Offene Kirchen contra verschlossene Religion? Aber: Wozu sind die „offenen Kirchen“ offen …. wenn sie denn offen sind?

Ein Hinweis zu den Dorf-Kirchen im Land Brandenburg
Von Christian Modehn

1.
„Was machen wir, wenn die Gläubigen wegbleiben? Müssen wir Dorf – Kirchen (in Brandenburg) verschließen, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen in der Hoffnung auf wieder christlich engagiertere Zeiten? Oder können wir sie anders oder auch gewissermassen mit queren Ideen nutzen?“

2.
Solche Fragen, die zu „queren Ideen“, also provozierenden Vorschlägen, direkt auffordern, liest man nicht gerade oft in kirchlichen Publikationen. Diese Sätze stehen aber auf Seite 3 im Vorwort der Broschüre „Offene Kirchen 2023“, das Heft hat den Titel „Gotteshäuser im Wandel“, gemeint sind „Gotteshäusern“ auf den Dörfern der Mark Brandenburg.

3.
Zum Hintergrund:
Das Thema Dorfkirchen im Land Brandenburg ist alles andere als ein marginales, „bloß kirchliches“ Sonderthema. Diese Kirchengebäude, so klein, so bescheiden sie auch sein mögen, sind oft die einzige sichtbare und ästhetisch oft auch ansehnliche Erinnerung an „Kultur“ und kulturelle Traditionen in den Dörfern. Die Kirchen sind Zeugen einer religiösen Vergangenheit, die selten glorreich oder glanzvoll war in Preußen bzw. in Brandenburg. Aber immerhin, diese Gebäude aus alter Zeit, haben die DDR-Anti-Kirchenpolitik mehr schlecht als recht überstanden, auch die kirchenfeindliche Nazi-Zeit oder die problematische enge Verbindung der Kirche mit dem Staat im Kaiserreich usw.
Aber sie sind bis heute in gewisser Weise doch noch kleine „Lichtblicke“ in den sonst an kulturellen, architektonischen Höhepunkten sehr armen Regionen Brandenburgs. Dort freut man sich schon über gepflegte Ruinen von Zisterzienser-Klöstern (etwa in Chorin oder in Zinna) oder denkt an das von sehr konservativen österreichischen Mönchen wieder „belebte“ Barock-Kloster Neuzelle…LINK   Wie sollte auch die Kirche glänzen, wenn 2022 nur 14 % der Bevölkerung Brandenburgs sich evangelisch nennen und 3,6% katholisch, alle Mitglieder sind nicht mehr die Jüngsten. 2011 waren noch 17 % evangelisch und 3,0% katholisch. Das heißt, die Kirchenbindung wird in absehbarer Zeit nicht mehr deutlich wahrnehmbar sein. Ein Phänomen, das alle neuen Bundesländer besonders betrifft.

4.
Etwa 1.500 Dorfkirchen soll es nach ungefähren Zählungen im Land Brandenburg jetzt geben, etwa 850 dieser Kirchengebäude sind uralt, ursprünglich im 13., 14. Jahrhundert errichtet. Und es gibt verschiedene Initiativen, die sich um den Erhalt und die Renovierung dieser Dorfkirchen kümmern, bekannt ist der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“. Jährlich veröffentlicht er eine Broschüre, im Jahr 2023 mit dem Titel „Gotteshäuser im Wandel“. Aus dem Vorwort wurde schon am Anfang dieses Beitrags zitiert. Die Frage ist: Was wird aus den zum Teil mit viel persönlichem Einsatz und öffentlichen Geldern restaurierten Dorfkirchen und was aus den noch zu renovierenden?
Das Thema ist aber auch sozialwissenschaftlich relevant: Denn sind die Kirchen in den Dörfern nur Denkmäler aus vergangenen Zeiten, also äußerst selten genutzte, fast immer verschlossene Gebäude? Dann sind die Dörfer ein weiteres Mal wie tot erscheinende Orte mit einigen „Überlebenden“: Verschlossen sind schon fast alle Gaststätten von einst, nicht mehr vorhanden die kleinen Lebensmittelmittel-Geschäfte, kaum noch benutzt die Bushaltestellen der selten fahrenden Busse, weit entfernt vom Dorf die medizinische Versorgung, die Sparkassen usw. Schon jetzt ist es Tatsache: Eine gewisse Melancholie, manchmal eine Depression, kann den Besucher in dieser Gegend überfallen, wenn er diese Dörfer etwa der Uckermark besucht, er besucht sie, eingeladen von der Schönheit der Natur dort, den Alleen, der Stille.

5.
Wer einige „quere Ideen“ also theologisch-kritische Ideen formuliert, muss realistisch beginnen: Wer an diese Kirchen voller Neugier und auf der Suche nach Momenten spiritueller Sammlung herantritt, findet sie in Brandenburg jedenfalls meist verschlossen. Bestenfalls mit einer handgeschrieben Information, an der Kirchentür mit Reißnagel angeheftet: Bei Frau X Y im Dorf könne man sich ja den Schlüssel besorgen. Und sonntags um 10 Uhr? Da kann der Besucher lesen, dass der nächste Gottesdienst in dieser Kirche erst in 3 Wochen wieder stattfindet. Kein irgendwo ausliegendes Gemeindeblättchen hat den Mut, ehrlich mitzuteilen, wie viele Seelen denn an diesen Gottesdiensten teilnehmen. Wer dann zufällig in den Dörfern bei Gemeindemitgliedern nachfragt, erhält meistens als Antwort: „Na ja, Heiligabend ist die Kirche voll, sonst kommen so 8-10 Leute zum Gottesdienst“. Vom Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen ist auch keine Rede… Eine sterbende Kirche als in oft recht hübsch herausgeputzten kleinen verschlossenen Kirchen? Diese Erkenntnis sollte nicht verdrängt werden.

6.
Nun also die offiziell gewünschten „queren“, also kritischen Ideen.

– Die Gottesdienste: Nach wie vor finden evangelische Gottesdienste eher selten in den Kirchen der Dörfer statt. Und es sind Gottesdienste, die der üblichen, vorgeschriebenen liturgischen Ordnung folgen. Also mit all den inhaltlich kaum noch nach vollziehbaren Gebeten und Liedern. Solche Gottesdienste zu feiern ist freilich für viele PfarrerInnen einfacher als sich kreativ etwas Neues zu überlegen.
Es sind also fast immer herumreisende Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Gottesdienste etwa einmal im Monat in den jeweiligen Dorfkirchen halten, die zu ihrem „Sprengel“ „gehören“. Muss das so sein?

Die systematische Ausbildung von Laien als Gemeindeleitern und Gottesdienstleitern aus den Dörfern selbst gab es offensichtlich nicht. Sie könnten im Team oder einzeln wöchentlich einen Gottesdienst anbieten. Das hätte der Ausbau einer Basis-Laien-Kirche sein können. Aber dafür ist es wohl nun – aufgrund der Altersstruktur auf den Dörfern – zu spät. Die Kirche hat den Aufbau einer lebendigen Laien-Kirche verschlafen oder hat nicht im entferntesten daran gedacht. Basisgemeinden waren auf Kirchentagen etwas Bejubeltes für Lateinamerika, nicht für Brandenburg oder die Dörfer in der ganzen Republik. Diese „quere Idee“ können wir uns also abschminken, für eine Laien-Basis-Kirche ist es. – mangels Personal – wohl zu spät. Ein solcher Gedanke an kirchliches Versagen kann manchen Theologen in eine gewisse Trauer führen, wenn er auch bedenkt, wie viele Milliarden Euro in all den Jahren durch den kirchlichen Betrieb geflossen sind. Wohin bloß, in die Kosten für das etablierte Personal?
Lebendige Kirchengemeinden können nur entstehen, wenn endlich konsequent in den Gottesdiensten eine neue Sprache, begründet in einer neuen Theologie, praktiziert wird. Theologische übliche Floskeln, aus Gottesdiensten zu Heiligabend oder Karfreitag bekannt, sind verbraucht und leer: „Der Erlöser ist da“, „deine Sünden sind dir vergeben“, „Christi Blut rettet dich“, „Das Lämmlein geht und trägt die Schuld“. ….und so weiter…

Es müssen in diese Dorfkirchen explizit auch Dorfbewohner eingeladen werden, die nicht Mitglieder der Kirche sind. Sie könnten anstelle der üblichen Sonntagsgottesdienste zu „Lebensfeiern“, Meditationen, musikalisch – literarische Besinnung, Austausch über dringende (auch politische) Lebensfragen anstelle der üblichen Gottesdienste (zusammen mit Kirchenmitgliedern) eingeladen werden. Natürlich nicht um 10 Uhr wie üblich, sondern etwa um 15 Uhr mit anschließendem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Kirche oder im Garten etc.

– In Berlin leben so viele Musik-Studenten, viele junge Künstler, viele junge Autoren, viele junge kreative Menschen aus ganz Europa und der Welt: Warum können die nicht regelmäßig – etwa zur Sommerzeit – in den renovierten Kirchen (mit den oft auch funktionierenden Orgeln und Instrumenten) auftreten und „Salon-Veranstaltungen“ gestalten, mit entsprechender Werbung in Berlin und in der Mark. Warum soll das scheitern? …
In Thüringen wurden einige kleine Kirchen als „Herbergskirchen“ umgestaltet, berichtet Elke Bergt in dem Heft „Gotteshäuser im Wandel“(S.10). Warum gibt es „Wohn – Herbergs-Kkrchen“ nicht auch in Brandenburg?

Es muss möglich sein, dass diese Dorfkirchengemeinden zu „ökumenischen Gemeinden“ offiziell erklärt werden: Die Katholiken könnten ihre äußerst wenigen Priester entlasten, die gestreßt von einer Kirche zur anderen hetzen, um ihre Sonntags-Messen zu lesen. Es müsste den Katholiken, ihren Bischöfen auch, klar sein: Soll der Glaube dort überleben, dann nur durch ökumenische Praxis. Also sollten Katholiken explizit zu den Gottesdiensten oder besonderen „Lebensfeiern“ in den evangelischen Dorfkirchen eingeladen werden, als gleichberechtigte ökumenische Gemeindemitglieder. Die Protestanten hätten dabei wohl die geringeren Probleme als die Katholiken bzw. deren auf die Reinheit der uralten Lehre bedachten Bischöfe. Aber warum könnte nicht wenigstens endlich einmal in einer Region als „Experiment“ Ökumene im vollen Umfang praktiziert werden? Ich vermute, die Protestanten hätten auch nichts dagegen, wenn gelegentlich die Katholiken in den Kirchen den dringenden Wunsch haben, eine Marien-Andacht in der einst evangelischen, nun aber ökumenischen Kirche zu feiern.Selbstverständlich müsste diese Kirche und müssten die Gemeinden als ökumenische Gemeinden offiziell gelten. Mit der Zahlung und Verteilung der Kirchensteuer käme man schon klar…Hier fehlt der Platz um dieses Modellprojekt „Ökumene in Brandenburg“ ausführlich darzustellen…

Selbstverständlich müssten diese Dorf-Kirchen auch offen sein für andere Religionen, etwa für Buddhisten oder Yoga-Übende oder für Freunde der Sufi-Mystik oder jüdischen Theologen, die die Bibel auslegen? Warum könnten einige Kirchen in den Dörfern, wo Literaten und Schriftsteller schon wohnen, nicht auch Literaturkirchen werden? Oder zentrale Treffpunkte für Menschen, die sich intensiv für die ökologische Wende einsetzen.
Vielleicht sollte die Kirche im nahegelegenen Berlin nach Kirchen-Paten suchen, die sich im Team um eine Kirche und die Gestaltung der Veranstaltung dieser ihrer einen Kirche kümmern, weil sie selbst in dem einen oder anderen Dorf oft zu Gast sind oder dort ihre „Zweitwohnung“ haben.

– Aber warum und zu welchem Zweck sollten denn die Dorfkirchen überhaupt tagsüber offen sein? So viele herausragende Kunstwerke gibt es ja dort nicht zu bestaunen, so viele wertvolle Kirchenfenster oder Taufengel auch nicht. Der einzige dringende Grund: Diese Kirchen sind Orte der Meditation, der Stille, der Einkehr, des Gebets. Deswegen sollten sie offen sein. Und ein Pfarrer könnte sich ja zweimal pro Woche in die Kirche setzen für eine Stunde setzen und mit den Besuchern Lebensfragen besprechen oder Hinweise zu Meditation und Gebet geben. In Frankreich sind die (katholischen) Kirchengebäude bekanntlich die Orte, wo Pfarrer anzutreffen sind, das ist ihr „Arbeitsplatz“ auch außerhalb der üblichen Sonntagsgottesdienste…

– Über die Frage: Müssen wirklich diese fixierten unbequemen Holzbänke in den Dorfkirchen stehen?  wäre nachzudenken. Oder können nicht auch bequeme, fürs Meditatieren und Beten geeignetere Sessel und Stühle oder Kissen diese ewigen “Kirchenbänke” ersetzen? Ich würd micht gern länger in einer Dorfkirche ausruhen, meditieren etc., wenn nicht diese Bänke herumstehen wü+rden. Oder ist das etwa alles vom “Denkmalschutz” geregelt?

– Aber noch eine Idee, eine „quere“ aber als eine“ queere“ Idee. Queer also: Warum können manche Dorfkirchen nicht gastfreundlich sein auch für queere Menschen, also etwa Sonntag mittags den Pfarrgarten und die Kirche öffnen für den queere Menschen und deren FreundInnen. Etwa auch für Gruppen aus Berlin, die gern einmal auf dem Land, in einem Dorf, Momente der Besinnung, der Erholung usw. suchen. Es wird doch nicht schon so weit gekommen sein, dass diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wird, weil es auf den Dörfern schon so viele AFD Leute oder explizitere Nazis gibt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der “Förderkreis Alte Kirchen Berlin Brandenburg e.V.”,: www.altekirchen.de ;  altekirchen@gmx.de

Ein Orts-und Personenregister der “Offenen Kirchen” (Broschören) von 2000-2023: www. altekirchen.de/offene-kirchen/register

Siehe auch einen Beitrag von Chrostian Modehn über  “Theodor Fontane und seine Dorfkirchen”:  LINK

“Stille in leeren Kirchen” eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, NDR “Glaubenssachen”:   LINK

Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, “Leere Kirchen, lebendige Spiritualität”. LINK

Ein Buchhinweis, zu einem Foto-Buch, ein Dokument verfallener, verlassener Kirchen vor allem in Frankreich, eine Besprechung und Buchempfehlung von Christian Modehn  LINK

 

 

 

 

Erfahrungen in leeren Kirchen. Stille und Spiritualität.

Stille und Spiritualität . 
Erfahrungen in leeren Kirchen

Eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn. Der Beitrag ist nach wie vor aktuell, weil er zeigt: Auch außerhalb der üblichen Gottesdienste sind Kirchen bevorzugte Orte der persönlichen Mediation und Stille. Und das könnte im Sommer, im Urlaub, in der freien Zeit, wieder entdeckt werden….

Aus der Reihe “Glaubenssachen“, NDR Kultur, am 2. Oktober 2016. Der Text entspricht der Form eines Mskr. für Ra­dio­sen­dungen.

Siehe auch das Interview von Christian Modehn mit dem Berliner protestantischen Theologen Prof.Wilhelm Gräb zum Thema “Leere Kirchen”. Prof.Wilhelm Gräb, ein Freund des “Religionsphilosphischen Salon Berlin”, ist leider am 23.1 2023 verstorben.LINK:

Die Sendung der GLAUBENSSACHEN NDR KULTUR:

1.Spr.: Erzähler
2.Spr.. Erzähler

1. SPR.:
Wer von Berlin aus in die nördliche Umgebung von Potsdam fährt, gelangt schnell hinaus ins Weite. . Felder, Wiesen, kleine Hügel bestimmen die Landschaft. Eines der wenigen Dörfer in dieser Region heißt Kartzow. Von der nahen Autobahn ist ständig ein sanftes Rauschen zu hören. Trotzdem könnte Kartzow mit seinen 110 Einwohnern den Titel „brandenburgischer Ruhe-Ort“ verdienen. Denn wirklich lebhaft wird es hier nur an Wochenenden, wenn Hochzeitsgesellschaften im Schloss-Hotel ihre Feste feiern. Einige Paare lassen den Bund fürs Leben auch in der Dorfkirche segnen. Sonntags-Gottesdienste für die kleine Gemeinde finden nur alle 3 Wochen statt. Der Pfarrer muss sich auch um die kleine Schar der Protestanten in fünf weiteren Dörfern kümmern.

2. SPR.:
Die Kirche steht auf einem ehemaligen Friedhof mitten im Grünen , sie erinnert in ihrer neogotischen Gestalt an längst vergessene Zeiten: doch seit dem 13. Jahrhundert gibt es hier eine christliche Gemeinde. Die Grundmauern der Kirche sind noch aus Feldsteinen errichtet. Zur Überraschung des Besuchers aus Berlin ist das Gotteshaus auch werktags von früh bis spät geöffnet. Wer eintritt, erlebt einen liebevoll gepflegten Raum. Erst vor 12 Jahren endeten die Restaurierungsarbeiten . Die Dorfbewohner wollten eine ansehnliche Kirche vor Augen haben, selbst wenn sich die meisten, wie überall in Brandenburg, konfessionslos, religionsfrei oder einfach nur normal nennen. Wie auch immer. Sie wollten einen Raum schaffen, der zum Verweilen einlädt.

1.SPR.:
In der Apsis, rund um den Altar, sind die Wände in einem intensiven rötlichen Ton gehalten, der übrige Raum mit seinen 12 Bankreihen verbreitet in der Mittagssonne eine positive Stimmung. Vor dem Altar, zur Rechten, steht ein kleines Pult für den Prediger, links ist das Taufenbecken. Die Gemeinde ist froh, wenn zwei – oder dreimal im Jahr Taufen gefeiert werden .

 

2. SPR.:
Der Besucher hat in der Mitte der Kirche Platz genommen. Nichts ist zu vernehmen. Nur Stille. Es ist nicht Erschöpfung oder Müdigkeit, wenn er jetzt die Augen schließt; eher ist es die Freude, in einem angenehmen Raum Entspannung und Ruhe zu finden. Die vielen diffusen Gedanken, die sonst durch den Kopf schwirren, verschwinden allmählich. Im stillen Sitzen versinkt der Besucher förmlich in dem Raum. Einatmen. Ausatmen. Diese elementare Form des Lebens wird hier als eine wunderbare Gabe erlebt. Mystiker nannten diese Erfahrung einst die Abgeschiedenheit. Sie dachten dabei an eine seelische Haltung, in der die stetig dahin fließende Zeit wie zum Stillstand kommt und die reine Dauer, die Gegenwart, erlebt wird. Fixierungen auf Vergangenes und Sorgen um die Zukunft sind vertrieben. So kann der Besucher einfach nur da sein. Die kleine Dorfkirche wird als heilsamer Platz erlebt. Wo denn sonst könnte man in der heutigen Welt, die ganz vom Konsumieren und damit von Kosten und Unkosten bestimmt ist, gratis ausruhen? Dem Besucher fällt ein Spruch des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckart ein: Der einzelne, so meinte er, lebe erst dann auf, wenn er allein mit seinem Gott ist.. In einem gewissen Egoismus ist er geradezu dankbar ist, dass jetzt kein anderer die Kirche in Kartzow betritt.

1. SPR.:
Aus dem Versunkensein in die reine Gegenwart wird der Besucher herausgerissen: Pünktlich um 12 Uhr mittags ruft die Glocke zum Innehalten, zum Gebet; eine sanfte Aufforderung, die Kirche weiter zu betrachten.
Auf dem Rundbogen, über den Altar, wurde ein Spruch aus dem Evangelium aufgemalt. Der Vers, von Matthäus überliefert, lautet: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Wie passt eine solche Verheißung zu unserer heutigen Wirklichkeit, die vielerorts von Hass und Krieg geprägt ist? Vielleicht sollte der Spruch einladen, den Glauben als heilsamen Impuls, als Angebot eines sinnvollen Lebens, zu verstehen. Die Menschen in den Dörfern Brandenburgs, die überall ihre bescheidenen Kirchen pflegen , ahnen es wohl: Ein religiös anmutendes Gebäude, eine Kirche mit ihrem Türmchen, ist ein Symbol für ein Leben, das sich nicht in der Freude über Einfamilienhäuser, Gärten, Garagen und Restaurants erschöpft. Diese kleine Kirche ist ein Symbol für die Unterbrechung im üblichen Einerlei. Die Menschen hier, ganz gleich ob evangelisch, katholisch oder konfessionslos, wollen etwas bei sich haben, das keinen direkten Nutzen hat. Sondern auf Unsichtbares verweist, das religiöse Menschen Gott nennen.

2. SPR.:
Der Besucher betrachtet die schöne restaurierte Orgel und auch die Wand-Gemälde zur Kreuzigung Jesu. Sie stammen aus dem 16. Jahrhundert, als die Reformation sich durchsetzte und die Christen trotz aller Glaubenskriege ihre Spiritualität bewahrten. Und heute? Wie kann die Kirche auf das offensichtliche Wohlwollen der Bürger für den Erhalt des Gotteshauses kreativ und neu reagieren? Müsste sich die Kirche nicht so präsentieren, dass all die Menschen, die kürzlich dieses Gebäude renovierten, auch hier gern zusammenkommen, zu Gespräch, Diskussion, Meditation und Gottesdienst. Aber dann müsste sich die Kirche ihrerseits weiter reformieren. Die religiöse Sprache müsste wieder frisch und neu werden, so dass sie auch ein Atheist im 21. Jahrhundert versteht. Die geöffnete Kirchentür müsste also zum Symbol werden für eine offene Kirche insgesamt.

1. SPR.:
Warum könnte sie dann in ihren Reihen nicht auch viel öfter Sympathisanten herzlich willkommen heißen, Menschen, die auf der Suche sind nach ihrer persönlichen Spiritualität, aber eine Mitgliedschaft noch nicht wünschen. So könnten die kleinen Gemeinden neu belebt werden. Nach der Reformation waren Zweifelnde und Interessierte zum Beispiel in Hollands Gemeinden gern gesehen. „Liefhebbers“, also Liebhaber des Glaubens, wurden sie genannt: Sie hörten die Predigt, nahmen aber nicht am Abendmahl teil. Das Sakrament sollte den eingeschriebenen Mitgliedern vorbehalten sein.

2. SPR.:
In Delft, der kleinen Stadt in der Nähe von Rotterdam, hat der Besucher aus Berlin zum ersten Mal von den Liebhabern des Glaubens erfahren. Delft ist ja nicht nur wegen der prächtigen weiß-blauen Keramik berühmt. Hier lebte der Maler Johan Vermeer, auch der große Philosoph Hugo Grotius wurde hier geboren. Delft ist berühmt für seine Kirchen in der Altstadt. Die Giebelhäuser aus Gotik und Renaissance an der Gracht (sprich Chracht) „Oude Delft“ (sprich aude delft), sind die schönste Zierde der Stadt. Auf einem Innenhof, fast versteckt, befindet sich die Kirche der protestantischen Remonstranten – Gemeinde. Die Remonstranten bilden eine Reformbewegung innerhalb des Calvinismus. Ihr Gotteshaus ist klein, der Geist aber weit: Sie nehmen auch heute gern Skeptiker und Zweifler als Freunde, als „Liefhebbers“, in die Gemeinde auf und stellen sie den Mitgliedern sogar gleich, als eine Geste der Freundschaft!

1. SPR.:
Zu Liebhabern des Glaubens können die Besucher der großen Kirchen in der Altstadt werden, wenn sie sich nur Zeit nehmen und die Gotteshäuser nicht in der für Touristen üblichen Hektik besichtigen, sondern verweilen, betrachten, nachdenken. Die Oude Kerk (sprich Aude Kerk) bietet dafür viele Möglichkeiten. Schon bei den ersten Schritten in diesem Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert ist man überrascht von der hellen Pracht des Raumes und seiner strahlenden Klarheit. Nur wenige Fenster in der Apsis sind bunt gestaltet, die übrigen lassen das Sonnenlicht ungebrochen durchscheinen. Heiligenbilder, ja selbst Kreuzesdarstellungen sucht man in dieser Kirche vergeblich. Calvinistische Reformer hatten in ihrer leidenschaftlichen Wut auf alles Katholische die meisten Kunstwerke des Mittelalters zerstört. Von Gott und Heiligen darf es überhaupt kein Bild mehr geben, hieß die Devise! Die alte Kanzel aus der Zeit der Renaissance, mit ihrem Baldachin aus Holz, ist das einzig verbliebene Schmuckstück. Alle Bänke und Stühle sind auf den Ort der Predigt hin gestellt.
Bilderstürmerei war ein Wahn, das ist keine Frage. Gottesbilder macht sich doch jeder, selbst wenn er keine Gemälde vor Augen hat. Andererseits freut sich der Besucher darüber, in diesem leer wirkenden Raum, mit sich und Gott völlig allein zu sein. Vielleicht wird gerade dann spirituelle Erfahrung möglich?

2. SPR.:
Der Besucher hat zur Rechten die Kanzel vor Augen; er denkt an frühere Zeiten, als die frommen Bürger eine einstündige die Predigt ganz normal fanden. Lang dauernde Belehrungen, von oben herab, können die Menschen heute kaum ertragen. Sie bilden sich ihre eigene Spiritualität, eben auch im Nachdenken in leeren Kirchen, jenseits der Gottesdienst-Zeiten Vielleicht meldet sich so die Sehnsucht nach Gott, und eine Sehnsucht, , wieder einmal am Gottesdienst teilzunehmen.

1. SPR.:
Der Blick geht in die Weite dieser gotischen Halle. Gottes Größe soll durch die Höhen der gotischen Baukunst anschaulich werden. Und das strahlende Licht in diesem Raum bedeutet sicher: Gott selbst ist Licht, Klarheit, Verstehen. So braucht sich der Mensch, der kleine Mensch, in diesem Raum gerade nicht klein zu fühlen, nicht wertlos, nicht verloren. Der Besucher fühlt sich im Licht geborgen, behütet, aufgehoben.

2. SPR.:
Selbst wenn einige Besucher im Mittelgang umhergehen , sie können die Ruhe hier nicht stören. Es herrscht eine freundliche Stimmung. Vielleicht hat die Stille gar eine eigene Sprache für den, der das meditative Denken einüben möchte.
Angesichts der göttlichen Wirklichkeit bin ich der Geschaffene, ich bin in diese Welt gesetzt. Aus Zufall? Religiöse Menschen sagen: Ich bin von schöpferischer göttlicher Kraft gewollt und belebt. Der Besucher weiß: Wie unbeholfen alles Wahrnehmen und Denken und Sprechen jetzt ist. Es gibt keine präzisen Worte, das meditativ Erlebte sich selbst und anderen mitzuteilen. Mystiker haben gelehrt, dass alles Sprechen von Gott nur ein Stammeln sein kann.

1. SPR.:
Diese von allen Bildern befreite Kirche im holländischen Delft hilft, wieder Wesentliches zu sehen und sich nicht – wie so oft – von hübschen barocken Figuren, Putten und Heiligenbildern ablenken zu lassen. Der Glaube wird hier elementar, wesentlich, natürlich erlebt. Es entsteht eine Unmittelbarkeit von Göttlichem und Menschlichem. Gott lebt in der Welt und wirkt im Menschen. Darum ist auch alle schöpferische Leistung des Menschen selbst etwas Göttliches, sozusagen Geschenk des Göttlichen. Erstaunlich ist die Erkenntnis: Wir Menschen leben immer schon dank der göttlichen Schöpferkraft. Das mag uns zuweilen auch entlasten.

2. SPR.:
An dieser Stelle führt der Besucher eine Art Selbstgespräch, er findet persönliche Worte für eine elementare Poesie im Angesicht des Göttlichen, eine Poesie, die man vielleicht Beten nennen kann. Wer hier betet, in dieser leeren Kirche, macht keine großen Sprüche: Wenige Worte finden sich wie von selbst: Danke, du Unendlicher und Ewiger. Lass dein Licht, den Geist, die Vernunft, leuchten in uns. Das ist schon erstaunlich: Der Reformator Calvin wollte die Kirchen nur als Treffpunkt der Gottesdienst-Gemeinde. Persönliches Beten, das sollte zuhause, im stillen Kämmerlein geschehen. So ändert sich die spirituelle Praxis heute durch die Besucher, die in Kirchen still verweilen wollen. Sie haben keine Scheu, in der Öffentlchkeit einer Kirche ihr eignes, privates Suchen, Zweifeln, Beten einzuüben.

n1.SPR.:
Plötzlich setzt die Orgel ein, jemand übt die Passacaglia von Bach, deren Thema so machtvoll im Bass beginnt und dann im Manual oft wiederkehrt. Das Gleichbleibende in der Variation und der Vielfalt: Ist dies nicht typisch für den Glauben? Haben die Kirchen heute den Mut, der Variation und Vielfalt Raum zu geben?

2. SPR.:
Der Besucher macht einen Rundgang in der Oude Kerk und entdeckt einen Grabstein des großen Malers Jan Vermeer aus dem 17. Jahrhundert: Vermeer hat in seinen Gemälden sehr sanft das Licht gepriesen wie ein Geschenk, wie ein Geheimnis. Und man ist überrascht, kleine Ansätze hin zu Beweglichkeit und Veränderung auch in dieser reformierten Gemeinde zu erleben: Sie hat sogar in einem Seitenschiff Platz geschaffen für regelmäßige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler. Und rund um die Apsis, den einstigen Altarraum der Katholiken, hat sie zudem bunte Fenster mit biblischen Motiven gestalten lassen. Der Bildersturm ist definitiv vorbei.

1. SPR.:
Der Besucher der Oude Kerk in Delft sieht den Abendmahlstisch an der Seite stehen, er wird nur im Gottesdienst in den Mittelpunkt gerückt. Dann versammeln sich um ihn die Gläubigen in dem Willen, das Brot und den Wein miteinander zu teilen.
In den Abendmahls-Gottesdiensten wird die Erinnerung wie ein einfaches Schauspiel rituell gestaltet, als Nachvollzug des letzten gemeinsamen Essens, das Jesus vor seinem Tod mit den Jüngern einnahm. Im Teilen der Speisen, so verheißt er ihnen, wird Gemeinschaft mit dem Göttlichen immer wieder lebendig. Schon allein deswegen sind wohl Kirchen unverzichtbar, sie zeigen: Ohne das Gedenken stirbt das geistvolle Leben, ohne Erinnerung gibt es keine Humanität.

2. SPR.:
Nach Berlin zurückgekehrt, lernt der Besucher leerer Kirchen nahe am Flughafen Tegel die katholische Kirche Maria Regina Martyrum kennen. Ein neuer Ehrentitel wurde für Maria, die Mutter Jesu, erfunden: Sie ist nun auch die Königin der Märtyrer. Hier gedenkt man nicht der Blutzeugen aus christlicher Frühzeit, sondern der modernen Christen, die ihren Glauben viel wichtiger fanden als alle politische Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Diese Marien – Kirche befindet sich in Nachbarschaft zum einstigen NAZI – Gefängnis Plötzensee. Dort wurden mehr als 2.500 Gegner des Verbrecher-Systems mit dem Fallbeil hingerichtet oder an Fleischerhaken aufgehängt.

1. SPR.:
Um zur Kirche zu gelangen, muss sich der Besucher zunächst durch ein schmales Tor beinahe zwängen. Er betritt einen weiten Hof. Und der ist überhaupt nicht einladend, geschweige denn von sakraler Aura oder wenigstens mit einem Schimmer von Schönheit ausgestattet. Man läuft über Kopfsteinpflaster und sieht sich umzingelt von hohen, grau bis schwarz gestalteten Mauern. Selbst eine Plastik im Hintergrund, die an das Leiden Jesu erinnert, wirkt abweisend. Der Glockenturm am Rande soll wie ein Wachturm erscheinen. Der Besucher fühlt sich beinahe bedroht und von unsichtbaren Mächten beobachtet. Vom Architekten ist das so gewollt. So kann Empathie mit den Opfern entstehen.

2. SPR.:
Der Besucher ist auch hier allein . Er steht still und. muss diesen Kirchplatz ertragen. Hier darf es kein eiliges Besichtigen oder gar hastiges Fotografieren geben. Das Gedenken an die Opfer kann zum Mitgefühl werden, wenn man sich in die letzten Stunden ihres Lebens hineinversetzt: Sie hatten sicher Gedanken an die Lieben zu Hause. Das Warten auf das Fallbeil oder den Fleischerhaken ist schon in der Imagination unerträglich. Wie stark war ihr Wille, ihre Überzeugung, das einzig Richtige zu tun? Wie stark ihre Entschiedenheit, auf dieses irdische Leben zu verzichten, um dadurch möglicherweise die Tyrannenherrschaft zu Fall zu bringen? Fühlten sie sich am Ende ihres Lebens von Gott und der Welt verlassen? Was bedeutet uns heute der Respekt für diese Menschen?

1. SPR.:
Der Besucher geht weiter, über diesen Hof hinweg, der den Titel Denk-Platz verdient hätte und gelangt zur Kirche. Sie ist sehr massiv und hat keine Seitenfenster.
Wenn man den Vorraum betritt, führt eine Treppe zur Oberkirche. Der Besucher aber entscheidet sich, auf der ebenen Erde zu bleiben. Sofort stößt er auf die Namen von Menschen aus dem Widerstand, ihrer wird auf dem steinernen Fußboden gedacht, etwa an den Berliner an Dompropst Bernhard Lichtenberg oder an den Jesuitenpater Alfred Delp: Als Mitglied des Kreisauer Kreises wurde er am 2. Februar 1945 in Plötzensee hingerichtet. In unmittelbarer Nähe steht eine moderne Pietà von Fritz Koenig wie ein Denkmal. Der verstorbene Jesus wird von seiner Mutter Maria auf dem Schoß gehalten. Der Eindruck ist stark: Man glaubt, sie würde den Leichnam loslassen und freigeben in eine andere Welt hinein.

2.SPR.:
Der Besucher geht weiter, betritt die dunkle Kapelle und nimmt auf einer Bank Platz. Vor Augen hat er einen ausladenden Wandteppich mit einem Kreuz. Es wirkt wie ein Baum, über den die Sonne erstrahlt. Die Sonne ist für Christen auch das Symbol des lebendigen Gottes. Auch die Kapelle wirkt leer, reduziert auf den Altar und die Bänke für die Nonnen aus dem Karmeliter-Orden, sie haben nebenan ihr Kloster. Sie folgen ihrem großen Vorbild, dem heiligen Johannes vom Kreuz, er lebte im 16. Jahrhundert: Für ihn war die erfahrene Leere, sogar das Nichts, nur ein Hinweis auf den göttlichen Grund, den er zugleich als göttlichen Abgrund erlebte.

1. SPR.:
In der Kirchenbank hat ein Besucher eine Broschüre über den Widerstandskämpfer Pater Alfred Delp zurückgelassen. Beim Blättern fällt ein Zitat aus einer seiner Predigten ins Auge:

2. SPR.:
Nur ein Mensch, der sich übt in steter Grenzüberschreitung und Befreiung vom Gewohnten, wird zu sich selbst finden und ein freier Mensch werden. Den Rebellen kann man noch zu einem freien Menschen machen, den Spießer und den bloßen Genießer nicht mehr. Und die Kirche darf nicht zur Kirche der Selbstgenügsamkeit werden.

1. SPR.:
Worte, mit denen sich der Jesuitenpater Delp nicht nur Freunde in seiner Kirche machte… Der Besucher schließt die Augen. Kein Laut ist vernehmbar, kein Schritt, keine Glocke. Nichts. In dieser vollkommenen Stille fallen ihm Worte ein, die er in ihrer Einfachheit nur still für sich selbst flüstert: Gott, Leere, Sinn, Geborgensein, Erbarmen, Rettung. Diese Begriffe fügen sich in einen Zusammenhang, je länger man in dieser Kapelle nachdenkend verweilt: Gott ist Geheimnis, er ist nur zu berühren, niemals zu fassen oder zu definieren.

2. SPR.:
Der Besucher bricht auf, er geht langsam über den leeren Hof. Er hat Ruhe gefunden und erfahren: Wesentliches lässt sich nur in der Stille schenken, auch in der Stille leerer Kirchen. Dort ist man mit sich … und mit Gott … allein.

 

Leere Kirchen – lebendige Spiritualität. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Leere Kirchen – Lebendige Spiritualität?

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Von Christian Modehn

Besonders im Sommer, im Urlaub, besuchen viele Menschen während der Woche Kirchen, leere Kirchen, in denen im Augenblick kein Gottesdienst stattfindet. Viele laufen bloß neugierig herum, etliche, so meine Beobachtung, ruhen sich aus, verweilen, sammeln sich, beten vielleicht auch.

Was macht aus Ihrer Sicht den Charme leerer Kirchen aus? Fördern Sie irgendwie die individuelle Spiritualität, das stille Suchen nach dem eigenen Weg?

Leere Kirchen reduzieren die Nebengeräusche. Es gibt weniger Störungen von außen. Man muss sich vor allem nicht auf ein Geschehen einlassen, das, wie es bei jedem Gottesdienst der Fall ist, besondere Verpflichtungen einschließt. Wird in einer Kirche Gottesdienst gefeiert, dann werde ich konfrontiert, mit liturgischen Formeln, Chorälen, Predigten, gar sakramentalen Handlungen wie dem Abendmahl, der Eucharistie oder der Taufe. Sofort bin ich gezwungen, mich irgendwie zu dem zu verhalten, was da geschieht. Das kann aufregend und anregend sein. Das kann ärgerlich oder langweilig sein. Wie auch immer, ich bin dazu gezwungen, mich mit Zumutungen von außen auseinanderzusetzen. Aber vielleicht wollte ich genau dies nicht, sondern einfach nur die Kirche besichtigen, weil sie kunsthistorisch wertvoll ist, weil sie ein ästhetisch beeindruckendes Raumerlebnis verspricht, vielleicht auch nur, weil es in ihr an heißen Sommertagen so schön kühl ist.

Etwas anderes kommt hinzu, in der Regel ist es eine Gemeinde, die Gottesdienst feiert. Wenn ich zu dieser Gemeinde nicht gehöre, fühle ich mich fremd, vielleicht sogar als Eindringling in eine vertraute Gemeinschaft. Da will ich nicht stören. In einer leeren Kirche bin ich willkommen, sofern ich mich still und rücksichtsvoll verhalte.

Das Wichtigste scheint mir zu sein: Leere Kirchen lassen sich zum privaten Meditationsraum machen. Wenn es ästhetische ansprechende Räume sind, verbreiten sie eine sakrale Aura. Sie schaffen eine Atmosphäre, die zur Andacht einlädt. Sie öffnen unser Herz, weiten unseren Verstand, ergreifen uns mit allen unseren Sinnen. Dadurch stimulieren sie unser religiöses Gefühl. Das ist das Gefühl jener Selbstvertrautheit, die all unseren Anstrengungen der Selbstreflexion und Selbstfindung immer schon vorausliegt. In ihm werde ich des Sinnes gewiss, der mein Leben trägt, kann mir die Nähe Gottes aufgehen, bin ich ohne Anstrengung zugleich ganz bei mir. Ich finde mich gleichsam passiv in mich selbst und den mich tragenden göttlichen Grund eingesetzt.

Leere Kirchen aktivieren das religiöse Gefühl. Sie laden ebenso zu dessen reflexiver religiöser Deutung ein. Dann sagen Menschen, dass sie an diesem heiligen Ort sich selbst und Gott gefunden haben. So kann sich gerade in leeren Kirchen ereignen, was schon Augustin in den Confessiones als das Motiv wie als das Ziel der Selbst- und Sinnsuche beschrieb: “Mein Herz ist unruhig, bis dass es Ruhe findet, o Gott, in Dir“.

Viele leere Kirchen, gerade hier in der Mark Brandenburg oder Mecklenburg, sind nur als begehbare Ruinen erhalten, etwa das ehemalige Kloster Chorin. Diese Orte und auch bloß notdürftige reparierte Dorfkirchen finden viel Interesse bei Besuchern. Spüren diese Menschen vielleicht, dass diese Kirchenruinen Symbole sind für untergegangene alte und veraltete Glaubenformen? Sind diese Kirchenruinen ein stiller Hinweis auf den eigenen, zerbrochenen Glauben, der vielleicht nach Neuem Ausschau hält?

Schon der Romantiker Caspar David Friedrich hat am liebsten zerfallende Kirchen gemalt. Heute erst recht sind Kirchen für viele Menschen Denkmäler. Sie steht für die Kultur der Erinnerung an Zentren geistlichen Lebens oder symbolisieren das ideelle Zentrum eines Dorfes. Deshalb kümmern sich in Brandenburgs oder Mecklenburgs Dörfern die Kirchbau- und Kulturvereine um den Erhalt der Kirchen. Sie wollen dort nicht wieder Gottesdienst feiern. Aber das Gebäude ist ihnen wichtig, weil es für den verlorenen Mittelpunkt des Dorfes steht.

Dieses erstaunlich breite Interesse an der Erhaltung alter Dorfkirchen wollen jedoch, ebenso wie die touristische Aufmerksamkeit, die Kirchenruinen finden, das soll noch tiefer verstanden sein. Es geht den Menschen, die diese Kirchen besichtigen und erst recht denen, die sie erhalten, nie nur um das kulturelle Gedächtnis. Für sie spielt, auch wenn sie ansonsten ganz unkirchlich sein mögen, eine enorme Rolle, dass es Kirchen sind, Orte des Glaubens. Diese lassen eine fromme Erinnerung lebendig werden werden: Da muss doch einmal ein Glaube gewesen sein, der den Menschen viel bedeutete, ihnen Halt gab und sie über das Geschäftliche hinaus in einer geistigen Tiefe miteinander verbunden hat!

So wecken die Kirchen, selbst wenn nur noch die Grundmauern stehen, eine heilige Wehmut: Es könnte vielleicht doch sein, dass uns Heutigen etwas fehlt. Das wäre das Zugeständnis einer Sehnsucht nach Religion, nach einem unbedingt verlässlichen Lebensunterhalt, nach einer bergenden Gemeinschaft, nach einem Gott, der die Liebe ist.

In vielen großen Kirchen finden gerade in den Sommermonaten Konzerte statt. Sind diese oft gut besuchten Veranstaltungen „nur“ Kulturveranstaltungen oder haben sie – gerade in diesen Räumen – auch eine spirituelle oder religiöse Dimension? Sind Musikveranstaltungen oder Lesungen oder Ballett in den Kirchengebäuden nicht eigentlich Gottesdienst?

Je deutlicher wir darauf aufmerksam werden, welch enorme Bedeutung das Gefühl in der Religion spielt, desto besser verstehen wir auch die religiöse Tiefendimension, die die Ästhetik der Kirchenbauten und Kirchenräume öffnet. Wir können uns dabei die innere Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung klar machen. Ästhetische Erfahrung, wie wir sie im Hören von Musik oder in der Begegnung mit Werken bildender Kunst machen, ist sinnlich vermittelte Sinnerfahrung. Sinnliche Sinnerfahrung, in der uns die Welt ebenso beglückend wie verstörend entgegenkommt. So macht die Kunst uns auf die Ambivalenz von Sinn aufmerksam. Sie fordert unsere Sinndeutung heraus. Dabei kommt den kirchlichen Räumen eine wichtige Rolle zu. Sie motivieren die religiöse Deutung der ästhetischen Erfahrung und ermöglichen den Umgang mit ihren Ambivalenzen.

Die in Kirchenräumen zur Aufführung kommende Kunst schließt das kulturelle Gedächtnis an die religiösen Deutungswelten biblischer Sprache an wie auch an die Ikonographie der christlichen Überlieferungen. Selbst wenn die Kunst den alten Glauben nicht erneuern kann, macht sie doch den spirituellen Sinn für Tiefenschichten bewusst, an dem teilzuhaben die kirchlichen Räume einst Gelegenheit boten.

So halten die alten Kirchen, gerade dann, wenn geistliche Musik in ihnen zur Aufführung kommt, die Ahnung lebendig, dass im Ganzen der Welt ein Sinn ist, auch wenn wir ihn nicht verstehen. Käme diese Musik im Konzertsaal zur Aufführung, so würden wir sie dort nicht in der gleichen Weise erleben. Kirchengebäude öffnen Menschen, so säkular sie auch eingestellt sein mögen, für die spirituelle Tiefendimension ihrer Existenz. Besonders wenn die Werke Johann Sebastian Bachs in den alten Kirchen aufgeführt werden, stellt sich das Empfinden ein: Auch wenn wir unser eigenes Leben und schon gar die Welt, zu der wir gehören, nie ganz verstehen, wir können doch nicht in ihr verloren gehen.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 17.August 2014