Die Reformation geht weiter: Der Theologe Wilhelm Gräb über ein angeblich “schwieriges Fest” (2017)

Ein Vorwort: Es melden sich immer mehr (auch evangelische) Stimmen, die behaupten, “was es an der Reformation zu feiern gibt, ist immer noch nicht klar”. So Wolfgang Thielmann in der Beilage zur Wochenzeitung DIE ZEIT mit dem Titel “Christ und Welt”, erschienen am 7. November 2013, Seite 1. Wem das wirklich immer noch nicht klar ist, angesichts der Zustände in den christlichen Konfessionen, sollte die Vorschläge zu einem angemessenen, vernünftigen Reformations – Verständnis lesen, wie sie im folgenden der protestantische Theologe Wilhelm Gräb vorträgt. Das Interview wurde am 26. Oktober 2013 unter dem Titel “Die Reformation der Reformation” auf dieser website veröffentlicht, am 7. November 2013 wurde diese Einleitung vorangesetzt.

Die Reformation der Reformation – Neue Themen für ein wichtiges Ereignis
Der Theologe Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, zum Reformationstag 2103
Die Fragen stellte Christian Modehn

Die Erinnerung an die Reformation Martin Luthers hat sehr oft nur den Cha-rakter des kritischen Rückblicks und der Wiederholung alter Standardthemen, wie etwa der Rechtfertigung des Sünders. Sollten nicht neue Gotteserfahrungen besprochen werden, etwa der “Gott in uns”, die Sakralität der Person; das Göttliche, das in der Musik (in jeder Musik?) oder auch in der Erotik erlebt wird? Oder in der Solidarität mit Verarmten und Leidenden?

Die Reformation muss weitergehen, immer weitergehen. Die des 16. Jahrhun-derts zieht ihre Faszination bis heute aus dem Gedanken religiöser Freiheit, den sie im Rückgriff auf das biblisch verstandene Evangelium aufzustellen gewagt hat. Jeder Mensch ist gleich unmittelbar zu Gott und kann sich selbst aus der Hl. Schrift über das richtige Tun belehren. Doch entstanden sind neue so ge-nannte evangelische Kirchentümer und natürlich auch Theologien, die ihre Aufgabe darin sahen und sehen, die Identität der evangelischen Kirche unter Beru-fung auf die reformatorischen Bekenntnisse zu stabilisieren.
Ich sehe die Aufgabe einer gegenwartsorientierten reformatorischen Theologie anders. Sie muss die Augen öffnen für die Gegenwart Gottes in dieser Welt. Hinweisen muss sie darauf, dass Gott die Idee ist, wonach das Ganze unseres Lebens, ja das Ganze der unendlichen Welt sinnvoll ist, obwohl es unsere Fas-sungskraft übersteigt. Weil ein Gott ist, wird das Ganze zusammengehalten, ge-hen wir im Unermesslichen und letztlich Unverfügbaren doch nicht verloren. Wir empfinden Gottes Gegenwart, wo uns die Welt entgegenkommt, in Men-schen, die wir lieben, mit denen wir eins werden, die uns verstehen oder für die wir uns einsetzen; in der Musik, sofern sie uns anspricht; in Werken der Kunst, sofern diese uns unsere merkwürdige Weltstellung sichtbar machen.
In der Sinngewissheit unseres Lebens schattet sich die Präsenz des göttlichen Seinsgrundes ab. Aber wir brauchen auch die Verständigung über unsere Selbstgefühle und Gottesideen. Das ist die Aufgabe einer gegenwartsbezogenen reformatorischen Theologie. Dann nimmt sie den Freiheitsimpuls der Reformation auf. Dann denkt sie Gott in den Erfahrungen unseres heutigen Lebens als den, der es macht, dass der Gedanke von der unverlierbaren Würde und dem unendlichen Wert eines jeden Menschen nicht nur in der Welt ist, sondern in ihr auch nicht mehr verloren gehen kann.
Nebenbei bemerkt, so verstehe ich auch die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus dem 16. Jahrhunderts. Sie wollte damit sagen, dass Gott das Lebensrecht jedes Menschen vorbehaltlos anerkennt, unabhängig von seiner Leistung und seiner sozialen Zugehörigkeiten. Nur hat sie das Evan-gelium noch in Vorstellungen ausgedrückt, die die unseren nicht mehr sind und auch nicht werden müssen.

Wie tief reicht protestantische Selbstkritik? Welche Traditionen belasten die Kirche in Deutschland heute? Ist sie frei genug, Überorganisation und Büro-kratie zu überwinden zugunsten neuer religiöser „Spielräume”, etwa der freie, umfassende religiöse Dialog außerhalb der Kirchenmauern, in Theatern, Kinos, Cafés, Konzerthäusern, in denen dann selbstverständlich auch neue Themen verhandelt werden.

Viel geschieht in dieser Richtung, mit den Citykirchen, auch hier in Berlin, mit den evangelischen Akademien, (auch den katholischen Akademien) und vielen Bemühungen um kulturelle Zeitgenossenschaft. Aber das alles ist dennoch viel zu wenig. Deshalb ist es so wichtig, dass wir an der Idee eines freien Protestan-tismus festhalten, der nicht mit der evangelischen Kirche zu verwechseln ist. Ihn gibt es seit dem späten 19. Jahrhundert. In ihm lebt der Freiheitsimpuls der Reformation am deutlichsten fort. Aber er befindet sich selbstverständlich auch nicht in einem ausschließlichen Gegensatz zur institutionalisierten evangelischen Kirche. Beide sind ein Stück weit auch aufeinander angewiesen. Bedauerlich ist jedoch, dass auch die evangelische Kirche immer noch meint, so etwas wie ein „Wächteramt“ über das Religiöse in Kultur und Gesellschaft ausüben zu müs-sen. Sie sieht sich im Besitz von Normen biblisch-reformatorischer Wahrheit, die sie den religiösen Interessen der Individuen entgegenhält. Wo sie sich aber selbst umstellt, verändert, und nichts anderes zu sein versucht als Kirche für die Religion der Menschen, dort kann viel Freiheitsluft auch in sie selbst, in ihre le-bendigen Gemeinden Einzug halten. Dort hört sie auf, sich – theologisch, wie organisatorisch – vor allem mit sich selbst zu beschäftigen.

Heutiges protestantisches Reformationsgedenken wehrt schamhaft die Kritik an der römischen Kirche ab, um der angeblich so guten Ökumene willen, könn-te man meinen. Sollten Protestanten nicht heute auch die Freiheit haben, Miss-stände in der römischen Kirche oder etwa auch in der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats zu benennen? Welche Kritik wäre dann wichtig?
Die Ökumene kommt mir oft so vor, als sei sie vor allem von einem ökono-misch kalkulierten Kartelldenken bestimmt. Man schließt sich zusammen, um das Christentum, mit dem man sich identifiziert, besser gegen die säkulare Ge-sellschaft verteidigen zu können. Weil die evangelische Kirche dem reformatori-schen Freiheitsimpuls schon viel zu zaghaft folgt, will sie von Kirchenkritik nichts wissen. Wer sie übt, gilt schnell als Feind des Christentums und der Religion. Dass die Reformation in ihrem Kern Kirchenkritik war, davon hat auch die evangelische Kirche heute keine Ahnung mehr. Wie sollte da von ihr Kritik an der katholischen oder orthodoxen Kirche erwartet werden können? Es geht zwischen den Kirchen ähnlich zu wie in der Politik. Die Kritik anderer Kirchen schickt sich genauso wenig wie die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.
Der andauernde Freiheitsimpuls der Reformation, der ja doch der des Evangeli-ums ist, der Botschaft von der Menschlichkeit Gottes, kann nur wirksam wer-den, wenn unterschieden wird zwischen der Religion des Evangeliums und der institutionalisierten Kirche. Dann ist jede Kirche, wie immer sie sich nennt, zu kritisieren, wenn sie nicht der Menschwerdung des Menschen dient, seinen e-lementaren Lebens- und Freiheitsrechten. Wo sie sich nicht dafür einsetzt, dass die den Geist des Evangeliums für unsere Zeit formulierenden Menschenrechte jedem Menschen zukommen, unabhängig von deren nationalen und kulturellen Zugehörigkeiten, ihren sexuellen und religiös-weltanschaulichen Orientierungen, ist eine Kirche zu kritisieren. Ich erspare mir jetzt, aufzuführen, was da im Blick auf das Verhalten und die Stellungnahmen der Kirchen – die römische und die orthodoxe Kirche besonders betreffend, die evangelische aber nicht ausneh-mend – konkret anzuführen wäre. Ich denke, es steht uns nur zu deutlich vor Augen.

Copyright: Prof.Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.