aber sie findet die Sprache nicht mehr, nicht den richtigen Tonfall, nicht die richtige Tonart. Das Sprechen ist das Prob-lem, das Aussprechen. Mehr will der sich zu seinem Atheismus be-kennende, aber um die Religion besorgte Sozialphilosoph deshalb mit seinem Buch über die religiöse Rede gar nicht. Vom religiösen Redner sagt er: „Er will bloß dem religiösen Ausdruck wieder Bewegungs-freiheit verschaffen, diesem so einzigartigen Brauch, der im Lauf der Geschichte Wort und Sprache gewann und der ihm heute so entsetz-lich gehemmt vorkommt … nur eine Ausdrucksform aus ihrer Ver-kapselung lösen, die, einst so frei und erfinderisch, fruchtbar und heil-bringend, heute auf seiner Zunge zerfällt, wenn er ihren Schwung, ih-ren Rhythmus, ihre Artikulation wieder aufnehmen will.“

Den religiösen Ausdruck, die Sprache der Religion zu finden, ist keine bloße Formsache. An der religiösen Rede hängt die Wahrheit der Re-ligion. Und die Wahrheit der Religion ist keine beiläufige Angelegen-heit, mit der lediglich diejenigen noch beschäftigt sind, die sich in der Liturgie der Kirche auskennen. Die Wahrheit der Religion ist, dass sie uns den Sinn für den Sinn unseres Daseins in dieser Welt eingibt. Sie lässt uns den Schmerz empfinden über das, was fehlt, sie stärkt aber auch unendlich die Hoffnung aufs Gelingen. Damit diese lebensnot-wendige Wahrheit der Religion allgemein zugänglich bleibt, muss sie öffentlich ausgesprochen werden. Es gilt, „die passenden, genauen, präzisen Worte zu finden, um die Rede heilbringend zu machen, um gut (sic!) über die Gegenwart zu reden.“

Wie kann an öffentlichen Orten, etwa Kneipen, Cafés, Galerien, Kinos, Museen, von Gott heute gesprochen werden?

Eine Predigt, die die religiösen, aufs Ganze gehenden Sinnfragen des Lebens anspricht, die Dinge, die uns Angst machen, die Erfahrungen, in denen das Vertrauen uns weitergeholfen hat, die Ziele, für die ein-zusetzen sich lohnt, stellt einen jeweils konkret ins Leben greifenden Akt der Lebensdeutung dar. Sie ist immer noch eine hervorragende Gelegenheit, redend zur Ausführung zu bringen, was uns zutiefst an-geht, im Leben erhält und unseren Blick nach vorne hin öffnet. In ih-rer Form ist sie an die Kirche gebunden. Der Sache nach freilich ist sie viel zu wichtig, um nicht überall dort auch zu geschehen, wo Men-schen die Begegnung mit sich selbst und untereinander erleben kön-nen.

Im Oktober erscheint dieses Buch, das der Predigt die Öffentlichkeit der existentiell relevanten religiösen Rede zurückgeben möchte, im Verlag Vandenhoeck&Ruprecht:

Wilhelm Gräb
Predigtlehre. Über religiöse Rede
Göttingen 2013

coopyright: wilhelm gräb und religionsphilosophischer salon berlin

Vernünftig beten und meditieren: Spiritualität in der Sicht liberaler Theologie

Fragen an Prof. Wilhelm Gräb im Rahmen der Reihe: „Fundamental vernünftig“.

Die liberale Theologie hat auch eigene Vorschläge zur Spiritualität, also zu einer Form geistvollen Lebens im Miteinander und in der Erfahrung des „Unendlichen“.

Ja, aus eigener Einsicht und freier Überzeugung glauben zu können und ohne kirchliche Bevormundung religiös lebendig zu sein – das ist das Angebot liberaler Theologie. Der Vorschlag zur Spiritualität, den die liberale Theologie macht, zeigt auf die Lebensform religiöser Freiheit. Diese war einst gemeint, indem die liberale Theologie von liberaler Frömmigkeit sprach. Uns daran zu erinnern und die Rede von Frömmigkeit im Geist liberaler Theologie wieder aufzunehmen, haben wir heute allen Anlass. Freilich reden wir heute statt von Frömmigkeit lieber von Spiritualität. Denn mit Frömmigkeit verbinden wir noch zu viel dogmatische und kirchentümliche Enge.
Es geht liberaler Theologie darum, wie die „Freiheit eines Christenmenschen“ konkret werden kann: dass es im christlichen Leben nicht auf theologische Rechtgläubigkeit ankommt, nicht auf Übereinstimmung mit kirchlichen Lehren und alten Bekenntnisformulierungen. Spiritualiltät im Geist liberaler Theologie, das ist ein Leben aus dem Evangelium, aus vorbehaltloser göttlicher Ankerkennung und dem Wohl des Nächsten zugewandt. Kriterium im Umgang mit der Glaubenstradition ist die eigene, vernünftige Einsicht und das Wohlwollen gegenüber jedem und jeder, nicht die Einhaltung kirchlicher Glaubensnormen und zwanghafter Moralvorstellungen.
Deshalb stehen liberale Theologen auch der Moderne mit ihrem Pluralismus und ihrer Individualitätskultur offen gegenüber. Der Glaube muss ihnen vereinbar sein mit der Wissenschaft, mit Kritik und humaner Bildung. Liberale Theologie fördert eine spirituelle Lebenshaltung, die weiß, dass wir uns selbst transzendent sind, unendlich angewiesen auf einen Gott, der im Evangelium aber auch die göttliche Rechtfertigung unseres Daseins zusagt.

– Welchen Sinn hat dann für religiöse Menschen, die sich in der liberalen Theologie verstanden fühlen, das Beten?

Beten ist in der liberalen Theologie ein Akt der Selbstbesinnung, bei dem wir allerdings gerade nicht bei uns stehen bleiben, nicht um uns selbst kreisen. Wir besinnen uns, indem wir beten, auf unser Leben als ein solches, das wir vor Gott führen. Gott ist dem, der betet, der Grund allen Lebens, der Sinn des eigenen Daseins, die alles umfassende Einheit der Wirklichkeit. Indem wir uns betend auf unser Leben als ein Leben vor Gott besinnen, finden wir in den Dank für das Geschenk des Lebens sowie in die Bitte um alles, was fehlt zu seinem Gelingen.

– Kann Poesie die Form des Betens sein?

Da das Beten einen Form gesteigerter Selbstbesinnung und damit der Ausdrücklichkeit in der Bewusstheit unseres Lebens ist, kann es sich besonders gut in metaphorischer Sprache artikulieren. Metaphern bereichern unser Leben. Sie schreiben der Wirklichkeit einen Mehrwert zu. Sie drücken unsere Ängste und Hoffnung, Wünsche und Sehnsüchte aus. Insofern ist die Metaphorik religiöser Sprache gut geeignet, unsere tieferen Empfindungen und unser Wirklichkeitserleben auf dichte Weise zur Sprache zu bringen. Sie holt den Überschuss an Sinn ein. Die vom Reichtum der Metaphern lebende Poesie der Sprache öffnet die Dimension der Tiefe, aus der heraus unser Leben in einen letzten Deutungszusammenhang einrückt. So kann gerade die poetische, dichte Sprache zur Sprache des Gebets werden.

– Ist die Voraussetzung für das sinnvolle Beten vielleicht das Innehalten, das Meditieren? Ist dieses Zur Stille Kommen und sich selber sehen genauso wichtig wie das „Sich Aussprechen“ vor Gott?

Das Beten, das ein Sich-Aussprechen vor Gott ist, kann der Aufschrei in der Not sein oder der spontane Dank in der überraschenden Erfahrung des Glücks. Das Beten kann sich aber auch in stiller Selbstbeziehung vollziehen. Das ist dann das, was Martin Heidegger die „Frömmigkeit des Denkens“ genannt hat. Dann macht, wer betet, sein Leben für sich selbst durchsichtiger, durchsichtig auf seine Gründung in Gott. Wer sein Leben vor Gott durchdenkt, dem fügt es sich ein in das Ganze eines Sinnzusammenhanges, der auch noch die negativen Erfahrungen mit einem positiven Vorzeichen versehen lässt. Das ist oft ein Ringen, eine Durchdenken von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, aber vor Gott immer in der Hoffnung auf einen guten Ausgang der Dinge. Beten ist ein getröstetes Denken.

– Kann liberale Theologie auch die buddhistisch geprägten Meditationsformen und auch das Yoga unterstützen und als Hilfe empfehlen? Schließlich hat das Christentum ja nicht auf „alles“ eine passende Antwort.

Es ist durchaus möglich, Meditationsformen aus anderen religionskulturellen Traditionen zu übernehmen. Da gibt es auch Beispiele aus der Praxis, insbesondere was die Einstellung Zen-Buddhistischer Meditationsformen in christlich-religiöse Vorstellunginhalte anbetrifft. Man sollte das nicht eng sehen. Wenn wir das Beten so verstehen, dass es uns in Kontakt bringt mit Gott auf dem Grunde der eigenen Seele, dann sind ihm alle Wege angemessen, die dem Menschen Wege zu sich selbst öffnen und ebnen.

– Angesichts der von vielen als oberflächlich erlebten Welt – und auch der eigenen Fraglichkeit des Daseins: Bräuchten wir nicht neue kleine, bescheidene, von jedem nachvollziehbare Riten? Etwa eine Begrüßung des Tages nach der Nacht? Den Dank für den Tag am Abend? Der selbstkritische Rückblick am Ende einer Woche? Wie ließe sich das gestalten, Spiritualität ist ja nicht nur Kopfarbeit…. Sollte da nicht auch liberale Theologie kreativer werden?

Ja, das wäre schön, wenn wir solche Riten erneuern könnten, den Morgensegen (Luthers Morgensegen, zu finden im Evangelischen Gesangbuch, ist immer noch wunderschön), das Abendgebet, das Tischgebet, das Tagebuch, den Wochenrückblick. Das Problem ist nur, Rituale lassen sich nicht am Schreibtisch erfinden. Sie lassen sich überhaupt nicht erfinden. Rituale entstehen, aus den Regeln, die sich eine Gemeinschaft gibt oder in denen diese sich immer schon vorfindet. Es können auch neue Rituale entstehen, aber dann müssen einzelne oder Gruppen sich auf sie verständigen und sie in ihrer Verbindlichkeit anerkennen. Liberale Theologie kann keine Rituale hervorbringen. Keine Theologie kann das, denn Theologie ist ein Nachdenken über die Praxis der Religion, nicht diese selbst. Aber liberale Theologie tut gut daran, sich gegen die Unterstellung zu wehren, ihr seien Rituale nicht wichtig. Das Gegenteil ist der Fall. Allerdings empfiehlt liberale Theologie die Pflege von Ritualen nicht um der Aufrechterhaltung einer religiösen Ordnung willen, sondern aus der anthropologisch begründeten Einsicht in ihre Lebensdienlichkeit.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer-salon Berlin

Pfingsten – Fest des Geistes. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Pfingsten – das Fest des Geistes
Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Hat das Pfingstfest eine Bedeutung für die heutige moderne Lebenserfahrung, die so oft sagt: Wir leben in geistlosen Zeiten?

Bereits der Gregorianische Hymnus aus dem 9. Jahrhundert ruft nach der schöpferischen Kraft des Geistes. „Veni Creator Spiritus“ – „Komm Schöpfer Geist“. Offensichtlich war der Eindruck schon immer der, dass es an Geist mangelt oder jedenfalls, dass wir um den Geist bitten müssen. Nach dem Geist verlangen, um den Geist bitten wir, weil wir nicht über ihn verfügen, weil wir ihn nicht machen können, aber doch von diesem Geist leben! In uns selbst aufkommend, aber eben unverfügbar aufkommend: ‚Da hatte ich eine Idee!‘ ‚ Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen!‘ Jetzt wird mir die Sache klar!‘ Wir wissen, wie sehr alle menschliche Kreativität vom gelungenen Einfall lebt!

Geistlose Zeiten? Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Ich bin immer wieder erstaunt, was Menschen alles können, auf den Gebieten von Wissenschaft und Technik, von Kunst und Kultur. Großartiges mit zuvor ungeahnten Möglichkeiten finden wir auch in unserer Zeit, denken wir nur an den Computer und das Internet. Wozu der Mensch fähig ist, das freilich ist auch an Grausamkeit nicht zu überbieten. Der menschliche Geist ist wirklich zu allem fähig!

Ich sehe im Geist die göttliche Kraft in uns Menschen, das Schöpferische und Kreative. Ich sehe in ihm den göttlichen Grund der menschlichen Freiheit. Deshalb, so meine ich, verlangt und ermöglicht zugleich der Geist aber auch, dass wir uns bewusst und d.h. letztlich immer auf verantwortliche, kritische Weise zu ihm verhalten. Wir verfügen nicht über den Geist. Er ist vielmehr die schöpferische Energie aus der wir leben. Genau dies können wir uns jedoch bewusst klar machen. Dann sehen wir darauf, dass wir verantwortlich mit unseren schöpferischen Fähigkeiten umgehen müssen.

