Weiterdenken: Vom Recht und von der Pflicht zum Widerstand
Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin.
Die Fragen stellte Christian Modehn
In den Kinos läuft jetzt der „Georg Elser-Film“. Der Regisseur Oliver Hirschbiegel zeigt sehr dicht am tatsächlichen Leben jenen Mann, der sehr früh die Verbrechen des Nationalsozialismus erkannte und mit seinem klug inszenierten Attentat auf Hitler am 8. November 1939 leider dann doch scheiterte.
Nun ist sicher nicht jeder zum Tyrannenmörder berufen. Aber anlässlich des zweifellos großartigen Films könnte sich doch jeder fragen: Gehört zum geistvollen Leben eines jeden Menschen nicht immer auch der Widerstand? Das Nein, um die Menschenrechte in dieser Welt zu schützen und durchzusetzen?
Was an Georg Elser besonders beeindruckt: Er hat als Einzelner gehandelt. Gewiss, er sympathisierte mit der Kommunistischen Partei. Er ging, obwohl Protestant, in München in die katholische Messe. Da waren politische und auch religiöse Prägungen. Dann zeigt der Film aber, wie da ein Mensch nicht nur sieht, was alle sehen konnten: Die Kriegsvorbereitungen, die Verfolgung der Juden, die Hetze gegen die Kommunisten, sondern den Entschluss fasst, zu handeln. Es stand keine Organisation hinter ihm, schon gar keine der Kriegsgegner, obwohl das die Nazis sofort behauptet haben. Er hat aus eigener Einsicht gehandelt, getragen, so könnte ich auch sagen, von einem souveränen Glauben, vom Vertrauen in die Rechtfertigung seines zugleich Schuld auf sich ladenden Handelns. Er hat das durch Hitler und seine Gangster-Bande vor aller Augen verübte Unrecht erkannt und sich deshalb zum Attentat entschlossen, wäre dieses gelungen, es hätte möglicherweise der Holocaust so nicht stattgefunden und der Krieg wäre früher zu Ende gewesen.
Wir wissen das nicht. Aber Menschen wie Georg Elsner oder Dietrich Bonhoeffer zeigen unmissverständlich, dass verantwortliches Handeln aus eigener Einsicht in seine Notwendigkeit möglich ist, wobei wir von Bonhoeffer genau wissen, wie sehr er auch theologisch um die Rechtfertigung, ja, um das göttliche Gebot seines Tuns gerungen hat.
Im November 1939 wusste längst jeder in Deutschland, was mit den Juden geschieht und der verbrecherische Krieg hatte bereits begonnen. Doch zum Widerstand waren nur wenige bereit. Warum? Ich denke, nicht nur deshalb, weil es Mut dazu brauchte, sondern auch, weil es an der Bereitschaft und der Entschlossenheit fehlte, aus eigener Einsicht in das, was Recht ist, zu handeln – und auf die Kraft des Glaubens zu vertrauen.
Ob solche Bereitschaft und Entschlossenheit zu handeln in den politischen, gar gewaltbereiten Widerstand führen muss, ist allerdings eine sehr schwierige Frage. Denn das Widerstandrecht setzt die Aufhebung demokratischer Verfassungszustände voraus. In demokratischen, rechtsstaatlichen Verhältnissen, wie wir sie heute haben, ist die Religion zwar zur öffentlichen Stellungnahme und zur Einmischung in die gesellschaftlichen Belange berechtigt, ja, ich würde sogar sagen, verpflichtet. Es kommt ihr aber nicht zu, die demokratischen Prozesse der Willensbildung, Gesetzgebung und Machtausübung zu umgehen, gar den Einsatz von Gewalt auch nur zu erwägen. In Diktaturen, die das Recht mit Füßen treten und das Leben von Menschen fordern, ist das völlig anders.
Dennoch, auch in demokratischen Verhältnissen geschieht immer wieder so viel Unrecht, das unseren Widerstand herausfordert. Denken wir nur an unser viel zu restriktives Asylrecht, an die vielen Flüchtlinge, die dennoch in unser Land kommen und dann auch hier bei uns wieder um ihr Leben fürchten müssen.
Wir haben uns dieser Tage an die Ermordung des evangelischen Theologen und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer vor 70 Jahren erinnert. Haben religiöse Menschen, zumal in den christlichen Traditionen, nicht eigentlich eine besondere Sensibilität für politische und soziale Missstände? Ist die Verteidigung der Menschenrechte für sie genauso wichtig wie das Nachsprechen der uralten Glaubensbekenntnisse?
Die Religion hat viele Gesichter. Das war auch zu Bonhoeffers Zeiten so, als die Mehrheit der Protestanten „Deutsche Christen“ waren und aus deutschnationaler Gesinnung Hitler folgten. Bonhoeffer gehörte zur Bekennenden Kirche. Auch die Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche bedeutete jedoch keineswegs die Bereitschaft zum oder gar die Teilnahme am politischen Widerstand. Vielen in der Bekennenden Kirche ging es lediglich um die Wahrung kirchlicher Selbständigkeitsinteressen. Bonhoeffer war anders. Er schloss sich dem politischen Widerstand an, was ihn dann auch zur Mitbeteiligung an dem Attentat auf Hitler führte.
Es war für ihn durchaus schwierig, diese Entscheidung ethisch zu verantworten. Aber er hat sie getroffen, weil er sich, auch eigene Schuld auf sich ladend, um des allgemeinen Wohls und der Rettung unschuldigen Lebens willen, dazu herausgefordert sah. Sein Widerstand war ihm in einem göttlichen Auftrag begründet. Aber er meinte eben deshalb, die Situation, in der es Widerstand bis hin zum Attentat auf Hitler zu leisten galt, als eine Ausnahmesituation auffassen zu müssen. Dass es eine Ausnahmesituation war, ist für uns heute klar. In der Situation selbst war das keineswegs eindeutig, sondern verlangte ein waches, kritisches politisches Bewusstsein. Ein solches Bewußtsein, das können wir Heutigen immer noch von Bonhoeffer lernen, gehört zur Religion dazu, wenn diese zu einem kritischen, prophetischen Handeln befähigen soll.
In Bonhoeffers Augen fehlte es den Kirchen an politischer Wachsamkeit und öffentlich-gesellschaftlicher Mitverantwortung. Auf die bürgerliche Behäbigkeit der Kirchen zielte ja auch die Religionskritik, die er in seinem Briefen aus dem Gefängnis vorgetragen hat. Seine Religionskritik war Kritik an einer selbstgenügsamen Kirche, die im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt ist, sich um das Seelenheil zu kümmern vorgibt, während sie die zum Himmel schreienden Missstände in Politik und Gesellschaft übersieht, ihre Stimme nicht erhebt, obwohl die Würde von Menschen missachtet und die Menschenrechte mit Füßen getreten werden..
Mit seinem prophetischen Auftreten ist Bonhoeffer bis heute ein positives Beispiel – auch wenn unser Widerstand gegen eine falsche Politik, sofern wir uns zu diesem aus eigener, freie Einsicht herausgefordert sehen, „durch die Institutionen hindurchgehen“ muss. In einem demokratischen Rechtsstaat ist der politische Widerstand gegen üble Zustände, selbst wenn er sich auf Gottes Willen berufen kann, auf die Schaffung von Mehrheiten und den argumentativ erzeugten Konsens angewiesen.
Offenbar muss die „schweigende Mehrheit“ lernen: Widerstand zu leisten, Nein sagen zum Unrecht, ist eine positive, durchaus auch eine vitale Kraft im Leben. Erschließt sich der Sinn des Lebens und meines Lebens vielleicht erst im Nein? Im Widerstand gegen das Unrecht?
Der Sinn des Lebens erschließt sich mir, wenn ich ganz bei einer Sache bin, wenn ich mich engagiere und das Gefühl gewinne, etwas Wichtiges und Gutes zu tun. Manchmal empfinde ich dieses Gefühl besonders intensiv, wenn ich gegen Widerstände angehen muss, eben weil dies zugleich anstrengend und immer auch gefährlich ist. Besonders, wenn ich mich dabei auf mich allein gestellt finde. Dann gerate ich auch leicht in Unsicherheit: Ist es wirklich richtig, was du da tust? Du könntest ja auch irren. Sehen denn alle anderen gar nicht, dass sie in die falsche Richtung gehen? Oder ist es gerade umgekehrt, dass ich derjenige bin, der sich verirrt hat wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn.
Sich der „schweigenden Mehrheit“ anzuschließen ist in der Regel der bequemere Weg. Aber wachsam zu sein, wo Gefahr droht, gegen Missstände vorzugehen, auch dort, wo ich dadurch in Konflikte mit der herrschenden Meinung oder etablierten Machtstrukturen gerate, macht oft wichtige Veränderungen erst möglich. Nur, ich muss es noch einmal sagen, gerade der Widerstand gegen die massiven Unrechtverhältnisse in unserer Welt kann bei zeichenhaften Handlungen nicht stehen bleiben. Er verlangt den Eintritt in demokratische Prozesse und die Mitarbeit in Institutionen.
Denken wir nur an die nach wie vor Elend, Hunger und Tod verursachenden wirtschaftlichen Verhältnisse der Ungleichheit, wie sie nicht zuletzt durch ein völlig undurchschaubares Finanzsystem gesteigert werden. Das verlangt unseren Widerstand. Aber wenn dieser nicht nur eindrückliche Zeichen setzen will, wie es zuletzt die Occupy-Bewegung getan hat, dann muss versucht werden, auf die Ordnungsstrukturen, die den Weltmarkt regulieren, Einfluss zu nehmen, was wiederum den Aufbau global wirksamer politischer und ökonomischer Institutionen verlangt.
copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin