Gebet und Gedenken. Individuelle Arbeit am Sinn der Geschichte. 3 Fragen an Wilhelm Gräb

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Gebet und Gedenken – Individuelle Arbeit am Sinn der Geschichte

Beten als eine Form religiöser Poesie wird von kulturell interessierten Menschen längst nicht mehr leichtfertig beiseite geschoben. Wenn das Sich Aussagen des eigenen Lebens vor dem Unendlichen gelingt, kommt auch die Sinndimension hinein, das Bewegtsein von der Frage: Was ist der Sinn meines Lebens? Was trägt mich? Was bewahrt mich vor Verzweiflung und resigniertem Abstandnehmen von dieser Welt, in der heute offensichtlich so unglaublich viel Unsinn besteht?

Wer betet, wird sich seiner selbst in der Zugehörigkeit zur Welt gesteigert bewusst – nimmt nicht gedankenlos hin, dass er das Leben hat und alles was er zum Leben braucht, bleibt nicht gleichgültig, wenn anderen oder auch ihm selbst Entscheidendes zum Leben fehlt. Wer betet, dankt für das Glückende, klagt an, wenn ihm und anderen elementare Lebenschancen verweigert werden. Wer betet, resigniert nicht vor dem Elend der Flüchtlinge, der ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, der rücksichtslosen Gewalt und Arroganz der Mächtigen. Er hält Ausschau nach dem, was Hilfe bringt – wagt es vor allem, seine Anklagen und Bitten vernehmlich vorzubringen.

Wer betet, richtet seinen Dank, seine Anklage, seine Bitte an Gott – recht verstanden aber nicht an einen Gott der außerhalb oder über der Welt ist. Was und wie könnte ein solcher Gott außerhalb oder über der Welt uns in der Welt helfen?

Gott ist in der Welt, wenn er denn der Grund von allem Sein und Sinn ist. Der uns in unserem Selbst- und Weltverhältnis gründende, des Sinns welthaften Daseins uns vergewissernde Gott ist bei uns und geht mit uns, in allem was wir denken und tun. Weil er in der Welt ist, fühlen wir seine Gegenwart, gerade dann, wenn wir bewusst Anteil nehmen an dem, was mit uns und unserem Dasein in dieser Welt geschieht, was uns ängstigt und Sorge bereitet, mit Freude erfüllt und zur Hoffnung ermutigt.

Wer betet, gewinnt deshalb aber auch zusätzliche Kraft, am Sinn seines Tuns und Vorhabens festzuhalten, auch wenn ihm viel Sinnloses entgegensteht und die eigenen Anstrengungen aussichtslos erscheinen. Wer betet, richtet sich gerade in den Sinnabgründen an Gott – den unverlierbaren Sinngrund der Welt und des eigenen Daseins in ihr. Wer betet, nennt die Missstände beim Namen, schonungslos – weil er die Welt, weil er keinen und keine je ganz verloren gibt.

Es gibt kein größeres Missverständnis des Gebets als die Vorstellung, Betende würde sich an einen Gott außerhalb bzw. über der Welt wenden, darum bittend, dass er doch in diese Welt eingreifen und in ihr etwas zu deren und dem eigenen Wohl tun möge. Diesen Gott außerhalb bzw. über der Welt gibt es nicht. Es gibt aber den Gott, der die Welt als Ganze in seinen Händen hält. Diesen Gott finden wir und zu diesem Gott beten wir, wenn wir – von uns selbst und der Sinngewissheit unsers Daseins ausgehend – den Sinngrund benennen, der uns trägt und zum Widerstand ermutigt, wenn wir mit dem Sinnlosen und Absurden konfrontiert sind.

Wo wir uns der Verantwortung für uns selbst, für das Wohl anderer, für eine verbesserliche Welt bewusst werden, dort macht dieser göttliche Sinngrund sich in unserem Selbstgefühl bemerkbar – ob wir nun ausdrücklich in die Haltung und Poesie des Gebets finden oder nicht. Der Gott, der der Grund unsers Daseinssinns ist, zeigt sich im weltlich grundlosen Gefühl eines unerschöpflichen Lebensmutes. Ob wir uns in der Sprache des Gebets oder in meditativer Selbstbesinnung zu diesem Sinngrund (ihn als Person imaginierend oder nicht) verhalten, es wird uns bewusst, wem wir uns verdanken, was uns einen unbedingt verlässlichen Halt gibt und wozu es unseren Einsatz hier und jetzt in der Welt braucht.

Nun haben Sie in Ihrem Vortrag auf dem „Europäischen Kongress für Theologie“ im September 2014 in Berlin ( Thema: Geschichte und Gott) darauf hingewiesen, dass Beten keineswegs nur die individuellen Lebensfragen thematisiert und dadurch deutlicher bewusst macht. Beten ist auch „Arbeit“ als Suche nach dem Sinn der Geschichte. Was meinen Sie mit diesem weit ausgreifenden Thema „Sinn der Geschichte“?

Statt „Geschichte“ können wir, wie ich das in meiner Antwort auf die vorige Frage getan habe, auch „Welt“ sagen. Wir sind als Individuen immer zugleich in eine Welt einbezogen. Nur in Bezug auf sie werden wir überhaupt dessen bewusst, dass wir unser Leben zielorientiert führen. Nur in Bezug auf eine Welt, zu der wir gehören und die uns vor Aufgaben stellt, entstehen uns mit den individuellen Lebensfragen auch die Probleme, die uns in Politik und Gesellschaft herausfordern.