Der schöpferische Geist von uns Menschen kann sich in eine teuflische Kraft verwandeln, ins Zerstörerische und Mörderische. Auch deshalb braucht er die kulturelle und ethische Formung. Er muss sich ausrichten können an dem, was dem Leben dient. Er braucht die Einsicht in das, was gut ist für alle Menschen.

Der menschliche Geist ermöglicht aber selbst auch die Selbstthematisierung, in ethischer und in religiöser Hinsicht, die Ausrichtung am Guten, die Vergewisserung dessen, dass der Mensch in Gott gründet – einem Gott, der nichts als Liebe ist. In dieser Selbstbesinnung auf die Kraft des Geistes liegt die Bedeutung des Pfingstfestes.

Wenn der Geist geehrt und gefeiert wird zu Pfingsten: Ist denn der “heilige Geist” in jedem Menschen lebendig?
Der „heilige“ Geist ist keine Größe, die wir uns in gegenständlicher Gegebenheit vorzustellen hätten. Die biblisch fundierte Bildwelt des Christentums hat zwar für solche Vorstellungen gesorgt – Feuerzungen auf den Häuptern; die Taube, die vom  Himmel herabfährt – aber das sind symbolische Zeichen, die dafür stehen, dass der Geist uns Menschen ergreift, dass er über uns kommt, uns erfüllt. Wir spüren seine Kraft, aber wir können dieses Spüren nicht selbst hervorrufen. Wenn wir aber diese uns erfüllende Kraft spüren, dann können wir uns bewusst zu ihr verhalten, ihr eine Form geben und sie zu lebensdienlicher Wirkung bringen.

So verstanden ist der „heilige Geist“ in jedem Menschen lebendig als diese unwahrscheinliche Lebenskraft. Allerdings achten wir zumeist gar nicht darauf, dass wir von Voraussetzungen leben, die wir selbst nicht hervorgebracht haben und hervorzubringen nicht in der Lage sind. Deshalb, wenn wir an Pfingsten den Geist feiern, dann feiern wir im Grunde das Wunder des Lebens, dann zelebrieren wir die Energie, die in uns Menschen steckt, unseren Einfallsreichtum, die elementare Kraft zur Bewältigung dieses oft so komplizierten Lebens.

Alle Menschen haben Geist, haben Vernunft: Haben sie dadurch Göttliches in sich selbst, das sich vielfältig ausdrückt?

Die Kraft des Geistes ist in allen. Insofern kann man auch sagen, alle Menschen haben Göttliches in sich, so wie der Theologe Friedrich Schleiermacher der Meinung war, alle Menschen seien Künstler, ein Dictum, das ebenso von dem Aktionskünstler Joseph Beuys überliefert ist. Gemeint ist das kreative Potential, das in uns Menschen steckt, von dem aber ebenso gilt, dass es in Form gebracht, bewusst gestaltet, mit vernünftiger Einsicht vermittelt werden will.

Wenn der göttliche Geist so allgemein ist: Sind dann die vielen nichtchristlichen Religionen auch von dem einen göttlichen Geist beeinflusst?

Da muss ich die Bibel zitieren: „Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Sausen; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh 3, 8) Der Geist kennt keine Grenzen. Er richtet sich nicht nach den sozialen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten, in die wir die Menschen und Menschgruppen einteilen. Er ist unverfügbar, in seinem Woher und Wohin nicht manipulierbar. Dadurch ist er der Grund der menschlichen Freiheit, selbstverständlich der Freiheit aller Menschen.

Der heilige Geist ist kein Christ. Die verschiedenen Religionen sind vielmehr verschiedene Formungen des menschlichen Geistes, sofern dieser sich seines göttlichen Grundes bewusst wird. Wo Menschen nicht nur aus der Kraft des ihnen innewohnenden göttlichen Geistes leben, sondern sich dieser Kraft bewusst werden, als einer solchen, die von außen, von Gott her, über sie kommt, dort ist gelebte Religion – in welcher Form auch immer. Jede Religion ist als Religion umso lebendiger, je klarer sie die bewegende Kraft des Geistes feiert, dann aber ihr auch eine lebensdienliche, in der Liebe eifrige Form gibt.

