In der Nacht sehen wir mehr: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken: 3 Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin.

„In der Nacht sehen wir mehr“

Mehr als eine Mode: Die langen Nächte der Kultur und Kirchen im Sommer

Die Fragen stellte Christian Modehn

In ganz Europa finden in den Sommermonaten zahlreiche besondere Kulturveranstaltungen statt. Die große Beliebtheit erlaubt sicher nicht das Urteil, dies sei bloß eine Modeerscheinung. Es handelt sich um die „langen Nächte…“ der Museen, der Poesie, der offenen Kirchen usw. Wenn wir uns auf den Zusammenhang von Nacht und Spiritualität bzw. Kirche konzentrieren: Hat denn die Stimmung der Nacht, der (relativen) Dunkelheit, eine besondere theologische Qualität? Werden denn sogar Transzendenz und Gott eher im Dunkel erfahrbar, wie die Mystiker behaupten?

Die Nacht hat eine spirituelle Qualität. Dem folgen die Kirchen seit jeher und das mit großem Erfolg. In besonderen Nächten, in der „Heiligen Nacht“, in der „Osternacht“, sind die Gottesdienste besonders gut besucht. Die Langen Nächte der Wissenschaft und der Museen, zu denen in Berlin und anderen großen Städten jetzt wieder eingeladen wird, folgen den religiösen Inszenierungen der Nacht lediglich nach. Dass die Kirchen an Pfingsten zur „Langen Nacht der Kirchen“ einladen – freilich ohne große Resonanz – zeigt, dass sie ihre eigene Erfindung vergessen haben und nun, wie so oft, lediglich einem kulturellen Trend hinterher laufen – ohne ihre spirituelle Kraft zur rituellen Gestaltung der Nacht auszuspielen.

Keine Nacht ist ohne den Tag, kein Dunkel ohne das Licht. Es sind dieser Kontrast, die Dramatik des Gegensatzes, die dialektische Beziehung zwischen Nacht und Tag, zwischen der Dunkelheit und dem Licht, wodurch spirituelle Qualitäten freigesetzt werden. Wir sind keine Nachtgestalten. Wir wollen nicht im Dunkeln bleiben. Wir sehnen uns nach dem Licht und je länger die Nacht dauert, desto mehr erwarten wir den anbrechenden Tag.

Insofern steigert die Nacht unsere Sehnsucht und unsere Erwartung. Sie lässt uns tiefer empfinden, was fehlt, klarer sehen, was nicht in Ordnung ist, intensiver den Schmerz über das Versäumte spüren. In der Dunkelheit, die sich um uns breitet, erliegen wir nicht mehr so leicht dem schönen Schein, verleugnen wir nicht mehr so schnell, was uns bedrückt und belastet. Deshalb steigert die Nacht die Erwartung nach dem Aufgang des Lichts. Deshalb empfinden wir in der Bedrängnis der Nacht umso tiefer unsere Sehnsucht nach Erlösung.

Die Widerspannung, die Gegenläufigkeit, die die Nacht in unser Zeiterleben einfügt, hat die Mystiker seit jeher fasziniert. Denn auf der einen Seite schafft die Nacht eine Zeit des Übergangs. Aus dem Dunkel führt sie hinüber ins Licht. Auf der anderen Seite lässt sie uns auch zur Ruhe kommen. Zur Nacht gehört der Schlaf, „schlafen geht die Welt“. Indem die Geschäfte des Tages von uns abfallen, wird innere Einkehr möglich. Der Nacht gehören zudem die Träume, in denen unsere abgrundtiefen Ängste, aber auch unsere Glückerwartungen ihre Sprache finden. So kann es gerade im Dunkel der Nacht geschehen, wovon die Mystiker letztlich ausgehen, dass wir Gott finden – auf dem abgründigen Grund der eigenen Seele.

Wer sich spirituell auf die Erfahrung der Nacht, der Dunkelheit und hoffentlich auch des Schweigens in der Dunkelheit einlässt: Welche neuen Einsichten melden sich dann? Vielleicht die Annahme der eigenen wie existentiellen Dunkelheit?

Schon das Johannes-Evangelium berichtet ausdrücklich davon, dass Nikodemus, ein gebildeter Pharisäer und einer der Obersten unter den Juden, „bei der Nacht“ zu Jesus kam. (Joh 3,1 ff.) Er war auf der Suche nach dem Sinn und einer neuen Ausrichtung seines Lebens. Die Nacht war für ihn die richtige Zeit, um das tief gehende Gespräch zu suchen. Er wollte von Jesus wissen, wie ein Mensch, obwohl alt geworden, doch in ein neues Leben finden kann.

Nikodemus fand zu Jesus „bei der Nacht“. Was ihn zu ihm trieb, waren zudem schmerzliche Nachtgedanken. Es war die Dunkelheit, die sich in seinem Inneren ausgebreitet hatte. Er hatte die Freude am Leben verloren. Von Jesus erhoffte er sich neue Ermutigung, einen neuen Anfang gar.

Wir haben alle schon solche Gespräche erlebt, bis tief in die Nacht. Froh, nicht allein zu sein, mit dem, was auf der Seele lastete. Ja, es ist so wichtig, dann jemanden zu haben, der mit aushält in der Dunkelheit, auch – oder vielleicht gerade dann – wenn dies im Schweigen geschieht.

Denn da ist letztlich ein undurchdringliches Dunkel, das unserem Selbstverhältnis innewohnt. Im Schweigen der Nacht erkennen wir oft erst unsere unaufhebbare Bedürftigkeit und Angewiesenheit. Wir werden dessen gewahr, dass wir abhängige, schlechthin abhängige Wesen sind. Doch der Gott der fehlt, ist der, der bei uns ist.

Könnte es sein, dass die bisherige herrschende Theologie zu sehr am strahlenden, man möchte sagen „scharfen“ Licht des Tages orientiert war? Wird deswegen das falsche Verlangen nach dogmatischer Exaktheit, Abweisung von Gefühlen, Trennung von gläubig und ungläubig, verständlich?

Wer die Nachtseiten des Lebens kennt, kann mit einer Theologie, die mit dogmatischen Setzungen arbeitet und biblische oder kirchliche Lehren verbreitet, nichts anfangen. Was wir in den Nächten unseres Lebens brauchen, ist eine Theologie, die die unauflöslichen Ambivalenzen und Widersprüche des Lebens kennt. Ihre Aufgabe sieht diese Theologie darin, unser Leben, das sich in seinem Von-Woher und Woraufhin letztlich selbst verborgen ist, in dieser seiner abgründigen Unbegreiflichkeit zu verstehen. Dazu gehört zunächst und vor allem, das Dunkel auszuhalten, das unserem Selbstverhältnis innewohnt, uns unsere unaufhebbare Angewiesenheit und Bedürftigkeit erkennen zu lassen.

Die Theologie, die uns so ins Dunkel des eigenen Innern führt, hat keine eindeutigen Antworten parat. Sie weiß, dass sie es mit genau denjenigen Fragen unseres menschlichen Daseins zu tun hat, auf die es überhaupt keine Antworten gibt. Dennoch kann sie zu der tröstlichen Einsicht führen, dass da, merkwürdig genug, doch eine Basis ist, von der wir uns getragen fühlen können.

Dieses Gefühl, das der Theologe Friedrich Schleiermacher, das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ genannt hat, führt uns nicht zu einem gegenständlichen Wissen von Gott. Es kann uns aber die Gewissheit geben, dass wir, trotz der dunklen Unbegreiflichkeit unsers merkwürdigen Daseins in dieser Welt, doch nicht im nirgendwo verloren gehen.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon.

“Am wichtigsten ist die Religion der Menschlichkeit”. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Veröffentlicht am 24. April 2016

In Ihrem Interview im März 2016 mit dem Titel „Für die Grenzgänger“ haben Sie zum Schluss dafür plädiert, viel stärker in theologischen Debatten wie im Alltag des religiösen Lebens die „Religion der Menschlichkeit“ als allgemeine spirituelle Basis anzuerkennen.

Etliche LeserInnen haben darauf reagiert und wollen weitere Erläuterungen zu diesem Thema, das entscheidend ist für die Zukunft einer ständig Gewalt bereiten Menschheit wie auch angesichts der immer noch zerstrittenen christlichen Kirchen.

Die erste Frage ist: Kann denn unsere Beziehung zu den Menschenrechten, etwa in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948), tatsächlich einen spirituellen Charakter bekommen? Sind die Menschenrechte nicht auf die Anerkennung „bloß“ durch den Verstand begrenzt? Wie kann ich eine möglicherweise ganzheitliche „emotionale“ Beziehung, zu ihnen aufnehmen?

Das Schicksal anderer Menschen ist uns nicht gleichgültig. Wir empfinden Mitleid, wenn wir die Bilder vom Grenzzaun in Idomeni sehen. Das Leiden anderer Menschen rührt uns an. Es treibt uns über uns selbst hinaus, und wir wollen etwas dagegen tun. Historisch gesehen waren es die Gräueltaten durch das nationalsozialistische Deutschland, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ beschließen ließ. Darin heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ (Art. 1), sodann : „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ (Art. 3) und dies „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ (Art. 2) .

Das sind Aussagen, die, wie es in der Präambel heißt, ein „Ideal“ formulieren, auf dessen Anerkennung und Durchsetzung in der Gemeinschaft der Völker und Staaten hinzuarbeiten sei. So ist es nicht, noch nicht. Aber so soll es sein, ist damit gesagt. Es wird im Indikativ formuliert, der aber imperativisch gemeint ist. Lasst uns also, so die Aufforderung an die unterzeichnenden Staaten, als Vereinte Nationen auf nationaler und internationaler Ebene die rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass solche Verhältnisse, in denen jeder Mensch sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, unabhängig von seinen nationalen, rassischen und religiösen Zugehörigkeiten garantiert bekommt, überall auf der Welt Wirklichkeit werden.

Höchst interessant bleibt dennoch die Beobachtung, dass die Erklärung der Menschenrechte in Art. 1 eine Aussage über die allen Menschen angeborene Würde und das ihnen damit gleichermaßen zukommende Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit macht. Das ist kein auf Erfahrungswissen gründender Satz. Es ist auch kein moralischer Imperativ. Er formuliert auch keineswegs nur, wie in der Präambel gesagt wird, ein Ideal, dem es nachzueifern gelte. Dieser Satz stellt vielmehr eine Behauptung auf über das, was der Mensch ist bzw. über das, was ihm allein aufgrund seines Menschseins an Würde und Rechten zukomme. Zu dieser Behauptung berechtigt keine Erfahrung, kein Wissen. Unser Verstand dürfte uns ihr daher kaum zustimmen lassen.

Deshalb bin ich der Meinung, dass es sich hier um einen Glaubenssatz handelt. Die Zuerkennung der Menschenwürde und der sich aus ihr ergebenden Menschenrechte lebt vom Glauben an die Menschlichkeit des Menschen, jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seinen nationalen, rassischen und religiösen Zugehörigkeiten. Von daher legt es sich für mich dann auch nahe, in unserer Beziehung zu den Menschenrechten eine spirituelle Dimension mit einer stark emotionalen Verankerung zu erkennen.

Es war das Erschrecken über das Fürchterliche, das Menschen einander antun können, das zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ geführt hat. Ihr Ziel war es, diejenigen unveräußerlichen Rechte festzuschreiben, auf die sich jeder Mensch, allein aufgrund seines Menschseins, sollten berufen können. Deshalb fordert die Präambel auch, sie in nationale und internationale Rechtsordnungen aufzunehmen. Aber in dem allem, das zu ihrer Durchsetzung und Einhaltung unabdingbar ist, gilt es zu sehen, dass sie auf einem emotional grundierten, humanitären Glauben an die Menschlichkeit jedes Menschen aufruhen.

Auf ein verstandesmäßiges Wissen um das, was der Mensch ist, können die Menschenrechte sich niemals gründen. Was wir vom Menschen wissen ist ja eben dies, dass er zu den schlimmsten Gräueltaten gegen seinesgleichen ebenso fähig ist, wie dass er sich anrühren lassen kann vom Leid anderer und ihnen zu helfen bereit ist. Nein, die Menschenrechte ziehen ihre politische Kraft allein aus dem Glauben an sie. Ich möchte diesen Glauben zunächst einen humanitären Glauben nennen. Dieser wird, wenn Menschen es mit ihm auf eine sie selbst in ihrem Handeln verpflichtende Weise ernst nehmen, zu einem moralischen Glauben. Er ist dann aber ebenso auch für eine religiöse Deutung offen. Auf sie stoßen wir, wenn wir die Frage zulassen, was uns dazu fähig macht, dass wir im anderen ein uns gleiches Wesen erkennen, wir uns mit ihm verbunden fühlen, in unserer elementaren Bedürftigkeit, im Angewiesen-Sein aufeinander, im Gefühl einer Zusammengehörigkeit, das über alle kulturellen Differenzen und politischen Gegensätze hinweg, ja, trotz Krieg und Terror, für uns doch die Welt im Innersten zusammenhält. Das Von-Woher dieses Gefühls ist für mich das Göttliche auf dem Grund jeder Menschenseele. Wo dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit in der einen Menschheitsfamilie, von dem der humanitäre und moralische Glaube an die Menschenrechte lebt, sich Ausdruck verschafft, dort kann aus diesem Glauben auch ein religiöser Glaube werden.

Die zweite Frage: Wenn die Menschenrechte auch das christliche Bekenntnis gründen, wie Sie im März sagten, und wenn sie auch den Mittelpunkt der christlichen Lehre darstellen: Wie sollte denn mit den Menschenrechten in den Kirchen, etwa auch in Gottesdienst, Gemeinde und Predigt, (vorrangig) umgegangen werden?

Die Kirchen haben sich ja lange Zeit sehr schwer getan, die Menschenrechte anzuerkennen. Vielleicht lässt sich dieser Sachverhalt aber auch als Hinweis darauf verstehen, dass die den Menschenrechten zugehörende spirituelle Dimension zwar von ihnen erkannt wurde, allerdings dann die Befürchtung aufkam, es könnte der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen an die Stelle des Glaubens an Gott treten. Inzwischen haben die Kirchen jedoch nicht nur in ein positives Verhältnis zu den Menschenrechten gefunden, sie reklamieren jetzt sogar, sie erfunden zu haben. Wurden sie von den christlichen Kirchen im Zusammenhang ihrer ersten Ausformulierungen, die im Zusammenhang der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution standen, als Ausdruck eines frevelhaften Aufstandes des sich autonom setzten Menschen abgelehnt, so werden sie heute schöpfungs- und rechtfertigungstheologisch begründet. Die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und sein unveräußerliches Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit sind dann theologisch deshalb anzuerkennen, weil Gott den Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat und sein unbedingter Liebeswille sogar noch dem Sünder gilt. Da ist keiner –sollten seine Untaten noch so zu Buche schlagen – dem die Anerkennung der Menschenwürde und der daraufhin auch ihm zukommenden Menschenrechte entzogen werden darf.

Die Reformulierung der christlichen Lehre auf der Basis und in der Aufnahme der Menschenrechte ist einer der erstaunlichsten Vorgänge in der neueren Religionsgeschichte. Darauf lässt sich heute aufbauen. Die Affirmation der Menschenrechte, wonach diese Rechte jedem Menschen unveräußerlich zugehören, gilt es offensiv als den heutigen Sinn des christlichen Schöpfungs-und Rechtfertigungsglaubens auszulegen. Dass jeder Menschen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit seiner Person hat, folgt für Christen daraus, dass sie an Gott den Schöpfer und an Jesus Christus, den Mensch gewordenen Gottessohn glauben, wie dann an den Heiligen Geist, in dem sie die Verbundenheit aller Menschen untereinander leben. Der Mensch gewordene Schöpfergott ist in der Welt nicht anders als im Geist der gegenseitigen Anerkennung der Menschen und ihres je eigenen Rechts auf Leben, Freiheit und Sicherheit gegenwärtig.

Die dritte Frage: Wenn die Menschenrechte tatsächlich eines Tages hoffentlich Geist und Seele der Menschen, auch der Politiker, prägen und bestimmen, fehlt dann nicht aber doch etwas? Fehlt die Wirklichkeit Gottes? Oder wäre gar der wahre Respekt der Menschenrechte schon eine Form des Gottes-Dienstes?

Der Glaube an den Menschen und seine unveräußerlichen Rechte ist wirklich ein Glaube, kein sachhaltiges, verstandesmäßiges Wissen. Ich habe ihn zunächst einen humanitären Glauben genannt, der seine Herkunft im Erschrecken darüber hat, was Menschen einander an Schrecklichem antun können. Dem setzt der humanitäre Glaube dort, wo er zu einem existentiell verbindlichen, moralischen Glauben wird, sein trotziges Dennoch entgegen und die mutige Hoffnung darauf, dass die Menschlichkeit im Umgang der Menschen miteinander sich schließlich durchsetzen wird. An diesem Moment des Kontrafaktischen des humanitären Glaubens tritt zugleich aber auch die spirituelle Dimension in unserer Beziehung zu den Menschenrechten hervor. Denn der Glaube an die Menschlichkeit des Menschen und die ihm unveräußerlich zukommenden Rechte schreibt jedem Menschen eine unbedingte Bedeutung zu. Jeder Mensch wird als einer geglaubt, der nie schon aufgeht in dem, was von ihm vorhanden ist, somit auch nicht in dem, was von ihm sichtbar wird, nicht in seinen Wohltaten und nicht in seinen Untaten, wie bewundernswert oder wie verabscheuungswürdig auch immer sie zu Buche schlagen mögen.

In jedem Menschen ist mehr, ist eine Transzendenz, etwas letztlich Unbegreifliches. Das eben bringt die christliche Rede dadurch zum Ausdruck, dass sie den Menschen ein Kind Gottes nennt, von Gott geschaffenen, in Sünde verstrickt, aber noch in seiner sündhaften Verkehrung von Gott unendlich geliebt. Jeder Mensch ist, in religiöser Sprache ausgedrückt, ein solcher, auf den Gott seine Hand gelegt hat. Unantastbar ist die Würde jedes Menschen für den, der an die Menschlichkeit (Gottes) glaubt. Unveräußerlich sind die Rechte jedes Menschen, sein Recht auf Leben, auf Freiheit, auf persönliche Sicherheit, für den, der seinen Glauben an die Menschlichkeit (Gottes) in der Liebe zu den Menschen lebt.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin und Religionsphilosophischer Salon

Für die Grenzgänger: Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Für die Grenzgänger.

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Sinn und Berechtigung der Grenzen ist jetzt „das“ Thema politischer Debatten: Die Erfahrung geschlossener Grenzen in Europa wird nicht nur von den Flüchtlingen als massive Einschränkung der Menschenwürde erlebt. Ein grundsätzliches Verstehen der Grenzen kann nicht auf theologische Überlegungen verzichten. Der christliche Glaube spricht vom begrenzten, vom „endlichen“ Leben immer nur im Zusammenhang von der Überwindung dieser Begrenzungen. Gott selbst sprengt die enge Befangenheit; er schenkt die Weite, selbst die Überwindung der absoluten Grenze im Leben, dem Tod. Sind Christen also Grenzgänger im Sinne von „Grenzen-Überwinder“?

Der Sinn der Religion, so könnte man geradezu sagen, ist der, dass sie sich an Grenzen abarbeitet, an unüberwindlichen Grenzen allerdings, an denen, die uns aufgrund unserer Endlichkeit gesetzt sind. Unser Leben ist begrenzt und diese Grenzen sind uns unverfügbar. Wir werden geboren und wir müssen sterben. Beides liegt nicht in unserer Hand. Was wir aber können, das ist, dass wir den Sinn zu erkennen versuchen, der unserem Leben in den uns gesetzten Grenzen zukommt. Warum bin ich auf der Welt? Was soll das Ganze, wenn irgendwann doch alles aus und vorbei ist und das Leben genauso ohne mich weitergeht.

Der christliche Glaube kann, wie jede Religion, die Grenzen, die uns mit unsere Endlichkeit gesetzt sind, auch nicht überwinden. Aber er kann unserem endlichen Dasein eine unendliche Bedeutung geben. Das tut der christliche Glaube, wenn er sagt, dass jeder Mensch als Gottes geliebtes Geschöpf auf die Welt kommt und seine Bestimmung darin hat, für das Ganze der Schöpfung von unschätzbarem Wert zu sein.

So nimmt die Religion die größtmögliche Distanz zu unserem begrenzten Leben ein. Sie anerkennt die Grenzen, die uns gesetzt sind, aber sie lässt den Sinn, der unserem Leben gegeben ist, nicht in diesen Grenzen aufgehen. Sie lockt in das Vertrauen darauf, dass jeder Mensch, wo auch immer er auf die Welt gekommen ist, welcher Kultur und Religion auch immer sie zugehören mag, welche Chancen und Möglichkeiten auch immer ihr mitgegeben sind, ein unbedingtes Recht darauf hat, ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Weil die Religion jedem Menschen in den gesetzten Grenzen seines endlichen Daseins eine unendlich Bedeutung gibt, deshalb, genau deshalb existieren für sie keine unüberwindlichen Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und auch nicht zwischen Religionen.

Diese Religion der Menschlichkeit ist „in aller Menschen Herz nur Eine“ (Herder). Wer diese Religion hat, für den schreit das Elend der Flüchtlinge an den jetzt (auch mit deutscher Hilfe)geschlossenen Außengrenzen Europas nicht nur zum Himmel, sondern ins eigene Herz.

Finden diese religiösen Überlegungen eine Bestätigung in der je eigenen Erfahrung von Musik, Kunst, Literatur, Erotik, Solidarität? Erleben dort Menschen, wie sie ihr wahres Leben finden, also über ihr kleines Ich hinauswachsen in immer neue Weiten hinein? Ist Grenzüberschreitung also auch eine anthropologische Konstante?

Wir machen immer wieder solche Erfahrungen, in denen uns die unendliche Bedeutung des Lebens, das uns gegeben ist und an dem wir mit allen unseren Sinnen teilhaben, aufgeht. Das sind die Augenblicke, zu denen wir mit Goethes Faust sagen möchten: „verweile doch, du bist so schön“. Es sind die Augenblicke, in denen uns die Ewigkeit ins Herz gegeben ist. Dann weitet sich unser Sinn, dann haben wir das Gefühl, wir könnten, wie es ein Psalmbeter gesagt hat, mit unserem Gott auch „über Mauern springen“ (Psalm 18,30). Solche Aussichten ins Unendliche können sich uns eröffnen, wenn wir mit dem „Seestück“ Caspar David Friedrichs, den Wolkenbildern Gerhard Richters oder den Farbkollagen Marc Rothkos über die Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung hinausgetrieben werden. Ebenso erleben wir durch die Musik, wie sich unsere Sinne weiten und die Ahnung von einem Sinn, der dem unendlichen Ganzen einer Welt, zu der wir mit unseren begrenzten, endlichen Dasein gehören und die uns bedeutungsvoll in sich einbezieht, in uns aufsteigt – nicht zu schweigen von der erotischen Verschmelzungserfahrung, in der wir leibhaftig die Grenzen unseres Ichs transzendieren.

Von einer anthropologischen Konstante würde ich im Blick auf unser Grenzverhalten deshalb sprechen, weil wir Menschen eben nicht nur endliche, begrenzte Wesen sind, sondern darum wissen und uns zu diesen Grenzen verhalten. Dieses Grenzverhalten, ja, Grenzgängertum, ist in Wahrhaftigkeit gelebte Religion.

Wenn die gegenwärtigen radikalen Grenzschließungen in Europa, dieses Sich-Abkapseln vor den Fremden, schlimme seelische Auswirkungen (Angst, Egoismus) auch in Europa selbst haben: Könnten die Kirchen andere Akzente setzen? Wie könnten sie die Menschen ermuntern, sich nicht angstvoll eingrenzen zu lassen? Ist die Abgrenzung der christlichen Konfessionen voneinander dabei auch noch ein starkes Hindernis, diesen Weg zu gehen?

Die Kirchen haben starke Akzente gesetzt – jedenfalls solange sie sich hier in Deutschland im Einklang mit der Politik Angela Merkels wissen konnten. Merkels Satz „wir schaffen das“ hat ja geradezu zivilreligiöse Bedeutung gewonnen. Der Kanzlerin „freundliches Gesicht“ und die nach Deutschland offenen Grenzen konnten ansatzweise so etwas wie ein neues deutsches Identitätsbewusstsein begründen – ähnlich wie das „Sommermärchen“ von 2006. Da konnten die Kirchen sich gut anschließen und verstärkend in diese Richtung wirken. Jetzt gilt es aber aufzupassen, dass dieses zivilreligiöse Legitimationsmuster einer menschenrechtsorientierten Politik der Flüchtlingsaufnahmebereitschaft nicht zur schlechten Ideologie wird, die über eine in Wirklichkeit inhumane Praxis der längst geschlossenen Grenzen nur noch hinwegtäuscht.

Jetzt müssen die Kirchen, auch unter Inkaufnahme der Gefahr, dass in den Gemeinden harte Kontroversen entstehen (denn unser Land und auch die Christen in ihm sind in dieser Frage gespalten), klar ihre Stimme erheben und kompromisslos für offene Grenzen eintreten. Im September letzten Jahres, als die deutsche Bundesregierung Busse nach Ungarn schickte, um die gestrandeten Flüchtlinge abzuholen, waren sich die beiden großen Kirchen in ihrer Unterstützung dieser Flüchtlingspolitik sichtbar einig. Der Einsatz vieler Gemeinden in beiden Kirchen war beeindruckend.

Wenn es gelänge, diesen Elan erneut an den Tag zu legen, dann könnte das auch die Ökumene beflügeln. Die Überwindung der getrennten Kirchen, ja, was meine Hoffnung ist, auch der getrennten Religionen, wird nicht durch theologische Diskurse und die Arbeit an Lehrkonsensen gelingen, sondern durch die Einsicht, dass die Religion der Menschlichkeit, die ihre Bekenntnisgrundlage in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) hat, jedem Menschen sein Recht auf Leben und seinem Platz im Leben gibt. Aus dieser humanreligiösen Einsicht wächst die Kraft, die Grenzen zwischen Staaten, Kulturen und Religionen zu überwinden.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Gegen Hysterie und Nervosität: Was Fasten heute bedeutet. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Weiterdenken: 3 Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Gegen Hysterie und Nervosität: Was Fasten heute bedeutet

Die Fragen stellte Christian Modehn

Fasten hat sich längst als Begriff und als Realität auch außerhalb der Kirchen etabliert. Fasten gehört zur „Wellness-Kultur“, z. B. mit ihrer Suche nach dem idealen Körpergewicht. Könnte Fasten und Fastenzeit nicht auch ganz neue Bedeutung gewinnen? Was denken Sie davon, z.B. das Fasten mit dem Unterbrechen eingeschliffener Denkgewohnheit zu verbinden? Gehört nicht auch die Unterbrechung zum Kern religiösen Lebens?

Zeiten des Fastens gehören seit jeher in nahezu allen Religionen zu eben den Praktiken, mit denen sie zur Prägung der individuellen Lebensform beitragen. Heute wird das Fasten allerdings nicht mehr praktiziert, weil es ein religiöses Gesetz gebietet, sondern weil es Menschen hilft, bewusster und aufmerksamer mit sich selbst und ihrer Welt umzugehen. Ein Ausdruck unserer „Wellness-Kultur“ sei das Fasten geworden, sagen Sie zu Recht. Gerade weil das Fasten für uns Heutige nicht mehr zu den religiösen Pflichten gehört, können wir umso besser seinen zutiefst menschlichen Sinn erkennen. Jetzt sehen wir, wie gut es uns tut, Auszeiten zu schaffen, „Unterbrechungen“ im Gewohnten, wie Sie formulieren – und gerade das Fasten eine solche Unterbrechungspraxis ist, die uns mit Leib und Seele in Anspruch nimmt und verändern kann.

Ebenso wichtig scheint es mir deshalb, die spirituelle Dimension des Fastens zu erkennen. Es kann nicht nur dazu helfen, aus den Alltagsroutinen herauszukommen, das Getriebe, in dem wir oft allzu bereitwillig funktionieren, für eine gewisse Zeit anzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. Die Unterbrechung des Alltäglichen, die das Fasten ermöglicht, kann zu einem bewussteren Leben verhelfen. Es führt dazu, dass sich wieder stärkere Resonanzen zwischen mir und der Welt aufbauen, dass ich mich schließlich im Denken neu in der Welt orientiere. Eingeschliffene Selbstverständlichkeiten werden fraglich, die aufs Ganze gehenden Sinnfragen können aufbrechen: Was ist mir wirklich wichtig? Wofür will ich mich einsetzen? Was gibt mir das Gefühl, nicht vergeblich zu leben?

Der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834) warb für den sonntäglichen Gottesdienst, indem er ihn als eine Gelegenheit zur „Unterbrechung des geschäftigen Lebens“ pries. Die Unterbrechung, zu der der Gottesdienst verhilft, sollte die Besinnung auf den Grund und das Ziel des eigenen Daseins ermöglichen, zur Verständigung über den Sinn führen, der dem bewussten Leben innewohnt. Heute sind es weniger die durch die religiösen Institutionen geregelten Veranlassungen, die uns in Kontakt zu uns selbst und dem göttlichen Grund allen Sinns bringen, als vielmehr die Initiativen für ein bewussteres Leben, zu denen wir uns selbst entschließen. Für das Fasten kann ich mich selbst entscheiden. Das kann anstrengend sein und ist mit Verzichtsleistungen verbunden. Auf diese Weise rückt uns das Fasten aber den religiös bedeutsamen Sachverhalt vor Augen, dass wir durchaus selbst etwas tun können bzw. es eigener Anstrengungen bedarf, um mit unserem Leib und unserer Seele, also ganz, so wie wir sind, dem göttlichen Grund unseres Daseins näher zu kommen.

Wenn man das Unterbrechen, „den-neuen-Weg gehen“, auch als Abstandnehmen von sich selbst bezeichnet und als kritisches Schauen auf das eigene Leben: Dann sind wir beim Kern der philosophischen Reflexion, dem Sich-selbst-Denken. Fasten ist also eine Form der kritischen Besinnung. Doch auch dafür brauchen wir eigene Räume und eigene Zeiten. Der Philosoph Montaigne hatte seinen berühmten Turm. Wo und wie können wir unseren eigenen privaten „Turm“, d.h. unseren eigenen „Raum der Stille“ pflegen?

Ich denke, dass da jeder heute tatsächlich seinen eigenen Weg zu finden hat, jeder und jede sich einen Raum ausbauen und den „Turm“ suchen muss, wo sich die Chance zur Selbstbesinnung und Sinndeutung eröffnet. Sich an Zeiten des Fastens zu halten, ist ja auch nur eine Möglichkeit neben vielen anderen, um die Alltagsroutinen und Verhaltensgewohnheiten zu unterbrechen. Es gibt andere Wege, auf denen es geschehen kann, dass Menschen in einen intensiveren Kontakt kommen zu sich selbst und sich ihnen ein tieferes Verständnis aufbaut, von den Gründen der Vertrautheit, die sie mit sich selbst haben, von dem Sinn, der ihr Leben trägt, von dem Ziel, auf das hin sie ihr Leben führen. Es kann dies in der Praxis konzentrierter, in die innere Welt führender Meditation geschehen. Es kann dort geschehen, wo die Anregung zum Selbstdenken von außen kommt, im Gespräch, bei der Lektüre, im Kino, oder eben auch, nach wie vor, im Gottesdienst, im Hören einer religiösen Rede.

Denn es ist zwar so, dass den Wegen, die in die Besinnung auf uns selbst führen, ein unmittelbares Mit-Sich-Selbst-Vertraut-Sein schon vorausliegt. Um unserer selbst gewiss zu werden, die eigene Identität zu finden, ein uns in unserer Lebenspraxis orientierendes Selbstkonzept ausbilden zu können, dazu brauchen wir aber immer auch den Anschluss an Traditionen humaner Selbstdeutung, an geprägte Vorstellungen von dem, was ein Leben gut werden lässt und wie der Sinn zu verstehen ist, der unser eigenes Dasein in einen größeren Zusammenhang stellt, in einen solchen zumal, der uns selbst und den anderen Menschen, denen gar, die in Not sind, wirklich gut tut.

Fasten als kritisches Denken führt, wahrhaftig gedacht, wie von selbst zum Handeln zugunsten derer, die auf dieser Welt nicht nur fasten, sondern hungern und verhungern, weil ihnen Essen und sauberes Wasser vorenthalten werden… Wie kommen wir weiter, wie komme ich weiter, im Beistand für diese so vielfältig zwangsweise fastenden, weil hungernden Millionen Menschen etwa in Afrika. Wie kann die „Fernstenliebe“ in uns und bei uns lebendig werden als Empathie?

Es ist ja in der Tat so, dass das Fasten nur dann ein möglicher Weg zur Selbstbesinnung und Lebenssinndeutung sein wird, wo Menschen nicht im harten Kampf um das tägliche Brot stehen. Dann aber wirft es doch gerade zurück auf das, was Not tut. Es kann uns, wenn wir fasten, stärker als sonst vor Augen treten, wie sehr wir im Überfluss leben, wie vieles wir normalerweise genießen und verbrauchen, das wir getrost entbehren könnten. So führt der Weg in die Kontemplation, auf den wir mit dem Fasten gelangen, weiter, hinein die Diskussion und dann auch in die Aktion, angesichts der Frage, was wir tun können, um zu einer gerechteren Verteilung des weltweit gesellschaftliche produzierten Reichtums zu kommen. Das Fasten übt ein in ein Verzichten-Können, in ein mit Weniger-Auskommen-Können. Es ist so tatsächlich ein besonders guter Weg, wenn es einen Ausweg aus globalen Verhältnissen zu finden gilt, in denen ein Drittel der Menschheit mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen muss.

In der gegenwärtigen Flüchtlingskrise zeigt sich ja nur zu deutlich, dass sich das reiche Europa auf die Dauer der Herausforderung nicht wird entziehen können, dass es den Reichtum zu teilen gilt, wir also von unserem Überfluss zunächst, nach und nach aber noch sehr viel mehr werden abgeben müssen.

Wer fastet, dem fällt das Abgeben leichter. Denn er hat gelernt, dass weniger zu haben nicht nur möglich ist, sondern einem selbst sogar sehr gut tun kann.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Feindesliebe heute. Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

WEITERDENKEN:  „Liebet eure Feinde“

3 Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Theologe an der Humboldt-Universität Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

Frankreichs Präsident Hollande hat dem IS den Krieg erklärt. Viele andere europäische Politiker sprechen heute mit einer gewissen Selbstverständlichkeit von Krieg. Der aber bedeutet bekanntlich nichts anderes als Auslöschung des Feindes. Dabei rechnen die Europäer als die „Guten“ durchaus auch mit Toten in den eigenen Reihen. Viele Europäer, manche nennen sich Christen, schließen aus, den mörderischen IS auf andere Weise als durch Krieg auszuschalten. Lassen wir die Erkenntnis beiseite, dass international agierende Terroristen nicht durch Kriege zur Vernunft gebracht werden können.

Viele hier bewegt die Frage: Was hat angesichts dieser verworrenen Kriegs-Geschehens noch das Wort Jesu Christi aus dem Matthäus Evangelium zu bedeuten: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen“ (Mt 5, 44). Werden da nicht Utopien verbreitet? Wird Unmögliches von den Menschen verlangt und das Gesetz einer neuen Welt beschworen, die es (noch) gar nicht gibt?

Als ich vor einigen Wochen in einem der vielen Kommentare zur „Flüchtlingskrise“ las, dass nichts die gegen den „Westen“ kämpfenden Islamisten so sehr verunsichert habe wie die „Willkommenskultur“, die die deutsche Bundeskanzlerin im August vergangenen Jahres auszulösen verstanden habe, da dachte ich, ja, das ist wahr. Dem IS und der Al Qaida und all den anderen islamistischen Gewalttätern drohte das Feindbild abhanden zu kommen. Das hätte den Durchbruch zu einer Siegeschance gegenüber den Islamisten bedeuten können.

Dass man den IS und Al Qaida militärisch nicht besiegen kann, ist klar. Diese neuen, asymmetrischen Kriege lassen sich weder mit nationalen noch internationalen Streitkräften „erfolgreich“ führen. Gegen Selbstmordattentäter gibt es zudem keine Möglichkeit einer kalkulierten Verteidigung. Eine Chance, diesen Krieg, den die Islamisten in der Form eines global vernetzten Systems von Terrorakten führen, zu gewinnen oder zumindest nicht immer weiter eskalieren zu lassen, wird sich niemals durch Anwendung von Gewalt ergeben. Eine Chance auf Frieden könnte sich allenfalls dadurch eröffnen, dass der verhasste „Westen“ endlich anders reagiert als er es bislang immer getan und damit selbst an dem Feindbild gebaut hat, durch das die Islamisten sich zu ihren grausamen Terrorakten berechtigt glauben – eben in Orientierung am Ideal der Feindesliebe.

Utopisch ist es überhaupt nicht, auf einen politischen Erfolg eines Verhaltens zu setzten, wie es der Bergprediger empfohlen hat. Vielleicht ist es, wenn wir an den IS und Al Qaida denken, etwas viel verlangt, gleich von „Liebe“ zu reden. Wie sollte das auch gehen, wir kennen sie ja gar nicht persönlich, wissen überhaupt nicht, mit wem wir es da eigentlich zu tun haben. Aber dass uns aus der „islamischen Welt“ eine aus langen Erfahrungen der Erniedrigung resultierende Welle des Hasses und eine ungeahnte Aggressivität entgegenschlagen, und der Einsatz militärischer Gewalt diese immer weiter steigern werden, ist auch unbestreitbar.

Was hilft da? Eben garantiert nicht der „Krieg gegen den Terror“, sondern einzig und allein dies, was die Bundeskanzlerin zu tun unternommen hat: „Ein freundliches Gesicht zeigen“, denen Gutes zu tun, die uns hassen, für die zu bitten, die uns beleidigen und verfolgen.

Die Ethik der „Feindesliebe“ ist ganz rational, auch wenn mehr als rationale Beweggründe dazu gehören, sie auch zu befolgen, nämlich ein Herz, das zur Liebe fähig ist, ein Tun, das Böses nicht mit Bösem vergilt und Gewalt nicht mit Gegengewalt beantwortet.

Noch mal zugespitzt nachgefragt: Was wäre denn, wenn die Menschheit das Ideal der Feindesliebe völlig aufgeben und vergessen würde: Dann würde das bestialische Recht des Stärkeren schrankenlos gelten? Wie kann man als Theologe dafür sorgen, dass das jesuanische Ideal der Feindesliebe aus dem inneren religiösen Kontext befreit wird und als vernünftige, also allgemein zugängliche Maxime (der Gewaltlosigkeit) verbreitet wird?

Es ist meine tiefste Überzeugung, dass das Ideal der Feindesliebe gerade kein weltfremdes religiöses Hirngespinst darstellt, sondern aus der völlig rationalen Überlegung geboren ist, dass anders die Gewaltspiralen in der Welt nicht zu durchbrechen sind. Wo Gewalt nur mit neuer Gewalt beantwortet wird, ist kein Ende der Gewalt absehbar. Dort nur, wo das völlig Unerwartete geschickt, wie es mit der Ausrufung der „Willkommenskultur“ im letzten Sommer der Fall war, kann die Gewaltbereitschaft zumindest verunsichert und in der Folge möglicherweise sogar überwunden werden.

Gewiss kommt sie nicht sofort zum Erliegen. Im Gegenteil, sie wird sich jetzt erst recht noch einmal aufbäumen. Aber wer der – nur zu verständlichen – Versuchung widersteht, mit Gegengewalt zu antworten, sondern stattdessen die fortgesetzte Bereitschaft zur Aufnahme der Flüchtlinge erkennen lässt, hält die Option auf friedliche Konfliktlösungen offen. Statt sich von Frankreich in den Krieg gegen den IS hineinziehen zu lassen, hätte für die Kanzlerin z.B. auch die Möglichkeit bestanden, zu sagen, dass dies Deutschland finanziell überfordere, angesichts der Milliarden, die es jetzt für die Unterbringung der Flüchtlinge braucht – und außerdem, hätte sie hinzufügen können, sei dies im Kampf gegen den Terror ohnehin die wirksamere Maßnahme.

Es zeigte sich auch in der Vergangenheit (denken wir nur an Mahatma Gandhi und Nelson Mandela), dass die Feindesliebe, die Fähigkeit Böses mit Gutem zu vergelten, im Grunde der einzige Weg ist, die Todesspirale von Gewalt und Gegenwalt zum Stoppen zu bringen.

Ist das Jesus-Wort von der Feindesliebe auch eine Aufforderung, die eigene, immer schon von eigenen Feindbildern geprägte Seele zu reinigen? Also in sich selbst zu schauen, die eigene Feindseligkeit zu erkennen und zu bearbeiten: Etwa anzuerkennen: Auch „wir“, die angeblich „Guten“ (gegenüber dem bösen IS) handeln feindselig, attackieren Flüchtlingsheime, misshandeln Frauen und Minderheiten usw.? Wie dringend nötig haben wir Europäer eigentlich eine Analyse unserer eigenen Psyche, unseres eigenen „wilden“ Denkens?

Das Ideal der Feindesliebe ist überhaupt nicht irrational oder utopisch. Im Gegenteil, es ist von geradezu überwältigender, uns im Grunde überfordernder Rationalität. Es geht über unsere Kräfte. Denn niemand ist von Feindseligkeiten gegen andere frei. Feinbilder sitzen tief. Sie entstehen aus unseren Ängsten, vor allem aus der Angst zu kurz zu kommen, sich nicht durchsetzen zu können, um das eigene Lebensglück betrogen zu werden. Vielleicht ist es gar nicht nur der IS, dem gegenüber wir uns als die Guten fühlen. Vielleicht sind es auch die Leute von Pegida, die, die Flüchtlingsheime attackieren, die, die man mit geschwellter Brust auch schon einmal als „Pack“ bezeichnen darf, die, denen wir uns nicht nur moralisch überlegen meinen, sondern von denen wir glauben, dass es ganz falsch wäre, sie auch noch zu lieben.

Ist das Gebot der Feindesliebe gar so gemeint, dass wir das Böse nicht mehr Böse nennen dürfen. Nein, das gewiss nicht. Aber es warnt uns vor der Schwarz-Weiß-Malerei, hält uns dazu an, den blinden Fleck auch im eigenen Herzen bzw. den Balken auch vor den eigenen Augen zu sehen.

Es ist ja so, dass „Achsen des Bösen“ ganz schnell gezogen werden, sei es dass der IS und Al Qaida dann dort aufgereiht werden oder eben in den erbitterten Meinungskämpfen, wie sie zur Zeit bei uns im Lande toben, jeweils die anderen. Das sind für die einen die Flüchtlinge und für die anderen die, die die Flüchtlinge hier nicht haben wollen. Es ist zurzeit doch erschreckend, wie unsere Gesellschaft auseinanderdriftet und nach allen Seiten hasserfüllte Feindbilder aufgebaut werden. (Spiegel-Online lässt zum Thema „Flüchtlinge“ keine Block-Einträge mehr zu, weil sie derart unverschämt geworden sind und eine unerträgliche Polarisierung befördern.)

Ich weiß nicht, ob es etwas hilft. Aber hier kommt für mich die Religion bzw. ein Grundgedanke der christlichen Theologie ins Spiel, der von der Schuldverstrickung und Sündhaftigkeit des Menschen. Die Feindesliebe ist die Pointe christlicher Ethik und wie wir gesehen haben, kann diese Ethik zugleich als durch und durch vernünftig gelten. Es ist gut und rational nach dem Gebot der Feindesliebe zu handeln. Und das gilt es auch zu sagen, also ein Verhalten, das ihm nicht folgt, anzuklagen. Es ist in dieser „Flüchtlingskrise“ vollkommen klar, was gut und richtig (und christlich) ist. Aber wir sind das alles (gut, richtig, christlich) nicht so ohne weiteres. Wir brauchen vor allem immer Feindbilder, und seien es die Leute von Pegida, die dazu herhalten müssen, oder, von der anderen Seite, die „Gutmenschen“. Wir brauchen andere, auf die wir mit dem Finger zeigen können, damit wir selbst als die Gerechtfertigten dastehen – gerechtfertigt insbesondere vor uns selbst.

Könnte es nicht sein, dass sich an unserer Unfähigkeit zur Feindes- und Nächstenliebe zeigt, wie sehr uns der Gott fehlt, der, der den Sündern gnädig ist, der der uns in unserem Lebensrecht anerkennt, unabhängig von unseren guten Taten, der, der uns vergibt, wenn wir wieder ganz unvernünftig gehandelt und das Übel in dieser Welt nur noch schlimmer gemacht haben, der der uns vorbehaltlos liebt?

Eine Analyse unserer Psyche würde uns also bestimmt nicht schaden. Denn wir erliegen nicht nur immer wieder der Versuchung, Böses mit Bösem zu vergelten, sondern sind auch ständig darauf aus, uns selbst als die Guten hinzustellen. Und dies beides hängt eng miteinander zusammen. Denn, gerade wenn wir Böses mit Bösem vergelten, meinen wir doch in der Regel vollkommen im Recht zu sein.

Wenn wir vom Selbstrechtfertigungsdruck loskämen, dann würden wir vielleicht fähig, den blinden Fleck auch bei uns selbst zu sehen, die Feindseligkeiten, in die wir uns immer wieder hineinsteigern. Zu merken und einzugestehen, dass ein solcher Gott fehlt, einer, der die, die auf ihn ihr Sinnvertrauen setzen, zur wechselseitigen Anerkennung ihres Lebensrechtes führen könnte, damit wäre zumindest ein Anfang gemacht, dahin gehend, dass das Ideal der Feindesliebe kein frommer Wunsch bleiben muss.

 

copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Gott wird Mensch: Wird der Mensch Gott? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Drei Fragen zu Weihnachten 2015 an Professor Wilhelm Gräb:  Gott wird Mensch – Wird der Mensch Gott?

Die Fragen stellte Christian Modehn

Eine Deutung der Weihnachtsgeschichte heißt im Anschluss an das Johannes-Evangelium: „Gott wird Mensch in Jesus von Nazareth“. Wenn in dem Menschen Jesus aber Gott selbst lebt, dann betont das Johannes-Evangelium auch: Grundsätzlich lebt Gott in jedem Menschen, zum Beispiel „in jedem, der liebt“, wie der Autor sagt. Von dieser Deutung ist heute selten die Rede. Aber wäre sie nicht eine aktuelle Konsequenz der Weihnachtsgeschichte?

Für das Verständnis von Weihnachten wie überhaupt für die religiöse Gedankenwelt des Christentums ist die Auffassung von der Menschwerdung Gottes zentral. Die Theologie spricht zu Recht von einer vollständigen Revolutionierung des Gottesgedankens zu der es im Christentum gekommen ist. Sie besteht darin, dass Gott nicht mehr für eine alles beherrschende Macht steht, sondern für die subversive Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.

Diese Revolutionierung des Gottesgedankens stellt die Symbolik des Weihnachtsfestes plastisch vor Augen: Das göttliche Kind, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Dieses schwache, der Liebe bedürftige wie auch Liebe erweckende Kind ist der Gott, in dessen Anblick die Engel vom Frieden auf Erden singen.

Es ist wichtig, diese Rede von der Menschwerdung Gottes in ihrem symbolischen Sinn zu verstehen, nicht sie wörtlich zu nehmen. Dann legt sie die Rede von der Geburt Gottes auf dem Grunde der eigenen Seele nahe. Wir begegnen ihr zudem in der Ermahnung des Dichters Angelus Silesius (1624-1667): „Wär Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“

Dieses Wort des Mystikers nimmt dem Gedanken von der Menschwerdung Gottes das Äußerliche der Vorstellung. Es befreit von dem Missverständnis, als handele es sich dabei um eine historisches Geschehen, möglicherweise sogar datierbar als die Stunde null in der christlichen Zeitrechnung. Es geht an Weihnachten nicht um die Erinnerung an ein längst vergangenes Geschehen, sondern um dessen permanente Wiederholung – in jedem einzelnen Menschen.

Was wir an Weihnachten feiern, das ist der Einstieg in diese Verwandlung, die mit einem Menschen vorgeht, wenn er seiner Angewiesenheit auf Liebe und Zuwendung bewusst wird. Im Grunde unseres Daseins sind wir Menschen doch alle Empfangende, die, denen das Leben und alles, was sie zum Leben brauchen, geschenkt wurde. Letztlich ist es ganz und gar Gnade, leben zu dürfen, geliebt zu werden – und lieben zu können.

Im Grunde sind wir alle aus Gott geboren. Dann jedenfalls, sofern wir nur hoch genug von uns und der Bestimmung unseres Daseins denken. Wer einiger Selbstachtung fähig ist, wird sich schließlich nicht als ein peripheres Zufallsprodukt rein biologischer Evolutionsprozesse verstehen wollen.

So zeigt das göttliche Kind in der Krippe auf das, was mit uns allen vorgeht, wenn wir nur erkennen, wie sehr wir auf Liebe angewiesen sind und anderen, die darauf ebenso warten wie wir, Liebe geben können.

Wenn eine „göttliche Struktur“ in jedem Menschen angelegt ist, dann wird keine totale Gott-Mensch-Identität angedacht. Denn bei einer völligen Identität von Gott und Mensch würden beide als solche aufgelöst und verschwinden. Was könnte dann aber eine gewisse Vergöttlichung des Menschen als Menschen bedeuten? Könnte der absolute, der heilige Wert des Menschen gemeint sein?

Schauen wir auf das Kind in der Krippe, diesem Zeichen für die Menschwerdung Gottes, dann ist das Göttliche, das in jedem Menschen angelegt ist, gerade keine Struktur von Macht und Herrschaft. Dann ist „das Göttliche in uns allen“ vielmehr unsere Verletzlichkeit und Verwundbarkeit, unsere abgrundtiefe Bedürftigkeit, dass wir Nahrung, Kleidung, ein Zuhause, dass wir Liebe und Zuwendung brauchen.

Dann aber auch, dass jeder Mensch auf die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse einen Anspruch hat. Und das unabhängig von seinen nationalen, kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten. Jeder Mensch hat allein aufgrund seines Menschseins, dem diese göttliche Struktur des Angewiesenseins eingezeichnet ist, ein Recht auf die Inanspruchnahme der elementaren Menschenrechte.

Insofern könnte man auch sagen, Weihnachten ist als der Tag der Menschwerdung Gottes zugleich der Tag der Menschenrechte. Deshalb feiern wir Weihachten, weil Gott in jedem Wesen, das Menschenantlitz trägt, zur Welt kommt, alle Menschenkinder damit aber auch einen Anspruch auf Anerkennung ihrer unantastbaren Würde haben sowie auf Einhaltung der Rechte, die daraus folgen.

Können wir diese göttliche Dimension in einem jeden Menschen weiter konkretisieren und betonen: Darin ist eine Befähigung des Menschen ausgesagt, umfassend-friedlich zu leben. Der von Gottes Geist bewegte Mensch ist fähig, Gott als dem Friedensfürsten zu entsprechen. „Friedensfürst“ ist ja einer der Titel Gottes in der Weihnachtsgeschichte. Was bedeutet dieser „Titel“ Gottes gerade heute, praktisch und auch politisch?

Die weihnachtliche Revolutionierung des Gottesgedankens legt zugleich eine Basis dafür, dass Menschen zur friedlichen Lösung von Konflikten fähig sind. Denn sie verlangt, die Vorstellung aufzugeben, es käme es in erster Linie auf die an, die die Macht haben, es sei schließlich der Einsatz von Gewalt oder gar des Militärs eine Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Wenn die göttliche Dimension im Menschen in seiner unendlichen Bedürftigkeit und seiner Angewiesenheit auf Liebe besteht, dann eröffnet sie ihm auch den Weg, den gehend er zum Frieden beitragen kann.

Das hat Konsequenzen, ganz konkret, aktuell auch in Gestalt des Protests gegen die Syrien-Politik Deutschlands und Europas. Es bedeutet, laut zu sagen, dass ein militärisches Eingreifen in Syrien der garantiert falsche Weg ist.

Ich wundere mich, dass die höchsten Repräsentanten der beiden großen Kirchen bislang zu diesem eklatanten politischen Fehlverhalten schweigen. Hoffentlich finden sie in ihren Weihnachtspredigten zu einem energisch mahnenden Wort. Wenn sie die Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung Gottes auch nur ansatzweise ernst nehmen, müssen sie es tun.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

Warum ist die Ewigkeit verschwunden? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb.

Drei Fragen an Professor Wilhelm Gräb im November 2015

Warum ist die Ewigkeit verschwunden?

Unser üblicher Umgang mit Leben und Sterben. Aktuell nicht nur angesichts des Totensonntags/Ewigkeitssonntags.

Die Fragen stellte Christian Modehn

1. Es ist ein umfassendes Thema, aber wir sollten es einmal an-denken: Für die meisten Menschen in der westlichen Welt, vor allem in Europa, ist die über Jahrhunderte gültige Überzeugung verloren gegangen: „Es gibt eine Ewigkeit, für mich und die anderen“. Waren denn unsere Vorfahren so primitiv, so naiv, wenn sie meinten: Dieses Leben, oft so schmerzvoll, oft so brutal von Gewalt und Krieg abgebrochen, dieses Leben kann nicht mit dem Tod enden? Gehört zu einem modernen Glauben auch die Neufassung einer alten Überzeugung: Mit dem Tod treten wir in eine, wie immer geartete, natürlich im Detail unbekannte, Ewigkeit?

Ich bin ebenfalls der Meinung, dass die Alten keineswegs nur aus purer Naivität, Gutgläubigkeit und Wunschdenken von dieser starken, realistischen Ewigkeitshoffnung erfüllt waren. Auch ihnen war klar, dass wir über die Dinge, die jenseits unserer Erfahrung liegen, nichts wissen können. Schon im Neuen Testament wird die Frage verhandelt, ob die Menschen nicht sehr viel energischer mit dem ewigen Leben und den möglichen Konsequenzen, die das hat, rechnen würden, wenn schon einmal jemand aus dem jenseitigen ins diesseitige Leben zurückgekehrt wäre (Lukas 16, 27-31) Dass die Ewigkeit eine andere als die zeitlich erfahrbare Wirklichkeit bedeutet, eine Wirklichkeit, zu der wir nur im Glauben und Hoffen den Zugang haben, war auch den Alten klar.

Aber im Unterschied zu uns Heutigen hatten sie mit diesem Glauben an ein ewiges Leben nicht so große Schwierigkeiten wie wir. Ganz offensichtlich fiel es ihnen leichter, die Grenzen des Wissens anzuerkennen und dem Glauben Platz zu machen. Allerdings, damit spiele ich auf Immanuel Kant, den großen erkenntniskritischen Philosophen der Moderne an: Kant hat zwar energisch dagegen Einspruch erhoben, das moralische Handeln an eine Gehorsamspflicht den göttlichen Geboten gegenüber zu binden. Er behauptete jedoch ebenso entschieden, dass wir unseren zum moralischen Handeln motivierenden Gerechtigkeitssinn wie unser Glücksverlangen nur in Verbindung mit dem Ewigkeitsglauben aufrechterhalten können.

Jedes Lebens bleibt fragmentarisch. Es bricht oft viel zu früh und gewaltsam wieder ab, ohne jede Chance, seine Erfüllung auch nur ansatzweise zu finden. Was ist mit dem, worauf auch dieses Leben ausgegangen war, wofür es gekämpft und sich eingesetzt hat, was es gewollt und worauf es gehofft hat? Ist es damit im Tod aus und vorbei, somit alles, was diesem Leben wichtig und erstrebenswert war, vergeblich und sein Sinnvertrauen eine bloße Selbsttäuschung gewesen?

Dem wollen wir spontan widersprechen. Auch wir Heutigen glauben eigentlich nicht, dass die Hoffnung auf Gerechtigkeit ein bloßes Trugbild ist und alles, was uns wichtig ist, letztlich doch sinnlos gewesen sein wird.

Wenn ich mich nicht irre, behaupten tatsächlich auch heute nur wenige Menschen, dass für sie mit dem Tod „alles aus“ sei. Kaum einer sagt das laut. Und wenige glauben es wohl wirklich. Nicht von ungefähr sind westliche Formen des Reinkarnationsglaubens sehr verbreitet. Oder es werden Vorstellungen von einer seelischen bzw. geistigen Fortexistenz von den Alten übernommen und mit neuen Metaphern weiter entwickelt. Die Vielfalt der individuellen Jenseitsvorstellungen ist heute enorm groß.

Und ich meine, es ist den Menschen heute, wie schon den Alten, dabei völlig klar, dass dies Vorstellungen sind von einer Wirklichkeit, von der wir uns eigentlich keine Vorstellung machen; zu der in Gedanken uns zu verhalten wir aber ebenfalls nicht unterlassen können. Wir Menschen, die wir wissen, dass wir sterblich sind, müssen zugleich immer auch über die Todesgrenze hinaus denken, weil wir sonst einzugestehen hätten, dass das Leben, das wir hier und jetzt haben, eine einzige „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard), damit letztlich alles vergeblich und umsonst gewesen ist.

Wir können uns freilich auch zu diesem nihilistischen Eingeständnis durchringen. Denn es gibt keine wissensbasierten Argumente, auf deren Basis ihm zu widersprechen wäre. Aber bekömmlich dürfte dies kaum jemandem sein. Es ist vielmehr sehr viel vernünftiger und unserem alltäglichen Lebenspraxis auch sehr viel entsprechender, an ein – wie auch immer geartetes – ewiges Leben zu glauben.

2. Ewigkeit meint ja nicht die Fortsetzung der üblichen Zeit in himmlischen Sphären. Ewigkeit meint eher die dauernde, sich unendlich gebende Gegenwart. Diese Gegenwartserfahrung als Heraustreten aus der Zeitstruktur erfahren wir in unserem alltäglichen Leben schon immer: In Momenten der Liebe, des Glücks, der Begegnung mit Kunst. Haben wir von daher nicht alle Veranlassung, eine andauernde Gegenwart des Geistes anzunehmen – auch nach dem Tod?

Die Ewigkeit, das ewige Leben, ist nicht, wie Sie zu Recht sagen, die unendliche Verlängerung des zeitlichen Lebens. Die Ewigkeit ist das unendliche Gewicht der Zeit, die unendliche Bedeutsamkeit des zeitlichen Lebens. Deshalb resultiert der Ewigkeitsglauben daraus, dass die Dinge dieses Lebens, das wir hier und heute bewusst führen, für uns Bedeutung haben. Die Ewigkeitserfahrung geschieht gewissermaßen immer schon, mitten in der Zeit, als die Erfahrung dessen, dass wir uns mit dem, was wir tun, wofür wir uns einsetzen, was uns wichtig ist, in eine Welt einbezogen wissen, die uns entgegenkommt, die wir erkennen und gestalten können. Sie kommt uns in ihrer Unendlichkeit entgegen, aber so, dass wir den Eindruck gewinnen als die endlichen Wesen, die wir sind: Wir passen in sie hinein und sind in ihr, allem Widerwärtigen zum Trotz, letztlich gut aufgehoben.

Deshalb sind es besonders die herausgehobenen Erfahrungsmomente unseres zeitlichen Daseins, sind es die Grenzerfahrungen im Positiven wie im Negativen, in denen unser Einbezogensein ins unendliche Ganze einer Welt, die für uns Sinn macht, in uns nachklingt und Resonanzen in unserem Lebensgefühl auslöst. Gerade dann, wenn wir zum Augenblick sagen möchten: „Verweile doch, du bist so schön“, ist er schon vorüber, tritt uns somit vor Augen, dass wir zeitliche, endliche Wesen sind. Zugleich stärken diese Lebensmomente, in denen uns unsere Zugehörigkeit zum unendlichen Ganzen in einer auf uns hin geordneten Welt aufgeht, den Glauben daran, dass wir mit unseren einmaligen, individuellen, endlichen Leben ein unverlierbares Moment im in diesem unendlichen, göttlichen Welt- und Sinnganzen sind.

3. Es wurde und wird viel Unsinn getrieben mit überschwänglichen und furchtbar drohenden Bildern vom jenseitigen Leben. Die Vertröstung auf ein besseres Jenseits war doch höchst problematisch, im Blick auf das reale, irdische und zugelassene Leiden der Armen. Trotzdem: Wenn diese Missverständnisse beseitigt sind: Können moderne, liberal-theologisch denkende Christen sagen: Zum Vertrauen in einen göttlichen Grund gehört auch die begründete und begründbare Hoffnung auf ein ewiges Leben? Oder hat das etwas mit Egozentrismus zu tun?

Gut, dass Sie das zuletzt fragen, ob die Hoffnung auf ewiges Leben nicht doch etwas mit Egozentrismus zu tun hat. Wir sind als selbstbewusste Lebewesen selbstzentriert, beziehen alles, was wir denken, fühlen und tun, auf uns selbst. Wir verhalten uns ständig so, als käme es unbedingt auf uns selbst an, weil wir der Welt erkennend und gestaltend gegenüberstehen, sie uns zugleich entgegenkommt und wir ihr zugehören, als dem Ganzen, aus dem wir selbst kommen und von dem wir glauben, dass wir in ihm nie ganz verlorengehen. Aus dieser zu uns als selbstbewussten Menschen gehörenden Erfahrung geht der Gedanke hervor, dass wir Teil des unendlichen Ganzen sind, in dem keiner je den Eindruck gewinnen müsste, ganz umsonst gelebt zu haben.

In jedem Menschen, so der religiöse, auf das Ganze gehende Gedanke, muss, da er seine Zugehörigkeit zum Ganzen immer auch auf sich bezieht, ein unverlierbares Moment des Ganzen aktiv sein und über den Tod hinaus aktiv bleiben. Es ist, so denke ich, in der Tat unser Egozentrismus, der freilich nichts mit selbstsüchtigem Egoismus zu tun hat; sondern der Egozentrismus hat, ganz im Gegenteil, mit einer für uns lebensnotwendigen Selbstachtung zu tun, er ermutigt uns zur Hoffnung auf ein ewiges Leben.

Weil das so ist, treten unserer Ewigkeitshoffnung aber auch gewaltige Einsprüche entgegen, die sie uns permanent wieder zu rauben drohen, sie zumindest als äußert ambivalent erscheinen lassen. Denn so sehr wir alles, was wir denken, fühlen und wollen, immer auf uns selbst beziehen, wir uns dem Ganzen einer Welt gegenüber stellen, zu der wir uns zugleich gehörig wissen, so haben wir doch, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, keine Konzeption, die unsere Rolle als Menschen unter mehr als sieben Milliarden (allein in diesem Moment lebenden) davor bewahrt, schlechterdings als absurd erfahren zu werden. Ist jeder und jede von uns nicht doch bloß ein zufälliges, nichtiges Einsprengsel in einem kosmischen Prozess, der ohne uns weitergehen wird, als wären wir überhaupt nie gewesen? Ein Einspruch gegen die individuelle Ewigkeitshoffnung, von der auch die Bibel zu sagen weiß: „Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt.“ (Jesaja 40, 6f.)

Wir sind selbstzentriert und zugleich sind wir, wie doch offenkundig ist, ganz ephemer im Ganzen. Das treibt die Ewigkeitshoffnung unweigerlich in die Fraglichkeit. Ich kann sie auch persönlich, muss ich gestehen, nur als zutiefst fragliche Hoffnung teilen. Auf der einen Seite kann und will ich mich als ein Mensch verstehen, der im Vertrauen auf die Gründung des eigenen Daseins im göttlichen Sinn des Ganzen sein Leben sinnbewusst führt und deshalb auch auf die unendliche Einbindung in das göttliche Seins- und Sinnganze hoffen darf. Auf der anderen Seite kann ich mir durchaus vorstellen, dass mit meinem Tod dieser Ewigkeitsgedanke, wie alles, was einmal zu mir und meinem Leben gehört hat, ohne jede Bedeutung sein wird.

Was bleibt also? Eines doch zumindest – und vielleicht wiegt das sogar schwerer, wenn es kein ewiges Leben geben sollte: Für mich – jeder und jede kann da nur für sich selbst sprechen – ist das menschliche Leben damit verbunden, dass es im Ganzen dessen, was es ist, für sich selbst und für ein anderes Lebens dankbar sein kann – also gerade im Tod, dem eigenen oder dem eines geliebten Menschen dankbar, unendlich dankbar sein kann.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon.