Offene Kirchen contra verschlossene Religion? Aber: Wozu sind die „offenen Kirchen“ offen …. wenn sie denn offen sind?

Ein Hinweis zu den Dorf-Kirchen im Land Brandenburg
Von Christian Modehn

1.
„Was machen wir, wenn die Gläubigen wegbleiben? Müssen wir Dorf – Kirchen (in Brandenburg) verschließen, in eine Art Dornröschenschlaf versetzen in der Hoffnung auf wieder christlich engagiertere Zeiten? Oder können wir sie anders oder auch gewissermassen mit queren Ideen nutzen?“

2.
Solche Fragen, die zu „queren Ideen“, also provozierenden Vorschlägen, direkt auffordern, liest man nicht gerade oft in kirchlichen Publikationen. Diese Sätze stehen aber auf Seite 3 im Vorwort der Broschüre „Offene Kirchen 2023“, das Heft hat den Titel „Gotteshäuser im Wandel“, gemeint sind „Gotteshäusern“ auf den Dörfern der Mark Brandenburg.

3.
Zum Hintergrund:
Das Thema Dorfkirchen im Land Brandenburg ist alles andere als ein marginales, „bloß kirchliches“ Sonderthema. Diese Kirchengebäude, so klein, so bescheiden sie auch sein mögen, sind oft die einzige sichtbare und ästhetisch oft auch ansehnliche Erinnerung an „Kultur“ und kulturelle Traditionen in den Dörfern. Die Kirchen sind Zeugen einer religiösen Vergangenheit, die selten glorreich oder glanzvoll war in Preußen bzw. in Brandenburg. Aber immerhin, diese Gebäude aus alter Zeit, haben die DDR-Anti-Kirchenpolitik mehr schlecht als recht überstanden, auch die kirchenfeindliche Nazi-Zeit oder die problematische enge Verbindung der Kirche mit dem Staat im Kaiserreich usw.
Aber sie sind bis heute in gewisser Weise doch noch kleine „Lichtblicke“ in den sonst an kulturellen, architektonischen Höhepunkten sehr armen Regionen Brandenburgs. Dort freut man sich schon über gepflegte Ruinen von Zisterzienser-Klöstern (etwa in Chorin oder in Zinna) oder denkt an das von sehr konservativen österreichischen Mönchen wieder „belebte“ Barock-Kloster Neuzelle…LINK   Wie sollte auch die Kirche glänzen, wenn 2022 nur 14 % der Bevölkerung Brandenburgs sich evangelisch nennen und 3,6% katholisch, alle Mitglieder sind nicht mehr die Jüngsten. 2011 waren noch 17 % evangelisch und 3,0% katholisch. Das heißt, die Kirchenbindung wird in absehbarer Zeit nicht mehr deutlich wahrnehmbar sein. Ein Phänomen, das alle neuen Bundesländer besonders betrifft.

4.
Etwa 1.500 Dorfkirchen soll es nach ungefähren Zählungen im Land Brandenburg jetzt geben, etwa 850 dieser Kirchengebäude sind uralt, ursprünglich im 13., 14. Jahrhundert errichtet. Und es gibt verschiedene Initiativen, die sich um den Erhalt und die Renovierung dieser Dorfkirchen kümmern, bekannt ist der „Förderkreis Alte Kirchen Berlin-Brandenburg e.V.“. Jährlich veröffentlicht er eine Broschüre, im Jahr 2023 mit dem Titel „Gotteshäuser im Wandel“. Aus dem Vorwort wurde schon am Anfang dieses Beitrags zitiert. Die Frage ist: Was wird aus den zum Teil mit viel persönlichem Einsatz und öffentlichen Geldern restaurierten Dorfkirchen und was aus den noch zu renovierenden?
Das Thema ist aber auch sozialwissenschaftlich relevant: Denn sind die Kirchen in den Dörfern nur Denkmäler aus vergangenen Zeiten, also äußerst selten genutzte, fast immer verschlossene Gebäude? Dann sind die Dörfer ein weiteres Mal wie tot erscheinende Orte mit einigen „Überlebenden“: Verschlossen sind schon fast alle Gaststätten von einst, nicht mehr vorhanden die kleinen Lebensmittelmittel-Geschäfte, kaum noch benutzt die Bushaltestellen der selten fahrenden Busse, weit entfernt vom Dorf die medizinische Versorgung, die Sparkassen usw. Schon jetzt ist es Tatsache: Eine gewisse Melancholie, manchmal eine Depression, kann den Besucher in dieser Gegend überfallen, wenn er diese Dörfer etwa der Uckermark besucht, er besucht sie, eingeladen von der Schönheit der Natur dort, den Alleen, der Stille.

5.
Wer einige „quere Ideen“ also theologisch-kritische Ideen formuliert, muss realistisch beginnen: Wer an diese Kirchen voller Neugier und auf der Suche nach Momenten spiritueller Sammlung herantritt, findet sie in Brandenburg jedenfalls meist verschlossen. Bestenfalls mit einer handgeschrieben Information, an der Kirchentür mit Reißnagel angeheftet: Bei Frau X Y im Dorf könne man sich ja den Schlüssel besorgen. Und sonntags um 10 Uhr? Da kann der Besucher lesen, dass der nächste Gottesdienst in dieser Kirche erst in 3 Wochen wieder stattfindet. Kein irgendwo ausliegendes Gemeindeblättchen hat den Mut, ehrlich mitzuteilen, wie viele Seelen denn an diesen Gottesdiensten teilnehmen. Wer dann zufällig in den Dörfern bei Gemeindemitgliedern nachfragt, erhält meistens als Antwort: „Na ja, Heiligabend ist die Kirche voll, sonst kommen so 8-10 Leute zum Gottesdienst“. Vom Durchschnittsalter der TeilnehmerInnen ist auch keine Rede… Eine sterbende Kirche als in oft recht hübsch herausgeputzten kleinen verschlossenen Kirchen? Diese Erkenntnis sollte nicht verdrängt werden.

6.
Nun also die offiziell gewünschten „queren“, also kritischen Ideen.

– Die Gottesdienste: Nach wie vor finden evangelische Gottesdienste eher selten in den Kirchen der Dörfer statt. Und es sind Gottesdienste, die der üblichen, vorgeschriebenen liturgischen Ordnung folgen. Also mit all den inhaltlich kaum noch nach vollziehbaren Gebeten und Liedern. Solche Gottesdienste zu feiern ist freilich für viele PfarrerInnen einfacher als sich kreativ etwas Neues zu überlegen.
Es sind also fast immer herumreisende Pfarrerinnen und Pfarrer, die die Gottesdienste etwa einmal im Monat in den jeweiligen Dorfkirchen halten, die zu ihrem „Sprengel“ „gehören“. Muss das so sein?

Die systematische Ausbildung von Laien als Gemeindeleitern und Gottesdienstleitern aus den Dörfern selbst gab es offensichtlich nicht. Sie könnten im Team oder einzeln wöchentlich einen Gottesdienst anbieten. Das hätte der Ausbau einer Basis-Laien-Kirche sein können. Aber dafür ist es wohl nun – aufgrund der Altersstruktur auf den Dörfern – zu spät. Die Kirche hat den Aufbau einer lebendigen Laien-Kirche verschlafen oder hat nicht im entferntesten daran gedacht. Basisgemeinden waren auf Kirchentagen etwas Bejubeltes für Lateinamerika, nicht für Brandenburg oder die Dörfer in der ganzen Republik. Diese „quere Idee“ können wir uns also abschminken, für eine Laien-Basis-Kirche ist es. – mangels Personal – wohl zu spät. Ein solcher Gedanke an kirchliches Versagen kann manchen Theologen in eine gewisse Trauer führen, wenn er auch bedenkt, wie viele Milliarden Euro in all den Jahren durch den kirchlichen Betrieb geflossen sind. Wohin bloß, in die Kosten für das etablierte Personal?
Lebendige Kirchengemeinden können nur entstehen, wenn endlich konsequent in den Gottesdiensten eine neue Sprache, begründet in einer neuen Theologie, praktiziert wird. Theologische übliche Floskeln, aus Gottesdiensten zu Heiligabend oder Karfreitag bekannt, sind verbraucht und leer: „Der Erlöser ist da“, „deine Sünden sind dir vergeben“, „Christi Blut rettet dich“, „Das Lämmlein geht und trägt die Schuld“. ….und so weiter…

Es müssen in diese Dorfkirchen explizit auch Dorfbewohner eingeladen werden, die nicht Mitglieder der Kirche sind. Sie könnten anstelle der üblichen Sonntagsgottesdienste zu „Lebensfeiern“, Meditationen, musikalisch – literarische Besinnung, Austausch über dringende (auch politische) Lebensfragen anstelle der üblichen Gottesdienste (zusammen mit Kirchenmitgliedern) eingeladen werden. Natürlich nicht um 10 Uhr wie üblich, sondern etwa um 15 Uhr mit anschließendem gemeinsamen Kaffeetrinken in der Kirche oder im Garten etc.

– In Berlin leben so viele Musik-Studenten, viele junge Künstler, viele junge Autoren, viele junge kreative Menschen aus ganz Europa und der Welt: Warum können die nicht regelmäßig – etwa zur Sommerzeit – in den renovierten Kirchen (mit den oft auch funktionierenden Orgeln und Instrumenten) auftreten und „Salon-Veranstaltungen“ gestalten, mit entsprechender Werbung in Berlin und in der Mark. Warum soll das scheitern? …
In Thüringen wurden einige kleine Kirchen als „Herbergskirchen“ umgestaltet, berichtet Elke Bergt in dem Heft „Gotteshäuser im Wandel“(S.10). Warum gibt es „Wohn – Herbergs-Kkrchen“ nicht auch in Brandenburg?

Es muss möglich sein, dass diese Dorfkirchengemeinden zu „ökumenischen Gemeinden“ offiziell erklärt werden: Die Katholiken könnten ihre äußerst wenigen Priester entlasten, die gestreßt von einer Kirche zur anderen hetzen, um ihre Sonntags-Messen zu lesen. Es müsste den Katholiken, ihren Bischöfen auch, klar sein: Soll der Glaube dort überleben, dann nur durch ökumenische Praxis. Also sollten Katholiken explizit zu den Gottesdiensten oder besonderen „Lebensfeiern“ in den evangelischen Dorfkirchen eingeladen werden, als gleichberechtigte ökumenische Gemeindemitglieder. Die Protestanten hätten dabei wohl die geringeren Probleme als die Katholiken bzw. deren auf die Reinheit der uralten Lehre bedachten Bischöfe. Aber warum könnte nicht wenigstens endlich einmal in einer Region als „Experiment“ Ökumene im vollen Umfang praktiziert werden? Ich vermute, die Protestanten hätten auch nichts dagegen, wenn gelegentlich die Katholiken in den Kirchen den dringenden Wunsch haben, eine Marien-Andacht in der einst evangelischen, nun aber ökumenischen Kirche zu feiern.Selbstverständlich müsste diese Kirche und müssten die Gemeinden als ökumenische Gemeinden offiziell gelten. Mit der Zahlung und Verteilung der Kirchensteuer käme man schon klar…Hier fehlt der Platz um dieses Modellprojekt „Ökumene in Brandenburg“ ausführlich darzustellen…

Selbstverständlich müssten diese Dorf-Kirchen auch offen sein für andere Religionen, etwa für Buddhisten oder Yoga-Übende oder für Freunde der Sufi-Mystik oder jüdischen Theologen, die die Bibel auslegen? Warum könnten einige Kirchen in den Dörfern, wo Literaten und Schriftsteller schon wohnen, nicht auch Literaturkirchen werden? Oder zentrale Treffpunkte für Menschen, die sich intensiv für die ökologische Wende einsetzen.
Vielleicht sollte die Kirche im nahegelegenen Berlin nach Kirchen-Paten suchen, die sich im Team um eine Kirche und die Gestaltung der Veranstaltung dieser ihrer einen Kirche kümmern, weil sie selbst in dem einen oder anderen Dorf oft zu Gast sind oder dort ihre „Zweitwohnung“ haben.

– Aber warum und zu welchem Zweck sollten denn die Dorfkirchen überhaupt tagsüber offen sein? So viele herausragende Kunstwerke gibt es ja dort nicht zu bestaunen, so viele wertvolle Kirchenfenster oder Taufengel auch nicht. Der einzige dringende Grund: Diese Kirchen sind Orte der Meditation, der Stille, der Einkehr, des Gebets. Deswegen sollten sie offen sein. Und ein Pfarrer könnte sich ja zweimal pro Woche in die Kirche setzen für eine Stunde setzen und mit den Besuchern Lebensfragen besprechen oder Hinweise zu Meditation und Gebet geben. In Frankreich sind die (katholischen) Kirchengebäude bekanntlich die Orte, wo Pfarrer anzutreffen sind, das ist ihr „Arbeitsplatz“ auch außerhalb der üblichen Sonntagsgottesdienste…

– Über die Frage: Müssen wirklich diese fixierten unbequemen Holzbänke in den Dorfkirchen stehen?  wäre nachzudenken. Oder können nicht auch bequeme, fürs Meditatieren und Beten geeignetere Sessel und Stühle oder Kissen diese ewigen “Kirchenbänke” ersetzen? Ich würd micht gern länger in einer Dorfkirche ausruhen, meditieren etc., wenn nicht diese Bänke herumstehen wü+rden. Oder ist das etwa alles vom “Denkmalschutz” geregelt?

– Aber noch eine Idee, eine „quere“ aber als eine“ queere“ Idee. Queer also: Warum können manche Dorfkirchen nicht gastfreundlich sein auch für queere Menschen, also etwa Sonntag mittags den Pfarrgarten und die Kirche öffnen für den queere Menschen und deren FreundInnen. Etwa auch für Gruppen aus Berlin, die gern einmal auf dem Land, in einem Dorf, Momente der Besinnung, der Erholung usw. suchen. Es wird doch nicht schon so weit gekommen sein, dass diese Möglichkeit von vornherein ausgeschlossen wird, weil es auf den Dörfern schon so viele AFD Leute oder explizitere Nazis gibt?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Der “Förderkreis Alte Kirchen Berlin Brandenburg e.V.”,: www.altekirchen.de ;  altekirchen@gmx.de

Ein Orts-und Personenregister der “Offenen Kirchen” (Broschören) von 2000-2023: www. altekirchen.de/offene-kirchen/register

Siehe auch einen Beitrag von Chrostian Modehn über  “Theodor Fontane und seine Dorfkirchen”:  LINK

“Stille in leeren Kirchen” eine Ra­dio­sen­dung von Christian Modehn, NDR “Glaubenssachen”:   LINK

Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb, “Leere Kirchen, lebendige Spiritualität”. LINK

Ein Buchhinweis, zu einem Foto-Buch, ein Dokument verfallener, verlassener Kirchen vor allem in Frankreich, eine Besprechung und Buchempfehlung von Christian Modehn  LINK

 

 

 

 

Kirche in der Stadt – Ein spannungsvolles und „spannendes“ Verhältnis.

Ein Interview mit Pfarrer Michael Göpfert, München.
Die Fragen stellte Christian Modehn, Berlin

1.
Vor 40 Jahren, 1981, haben wir eine Aufsatz – und Essay – Sammlung mit dem Titel „Kirche in der Stadt“ im Kohlhammer Verlag herausgegeben. 24 Mitarbeiter aus verschiedenen europäischen Städten waren daran beteiligt. Nun sind 40 Jahre an sich noch kein denkwürdiges Jubiläum. Aber kritischer Rückblick und kritischer Vorblick sind bei dem Thema wichtig. Denn nirgendwo sonst wie in den Großstädten zeigt sich der religiöse Umbruch so deutlich: Etwa der Abschied weiter Kreise von den Kirchen und damit die neue religiöse Pluralität. Inzwischen sind etliche weitere Studien zum Thema „Kirche und Stadt“ erschienen. Blicken wir zunächst zurück: Warum war dir damals das Thema wichtig?

Ich glaube, die Idee zu dem Buch kam von dir, Christian, als Journalist warst du in vielen europäischen Städten unterwegs. Die Idee faszinierte mich, ich liebe Städte, vor allem Großstädte, schon immer. Vor Jahren hatte ich mir antiquarisch die 10 Hefte des Berliner „Großstadtapostels“ der „Zwanziger Jahre“ Carl Sonnenschein gekauft: „Notizen-Weltstadtbetrachtungen.“ In einem rasanten impressionistischen Stil und mit Tempo erzählt er von seinen Eindrücken und Erfahrungen, er taucht in die Stadt ein, weil er die Menschen in Berlin mag, beschreibt aber auch das Licht und die vielen Schattenseiten der Metropole. Und gestaltete förmlich im Alleingang eine neue Präsenz der (katholischen) Kirche in Berlin: Hilfsangebote, eine bedeutende öffentliche Bibliothek, er gestaltete ein Wohnungsbauprogramm, organisierte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, er machte aus der Kirchenzeitung eine lesenswerte Zeitung, vernetzte sozial Engagierte und so weiter. So, dachte ich, könnte Großstadtkirche sein, als verbunden in mit der Kultur der Stadt und verbunden mit den Menschen, nicht nur den so genannten „Kirchgängern“.
Seit ich dann ab 1974 in München war, fiel mir auf, wie sehr das Thema Kirche und Stadt gleichsam in der Luft lag und von Theologen, Soziologen und Architekten diskutiert wurde. Kirchen sind immer eingebunden in bestimmte Orte, also in Wohn -, Lebens – , Arbeitskulturen. Kirchen sind wie Theologien niemals „ortlos“: Eine Citykirche „funktioniert“ anders als eine Dorfkirche, also: Entdecke den Genius loci! Glaube hat neben dem Zeitindex auch einen Ortsindex und daraus folgt eine Freilassung der Differenzen, eine Vielfalt und Buntheit von Kirchen, gerade in den Städten.

2.
Wie waren deine Erfahrungen in den ersten Jahren nach der Publikation des Buches: Zeigte sich Interesse am Thema? Von wem ging das Interesse aus? Waren es dann Debatten, die auch praktische Wirkungen zeigten?

Meine Erfahrungen nach Erscheinen des Buches waren überraschend, weil die Resonanz so gut war. Es gab Einladungen zu Tagungen, Vorträgen, Zeitungsaufsätzen. Am interessantesten für mich war die Einladung im Herbst 1981 zu einem Treffen von evangelischen Stadtdekanen und Stadtsuperintendenten in Berlin, eine Konsultation über Kirche und Großstadt. Ich schrieb darüber einen Zeitungsaufsatz und die Folge war, dass ich von da an bei fast allen Treffen dabei war und die Berichte darüber schrieb… bis 2013. Eine weitere Folge war, dass ich bei diesen Konsultationen den Hamburger evangelischen Theologen Wolfgang Grünberg kennenlernte, der dort an der Universität die Arbeitsstelle Kirche und Stadt aufgebaut hatte. Daraus entstand 1991 die Buchreihe „Kirche in der Stadt“, die ich in den Anfängen mitplante, vor allem auch mit dem Stadtsuperintendenten von Hannover Hans Werner Dannowski. Im Lauf der Zeit entstand eine Art Netzwerk der Stadtkirchen, gebildet zwischen der Konsultation, den Treffen der Citypfarrer/innen und denen der Kirchencafés.

3.
Als Leitlinien für eine Kirche, die in der Großstadt nicht als Fremdkörper erlebt werden soll, formulierten wir damals z.B. „Kreativität“, „Dialog“, „Basisorientierung“. Gibt es heute überhaupt noch ein Bewusstsein dafür, dass Kirche in der Stadt diesen Leitlinien folgen sollte?

Der Glanz der Begriffe Kreativität, Dialog, Basisorientierung ist etwas verblasst, aber faktisch leben die Stadtkirchen von dem damit signalisierten Potential. Wenn ich etwa an den Ideenreichtum von St. Maximilian in München denke oder an die frühere Kunststation St. Peter in Köln, die von dem Charisma des Jesuiten Friedhelm Mennekes lebte, wird mir deutlich, wie entscheidend die Geistesgegenwart, der Mut und die Ideen zunächst auch einzelner vor Ort sind.

4.
Ich habe den Eindruck: Die Kirchen in Deutschland und in ganz Europa setzen seit einigen Jahren schon entschieden auf das Programm „Reduzierung“ kirchlicher Präsenz in den Großstädten: Viele Kirchen – Gemeinden („Pfarreien“) werden zu großen, fast unüberschaubaren Verbänden zusammengeschlossen. Es fehlt an theologisch gut ausgebildeten Mitarbeitern, Pfarrern, Priestern. Ist „Kirche in der Stadt“ also auf dem Rückzug? Diakonie ist dabei abgespalten von den Gemeinden und als autonome Großorganisation etabliert?

Sicher wird es in den nächsten Jahren für beide Kirchen weniger finanzielle und personelle Ressourcen geben. Aber wenn Menschen von einer Aufgabe begeistert sind, arbeiten sie auch ohne Geld und wer sagt denn, dass so viele Aufgaben von bezahlten Hauptamtlichen gemacht werden müssen. Die Basis hat noch gar nicht zeigen können, was sie alles kann. Es wird wohl viel weniger große Kirchen geben, aber warum nicht viel mehr kleine Kirchenläden und Ladenkirchen in den städtischen Quartieren, in denen die Einheit von Liturgie, Diakonie vor Ort und religiöser Weiterbildung gelebt wird? Nicht Reduzierung von Präsenz von Kirche in der Stadt, sondern Verdichtung, aber eben nicht eine, die von Oben vorgeschrieben, geplant und organisiert wird. Zentralisierung ist Machtbündelung, Dezentralisierung heißt Abgeben von Macht und Vertrauen in die Basis vor Ort.

5.
Ich beobachte das in der Presse ständig: Kirche als positiv besetzter Ort der Begegnung ist eigentlich für weiteste Kreise kein Thema mehr. Im Mittelpunkt stehen die unsäglichen Skandale des Missbrauchs durch Priester oder die Zunahme fundamentalistischer Religiosität. Wo sind die theologischen Orte, die kritisches Reflektieren förmlich als „Dauerzustand“ praktizieren?

Die lange Missbrauchsdebatte ist notwendig, aber sie überlagert auch vieles. Die Sehnsucht nach Orten der Begegnung ist wohl für Menschen überlebenswichtig, sie kann nicht sterben und sie wird nach Corona vielleicht noch deutlicher werden. In vielen Städten sind die kirchlichen Stadtakademien gute Adressen für Austausch und Begegnung über Gruppenidentitäten hinweg, aber das reicht natürlich nicht. Warum nicht mehr lernen z.B. von der Tradition literarischer oder philosophischer Salons, von Treffen in Kneipen und in den Wohnzimmern. Jeder, der will, kann auf seine Weise durchaus die Initiative ergreifen und vielleicht zum Kristallisationspunkt von Begegnung werden.

6.
Wer in Spanien, Italien oder Frankreich die dortigen, meist geöffneten Kirchen besucht, fühlt sich angesichts der vieler hindurch eilenden Touristen wie in einem Museum. Werden Kirchengebäude zu Museen und Gottesdienste zu esoterischen Veranstaltungen nur für einige Eingeweihte?

Natürlich kann ich eine Kathedrale wie ein Museum benutzen, aber auch als Gottesdienstort. Ich kann mich in die Krypta verkriechen, um mit mir allein zu sein, ich kann mit dem Kinderwagen im Sommer den Schatten suchen…Die Nürnberger Lorenzkirche zum Beispiel hatte im Mittelalter nie nur religiöse Funktionen, sondern z. B. auch politische. Der Rat der Stadt oder die Stände und Zünfte trafen sich da. Die heutigen „Vesperkirchen“ verwandeln sich im Winter zu Suppenküchen und Wärmestuben für Obdachlose. Synagogen waren früher Räume des Gebets, aber auch Lernorte, Übernachtungsorte, sie boten Möglichkeiten für Mahlzeiten, und das alles unter einem Dach!
Ein für mich nach wie vor faszinierendes Beispiel für spirituelle Gemeinschaften und spirituelle Orte in der Stadt sind für mich die vielen hundert Bethäuser der Juden vor allem in Mittel-und Osteuropa. Sie wurden von 1940 bis 1945 im Wahn der Nazis und ihres verbrecherischen Antisemitismus fast vollständig ausgelöscht und vernichtet. Joseph Roth schreibt einmal über seine Heimatstadt Brody, die Stadt habe zwei Kirchen, eine Synagoge, aber 40 Bethäuser. Es gab Netzwerke der Gemeinschaft und Solidarität, Orte des Lernens der religiösen Überlieferung, der Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses, der Einübung in die Weisheit der Bibel.
In einer schrumpfenden Volkskirche werden wir in Zukunft wahrscheinlich immer weniger Kirchen, aber immer mehr „Lese – Lern – und Versammlungsräume“ brauchen, die von diesem Geist geprägt sind, Stützpunkte der Einübung in den Geist des Christentums inspiriert aus dem Geist des Judentums. Gerade dann, wenn die Kirchen ärmer werden, könnten sie umso reicher werden durch die Vielfalt kleiner Läden und Treffpunkte, sozusagen um die Ecke in den Quartieren und Nachbarschaften. So könnte die Kultur der biblischen Traditionen entdeckt und aktuell neu gedeutet werden. Ich stelle mir solche Orte vor, wie sie Roman Vishniac kurz vor der Vernichtung noch fotografiert hat: Bücherwände, Holztische, Suppenküche, Gesichter des Lernens und der Versenkung… Grüße vom Schtetl in unsere Städte, die uns wie eine Flaschenpost erreichen.

7.
Unser Buch von 1981 hatte einen gewissen Mangel: Erfahrungen, Reflexionen, aus Asien, Afrika und Lateinamerika wurden nicht berücksichtigt. Nun sind inzwischen viele Menschen aus diesen Ländern in Europa gelandet und gestrandet, als Flüchtlinge etwa: Ist das Miteinander mit den „anderen“, etwa den Muslimen, eine zentrale neue Aufgabe für Menschen, denen „Kirche in der Stadt“ noch am Herzen liegt?

Kirche in der Stadt muss sich vor allem bewähren in der Begegnung mit dem Fremden und den Fremden, das ist ein Prüfstein nicht nur für das Christentum, sondern für alle Religionen. Gastfreundschaft mit den Fremden ist ein Schatz der religiösen und kulturellen Überlieferung und deshalb muss der Kampf gegen Abschottung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, Nationalismus auch von den Kirchen geführt werden. Die vielen Flüchtlingsinitiativen vor allem seit den 90er Jahren sind ein ermutigendes Vorbild. Klöster, gerade auch Nonnenklöster, gewähren Kirchenasyl, diese Klöster sind Lichtblicke in der kirchlichen Landschaft. Der persönliche Kontakt mit Fremden, mit anderen Religionen und Kulturen bedroht nicht unsere Identität, sondern fördert sie, erweitert sie, korrigiert sie, kann sie befreien von Verkrustungen, Verhärtungen, von Fanatismus und Dogmatismus. An dem Punkt sieht man auch, dass die Delegation diakonischen Handelns und Helfens an die großen Wohlfahrtsverbände, Diakonie und Caritas, gravierende Schattenseite hat: Die Fremden, Flüchtlinge, Obdachlosen, Menschen mit Handicap, werden den Augen der Gemeinde, also ihrem Erleben vor Ort, entzogen. Ich schaue unter den Bedingungen also dem Fremden und Flüchtling und Armen buchstäblich nicht mehr in die Augen. Das darf nicht sein!
Die Migrationsbewegungen werden noch anwachsen, der Fremde wird für viele ängstliche, nationalistisch Denkende als bedrohlich propagiert werden. Hier steht den Kirchen, den Religionen, der demokratischen Zivilgesellschaft eine harte Bewährungsprobe noch bevor. In den Kirchen in der Stadt stranden doch oft die „Anderen“, die Fremden zuerst, wird die Kirche noch eine Vorreiterrolle wahrnehmen wollen?

8.

Wenn wir von Kirche in der Groß – Stadt sprechen, darf man nicht vergessen, was eine zentrale Verpflichtung der Kirche ist: Von Gott zu sprechen und im Handeln deutlich zu machen. Wie sollte Kirche heute in den Metropolen Westeuropas, die zunehmend als säkularisiert gelten, von Gott sprechen und im Handeln deutlich machen?

Natürlich darf man nicht vergessen, daß es bei allem Reden über Kirche nicht um Kirche als Selbstzweck geht, sondern daß es in der Religion um Gott geht. Bei allen Struktur-und Reformdebatten wird das manchmal vergessen. Auch beim Reden über Kirche und Stadt geht es eigentlich um Gott. In der Apostelgeschichte heißt es einmal: Ich, Gott, habe ein großes Volk in der Stadt. Das ist eigentlich eine Provokation, das Volk ist nicht das Kirchenvolk, sondern es ist das Gottesvolk. In der Bibel geht es eigentlich immer um die Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk und mit allen Völkern und Menschen. Die biblische Literatur, das sind immer wieder neue und andere Versuche, über Gott zu sprechen, von ihm zu erzählen, in ganz unterschiedlichen Formen, in Erzählungen und Romanen, in Gedichten und Liedern, in Briefen und Predigten. Diese Sprechversuche über Gott sind radikal unterschiedlich, widersprechen sich, korrigieren sich. Man vergleiche nur einmal das hochpoetische Buch „Hohes Lied“ mit dem Josephsroman im ersten Buch Mose, oder das Hiobbuch mit seinen Anklagen gegen Gott mit dem skeptischen Buch Kohelet. Die Kirchen in der Stadt sollten endlich ihre eigenen biblischen Klassiker wiederentdecken, lesen, vorlesen, auslegen, neu inszenieren in allen möglichen Formaten, in Kooperationen mit Musik, bildender Kunst, Theater. Ich glaube, die Bibel fasziniert immer noch viel mehr Menschen als bloß das „Kirchenvolk“. Also, bei ihrem Sprechen über Gott sollten die Kirchen in die Schule der Bibel gehen und lernen, daß es sich um Sprechversuche handelt und nicht um dogmatische Statements, und sie sollten die biblischen Sprechversuche durchbuchstabieren.

Copyright: Pfarrer Michael Göpfert, München und Religionsphilosophischer Salon Berlin