Wir identifizieren oft Geist mit der Fähigkeit zur Kritik. Ist der heilige Geist also auch skeptisch, auch kritisch, aber wem oder was gegenüber?
Das genau gehört entscheidend zur Formung, zu der die Bewusstheit des Geistes diesem selbst verhilft, die Fähigkeit zur Kritik. „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ (Joh 4, 24) Wo wir der Lebendigkeit des Geistes in uns selbst bewusst werden, ihn gar religiös feiern, ihm begeistert unsere Lieder singen und unser Herz schenken, da tun wir dies nur dann auf rechte Weise, wenn wir uns zu seiner Wirkung in uns selbst und in anderen kritisch verhalten. Wir müssen prüfen, ob das, was wir in der Kraft des Geistes, der unsere Lebendigkeit ausmacht, tun, auch wirklich dem Leben dient, uns selbst förderlich ist und denen, für die wir da sind und Verantwortung tragen, für diese Welt und ihre Zukunft.

Die sich ihrer bewusst werdende Lebendigkeit des Geistes ist immer kritisch, kritisch sich selbst gegenüber. Sie weiß, dass der Geist  zu allem fähig ist, auch zu teuflischem Tun. Deshalb können wir den Geist nicht feiern, ohne ihn zu prüfen. Das Kriterium der lebendigen Kraft des Geistes liegt aber bereits in ihr selbst. Zu prüfen ist, ob sie dem Leben dient.

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon

Auf die Gestaltung der Gesellschaft kommt es an. Prof. Gräb schreibt aus Südafrika

Für eine „öffentliche Theologie“  politischer Verantwortung

Prof. Wilhelm Gräb schreibt aus Südafrika

Die Fragen stellte Christian Modehn, veröffentlicht am 5. 3. 2013

Professor Gräb (Humboldt Universität zu Berlin) unterrichtet seit einigen Jahren schon regelmäßig für einige Wochen an theologischen Hochschulen in Südafrika, vor allem in Stellenbosch und Pietermaritzburg.

Wenn Sie jetzt wieder für einen Monat in Südafrika lehren und Eindrücke aus früheren Jahren vergleichen: Was ist in Ihrer Sicht jetzt das größte Problem für ein demokratisches Leben in Südafrika heute?

Das größte Problem für die Demokratie in Südafrika ist zweifellos die Armut, überwiegend unter den „Schwarzen“ und „Farbigen“, (eine Folge der Apartheid) zunehmend aber auch unter „Weißen“. Diese Farbeneinteilung ist in Südafrika auch fast 20 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen leider immer noch üblich. Der Grund für prekäre Verhältnisse liegt in den fehlenden sozialen Sicherungssystemen (Arbeitslosen- und Krankenversicherung). Auch „Weiße“ sind, wenn sie von Arbeitslosigkeit oder chronischer Krankheit betroffen sind, schnell in einer schwierigen Lage.  Andererseits gibt es einen ungeheuren Reichtum, an dem zunehmend auch „Schwarze“ teilhaben. Da spielt die Politik hinein, die die Demokratie inzwischen auch wieder gefährdet, denn die Machtposition des ANC ist ungefährdet – auch das ist freilich eine indirekte Folge der Apartheid. Diese Dominanz des ANC führt vielfach zur Korruption, zu einer unguten Verschränkung von politischer und wirtschaftlicher Macht – allerdings: Es herrscht weitgehende Pressefreiheit, so dass diese Dinge auch öffentlich werden.

Es zeigt sich an vielen Stellen zudem eine Verbesserung der Lebensbedingungen, vor allem eine Erweiterung der Zukunftschancen für die jungen Menschen – allein dadurch, dass die weiterführenden Schulen und die Universitäten jetzt für alle offen stehen und es auch staatliche Förderprogramme für Studierende gibt.

Wenn Sie als Theologe die Themen vergleichen, mit denen Sie sich in Europa und in Südafrika befassen: Welche “Schwerpunktverlagerung” thematischer Art fällt da auf?  Anders gefragt: Was ist theologisch wirklich wichtig für die Menschen in Südafrika?

Die theologischen Herausforderungen sind hier zweifellos anders. Zuhause in Berlin argumentiere ich gegen das säkulare Selbstmissverständnis unserer Gesellschaft. Ich plädiere dort für die Einsicht der Zugehörigkeit der Religion zum Humanum, benenne ich Gründe für die Vernunft des Glaubens. Hier in Südafrika unterrichte ich Praktische Theologie in einem Land, in dem die „säkulare Trennung“ (Europas) nicht existiert, indem hier in Südafrika die Religion und die Beteiligung an dem im sonntäglichen Gottesdienst zentrierten Gemeinschaftsleben selbstverständlich sind. Die Kirchen blühen in ungeheurer Vielfalt und erfreuen sich allenthalben großen Zulaufs – vor allem die Pfingstkirchen und die „African Independent Churches“. Hier hat die Theologie nicht die Aufgabe der Verteidigung der Religion gegenüber den Gebildeten unter ihren Verächtern. Hier muss sie ihre Aufgabe darin erkennen, für die soziale und politische Verantwortung des Glaubens einzutreten. Hier muss sie den Glauben über die ungeheure Bedeutung aufklären, die er de facto hat für die normativen Ressourcen, aus denen sich die Orientierungspotentiale des öffentlichen Lebens speisen. Viele meiner Kollegen an den theologischen Fakultäten in Südafrika engagieren sich für das Projekt einer „Öffentlichen Theologie“ und versuchen die theologische und pastorale Ausbildung darauf auszurichten, dass den Leitungskräften in Kirchen und Gemeinden eine die allgemeinen Belange des Gemeinwesen betreffende Führungsrolle zukommt. Theologen müssen in ihrer Gemeinde „Leadership“ übernehmen können. Denn die Kirchen und Gemeinden stellen das gesellschaftlich dichteste und am besten funktionierende soziale Netz dar. Aufgrund des kirchlichen und religiösen Pluralismus ist dieses Netz aber auch sehr löcherig. Die Kirchen und Gemeinden stehen immer in der Gefahr,  sich gegeneinander abzuschotten. Ziel der „Öffentlichen Theologie“ ist es deshalb, die Kirchen und Gemeinden auf ihre Verantwortung für die Verbesserung der Lebensbedingungen hinzuweisen und für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit zu engagieren. Aufgabe der Theologie hier in Südafrika, so könnte man auch sagen, ist es, den Glauben in die kritische Selbstreflexion zu treiben, damit er der in ihm liegenden moralischen Bindungskräfte auch ansichtig wird. Dann arbeitet sie an den Voraussetzungen dafür, dass die Kirchen noch wirksamere Agenten für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit werden.

An diesem Projekt eines die gesellschaftliche und politische Verantwortung wahrnehmenden Christentums beteilige ich mich lebhaft, wobei ich zugleich versuche das Interesse liberaler Theologie an der Freiheitskraft des Glaubens einzubringen. Mit ist es auch hier wichtig, deutlich zu machen, dass der christliche Glaube seine moralische Kraft aus einer grundlegenden Freiheitserfahrung zieht. Denn erst dadurch, so denke ich, gewinnt der Glaube öffentliche Wirksamkeit in Politik und Gesellschaft, sowie Einfluss auf die wirtschaftlichen Prozesse: Er muss mit der freien Einsicht in die gegebenen Zustände vermittelt werden und er muss zur reflektierten Weltverantwortung befähigen. Für den moralisch und politisch reflektierten Glauben braucht es hier eine liberale Theologie, nicht so sehr zu seiner Verteidigung vor dem Forum der humanen Vernunft.

Nehmen Sie in Südafrika und ihre südafrikanischen Theologie- Kollegen an dem ganzen Debattieren um den Rücktritt des Papstes und einen neuen Papst in irgendeiner Weise Anteil? Oder gibt es auch da wichtigere (ökumenische) Themen?

Rücktritt und Neuwahl des Papstes interessieren hier niemanden. Die katholische Kirche ist eine der unzähligen christlichen Kirchen (Denominationen) unter anderen. Die Ökumene ist das große Thema. Mit der öffentlichen Verantwortung der christlichen Kirche verträgt sich die kirchliche Zersplitterung nicht. Die Kirche würde im politischen Raum als prophetische Stimme, die die ungeheuren Unterschiede zwischen Arm und Reich anklagt, noch viel deutlicher gehört, wenn sie mit einer Stimme spräche. Es werden allerdings auch Fortschritte in diese Richtung gemacht, zumal schon der kirchliche Kampf gegen die Apartheid, damals unter der Führung von Desmond Tutu, einer solche des „Südafrikanischen Konzils der christlichen Kirchen“ war. Für die Theologie liegt in ihrem Beitrag zu einer ökumenischen Verständigung, die sich nicht mehr mit überkommenen Lehrunterschieden aufhält, sondern die für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Frieden eintritt, eine der entscheidenden Herausforderungen der Zukunft. Mir scheint es aber auch so, dass das die Theologie hier bereits sehr viel besser verstanden hat als diejenige in Deutschland.

copyright: wilhelm gräb und religionsphilosophischer salon berlin.