Die Welt, zu der wir gehören und die uns permanent vor Aufgaben und Herausforderungen stellt, ist die wirkliche Welt. Die wirkliche Welt aber ist die geschichtliche Welt, die Welt der großen und kleinen Geschichten, der Völkergeschichten, der Kriegs-und Friedensgeschichten, der Gesellschaftsgeschichten und der unendlich vielen Lebensgeschichten. Die Welt, zu der wir gehören und mit Bezug auf die wir überhaupt nur uns unseres individuellen Daseins und seines Sinns bewusst werden können, wird nur als Geschichte und in Geschichten für uns konkret. Umgekehrt muss man aber auch sagen, es gibt keinen Sinn der Geschichte unabhängig davon, dass eben wir es sind, die sich mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte des Sinnes unseres eigenen individuellen Daseins zu vergewissern suchen.

Der Sinn der Geschichte, der großen Geschichte, der politischen Geschichte, der Weltgeschichte, wie auch der individuellen Lebensgeschichten ist nie eine absolute Größe. Dort, wo der Sinn der Geschichte als eine solche absolute Größe behauptet wird, begegnen wir den gewaltsamen Ideologien, müssen wir an Volksbewegungen und ihre Führer denken, die sich, den Gebetsruf „Gott mit uns“ auf den Koppelschlössern, zu Vollstreckern dieses angeblich objektiven Sinns der Geschichte gemacht haben und immer wieder machen (denken wir an die selbsternannten „Gotteskrieger“ von heute) – und dabei über Leichen gehen.

Von einem „Sinn der Geschichte“ zu reden, ist hochgefährlich. Wir können im Grunde nur vom Sinn der Geschichte reden, wenn wir dabei von uns selbst ausgehen, von der unser Denken und Handeln tragenden Sinngewissheit und damit unserer je eigenen Verantwortung für den guten Fortgang aller Dinge. Das genau geschieht aber auch, wenn wir beten. Wir danken Gott für unser Leben, wir klagen ihm unser Leid angesichts alles dessen, was in dieser Welt fehlt zum Gelingen. Wir bitten Gott um die Kraft, bessern zu können, was dem Wohl des Ganzen dient wie auch hinnehmen zu können, was sich offensichtlich nicht mehr ändern lässt.

Im Gebet identifizieren wir nicht unsere immer partikularen Interessen und Zwecke mit einem ‚objektiven‘ Sinn des Ganzen. Wir versuchen auch nicht, Gott unserem Willen gefügig zu machen. Im Gegenteil, wir überlassen uns und alle Welt Gottes unerforschlichem Ratschluss. Dergleichen sieht dann zwar wiederum nach demütiger Unterwerfung unter eine göttliche Schicksalsmacht aus. Das ist es aber nicht, wenn wir Gott, von uns selbst ausgehend, als den unser Sinnbewusstsein und damit unsern Lebensmut gründenden Sinn des Ganzen der Geschichte denken. Dann wird uns das Beten, mit dem wir uns unter Gottes Willen beugen, zur Stärkung unserer Lebenssinngewissheit, damit dann aber auch zur Befähigung, selber zu denken und eigenverantwortlich zu handeln.

Wenn wir uns in der religiösen Poesie, Gebet genannt, des Lebenssinns im Ganzen versichern können, was muss geschehen, dass dies auch praktisch gelingen kann? Sind die Kirchen Orte solcher Praxis? Können sie das noch sein? Oder sollte die Form des Betens nicht auch in der kulturellen Szene außerhalb der Kirchen präsent werden?

Wenn wir das Beten als selbstbewusste Reflexion auf den Sinn des Ganzen verstehen, wird überall gebetet, wo Menschen sich darauf besinnen, was mit ihrem Leben und der Welt, in der sie es verantwortlich zu führen haben, der Fall ist. Beten ist kein mehr oder weniger frommes Verhalten von Menschen, die, um sich selbst zu entlasten, einen (hoffentlich) wundersam in diese Welt eingreifenden Gott anrufen. Ich bin eher der Meinung, dass ein solches, den Menschen von sich selbst und seiner Weltverantwortung wegführendes Beten eine ebenso gottlose wie selbstvergessene Angelegenheit ist.

Zur zornigen Anklage, zum verzweifelten Schrei um Hilfe, zum Drängen nach Zuwendung käme es nicht, wenn da nicht zugleich ein ungeheurer Wille zum Leben wäre. Immer wenn Menschen, trotz allem, was den Lebensmut rauben und in die Resignation treiben möchte, das Ganze doch nicht verloren geben, beten sie.

Dieses Beten geschieht ständig und überall. Dieses Beten begleitet all unser Denken und Handeln. Das merken wir, sobald wir uns in unserem Engagement, in unserem Sorgen und Planen der abgrundtiefen Abhängigkeit von dem uns dabei tragenden, unser Sinnbewusstsein stabilisierenden göttlichen Sinngrund bewusst werden.

Auf besonders eindrückliche Weise werden wir in solches Beten, das sinnreflexive Selbstthematisierung ist, auf den Theaterbühnen verwickelt, im Kino, in den Kunstateliers und zwischen Bücherdeckeln. Und es geschieht natürlich auch – die, die daran teilnehmen, aktiv einbeziehend – in den Gottesdiensten der Kirchen, ja, gebetet wird im rituellen Zentrum aller Religionen.

Die Fragen stellte Christian Modehn

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin