Ein anderer Kirchentag 2017. Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn

Man muss kein Zukunftsforscher sein, erst recht kein Prophet, um zu sehen: Wenn der Kirchentag vom 24. bis 28. Mai 2017 in Berlin und Wittenberg stattfindet, wird es noch mehr irritierende politische Turbulenzen geben: Die Wahlen in Holland und Frankreich sowie die Landtagswahlen in Deutschland werden leider wohl starke rechts(extrem)lastige Ergebnisse zeigen. Und die Zustände in den USA unter Trump werden sich gewiss noch nicht gebessert haben. Diese Themen werden das Miteinander in der Demokratie auch hier weiter belasten. Und genau damit sollten sich die TeilnehmerInnen des Kirchentages befassen.  Also: Kann unter diesen aktuellen Umständen ein Kirchentag einfach so, wie vorgesehen, sein Programm „durchziehen“? Mit all den nun schon vertrauten eher üblichen Themen? Oder muss ein „Ruck“ durch den Kirchentag jetzt noch gehen? Sollte nicht das eine zentrale dringende Thema, nämlich die Verteidigung der Demokratie und des Friedens, das ganze Programm bestimmen?

Das Elend ist eben, dass man sich nicht mehr traut, vom protestantischen Prinzip zu reden, das durch die Reformation zur bestimmenden Kraft im Christentum geworden ist. Mit historischen Ausstellungen, finanziert von Auswärtigen Amt, wird die Reformation als historisches Ereignis, das keineswegs nur kirchliche, sondern enorme gesellschaftliche, politische und kulturelle Auswirkungen hatte, gefeiert. Wenn es um die theologische und kirchliche Gegenwartsbedeutung der Reformation geht, und erst recht, wenn es darum geht, zu sagen, wofür ein sich an der Reformation orientierendes Christentum in den atemberaubenden Konflikten und politischen Verwirrungen unserer Tage einzutreten hat, dann bleiben Theologie und Kirche jedoch merkwürdig stumm.

Man wiederholt formelhaft die Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Gnade und dass die Kirche sich an Christus allein zu orientieren habe. Das erregt natürlich auch nirgendwo Widerspruch, auch in der Katholischen Kirche nicht. So begannen die höchsten Repräsentanten der Evangelischen und Katholischen Kirche in Deutschland das Reformationsjubiläumsjahr damit, dass sie gemeinsam eine Reise nach Jerusalem unternommen haben. So pilgert der Ratsvorsitzende Bedford-Strohm am 6. Februar 2017 mit einer Delegation der EKD nach Rom, um mit dem Papst zusammen das Reformationsfest als „Christusfest“ zu begehen.

Man ergeht sich in innerkirchlicher Selbstbeweihräucherung, indem man die Überwindung theologischer Gegensätze feiert, die schon längst niemand mehr versteht, geschweige denn interessiert. Die kirchlichen Würdenträger auf evangelischer wie katholischer Seite zelebrieren ökumenische Verbundenheit in dem irrigen Glauben, gemeinsam könnten sie im Kampf gegen die säkulare Welt besser bestehen. Die Evangelischen sind dabei so sehr von der Angst ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung getrieben, dass sie sogar vor Unterwerfungsgesten der nach wie vor machtvoll auftretenden Katholischen Kirche nicht zurückschrecken. Sie fahren nach Rom, nachdem der Papst sich geweigert hatte, nach Wittenberg zu kommen. Wie soll angesichts so viel theologischer Selbstverleugnung der evangelischen Kirchenführer das protestantische Prinzip noch zur Geltung kommen können? Es wird auch auf dem Kirchentag dem innerkirchlich motivierten ökumenischen Einheitswahn zum Opfer fallen.

Natürlich wird man sich auf dem Wittenberger Kirchentag auch mit den gesellschaftlichen und politischen Konflikten und Herausforderungen der zerrissenen Weltgesellschaft beschäftigen. Es wird den ganzen Sommer über unzählige Foren in Berlin und Wittenberg auch zu Demokratie und Menschenrechten geben. Es werden der Trumpismus und die AFD wichtige Themen sein. Das steht alles außer Frage. Aber man wird nichts darüber hören, was das spezifisch Protestantische in der Stellungnahme ist, die angesichts der heutigen politischen und gesellschaftlichen Situation von Christen gefordert ist. Von einer protestantischen Identität will man um des lieben ökumenischen Friedens willen in den Leitungsgremien der EKD ebenso wenig etwas wissen wie unter den Cheforganisatoren des Evangelischen Kirchentages. Man übersieht dabei jedoch, dass es viele Menschen in der Evangelischen Kirche und vielleicht noch mehr in der Katholischen Kirche gibt, die sehnlichst darauf warten, dass das durch die Reformation ins Christentum eingeführte protestantische Prinzip sich in der Kirche wie dann erst recht in Politik und Gesellschaft heute erneut energisch Geltung verschafft.

Was es mit dem Protestantismus als Prinzip auf sich hat, hat als erster Paul Tillich in den 1920er Jahren ausgesprochen. Er meinte damit, dass die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangene Kirchenreform sich gegen alle ideologische Überhöhung menschlicher und weltlicher Macht ins Göttliche gerichtet hat. Protestantisch ist der Protest gegen eine Arroganz der Macht, die sich auf höhere Rechtfertigungen beruft als die, auf Zeit und nach demokratischen Regeln vergeben worden zu sein. Absolute, göttliche Rechtfertigung steht nur Gott zu. Kein Mensch darf sich auf sie berufen, um damit am vernünftigen Diskurs vorbei seine Entscheidungen zu legitimieren. Das protestantische Prinzip ist der permanente Einspruch gegen die ideologische, sich auf höhere Gewalt berufende Rechtfertigung der Macht. Es lässt, wie Tillich sagte, Priester zu Laien, Sakramente zu bloßen Worten, Heiliges zu Profanem werden. Es begründet das Priestertum aller Gläubigen. Es ist, in seinem politischen Konsequenzen, das demokratische Prinzip, die theologische Begründung des Rechts auf vernunftgeleitete, diskursiv ausgehandelte Selbst- und Mitbestimmung.

Es ist schon so: das protestantische Prinzip verbindet sich eng mit der reformatorischen Einsicht in die Rechtfertigung allein aus Glauben, damit, dass diese in letzter Instanz Gottes und nicht des Menschen Sache ist. Aber es greift über das Kirchliche ins Politische und Gesellschaftliche hinein. Es beschreibt, was es heißt, in Politik und Gesellschaft aus der „Freiheit eines Christenmenschen“ zu leben. Aus der theologischen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen folgen dann der demokratische Grundgedanke der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und ihr Recht auf Mitbestimmung in allen das Gemeinwesen bestimmenden Angelegenheiten.

Dieses protestantische Prinzip ist zu Zeiten der Reformation weder kirchlich noch staatlich verwirklicht worden. Anpassung an obrigkeitsstaatliches Denken und Demokratieverachtung waren in der ganzen Geschichte auch des Protestantismus ganz überwiegend seine mehrheitskirchlichen Kennzeichen.

Dennoch scheint mir dieses protestantische Prinzip, das jeden Menschen vor Gott gleichstellt, jedem Menschen einen unendlichen Wert zuspricht, die Arbeit für mehr Gerechtigkeit zur moralischen Pflicht zu machen und den Frieden zum Endzweck allen politischen Handelns zu erklären. Allein deshalb schon sollte es auch theologisch ins Zentrum des Reformationsgedenkens treten.

Dann müsste es auch auf dem Wittenberger Kirchentag darum gehen, theologisch Farbe zu bekennen und an der protestantischen Identität des Christentums zu arbeiten. Wir brauchen keinen ökumenischen Versöhnungsschleim. Die politischen, sozialen und ideologischen Gegensätze, die unsere Welt zerreißen, gehen auch durch die Kirchen. Wo diese meinen, ihnen enthoben zu sein, betreiben sie die ganz und gar unprotestantische Vergöttlichung und Immunisierung ihrer Macht.

Der Pluralismus ist auch im Christentum eine Realität. Und er kann auch etwas Gutes haben, nämlich, dass Christen sich darüber Klarheit verschaffen, wofür sie selbst stehen und einzustehen bereit sind, religiös und politisch. Und beides hat eben sehr viel miteinander zu tun.

Was nützt es auch angesichts unserer Welt, wenn die TeilnehmerInnen des Kirchentags noch einmal etwas mehr von der „Rechtfertigung aus Glauben allein“ erfahren? Was nützt, wenn sie abermals hören, wie nahe sich Protestanten und Katholiken schon (angeblich) gekommen sind? Wenn die Zivil- Gesellschaft und der demokratische Staat an so vielen Orten bedroht ist? Würde Luther heute nicht 95 Thesen zur Rettung der Menschenrechte veröffentlichen?

Ja, davon bin ich überzeugt, Luther würde heute seine Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben als die Botschaft einer Rechtfertigung des Existenz- und Lebensrechtes eines jeden Menschen, allein deshalb, weil er ein Mensch ist, von den Kanzeln predigen! Er würde seine Überzeugung auf die Marktplätze bringen, in TV-Debatten verteidigen und über unzählige Tweets allen, die ihm folgen, weltweit bekannt machen.

Selbstverständlich wollte er auch, dass der zum Gedenken der Reformation in Wittenberg gefeierte Kirchentag sich nicht wieder in die Lehrstreitigkeiten des 16. Jahrhunderts hineinbegibt. Die innerkirchlichen Auseinandersetzung, aber auch die ökumenischen Verständigungsbemühungen hätten ihn vermutlich überhaupt nicht interessiert. Für ihn war die Wiederentdeckung des Evangeliums von einer über Leben und Tod, ewiges Heil oder ewige Verdammnis entscheidenden Wahrheit von alleiniger Bedeutung. Entsprechend entscheidet heute die Anerkennung oder Verleugnung der Menschenrechte täglich über Leben und Tod, offene Zukunft oder endgültiges Verderben von Tausenden von Menschen. Sie bleiben an den Grenzzäunen wie sie überall, auch in Europa, errichtet werden, hängen, ersaufen im Mittelmeer – oder aber sie finden Aufnahme in Ländern, die ihnen das Überleben sichern, oder, noch besser, sie erhalten durch den Aufbau einer gerechteren Welt- und Friedensordnung die Chance, zum wirtschaftlichen Aufbau ihrer eigenen Länder beizutragen.

Ein Kirchentag, der die Entdeckung des protestantischen Prinzips der Unmittelbarkeit eines jeden Menschen zu Gott und damit die unhintergehbare Bestätigung des unendlichen Wertes jedes Wesens, das Menschenantlitz trägt – unabhängig von dessen religiösen, politischen nationalen oder ethnischen Zugehörigkeiten – feiert und in seinen weltweiten politischen Konsequenzen diskutiert, wäre ein Kirchentag im Sinne Luthers.

Allerdings, keiner von uns hätte dabei die Chance, sich aufs hohe Ross eigener moralischer Rechtschaffenheit zu setzen. Wir sind auch da durch Luthers 95 Thesen gewarnt. Die erste seiner 95 Thesen lautete bekanntlich, dass unser ganzes Leben ein in der Buße, d.h. in kritischer Selbstbesinnung zu führendes Leben sei.

Wenn der Glaube also im Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten eine Rolle spielt: Welche Gestalt des Glaubens ist es dann? Vielleicht ein elementarer Glaube an die Gründung allen Lebens in einem Sinn? Mit anderen Worten: Sollte der protestantische Glaube heute nicht elementar einfach sein? Und wenig dogmatisch, dafür aber sinnstiftend?

Vom protestantischen Prinzip zu sprechen und nicht von einer „reformatorischen Theologie“ oder einem „reformatorischen Rechtfertigungsglauben“, zielt genau darauf, das Protestantische als eine bestimmte, sich von anderen unterscheidende, die protestantische Identität ausmachende Lebenshaltung und Sinneinstellung aufzufassen. Sie kann genauso gut in der katholischen Kirche lebendig sein und ist es unter katholischen Christen de facto auch. Ja, diese vom protestantischen Prinzip bestimmte Lebenshaltung ist an gar kein kirchliches Mitgliedschaftsverhältnis gebunden.

Das Protestantische als Lebenshaltung überschreitet das Kirchliche. Sie geht ins Gesellschaftliche und Politische, ist aber doch religiös grundiert. Sie kommt von einem religiös bestimmten Grundsinnvertrauen her. Das Protestantische ist eine Lebenshaltung, die sich darum bemüht, jeden Menschen in seinem unbedingten Lebensrecht anzuerkennen. Sie schöpft ihre Kraft aus der Gewissheit eigenen Getragen- und Gehaltenseins, eines Gottvertrauens, wie es freilich in den Erfahrungen des Lebens auch immer wieder brüchig werden kann.

Aber, um es noch einmal ins Theologische zu wenden. Das eben heißt Glauben: Glauben meint nicht das Für-wahr-halten von überlieferten Glaubensbekenntnissen und kirchlichen Dogmen. Glauben bedeutet, darauf sich zu verlassen, dass die eigene Existenz bedingungslos gerechtfertigt ist, von Gott gerechtfertigt ist, nicht durch eigene Leistungen und Machtbeweise behauptet werden muss. Anerkannt, akzeptiert bin ich, so wie ich bin. Mein Leben hat einen Sinn. Es ist für mich gesorgt!

Wer aus solchem Glauben lebt, wie kann der anders, als sich zu fragen, wie die Welt aussehen müsste, damit jeder Mensch aus solcher Sinnerfahrung leben kann.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin.

An Fakten glaubt man nicht!

An Fakten glaubt man nicht!

Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

Die neue US – amerikanische Regierung unter Trump will der Öffentlichkeit einhämmern, dass sie allein weiß, was Fakten sind. Wir sollen Tatsachen (etwa: wie viele Leute bei der Amtseinführung Trumps dabei waren) in einer offiziell vorgegebenen Umdeutung als Glaubenshaltung akzeptieren. Glauben an die Machthaber soll Wissen ersetzen. Was kann der einzelne dagegen tun?

Es ist wirklich grotesk, was zurzeit im Weißen Haus in Washington geschieht. Es geht schlicht nicht, Faktenwissen zur Glaubensfrage zu erheben und dann auch noch über den richtigen Glauben durch willkürlichen Machtentscheid zu befinden. Was die Fakten sind, wie also sich etwas tatsächlich verhält oder verhalten hat, können wir wissen. Um solches Wissen können wir uns zumindest bemühen und das tun wir ja auch ständig. Deshalb recherchieren seriöse Journalisten, bevor sie mit einer Meldung an die Öffentlichkeit gehen. Auch die Wissenschaft, also das methodisch kontrollierte Bemühen um das Wissen, verlöre jeden Sinn, wenn das Wissen-Können durch ein Glauben-Müssen ersetzt würde.

Allerdings, worauf uns Trumps unverschämte Attacke auf die Freiheit der Medien und der Wissenschaft aufmerksam machen kann, ist, dass es Wissen und Glauben nicht nur zu unterscheiden gilt, sondern diese auch miteinander zusammenhängen.

Was wir wissen können, müssen wir auch wissen dürfen. Das ist die Basis einer freien und demokratischen Gesellschaft. Wo das Wissen, das möglich ist, nicht zugelassen oder unterdrückt oder schlicht per Machtentscheid zur Unwahrheit erklärt wird, haben wir es mit einer Diktatur zu tun. Das, was wir wissen oder zu wissen meinen, ist allerdings immer fraglich und umstritten. Ob hinsichtlich der Besucherzahl bei der Inaugurationsfeier die Medien oder die Trump-Leute Recht haben, muss geprüft werden. Das ist keine Glaubensfrage, sondern verlangt das Bemühen, herauszufinden, welche der strittigen Behauptung wahr ist. Jedes Wissen ist falsifizierbar, kann widerlegt werden. Von der Widerlegbarkeit des Wissens lebt die Wissenschaft. Die Bestreitung von Wissen will aber nie das Wissen durch einen Glauben, gar einen befohlenen Glauben ersetzen, sondern will ein zutreffenderes Wissen hervorbringen, herausfinden, was wirklich der Fall war oder der Fall ist, was also die Wahrheit ist.

Das Wissen kann und darf nicht durch den Glauben ersetzt werden. Gleichwohl ist das Wissen elementar auf den Glauben angewiesen, eben auf den Glauben an das Wissen-Können bzw. auf den Glauben an die Wahrheit. Wenn wir nicht mehr an die Wahrheit glauben und deshalb nach ihr suchen, ist kein kooperatives Zusammenleben mehr möglich.

Was kann der einzelne, was können wir tun, angesichts der empörenden Arroganz der Macht, die die neue US-amerikanische Administration demonstriert und mit der sie die Gefahr eines Endes der Freiheit der Medien, der Wissenschaft und damit der Demokratie heraufbeschwört?

Mir fällt nichts Besseres ein als zu sagen, es gilt ebenso treu wie trotzig am wahren Glauben, der ein Glaube an die Wahrheit ist, festzuhalten. Ermutigen kann uns dabei ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!“ (Joh 8, 32)

In den USA spielen fundamentalistische christliche Organisationen leider eine über-große Rolle auch in der öffentlichen Propaganda. Ist Trumps Eintreten für den autoritär vorgegebenen Glauben, entgegen der Faktenlage, auch ein Produkt dieser Kultur verirrter Frömmigkeit?

Der wahre Glaube, der ein Glaube an die Wahrheit ist, begrenzt nicht das Wissen, schon gar nicht ersetzt er das Wissen. Der wahre Glaube stachelt zum Wissen an. Wer an die Wahrheit glaubt und dann sogar auch noch weiß, dass wir an die Wahrheit glauben müssen, der will immer mehr wissen, will herausfinden, was wirklich der Fall ist. Der wahre Glaube führt in den Streit um die Wahrheit. Dieser Streit aber muss mit besseren Argumenten und mit dem Verweis auf die Evidenz von Fakten ausgetragen werden.

Insofern ist der Vorgang, den der neue US-amerikanische Präsident darstellt, in der Tat auch ein Resultat der heillosen Verwirrung im Verhältnis von Wissen und Glauben, den die religiösen Fundamentalisten aller Couleur seit längerem schon anstiften. Die religiösen Fundamentalisten behaupten ja z.B. zu wissen, dass Gott die Welt in 6 Tagen geschaffen hat. Sie versuchen dafür geologische Beweise vorzubringen. Sie kennen keinen Glauben, der wirklich Glaube ist, Vertrauen in die Durchsetzung der Wahrheit, um die wir Menschen uns immer nur strebend bemühen können. Die religiösen Fundamentalisten behaupten, zu wissen, wo es recht eigentlich um das Glauben geht und sie glauben, wo sie sich um ein besseres Wissen bemühen sollten.

Der heillosen religiösen Verirrung, der die Fundamentalisten erliegen und in deren Bannkreis auch Trump und seine Leute stehen, ist leider nur mit religiös-theologischer Aufklärung zu begegnen.

Glauben und Wissen sind zwei unterschiedliche menschliche Haltungen der Wirklichkeit gegenüber. In welcher Beziehung zur Wirklichkeit hat Glauben, wohl immer verbunden mit fragendem Zweifeln, überhaupt Sinn und ist vernünftig vertretbar?

Je mehr wir wissen, wissen können und wissen wollen, desto dringender brauchen wir den Glauben, den wahren Glauben, der ein Glaube an die Wahrheit ist. Der Glaube an die Wahrheit treibt uns dazu an, immer mehr wissen zu wollen. Er führt uns in den Streit um die Wahrheit, eben weil mit ihm das Wissen verbunden ist, dass unser Wissen immer strittig bleibt. Ohne die Auseinandersetzung zwischen miteinander streitenden Wahrheitsansprüchen gibt es kein Wissen. Wissen ist auf Dialog und Dialektik angewiesen. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr!

So gesehen macht dann das Glauben gerade dem, der wissen will und sich am Streit um die Wahrheit beteiligt, enorm viel Sinn. Unser Bemühen um das Wissen, herauszufinden, was wirklich ist, ergibt überhaupt erst in Verbindung mit dem Glauben an die Wahrheit einen Sinn. Würden wir nicht an die Wahrheit glauben, wären wir im Grunde alle in der Lüge gefangen. Dann träte aber auch genau der Zustand ein, in dem ein kooperatives menschliches Zusammenleben gar nicht mehr möglich ist.

Also, wer an der Möglichkeit des Wissen-könnens und damit an der Unterscheidung von wahr und falsch festhält, und das sind im Grunde alle, denen es um eine demokratische Verständigung über die unser Gemeinwesen betreffenden Angelegenheiten geht, der muss zugleich ganz stark glauben, muss an die Wahrheit glauben. Ja, die Wahrheit ist das, woran wir glauben müssen, weil wir sie selbst nicht wissen können. Die Wahrheit bleibt uns entzogen, letztlich unbegreiflich, ist aber gerade so das Ziel all unseres Streben nach Wissen. Diesen Glauben gibt es nicht ohne den Zweifel, eben weil er wahrer Glaube und kein Wissen ist, zu einem solchen auch niemals werden kann.

Statt vom Glauben an die Wahrheit können wir dann aber auch vom Glauben an Gott sprechen. „Gott“ ist das Wort für den unbegreiflichen Sinn des Ganzen. Wer wahrhaft an Gott glaubt – und nicht an einen zum Zwecke eigenen Machtstrebens aufgestellten und die eigene Größe demonstrierenden Götzen –, der strebt nach der Wahrheit, setzt sich argumentativ mit den Wahrheitsbehauptungen anderer auseinander, bleibt im Gespräch.

Wer nicht an Fakten, sondern an Gott als die Wahrheit glaubt, strebt nach der Wahrheit, indem er sie herausfinden will. Er behauptet nie, die Wahrheit zu besitzen und in der eigenen Tasche zu haben.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb, Berlin, und Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Warum ist es gut, Schönes zu pflegen?“

Weiterdenken: Drei Fragen an den protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb:

Die Fragen stellte Christian Modehn

Zumal in der Weihnachtszeit sind wir hier in Westeuropa von glitzerndem Glanz umgeben, von funkelnden Dingen, die als schön gelten sollen sowie von Liedern, die in ihrer Schlichtheit oft eher infantil wirken („Leise rieselt der Schnee…“). Aber Schönes ist etwas ganz anderes als Kitsch, der im Dienst des Konsums steht. Das Schöne, etwa das Erleben einer gotischen Kathedrale, weist offenbar über den Alltag hinaus? Aber wohin?

„Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen!“ Das war die Botschaft des Engels an die Hirten auf den Feldern Bethlehems, die dort ihre Herde hüteten. Wohlgefallen, das ist es aber auch, was sich im Erleben von Schönem einstellt. Dahin geht unser aller Sehnsucht gerade in diesen Tagen wieder. Wir erhoffen es von Weihnachten, für Stunden wenigsten, dass der Stress aufhört, dass wir Ruhe finden, dass wir zusammenkommen, dass wir intensiver erleben, wie schön es doch sein kann, auf dieser Welt zu sein.

Dass Gott in die Welt kommt, dass er Mensch wird, feiern wir an Weihnachten. Die Bedeutung, die in dieser Idee des Christentums liegt, ist eben die eines letztlich harmonischen Zusammenklangs zwischen jedem einzelnen Menschen und dem Ganzen des Universums. Diese Harmonie haben die Hirten empfunden als sie vor dem göttlichen Kind im Stall von Bethlehem niederknieten. Er klingt in unserem eigenen Herzen nach, wenn wir an der Krippe stehen und mit Paul Gerhardt singen: „Ich steh an deiner Krippen hier, oh Jesu, du mein Leben…“.

So geht es uns in der Begegnung mit Schönen, dass wir einen wunderbaren Zusammenklang von Differentem erleben. Farben, Töne, Räume spannen sich auf und fügen sich zusammen, und dies so, dass sie zugleich in uns selbst ein Wohlgefallen erzeugen. Ein Wohlgefallen an dem, was wir sehen und hören und schmecken, an einem Bild, einem Oratorium, einem festlichen Essen. Ein Wohlgefallen, das uns aber zudem in unserem Inneren berührt.

Das Schöne, das unser Wohlgefallen erregt, zeigt uns, dass es Resonanzverhältnisse gibt zwischen uns und der Welt. Wir sind der Welt offensichtlich nicht gleichgültig. Sie kommt uns vielmehr entgegen. Wir passen in die Welt und die Welt passt zu uns. Es gibt kein größeres Wohlgefallen für uns Menschen als dieses, gemeint zu sein, anerkannt, wertgeschätzt, geliebt. Das aber geschieht im Erleben von Schönem.

Deshalb ist für Christen auch Weihnachten das schönste aller Feste. Denn da feiern wir eben dies, dass jeder Mensch so gemeint ist, wie er ist, anerkannt, wertgeschätzt, unendlich geliebt. Deshalb, weil in ihm Gott zur Welt kommt. Nicht nur damals im göttlichen Kind, in der Krippe des Stalls von Bethlehem, sondern in jedem Menschen, der das Licht der Welt erblickt. Das ist das Wunder von Weihnachten: „Das ewig Licht geht da hinein, gibt der Welt ein‘ neuen Schein.“

Weihnachten weist über den Alltag hinaus, klar. Doch entführt uns die christliche Botschaft nicht andere, jenseitige Welten, sondern sie rückt diese Welt, die im Grau des Alltags sich bewegt, und erst recht diese Welt, in der die Menschen einander das Leben zur Hölle machen, wie jetzt gerade wieder auf besondere schreckliche Weise ins Aleppo, ins Licht ihrer ungeahnten, göttlichen Möglichkeiten, dass Friede werde und allen Menschen ein Wohlgefallen.

Wer Schönes erlebt, im Betrachten von Kunst etwa, ist auf sich selbst konzentriert, kann sich dabei seines Lebens wieder erfreuen. Aber: Wer sich selbst aufs ästhetische Erleben fixiert, vergisst oft die anderen. Mit anderen Worten: Braucht die Ästhetik immer die Korrektur durch die größere Ethik?

Wer Schönes erlebt, erfährt sein Leben so wie es von Gott, dem Schöpfer, gemeint war. Deshalb haben die großen Theologen seit alters die Menschwerdung Gottes in der Geburt des göttlichen Kindes als die Vollendung der Schöpfung verstanden. Jetzt erst, mit der Einkehr Gottes in die Welt, wird die Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, in die er durch seinen rücksichtslosen Selbstdurchsetzungswillen geraten war, überwunden. Jetzt kommt ihm die Welt wie von alleine entgegen und er merkt, dass er in sie hineinpasst. In der Begegnung mit Schönem, in der Kunst, in der Musik, bei einem gelungenem Fest, erleben wir dies und wird uns bewusst wie sonst nie, dass es ein wunderbares Geschenk ist, das Leben zu haben.

Umso schmerzlicher, so denke ich, empfinden wir doch gerade in solchen Momenten des Glücks auch, wie unverdient dieses Geschenk ist. Ebenso spüren wir in solchen Momenten den Schmerz über das Elend und die Not, die Grausamkeit und den frühen Tod, den so viele Menschen erleiden müssen.

Ich denke insofern gerade nicht, dass die Ästhetik, die uns das Wohlgefallen am Dasein ermöglicht, von der Ethik, die uns in die Verantwortung für eine durchaus verbesserliche Welt stellt, fernhält. Im Gegenteil, die Ästhetik, das Wohlgefallen am Dasein, das die Begegnung mit Schönem in uns erzeugt, kann zugleich unsere Bereitschaft wie unsere Kräfte stärken, denen zu helfen und uns für die einzusetzen, die in schlimmen Verhältnissen um ihr Leben kämpfen müssen.

So sehr uns also in einer Welt voller Hässlichkeit und Gewalt das Erleben des Schönen (in der Kunst, der Musik usw.) auch zu trösten vermag: Ist das wahre Schöne nicht immer vor allem beim Menschen zu entdecken, also bei mir selbst und den anderen. Und es ist überhaupt nicht zynisch gefragt, wenn man auch und gerade beim Armen von dessen (verborgener) Schönheit spricht, wie dies etwa die biblischen Erzählungen bezeugen?

Die Hirten auf den Feldern rings um Bethlehem waren keine reichen und keine mächtigen Leute. Doch gerade sie haben sich von der Botschaft, die vom Frieden auf Erden und dem Wohlgefallen, das allen Menschen versprochen ist, zu sagen wusste, auf den Weg zum Stall von Bethlehem locken lassen. Was sie dort sahen, war ebenfalls nichts, das auf Macht und Reichtum hätte schließen lassen können. Ein kleines, schwaches Kind lag da, in einem Futtertrog.

Doch es war dieses kleine schwache Kind, das die Künstler aller Zeiten als Inbegriff menschlicher Schönheit wieder und wieder ins Bild zu setzen wussten. In Bilde dieses Kindes, auf Stroh gebettet oder auch auf den Armen der Mutter Maria, zeigten insbesondere die mittelalterlichen Meister und auch noch ein Rembrandt, wie schön der Mensch ist, gerade dann, wenn wir ihn in seiner elementaren Bedürftigkeit sehen, in seiner unendlichen Angewiesenheit auf Liebe.

Die Schönheit legt sich auf das Gesicht eines Menschen dann, wenn er in seiner Empfänglichkeit sichtbar wird, erst Recht aber, wenn er Dankbarkeit ausspricht, für das wunderbare Geschenk des Lebens.

Keiner hat für diese Dankbarkeit trefflichere Worte gefunden als Matthias Claudius. In seinem Wandsbeker Boten, natürlich mit einem Weihnachtslied, von dem er allerdings zugleich meinte, dass es „täglich zu singen“ sei:

Ich danke Gott, und freue mich
Wie ‘s Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe;Daß ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen,

Und daß mir denn zumute ist,
Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil’ge Christ
Bescheret hatte, Amen!

 

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb

Warum ist es gut, wahrhaftig zu sein? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb

Die Fragen stellte Christian Modehn.

Die Wahrheit sagen und ihr im Tun entsprechen erfordert zunächst Unterscheidungen: So ist es nicht etwa ethisch gut, wenn ich eine mathematische Wahrheit ausspreche: 2 plus 2 ist zusammen 4. Mathematik hat in dem Sinne mit Moral nichts zu tun. Hingegen ist Wahrhaftigkeit eine Tugend, wenn es um mein Leben und das Leben mit anderen in der Gesellschaft geht. Warum ist es dann also böse („gegen die Tugend“), sich persönlich der Bindung an Wahrheit zu entziehen, indem man sagt: Alle Erkenntnis ist doch sowieso relativ; ich kann über mich und andere sagen, was ich will?

Es ist so, alle Erkenntnis ist relativ, standpunktbezogen, perspektivisch, von historischen, sozialen und kulturellen Kontextbedingungen abhängig. Allerdings, schon indem wir sagen: Alle Erkenntnis ist relativ, machen wir die mit Wahrheitsanspruch verbundene Aussage, dass dies wirklich so ist. Selbst indem wir die Wahrheit relativieren, kommen wir also nicht umhin, auf sie zu setzen. Das Eingeständnis der Relativität der Wahrheit schränkt somit die Geltung der Wahrheitswertdifferenz in keiner Weise ein. Sie steht vielmehr gegen die hypertrophe Behauptung, es könne eine absolute Wahrheit geben. Die gibt es für uns Menschen in unserem geschichtlichen, endlichen Dasein nicht. Das bedeutet aber keineswegs, dass wir nicht nach der Wahrheit streben sollen. Im Gegenteil, all unser Reden und Tun lebt im Grunde vom Streben nach der Wahrheit. Wenn wir etwas sagen oder in unserem Handeln auf etwas aus sind, dann nehmen wir gleichsam wie selbstverständlich in Anspruch, dass wir etwas der Wirklichkeit entsprechendes sagen und auf etwas Realitätshaltiges aus sind. Anders macht unser Reden und Tun weder für uns selbst noch für andere irgendeinen Sinn.

Wahrhaftig zu sein bedeutet demnach, zur Wahrheit dessen zu stehen, was wir nach bestem Wissen und Gewissen sagen und tun. Wahrhaftig zu sein, ist tatsächlich eine Tugend, also ein moralisch verantwortliches Tun des Guten. Denn es versteht sich keineswegs von selbst, dass wir zu dem mit unserem Reden und Tun immer schon verbundenen Anspruch auf Wahrheit auch stehen, wir uns bewusst zu diesem Anspruch verhalten und die unter Umständen unangenehmen Konsequenzen zu tragen bereit sind.

Es ist moralisch gut, wahrhaftig zu sein; so zu reden und zu handeln, dass wir dies nach bestem Wissen und Gewissen zu tun. Das bedeutet nicht, dass wir nicht irren können, denn wir sind und bleiben fehlbare Menschen, die nicht im Besitz der absoluten Wahrheit sind.

Böse ist es dann jedoch, sich – wie Sie sagen – „persönlich der Bindung an Wahrheit zu entziehen“. Denn dann rede und handle ich so, dass ich absichtlich dem widerspreche, was ich nach meiner eigenen Einsicht und Überzeugung zu sagen und zu tun hätte. Ich bin im Grunde mir selbst gegenüber unehrlich. Insofern kann man dann aber auch sagen, dass schon die Selbstachtung es von uns verlangt, wahrhaftig sein zu wollen.

In den Erzählungen über Jesus von Nazareth, in den Evangelien, ist von Wahrheit und Wahrhaftigkeit die Rede, etwa wenn Jesus (im Johannesevangelium) sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. Was bedeutet dieser ethische Impuls für den einzelnen?

Dieses Wort Jesu aus dem Johannesevangelium (Joh 8, 32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen!“) verstehe ich so, dass nur das Vertrauen auf die Wahrheit oder, so können wir auch sagen, der Glaube an die Wahrheit, uns zu einem freien, d.h. selbstbestimmten Reden und Tun befähigt. Weil wir als endliche und fehlbare Menschen nicht im Besitz der absoluten Wahrheit sind, müssen wir an die Wahrheit glauben. Im Glauben an die Wahrheit gewinnen wir den Mut, zu sagen, was wir denken, auch wenn es der gerade gängigen Meinung widerspricht und zu tun, was wir für richtig halten, auch wenn es persönlich unangenehme Konsequenzen haben sollte. Dies einzusehen, reicht jedoch zum Verständnis des Wortes Jesu wie dann auch der Bedeutung, die es für ein in Wahrhaftigkeit geführtes Leben hat, noch nicht aus. Wir müssen das andere Wort Jesu aus dem Johannesevangelium hinzunehmen, Joh 14,6, wo Jesus sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Denn dann erst gewinnt der Glaube an die Wahrheit jenen Inhalt, der ihn davor schützt, in eine möglicherweise doch unmenschliche Rechthaberei zu geraten. Zu sagen, was ich denke, und zu tun, was ich für richtig halte, ist ja nicht per se gut.

Wenn Jesus jedoch von sich selbst sagt, dass er selbst die Wahrheit ist, indem er den Weg zu ihr als einer lebensdienlichen Wahrheit zeigt, dann gibt er damit den klaren Hinweis, wie wir die uns frei machende Wahrheit sollen finden können: Indem wir dem Weg folgen, den Jesus selbst gegangen ist. Das aber ist der Weg der Liebe und der aufopferungsvollen Hingabe!

Die uns frei machende Wahrheit lässt uns zu dem stehen, was wir denken und tun, was wir für richtig halten. Dennoch sind wir nur dann in dieser Wahrheit, wenn sie dem Leben dient, denen vor allem, die schwach, arm und unterdrückt sind, neue Lebenschancen eröffnet.

Dieser ethische Impuls hat auch gesellschaftliche und politische Auswirkungen: Lügen sind für die Gesellschaft zerstörerisch, gegebene Versprechen nicht einhalten ebenso: Denn aller Zusammenhalt der Menschen zerbricht dann. Also sollte sich der einzelne förmlich auch „opfern“, wenn er im Kreis von Lügnern und diplomatisch mit der „Wahrheit“ Hin – und Herjongliern tatsächlich die Wahrheit sagt?

Jesus ist bekanntlich den Weg sich aufopfernder Hingabe gegangen, bis zum Tod am Kreuz. Er ist diesen Weg gegangen, weil er den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt durchbrechen und Verhältnissen zum Durchbruch verhelfen wollte, in denen Menschen liebevoll und barmherzig miteinander umgehen. Dies auch tun können, weil sie ihr Vertrauen auf einen Gott, der die Liebe und damit zugleich die Wahrheit ist, miteinander verbindet.

Wenn wir uns an Jesus orientieren, dann sehen wir vielleicht auch für uns eine Möglichkeit, zur Wahrheit zu stehen, zu dem, was wir selbst zu sagen und zu tun als richtig erachten – auch dann, wenn es in schwierige Situationen bringt und uns Opfer abverlangt, an Ansehen, Anerkennung, vielleicht auch Freundschaften kostet.

Dass solche „Opfer“ angesichts der Spaltungen, die in unserer Gesellschaft im Zusammenhang der Flüchtlingskrise und eines neuen Rechtsrucks aufgebrochen sind, schnell abverlangt werden können, liegt auf der Hand. Aber wiederum, wenn wir uns an Jesus und dem Weg der Wahrheit, den er in Liebe gegangen ist, orientieren, dann versuchen wir zu unserer Überzeugung zu stehen, ohne andere als Personen herabzuwürdigen. Das ist manchmal nicht leicht. Aber mit dem Vorwurf der Lüge (npresse) wird leider von allen Seiten gearbeitet.

Was uns in unserer zerstrittenen Gesellschaft weiterhilft, ist in der Tat, auf liebevolle, hingebungsvolle, aufopferungsvolle Weise zur eigenen Einsicht in die Wahrheit, die die Liebe ist, zu stehen.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin

Warum ist es gut, gut zu sein? Drei Fragen an Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Die Fragen stellte Christian Modehn

Angesichts von Hass, Gewalt und Krieg heute drängen sich elementare Fragen nach dem unaufgebbaren Humanum wie von selbst auf, diese Fragen müssen wohl um der Menschlichkeit willen viel stärker „bearbeitet“ werden. Zum Beispiel: Warum ist es für den einzelnen Menschen gut, selbst gut zu sein? Ist es denn wirklich so schwer, das Gute zu erkennen, das ja doch mehr sein muss als nur das gute Leben für mich allein?

Im Grunde meines Herzens weigere ich mich, schlecht vom Menschen zu denken. Ich habe es selbst immer wieder erlebt, ich kenne so viele Beispiele dafür, dass Menschen gut zueinander sind, bereit einander zu helfen und in schwierigen Situationen beizustehen. Das alles geschieht permanent, sobald Menschen einander wahrnehmen, als ihresgleichen, als Menschen, die Bedürfnisse haben, die aufeinander angewiesen sind, denen einen freundlicher Umgang mit einander guttut. Natürlich weiß auch ich, wozu der Mensch fähig ist. Auch mir stehen die Gräueltaten vor Augen, mit denen der Mensch seinesgleichen in die Folter- und Gaskammern getrieben hat, die Ströme von Blut, die die Menschheitsgeschichte durchziehen. Auch ich nehme die zunehmende Verrohung wahr, die die öffentliche Medienkommunikation durchzieht und bin erschrocken über den Hass, der aus den Kommentaren im Internet spricht. Ich muss aber auch zugeben, dass ich selbst zunehmend teilnahmslos reagiere auf die Nachrichten über Bombenterror und Kriegstote in Syrien, im Irak, im Jemen, an vielen Orten, ganz in der Nähe, auch in Europa. Ich bin entsetzt. Ich finde das furchtbar. Und ich empfinde die Hilflosigkeit angesichts der offensichtlichen Übermacht des Bösen.

Dennoch widerstrebt es mir zutiefst, zu sagen, so ist er eben, der Mensch, böse von Jugend auf. Als Theologe weiß ich zwar, dass bestimmte christliche Lehrtraditionen dieser Auffassung von der abgrundtiefen Sündhaftigkeit des Menschen Ausdruck gegeben haben. Aber in keiner christlichen Theologie ist die Behauptung von des Menschen Unverbesserlichkeit das letzte Wort über ihn. Christliche Theologie sieht ihn letztlich als einen solchen, der dazu bestimmt ist, jene Güte zu erlangen, die zu verwirklichen ursprünglich Gottes Absicht mit ihm war.

Vielleicht fehlt uns tatsächlich nichts mehr, als dass wir – wie Martin Luther es einmal ausgedrückt hat – nie eine Kreatur recht angesehen haben. Sobald wir das nämlich tun, sehen wir unser aller Bedürftigkeit, unsere Angewiesenheit aufeinander, dann kann es sogar geschehen, dass wir Liebe zueinander empfinden, ein Wohlwollen dem anderen gegenüber. Das ist es, was wir zur Rettung des Menschlichen brauchen, dass wir zu dem stehen, was uns als Menschen miteinander verbindet. Es ist so etwas wie eine gefühlsbasierte Einsicht in die conditio humana: dass wir endliche, begrenzte, aufeinander angewiesene Lebewesen sind. Ja, wir wissen, was gut ist. Wir wissen, dass dazu in erster Linie die Achtung voreinander und die Rücksichtnahme füreinander gehören, was Kritik, Auseinandersetzung, Streit überhaupt nicht ausschließt.

Wer die Frage stellt: Warum ist es gut, gut zu sein? erwartet als Belohnung fürs Gutsein irgendwie eine Art Glücksgefühl, eine innere Befriedigung. Aber lässt sich Gutsein durch diesen „Nützlichkeitsaspekt“ wirklich fördern?

Ich glaube wirklich, dass fast alle Menschen gut sein wollen, da fast jeder Mensch genau die eigene Bedürftigkeit und Angewiesenheit von früh auf erfährt. Insofern läuft vermutlich, wenn wir selbst Gutes tun, die Erwartung immer mit, dass wir, sofern wir selbst in Not geraten, von anderen Gutes erwarten können. Ich würde diese Erwartung von Gegenseitigkeit aber nicht als bloßes Nützlichkeitsdenken abwerten. Damit wir an unserem guten Willen festhalten und angesichts der vielen inneren und äußeren Widerstände nicht zu schnell resignieren, müssen wir den Sinn unseres Handelns unterstellen und auch auf Gegenseitigkeit rechnen können. Kein Mensch hält seinen Willen zum Guten durch, wenn er permanent die Erfahrung machen muss, dass sein Gutsein von anderen ausgenutzt wird, er selbst letztlich sogar den Schaden davon hat. Unsere Bereitschaft, anderen mit Wohlwollen und Hilfsbereitschaft zu begegnen, erlischt, wenn wir den Eindruck gewinnen müssen, dass wir in einer Welt leben, in der es total ungerecht zugeht.

 

Niemand wird rundum gut sein können oder auch nur für andere gut leben wollen. Das Misslingen des Guten, auch das Falsche und Böse, muss als Teil des menschlichen Lebens anerkannt werden. Aber das zu sehen setzt Nachdenklichkeit, Reflexion, voraus. Könnte man nicht im Anschluss an Hannah Arendt sagen: Wer gut sein will und gut leben will, muss vor allem eins leisten: nämlich nachdenken?

Wir kennen die eher verächtlich gemeinte Rede vom „Gutmenschentum“. Ich mag sie eigentlich nicht, weil sie suggeriert, es mache sich jemand, der gut sein und Gutes tun will, unlauterer Absichten verdächtig. Aber diese Redensart entspringt vermutlich der Beobachtung, dass Menschen, obwohl sie durch ihr Tun aktuell Gutes bewirken, zugleich gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse verfestigen helfen, die auf lange Sicht den betroffenen Menschen überhaupt nicht gut tun. Denken wir nur an die kritische Sicht, die wir inzwischen auf das Werk Albert Schweitzers in Lambarene oder das von Mutter Theresa in Kalkutta werfen. Dies eben deshalb, weil sie Menschen in Not zwar geholfen haben, aber gegen die kolonialen Machtstrukturen und imperialen Ausbeutungsverhältnisse, die die Mehrheit der Menschen dort weiterhin in der Armut belassen haben, in gar keiner Weise vorgegangen sind.

Unser Wille zum Tun des Guten lebt von unserem Zutrauen in die Kraft des guten Willens, die in uns ist. Aber das Vertrauen auf diese Kraft darf nicht mit politischer Blauäugigkeit einhergehen. Gerade ungerechte gesellschaftliche Strukturen und verzerrte Machtverhältnisse bringen immer auch Menschen hervor, die zur Erhaltung ihrer Macht vor nichts zurückschrecken. Umgekehrt ist es so, dass die, die aufgrund der ungerechten Strukturen und des so ungleich verteilten Reichtum ausgeschlossen und benachteiligt werden, (verständlicherweise) in Hass, Gewalt und Krieg ihre letzte Zuflucht sehen.

Die Lage ist unübersichtlich und die Verhältnisse sind kompliziert. Unser guter Wille braucht immer auch die politische Analyse, ja, das „Nachdenken“, die Abschätzung der Folgen unseres Handelns. Doch wo keine guter Wille ist und kein Zutrauen, dass es auf alle Fälle gut ist, gut sein und Gutes tun zu wollen, ist alles andere vergeblich und letztlich zu gar nichts nütze.

Copyright: Prof. Wilhelm Gräb

Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie. Abschiedsvorlesung von Prof. Wilhelm Gräb, Berlin

Am 13. Juli 2016  hat Professor Wilhelm Gräb seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität Berlin gehalten; er war dort Professor für Praktische Theologie von 1999 bis 2016. Seine theologischen Interessen gehen weit über ein vermeintlich enges Feld praktischer Theologie hinaus. Nicht nur als Schleiermacher-Spezialist hat er einen guten Ruf. Vor allem aber versteht er sich als Erneuerer der liberalen Theologie: Sie ist eine zeitgenössische Form religiösen Denkens, die alle enge Dogmatik überwindet und sich auch als Kultur-Hermeneutik versteht.

Den LeserInnen dieser website (man denke an die zahlreichen Interviews mit ihm) und auch den Teilnehmern der religionsphilosophischen  Salons in Berlin ist Wilhelm Gräb gut bekannt und ein geschätzter Gesprächspartner, der religiöse Dimensionen entdeckt und beschreibt inmitten des Lebens. Wir freuen uns, dass Prof. Gräb seine Abschiedsvorlesung schon heute zugänglich macht.

Das copyright liegt bei Prof. Wilhelm Gräb.

Wilhelm Gräb:

Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie

Abschiedsvorlesung am 13.7.16

Die Theologie ist als Ganze, in allen ihren Disziplinen, der Lösung einer praktischen, ins Leben greifenden Aufgabe zugeordnet. Das hat ihr Friedrich Schleiermacher, mein Gewährsmann auch heute Abend, ins Stammbuch geschrieben. Deshalb will ich als Praktischer Theologe etwas zum Ganzen der Theologie und ihrem Lebensbezug sagen.

Und darum geht es mir, zu sagen, warum es sich lohnt, die Theologie zu betreiben, oder etwas bescheidener formuliert, mir selbst wichtig war und immer noch ist. Deutlich machen möchte ich, dass und wie die Theologie es mit grundlegenden Lebensfragen zu tun hat, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und was das Ganze überhaupt soll. Eine akademische Frage ist das ja gerade nicht. Vielleicht wird sie deshalb von der Theologie, die darauf bedacht ist, und auch bedacht sein muss, in den Raum der Wissenschaft zu gehören, in der Regel nicht direkt gestellt, geschweige denn bearbeitet. Die Sinnfrage gehört jedoch zu unserem bewussten Leben und sie berührt dort, wo sie aufs Ganze geht, immer auch die religiöse Dimension humaner Selbst- und Weltdeutung. Das macht sie zu einem vorrangigen Thema einer auf unser Leben bezogenen Theologie. Die Antworten, die die Menschen auf diese Frage geben, sowie die Reflexion auf die Bedingungen, die sie in unserem Lebensvollzug hervortreten lassen, machen sie sehr wohl zu einer zentralen Frage auch der wissenschaftlichen Theologie. Die Sinnfrage verweist darüber hinaus auf eine kulturelle Präsenz des Religiösen, die weit über die Kirchen und Religionen und die durch sie regulierten religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse hinausgeht.

Ich werde so vorgehen, dass ich in einem ersten Abschnitt am Beispiel der neuerlich belebten Debatte um eine „Öffentliche Theologie“ zeige, wie die Theologie tatsächlich auf breiter Front Fragestellungen aufnimmt, die ins Leben greifen und in ihrer nicht bloß kirchlichen, sondern gesellschaftlichen Relevanz erkennbar sind. Solchem Verlangen steht freilich bislang zumeist ein kirchlich-doktrinal verengtes Verständnis der Theologie und auch ein fortgesetztes Denken in der säkularen Unterscheidung von Kirche und Welt entgegen. Der Kritik der säkularen Unterscheidung bzw. der Aufforderung zur Wahrnehmung der Präsenz des Religiösen in der Lebenswelt gilt dann mein 2. Abschnitt. In einem 3. Abschnitt zeige ich am theologischen Reformationsgedenken, wie schwer die Theologie sich eben damit tut, die Präsenz der Religion im heutigen Leben wahrzunehmen. Man will zwar die Gegenwartsbedeutung der Grundeinsichten der Reformation aufzeigen, indem man den Bezug zu heutigen „Lebensfragen“ herstellt, verkennt aber die religiöse Dynamik, die darin steckt, dass in der modernen Kultur diese Lebensfragen zu radikalen, auf Ganze gehenden Sinnfragen werden. Im 4. Teil versuche ich dann abschließend zu skizzieren, wie eine Theologie für mich aussieht, die ihre Aufgabe in der Lebenssinndeutung erkennt. Es wird der Typ einer Theologie vorgestellt, die man immer noch oder wieder eine liberale Theologie nennen sollte.

 

  1. Öffentliche Theologie

Neuerdings macht eine „Öffentliche Theologie“, auch international, eine „Public Theology“, von sich reden. Sie markiert in einem signifikant noch einmal erhöhten Ton den Anspruch der Theologie, Richtungsweisendes in den großen, die gesellschaftlichen Debatten bewegenden Lebensfragen zu sagen zu haben. Unverkennbar ist das Bestreben, die Theologie als ein Kultur, Politik und Gesellschaft adressierendes Unternehmen vorstellig zu machen.

Doch wie unglücklich sie dabei bislang vorgeht, dafür liefert der Beitrag des Ratsvorsitzenden der EKD, Heinrich Bedford- Strohm, im jüngsten Heft der in protestantischen Kreisen recht weit verbreiteten Monatsschrift „Zeitzeichen“ ein eindrückliches Beispiel (1). Die öffentliche Theologie stellt er, unter Berufung auf Bonhoeffer, als eine Theologie vor, die beansprucht, auf der Basis einer durchs kirchliche Bekenntnis affirmierten Glaubensüberzeugung, der „Welt“ Richtungsweisendes zu sagen habe. Die „Welt“, das ist die pluralistische Gesellschaft. Sie steht für die Öffentlichkeit, an die die Theologie sich mit ihren Stellungnahmen richtet. Diese Öffentlichkeit wird ihres Pluralismus zum Trotz als eine säkulare Welt, der die Kirche wächteramtlich gegenübersteht, aufgefasst. Weder wird der gesellschaftliche Pluralismus als ein auch religiöser angesprochen, noch gar der ungeheuren Brisanz, die die Religionsthematik gerade neuerdings in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gewonnen hat, Erwähnung getan. Vom Christentum bzw. dem Protestantismus und deren kultureller Präsenz, von deren Einfluss auf die existentiellen, ethischen und politischen Entscheidungsfragen der Gesellschaft, ist ebenfalls nicht die Rede. Stattdessen wird ein steil dogmatisch gefasster christlicher Glaube in Ansatz gebracht. Er ist die Sache der Kirche und ihres Sendungsauftrags an die „Welt“. Im Grunde formuliert die Kirche durch ihre Amtsträger jene Verlautbarungen, mit denen sich dann die „Öffentliche Theologie“ an die als säkular titulierte Gesellschaft und ihre Entscheidungsträger wendet, in prophetischem Gestus natürlich. Ob sie dabei Dietrich Bonhoeffer wirklich auf ihrer Seite hat, möchte ich, bei allem anderen, das mir diese Art „Öffentlicher Theologie“ problematisch macht, bezweifeln. Ich erinnere dazu hier jetzt nur an die Kritik, die Bonhoeffer an dem von ihm selbst so titulierten „Offenbarungspositivismus“ Karl Barths geübt hat, mit dem Hinweis: „An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch -, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich gestellt und sich selbst überlassen, das ist der Fehler“ (2).

Das ist der Fehler. Es ist der Fehler nicht nur der sog. „Öffentlichen Theologie“. Es ist der Fehler aller die säkulare Unterscheidung von Kirche und Welt diastatisch erweiternden Theologie. Es ist der Fehler aller die hoch ambivalente Präsenz des Religiösen in der Gesellschaft übersehenden bzw. nicht Ernst nehmenden Theologie. Denn eine solche Theologie wird immer mit kirchlich-statuarischen Vorgaben operieren, von dogmatischen Setzungen her denken und mit all dem dann eine ihr verständnislos gegenüber stehende „Öffentlichkeit“ traktieren.

Um nicht missverstanden zu werden, ich habe wahrlich nichts gegen das Bemühen der Theologie, eine öffentliche Theologie sein zu wollen. Im Gegenteil. Aber dieses Bemühen müsste von der Öffentlichkeit des religiösen Bewusstseins am Ort der Individuen ausgehen. Sie müsste sich von einem Religionsdenken her entwickelt, das die religiöse Dimension als zuge-hörig zur Kultur der Gesellschaft, ja zum Leben jedes einzelnen begreift. Sie musste die Religion verstehen als eine zwar ambivalente, aber gerade deshalb besonders ernst zu nehmende „Angelegenheit des Menschen” (3) wie das der Berliner Aufklärungstheologe Johann Spalding gemacht hat. Schon mit dem Titel seiner Schrift von 1797, „Die Religion, eine Angelegenheit des Menschen“ wollte Spalding darauf hinweisen, dass die Religion etwas jeden Menschen Angehendes ist. Wenn vom Christentum die Rede ist, so Spalding, möge von etwas die Rede sein, „was uns angeht, wobey wir etwas zu gewinnen oder zu verlieren glauben, wodurch folglich auch unser Wille, unsere Neigung, unser Herz in Bewegung gesetzt und angezogen wird.” (4)

Von Spalding stammt auch die für damalige Verhältnisse ungeheuer publikumswirksame Schrift mit dem Titel „Die Bestimmung des Menschen” (5) (1748). Darin hob der Berliner Aufklärungstheologe und Prediger an St. Nikolai hervor, dass dem Menschen nicht von einer höheren göttlichen oder weltlichen Instanz gesagt ist, weshalb er auf der Welt sei und wie er zu leben habe. Der Mensch müsse sich vielmehr selbst über seine Bestimmung Klarheit verschaffen, da er dazu fähig sei, sich im Denken über seine Stellung in der Welt und den Sinn seines Lebens zu orientieren.

Spaldings Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen nahmen die Gestalt einer Selbstbetrachtung an. Zu einem Leben, das aus der Kraft zur Selbstbestimmung geführt wird, ist der Mensch bestimmt. Die Gefahr, sich selbst zu verfehlen ist immer gegeben. Vorzuwerfen habe ich mir, meinte Spalding, aber nur dann etwas, „wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert zu wissen, warum ich da bin und was ich vernünftigerweise sein soll.” (6)

Menschen zu solcher Selbstüberlegung und zu einer aus ihr erwachsenden Selbstbestimmung zu befähigen, wird bei Spalding zur genuinen Aufgabe kirchlicher Predigt und Seelsorge. Die Kirche und ihre Religionslehrer, wie er die Pfarrer nannte, haben den Menschen nicht von oben herab zu sagen, was sie glauben sollen und wie sie zu leben haben, sondern sie zu einem eigenen religiösen und moralischen Urteil zu befähigen. Das ist nachzulesen in Spaldings Praktische Theologie, die ebenfalls einen trefflichen Titel trägt: „Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“ (1. Aufl. 1772 – 3. Aufl. 1791). (7)

2014 richtete unsere Theologische Fakultät einen Festakt aus, anlässlich des 300. Geburtsta-ges von Johan Spalding. Er fand in St. Nikolai, seiner einstigen Wirkungsstätte, statt. Ich ließ es mir damals, da ich als Prodekan ein Grußwort zu sagen hatte, nicht nehmen, der heutigen Berliner Kirche noch nachträglich dazu zu gratulieren, seinerzeit eines ihrer wichtigsten Ämter mit einem solchen fei denkenden Theologen besetzt zu haben.

 

  1. Kritik der säkularen Unterscheidung

Die offenbarungstheologisch motivierte Unterscheidung von Kirche und Welt unterläuft den Öffentlichkeitsanspruch der sog. „Öffentlichen Theologie“. Die Theologie auf Lebensfragen zu beziehen, die alle angehen, dem steht aber auch die in der Theologie immer noch anhaltende Bereitschaft entgegen, dem Säkularisierungsnarrativ zu folgen.

Die Säkularisierung wird zwar nicht mehr unbedingt mit dem fortschreitenden Verfall der Religion gleichgesetzt. Sehr wohl aber wird immer noch so von ihr erzählt, dass dabei eine bereichsspezifische Eingrenzung der Religion und damit auch dessen, wofür Theologie Zuständigkeit beanspruchen kann, vollzogen wird. Die Religion wird zu einer Angelegenheit der Religiösen, der Kirchen und Religionsgemeinschaften, erklärt. Die Theologie hat dann dort, wo die Gläubigen sich versammeln und ihren arkanen Übungen nachgehen, ihren Ausgangspunkt zu nehmen. Vom kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor wurde das „säkulare Zeitalter“ (8), das auch noch das unsrige sein soll, ausgerufen. Die zweifelhafte Wiederkehr der Religion wurde von Jürgen Habermas in die Rede von der „postsäkularen Gesellschaft“ (9) eingebracht. Beide verstehen die Religion als etwas, das man haben oder nicht haben kann. Sie ist eine Lebensoption unter anderen. Die säkular Vernünftigen brauchen sie nicht, jedenfalls nicht für sich selbst. Auf diese Gemeinsamkeit der beiden religionskulturdiagnostischen Positionen, will ich etwas eingehen, wie dann auch auf das, wodurch sie sich unterscheiden.

Eine postsäkulare Gesellschaft ist für Habermas eine solche, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft ein-stellt“ (10). Sie sieht sich zu einer unter Umständen positiv zu wertenden Wahrnehmung des Fortbestehens religiöser Gemeinschaften, mit dem sie nicht gerechnet hatte, veranlasst. Sie verlangt die Bereitschaft zur Verständigung von beiden Seiten, den religiösen wie den säkularen Bürgern. Sie verlangt von der säkularen Seite sogar, anzuerkennen, dass die Religion dem „Interesse“ entgegenkommen könne, „im eigenen Haus (dem, in dem die Säkularen wohnen, W.G.) der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (11). Das alles ändert jedoch nichts daran, dass auch in postsäkularen Gesellschaften die Religion eine Angelegenheit der, aus welchen Gründen auch immer, frommen Leute bleibt. Die religiösen Gemeinschaften mögen demnach fortbestehen, und wenn es hart auf hart kommt, auch die Säkularen an knapp werdende Sinnressourcen anschließen. Dafür gebührt ihnen die wohlwollende Duldung der ansonsten den demokratisch aufgeklärten Commensense“ (12) verwaltenden „säkularen Seite“ (13). Die säkulare Vernunft ist aus Gründen, deren sie in ihren eigenen Grenzen ansichtig werden könnte, eines Ausgriffs auf die religiöse Unbedingtheits- und Ganzheitsdimension von Sinn jedoch nicht bedürftig. Letztlich bleibt die Fähigkeit, ohne Religion auszukommen, ein Vorzug, den demokratische Gesellschaften, soweit es nur geht, zur Warnung des inneren Friedens nutzen sollten.

Auch Charles Taylor konstatiert die säkulare Entzauberung der Welt angesichts der die Moderne in allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, besonders natürlich in Wissenschaft und Technik vorantreibenden Rationalität. Er beobachtet allerdings ebenso das Aufleben „neuer Formen des Religiösen“ (14). Sie konnten und können aber nicht verhindern, dass wir in ein „säkulares Zeitalter“ eingetreten sind. Dieses ist dadurch markiert, dass dem Leben der Menschen die selbstverständliche Grundierung in einer alles bestimmenden göttlichen Wirklichkeit verloren gegangen ist. Die große Mehrheit der Menschen hat, so meint Taylor, den Glauben an Gott verloren und aufgehört, die Religion zu praktizieren. Der religiöse Glaube ist zu einer Option neben anderen geworden ist. Überraschender Weise ist der Glaube für Taylor jedoch genau diejenige Option, die es ermöglicht, sein Leben in einer von Vertrauen und Hoffnungskraft getragenen Sinnerfüllungserwartung zu führen.

Was veranlasst Taylor dennoch dazu, ein ganzes Zeitalter, dasjenige, das wir als das unsere anzusehen haben, als ein säkulares anzusehen, unaufhaltsam dem Verfall der Religion und des Glaubens ausgesetzt? Ich meine, es liegt bei ihm ein Verständnis vom Glauben vor, das diesen an doktrinäre Vorgaben und deren kulturelle eingespielte Übernahme bindet. Die reflexive Selbstthematisierung des Glaubens hingegen, wodurch er als ein von den Glaubenden selbst vollzogener Akt der Sinndeutung zu stehen käme, gilt ihm bereits als Abfall vom Glauben. In der Sehnsucht nach „Fülle“, in jenem „Gefühl der Fülle“ (15), die er in den „neuen Formen des Religiösen“ ausmacht, kann er keinen rechten Glauben erkennen.

Von einem säkularen Zeitalter, das Taylor mit der Reformation beginnen und das er bis auf uns Heutige sich erstrecken lässt redet Taylor am Ende vielleicht doch nur deshalb, weil er feststellen muss, dass immer mehr Menschen den traditionellen Kirchenglauben nicht teilen, die theistischen Vorstellungen vom Göttlichen nicht mitmachen, und sich den Verpflichtungsansprüchen religiöser Institutionen entziehen.

In vormodernen Zeiten, in denen die Menschen nach Taylors Vorstellung noch glaubensstark in einer verzauberten Welt lebten, waren es die religiösen wie die weltlichen Autoritäten, die mit den Pflichten fürs Leben, die sie auferlegten, diesem gewissermaßen auch den Richtungssinn vorgaben. Sie vermittelten den Menschen das Gefühl, einen Platz im Leben zu haben und gebraucht zu werden. Es war die gottgefügte Ordnung, die das Leben der Individuen bestimmte und ihm seinen Sinn gab.

Doch diese Zeiten sind vorbei, zumindest bei uns und unseren Nachbarn: Heute muss jeder einzelne selbst seine Beziehung zum Leben finden und festlegen. Deshalb kann nun aber auch der religiöse Glaube nicht mehr die Form einer praktischen Anerkennung kirchlich vorgegebener Glaubenslehren und kirchlich verordneter Lebensformen annehmen. Die neuen Formen des Religiösen, die Charles Taylor würdigt, obwohl er in ihnen einen Ausdruck der entzauberten Welt der Moderne meint sehen zu müssen, zeigen sich in der Neuformatierung von Lebensstilen, von denen man sich Selbstfindung und eine gesteigerte Sinnerfahrung verspricht. Es gewinnt die gelebte Religion überhaupt jene Auffassung von sich selbst, wonach sie auf der Selbst- und Sinndeutungskompetenz der Individuen aufbaut. Die Teilnahme an der Kirche richtet sich dann ebenfalls nicht mehr nach deren Glaubens- und Verhaltenserwartungen, sondern ergibt sich aus Gelegenheiten, die sich in die Beziehungsmuster und Netzwerke der lebensweltlich vermittelten religiösen Kommunikation einweben.

In den Netzen der Lebenswelt findet religiöse Sinnkommunikation statt, aber nur für die, die Augen haben, zu sehen. Erlauben Sie mir dazu hier noch einen Hinweis aus der empirischen Kirchen- und Religionsforschung. Die jüngste, von der EKD veranlasste Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft, dokumentiert in ihrem Auswertungsband viele Interpretationen der vorliegenden Daten (16). Die meisten kommen angesichts des stetig anhaltenden Mitgliederverlustes, den die evangelische wie ja auch die katholische Kirche zu verzeichnen haben, zu dem Ergebnis, dass die abnehmende Kirchenbindung auch eine Abnahme des Interesses an religiösen Fragen zur Folge habe. Sie folgenden immer noch der Säkularisierungsthese. Es wurde im Rahmen der 5. KMU aber auch eine Netzwerkerhebung durchgeführt. Sie war von der Praktischen Theologin Birgit Weyel angeregt worden, und wurde von ihrem Team dann auch ausgewertet (17).

Diese Netzwerkerhebung betrachtete die Kirchenmitglieder, in welchem engeren oder distanzierteren Verhältnis sie zur Kirche auch stehen mögen, als Akteure ihrer Selbstdeutung. Und die Auswertung der Daten kann plausibel zeigen, dass die Menschen im Nahbereich der ihnen vertrauten Sozialbeziehungen das zentrale Thema der Religion genau mit dem Gespräch über den Sinn des Lebens immer wieder aufnehmen.

Es ging hier erstmals in das Forschungsdesign einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung die religionstheoretisch höchst folgenreiche Überlegung ein, dass Menschen die von ihnen selbst im religiösen Bezug verstandene Sinnfrage in ihre lebensweltlichen Kommunikationen einbeziehen, auch wenn sie sie oft genug im Hintergrund der Aufmerksamkeit zu belassen. Es besteht ja auch im gewöhnlichen Gang des Lebens nicht ständig die Veranlassung, sich mit der aufs Ganze gehenden und damit ins Religiöse ausgreifenden Sinnfrage zu beschäftigen. Dennoch könnte es sein, dass die religionsempirische Forschung ihr bislang zu wenig nachgegangen ist, beziehungsweise, was schwerer wiegt, die Sinnfrage selbst missverstanden hat. Es könnte sein, dass man über die Sinnfrage genau deshalb in kirchen- und religionssoziologischen Untersuchungen leicht hinweggegangen ist, weil man meinte, sie sei theologisch unerheblich oder, auch das hat es gegeben, theologisch illegitim.

So sehr es die Aufgabe einer aufgeklärten Theologie ist, verständlich zu machen, dass und wie die gelebte Religion sich in Gestalt der Lebenssinnfrage artikuliert, ist es die Aufgabe einer theologisch aufgeklärten empirischen Religionsforschung, für die aus dem gelebten Leben kommenden religiösen Sinndeutungsaktivitäten die Augen zu öffnen. Genau darauf zielte die in der 5. KMU eingegangene Netzwerkerhebung.

Der netzwerktheoretische Ansatz der 5. KMU bietet somit bedeutsame Ansatzpunkte, um das Vorkommen religiöser Kommunikation weit hinaus über die Beteiligung am gemeindlichen Leben, die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst und die ausdrückliche Zustimmung zu den kirchlichen Bekenntnissätzen zu betrachten. In ihren kirchentheoretischen Konsequenzen setzt sie damit ein Gegengewicht zu einer solchen Auffassung von Kirche und Gemeinde, die diese primär als Institutionen christlicher Verkündigung und Lehre begreift. Die religions- und kirchentheoretisch wichtigste Innovation wäre genau die, dass die Kirchenmitglieder als eigenständige, souveräne Akteure ihrer religiösen Selbstdeutung aufgefasst werden.

Kirche und Gemeinde sind für die Kirchenmitglieder, – ich füge hinzu, für alle anderen erst recht – insbesondere dann bedeutsam, wenn sie an die in der Lebens- und Alltagswelt aufkommenden und dort von den Individuen auch selbsttätig artikulierten Lebenssinnfragen anschließen. Dass das gelingt, dazu bräuchte es dann aber auch eine Theologie, die die Lebenssinnfragen bei der Auslegung der biblischen, kirchlichen und theologischen Überlieferung im Blick behält.

 3.Wenn nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, welche Frage ist es dann? Ein Blick auf den EKD-Grundlagentext zum Reformationsjubiläum

Dass wir mit den „Grundeinsichten der Reformation“ heute nur dann etwas für uns selbst Grundlegendes anfangen können, wenn wir unsere eigenen „Lebensfragen“ an sie richten, das konstatiert sogar der jetzt schon in der 4. Auflage erschienene, auch im Internet abrufbaren Grundlagentext der EKD zum Reformationsjubiläum. Er trägt den Titel „Rechtfertigung und Freiheit“(18).

Dieser Text hat erklärtermaßen das Bestreben, die theologischen Grundeinsichten der Reformation in ihrer Relevanz für unsere Gegenwart herausstellen. Doch worin sollte sie liegen? Luther bewegte, so wird gesagt, die Frage nach dem gnädigen Gott. Unsere Frage ist das nicht mehr. Das wird erstaunlich schnell zugegeben. Welche Frage ist es dann? Dazu findet sich in dem ganzen Text dann nichts. Warum aber sollen wir uns mit den Grundeinsichten der Reformation beschäftigen, gar sie als große Errungenschaft feiern, wenn wir sowohl die Frage nicht mehr verstehen, aus der sie hervorgegangen waren, aber auch keine eigenen Fragen haben, die wir in ihrem Licht bearbeiten könnten?

Die heute die Menschen religiös bewegende Frage wird nicht nur nicht gefunden. Sie wird in diesem Text gar nicht gesucht. Es scheint zwar ein Gespür für die historische Distanz durch, die uns von den Denk- und Glaubenswelten der Reformation trennt. Wenigstens in Andeutungen werden wir darauf hingewiesen, dass es die im Rahmen der spätmittelalterlichen Bußtheologie nicht zu bewältigende Gerichtsangst war, die die Menschen auf die reformatorische Botschaft von der dem Glaubenden zuteil werdenden göttlichen Gnade hören ließ (19). Wie ist das heute. Auch wir haben Ängste. Aber nicht mehr vor dem zornigen Gott.

„Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, so heißt es rundweg, sind von der Art, dass sie „nicht so sehr von Ängsten vor einer Hölle nach dem Tode geprägt sind, sondern eher die Hölle auf Erden fürchten, die Menschen nur allzu häufig füreinander sind (Jean Paul Sartre).“(20)

Auch jetzt wäre vielleicht noch eine Gelegenheit gewesen, die religiöse Tiefendimension dieser modernen Höllenangst auszuloten. Doch stattdessen bescheidet dieser Text sich dabei, „die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu zu plausibilisieren“ (21). Was Rechtfertigung heute bedeutet, möchte er an den im kirchlichen Kontext „häufiger verwendeten“ „Begriffen“ wie „Liebe“, „Anerkennung“, „Vergebung“ und „Freiheit“ klären (22) Nur, was dabei herauskommt ist alles andere als ein uns heute angehendes Verständnis göttlicher Rechtfertigung. Die aufgeführten Rechtfertigungserfahrungen sind vielmehr alle von der Art, dass sie im zwischen-menschlichen Bereich unserer Sozialitätsbeziehungen spielen. Die können wir uns gegenseitig verschaffen, dazu brauchen wir keinen Gott.

Im Grunde hat bereits auch wieder das Eingeständnis, wonach wir in einer säkularen, „entchristlichten“Welt leben, das der Grundlagentext der EKD zum Reformationsjubiläum in seiner Eröffnung doch tatsächlich meint machen zu müssen, das ganze Unternehmen einer Vergegenwärtigung der Grundeinsichten der Reformation im Ansatz torpediert. Es gelingt ihm auch aufgrund der leichtfertigen Übernahme der Säkularisierungsthese nicht, das „religiöse Ereignis“ (23), das die Reformation, seinen eigenen Worten nach, einst war, in seiner religiösen Gegenwartsbedeutung verständlich zu machen.

Sofern man meint eingestehen zu müssen, dass die heutigen Menschen die Frage nach dem „gnädigen Gott“ nicht mehr stellen (24), müsste man eben danach Ausschau halten, wie sich das Religiöse in der heutigen Kultur aufbaut. Zum Beispiel, wie es etwa Paul Tillich in einem Vortrag von 1929 getan hat: „Welches ist die (religiöse) Frage des modernen Menschen?“, so setzte er ein, um dann zu sagen: „Es ist nicht die Frage des antiken Menschen, auch des spätantiken der christlichen Zeit – die Frage nach der Erlösung. Es ist nicht die Frage des griechisch-russischen Menschen – die Frage nach dem Leben, das den Tod überwindet. Es ist nicht die Frage des Mittelalters nach der höheren Natur, in der diese Natur aufgehoben und vollendet ist. Es ist nicht die Frage nach dem gnädigen Gott, die der Protestantismus stellte, sondern es ist die Frage nach dem Sinn.“ (25). Und, fährt Tillich fort: „Nun ist das nicht so gemeint, als ob diese Fragen alle gegeneinander stünden. In der Frage nach dem Sinn des Seins, die der moderne Mensch stellt, sind irgendwie die anderen Fragen enthalten, wie umgekehrt in jeder der anderen Fragen die Frage nach dem Sinn irgendwie enthalten ist.“ (26)

Wir können dem bei Tillich jetzt nicht weiter nachgehen. Tillich jedenfalls versuchte mit der Sinnfrage die Frage auszumachen, auf die hin die christliche Erlösungsbotschaft vom modernen Menschen als eine ihn angehende Botschaft müsste gehört werden können.

  4.Lebenssinndeutung als Aufgabe der Theologie, wie ist das nun zu verstehen?

Gewiss nicht so, dass die Theologie von oben herab, gar als Sprachrohr der Kirche, über den Sinn des Lebens zu belehren hätte. Die Sinnfrage ist nicht von der Art, dass sie sich im doktrinalen Stil verhandeln ließe. Was es heißt, an der Fülle des Lebens teil zu gewinnen oder das Gefühl ertragen zu müssen, dass das Leben jeden Inhalt verloren und keine Bedeutung mehr für mich hat, kann nur so dargestellt werden, dass die Innenperspektive der dies so und nicht anders Erlebenden eingenommen wird. Man muss Erzählungen von diesen Erfahrungen anfertigen und versuchen, dies so zu tun, dass sie exemplarischen Charakter gewinnen. Dann werden sie für andere nachvollziehbar und erlauben den Rückschluss auf selbst Erlebtes.

Nun ist die Theologie selbst keine Erzählung. Die Theologie kann aber zu der Auffassung vom narrativen Charakter des Religiösen verhelfen. Dann erhebt sie keinen mit Glaubenssätzen verbundenen propositionalen Wissensanspruch. Sie befähigt vielmehr insbesondere die im Kirchendienst professionell Tätigen zu religiöser Deutungs- und Kommunikationskompetenz. Dazu gehört, dass sie zur Einsicht in die narrative Verfasstheit von Lebenssinn anhält und zu einem ebenso verantwortungsvollen wie kritischen Umgang mit den zumeist bereits narrativ verfassten Sinnreflexionen der biblischen, kirchlichen und kulturellen Überlieferungen befähigt. Die Sinn-deutungspotentiale der Tradition können zu Orientierungsinstrumenten in der je individuellen Selbstdeutung werden. Die Theologie beansprucht damit nicht, die Lebenssinndeutung selbst übernehmen zu können. Sie gibt keine direkten Antworten auf die Sinnfrage, sondern versucht Menschen, die in den Erfahrungen ihres Lebens vor diese Frage geraten, zu helfen, besser mit ihr umgehen zu können.

Dazu gehört selbstverständlich die historisch-kritische Interpretationsarbeit an den biblischen und kirchlich-theologischen Überlieferungen. Gerade die historisch-kritische Arbeit der Theologie macht ja den Charakter der religiösen Texte und Symbole als narrativer Orientierungsinstrumente bewusst. Sie zeigt, um ein prominentes Beispiel zu bringen, dass die Schöpfungserzählung auf den ersten Seiten der Bibel nicht einen mit der Evolutionstheorie in unauflösliche Widersprüche verwickelnden Tatsachenbericht gibt. Sie ist ein narratives Deutungsmuster, wonach wir in ein evolutionäres Natur- und Geschichtsgeschehen einbezogen sind, für dessen guten Fortgang, seine Bewahrung und Erhaltung wir zugleich eine besondere Verantwortung tragen. Diese Erzählung macht der Deutung des Sinns unseres eigenen Daseins eine starke Vorgabe. Sie stellt ermutigende Motive bereit, darauf zu vertrauen, dass wir in unserer Liebe zum Leben dessen gewiss sein können, auf keinen Fall vergeblich zu leben. Nur weil es in religiösen Texten um solche aufs Ganze gehenden Sinndeutungen geht, erklären sich ja auch die heftigen Weltanschauungskonflikte, in die ihre historisch-kritischen Bearbeitung und ihr symbolisches Verständnis bis heute immer wieder hineinführen. Umso wichtiger ist es deshalb, erkennbar zu machen, dass das historisch-kritische und symbolische Verständnis der biblischen Texte sie gerade nicht ihrer Sinn stiften Kraft berauben muss. Im Gegenteil, sie erweitern den Raum möglicher Interpretationen, in die wir uns existentiell selbst einbezogen finden können. Neue Lesarten biblischer Texte wie dann der grundlegenden Symbole des Christentums schaffen neue Motivationen für unseren Lebensglauben stärkenden, neue Impulse, die zur Hoffnung ermutigen und zur Liebe antreibenden .

Wir finden das ganze Spektrum menschlicher Gefühle und Handlungen in der Bibel ausgedrückt. Das Buch Hiob konfrontiert uns sogar mit einer Erzählung, in der zugleich ein theologischer Streit darüber ausgefochten wir, wie die Existenz Gottes mit dem sinnlosen Leiden soll vereinbar sein können. Wer dem Gespräch Hiobs mit seinen Freunden folgt, kann durchaus zu der Einsicht finden, dass es auch Situationen im Leben gibt, die nicht nach neuen Sinnerzählungen verlangen, sondern in denen es zu akzeptieren gilt, dass der Sinn nicht da ist, dass er sich entzieht. Doch gerade dann wird ja die Frage mächtig, ob er nicht doch auch in der Erfahrung des Nicht-Sinns noch da ist, in Gestalt der Klage und Anklage, in der Hoffnung auf Überwindung, in der Rebelli-on gegen Gott.

Versteht man die biblischen Texte in ihrer symbolischen Ausdrucksfunktion, dann tritt hervor, weshalb sie für religiöse Kommunikations- und Bildungsprozesse unverzichtbar sind. Ihre Geschichten gewinnen exemplarischen Charakter. Sie reichern individuelle Erfahrung mit allgemeiner Bedeutung an, die andere Menschen in anderen, aber vielleicht doch vergleichbaren Situationen ebenfalls auf sich beziehen können. Sie formten und formen unzählig viele christliche Erzählgemeinschaften. Sie sind die Basis der kirchlichen Verkündigung in allen ihren Formen und damit der durch diese sich kontinuierenden christlich-religiösen Deutungskultur.

Die text- und symbolhermeneutische Arbeit, die jede Theologie an den biblischen, kirchlichen und theologie-geschichtlichen Überlieferungen vornimmt, muss sich heute allerdings religions- und kulturhermeneutisch enorm erweitern. Die Geschichten, Utopien und Fiktionen, die die narrativen und symbolischen Orientierungsinstrumente für die Deutung des Sinns im je eigenen Leben bereitstellen, finden viele in Kunst und Literatur, keineswegs nur dann, wenn diese biblische Stoffe verarbeitet – was sie allerdings nach wie vor häufig tun. Die Literatur und der Film, die bildende Kunst, das Theater und die Musik, sie alle treten längst auch für den Glauben an das Leben ein. Ihre Werke, Inszenierungen und Aufführungen legen unsere elementaren Lebenssinnfragen frei. Sie bewahren ebenso vor vorschnellen, leichtfertigen und allzu formelhaften Antworten. Es ist heute vielleicht gerade die Kunst, die durch die Verstörungen, die sie provoziert, auch die Skepsis aufnimmt, die wir Heutigen gegen die ins Metaphysische ausgreifenden Antworten auf die Sinnfrage entwickelt haben. So kommen die Literatur und die Dichtung, der Film und das Theater dem Aufbau des Religiösen in heutigen Lebenswelten auf die Spur und tragen selbst zu diesem bei. Sie tun dies im spielerisch-kreativen Ausprobieren verfremdender Perspektiven auf das Leben. Sie tun dies, indem sie uns auf Distanz zu uns selbst bringen, einen anderen Blick einnehmen lassen, ja überhaupt uns darauf aufmerksam werden lassen, dass die Wirklichkeit unseren standortgebundenen Blick auf sie immer einschließt. Kunst und Literatur brechen verengte Sinnhorizonte auf, stellen andere Möglichkeiten einer Ausrichtung des Lebens vor, versetzen in Gefühle und bringen auf Gedanken, die das eigene Leben fremd und in seiner abgrundtiefen Sinnbedürftigkeit oft erst spürbar machen. Die Literatur, der Film, die Kunst, sie befriedigen nicht unsere Sinnbedürfnisse. Sie halten eher, so muss man wohl sagen, die Wunde des Sinns offen. Deshalb sind sie es aber auch, die den religiösen Diskurs recht eigentlich heute öffentlich führen. Und eine Theologische Fakultät, die einen Master „Religion and Culture“ anbietet, zeigt damit, dass sie das gemerkt hat.

Dennoch dürfte die Abschwächung der Differenz zwischen der Bibel und anderer großer Litera-tur, dann zwischen Religion, Kunst und Kultur, dürfte schließlich die grundlegende Zuordnung der Theologie zu den Sinndeutungsbedürfnissen der Menschen theologisch immer noch problematisch erscheinen. Hat die Theologie nicht mit Gott und seiner Selbstoffenbarung zu beginnen oder, wenn schon nicht zu beginnen, doch wenigstens dort anzukommen? Erlauben Sie mir, dass ich auf diesen Einwand gegen Ende dieser Vorlesung mit den Sätzen aus dem theologischen Traktat zur Aktualität der mit Karl Barth reformulierten paulinischen Rechtfertigungslehre von Martin Walser (27) antworte.

„Als ich den Roman Muttersohn veröffentlichte, in dem es um Glauben geht, Glauben als eine menschliche Fähigkeit, da wurde das öfter mehr oder weniger freundlich mit meinem Alter in Zusammenhang gebracht. So, als sei ich jetzt halt so weit. Ich meine aber, Religion sei eine Ausdrucksart wie andere, wie Literatur, Musik, Malerei. Ich lese Religion als Literatur. Dass Texte, die für uns >>nur<< noch zur Religion gehören, Dichtung sind, um es im Betriebsdeutsch zu sagen: große Dichtung, da kann man doch noch meinen. Die Psalmen. Das Buch Hiob. Das Weihnachtsevangelium. Usw. usw. Andere lassen mich wissen: Religion, das war einmal. Es ist eine her unglückliche Entwicklung, dass Religion etwas geworden ist, was nicht mehr ohne Kirchliches gedacht wird. Wer sich heute fast instinktiv erhaben fühlt über alles Religiöse, weiß vielleicht nicht, was er verloren hat. Polemisch gesagt: Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei. Sachlich gesagt: verarmt zum Rechthaben.“ (28) Und etwas weiter unten: „Wenn hier jemand abschaltet, weil es Gott für ihn nicht gibt, also die Frage, ob Gott gerecht sei, für ihn ein Nullproblem ist, zu dem sage ich vorläufig: Lesen wir’s als Roman. Madam Bovary und Iwan Karamasow gibt es auch nicht, und trotzdem wiegen und wägen wir in unserem Inneren, was sie tun und sagen und warum sie es tun und sagen.“ (29) …„Wer sagt, es gebe Gott nicht, und nicht dazu sagen kann, dass Gott fehlt und wie er fehlt, der hat keine Ahnung. Einer Ahnung allerdings bedarf es.“ (30)

Der Ahnung bedarf es, der Ahnung, dass Gott fehlt und wie er fehlt oder eben auch der Ahnung, dass und wozu wir Gott nötig zu haben meinen.

Aber, diese Frage setzte ich jetzt hinzu, ist die Ahnung, dass Gott fehlt und wir ihn brauchen, nicht in allen da? Ist diese Ahnung nicht da, genau in dem merkwürdigen Sinnvertrauen, aus dem unser Lebensmut kommt?

Trotz der beängstigenden Ungewissheiten, trotz des Ungeheuren, von dem wir wissen, dass es uns treffen kann und treffen wird, glauben wir doch an das Leben. Trotz der Misserfolge und Enttäuschungen, trotz Leid, Krankheit und Tod, lieben wir doch das Leben. Trotz der bedrohlichen Nebenfolgen, die wir mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und den unser Leben erleichternden und verlängernden Erfolgen der Technik verbunden wissen, hoffen wir auf und arbeiten wir für ein besseres Leben. Was trägt unser Lebenssinnvertrauen? Woher kommt dieser unversiegliche Lebensmut?

Sobald wir Antworten auf diese Fragen entwickeln, treten wir in die Arbeit der Theologie als Lebenssinndeutung ein. Dann wird unsere Rede von Gott zum Verweis auf den unbedingten Grund des Sinns, aus dem heraus wir unser Leben führen. Dann versuchen wir zu verstehen, dass und wie Gott der unbedingte Grund unseres Sinnvertrauens sein kann, auch dann noch, wenn wir ihn in den sinnverwirrenden Grenzerfahrungen unseres Lebens am dringendsten brauchen, aber doch das Gefühl uns erdrückt, dass Gott uns verlassen hat.

Nimmt die Theologie, ebenso, oder noch dringlicher und tiefer greifend, wie Literatur und Kunst, der Film und das Theater, die Fragen auf, die als aufs Ganze gehende Sinnfragen uns mitten im Leben entstehen, dann braucht sie heute um ihren Lebensbezug überhaupt nicht besorgt zu sein. Dann wird ihr auch keiner mehr vorwerfen, dass sie es in erster Linie mit selbst gemachten akademischen Fragen zu tun habe.

Dann setzt sie es sich aber auch nicht in erster Linie zum Ziel, auf der Basis von Schrift und Bekenntnis über Gott und den rechten Glauben an ihn zu belehren. Dann will sie vielmehr plausibel machen, dass die die Gottesahnung wachrufende Sinnfrage die Angelegenheit jedes Menschen ist. Dann sieht sie ihre Aufgabe darin, Menschen in religiöser Hinsicht, „ein Leben in semantischer Autonomie“ (31) zu ermöglichen, ein Ausdruck mit dem Michael Hampe (32) die lebenspraktische Absicht einer nicht-doktrinalen Philosophie beschrieben hat. In religiöser Hinsicht wäre dies, wie in allen Hinsichten, die uns wirklich angehen, ein Leben, das zur eigenen Deutung des Sinngrundes, von dem es sich getragen weiß, bereit und fähig ist. Dennoch gelingt autonome Sinndeutungsarbeit keinem beim einsamen Brüten über der Nasenspitze. Sie braucht den Austausch mit anderen. Sie braucht Räume der Begegnung. Zu solchen können auch Kirche und Gemeinde werden.

Eine nicht-doktrinale, eine liberale Theologie akzeptiert jedoch die Vielfalt der religiösen bzw. lebensphilosophisch sich artikulierenden Sinndeutungsperspektiven und Glaubensstandpunkte. Sie achtet zudem den Standpunkt, keinen sich religiöser Sprache bedienenden Bekenntnisstand-punkt einnehmen zu wollen. Sie will, dass diese Vielfalt sichtbar wird, weil sie sich von der Auseinandersetzung mit anderen Glaubensstandpunkten eine Klärung und damit auch Stärkung der je eigenen Überzeugungsgewissheit verspricht. Die Wahrheitsfrage klammert sie dabei nicht aus. Sie beansprucht nur nicht, diese von höherer Warte aus zu entscheiden. Eine liberale Theologie setzt darauf, dass sich allen, die wahrhaftig nach dem Grund der ihr Leben tragenden Sinngewissheit suchen, irgendwann und irgendwo auch die Wahrheit zeigen wird.

Quellenangaben:

1 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Fromm und politisch. Warum die evangelische Kirche die Öffentliche Theologie braucht, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 7 / 2016, 8-11.

2 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (hrg. Von Eberhard Bethge), München / Hamburg 2. Aufl. 1965, 137.

3 Johann Spalding, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Berlin 1797, 41806.

4 A.a.O. 3.

5 Johann J. Spalding, Die Bestimmung des Menschen. Die Erstausgabe von 1748 und die letzte Auflage von 1794, hrsg. von Wolfgang Erich Müller, Waltrop 1997 (Seitenangaben im Folgenden nach der Originalpaginierung).

6 a..a.O. 4.

7 Johann Spalding, Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung, Kritische Ausgabe, hrg. V. Albrecht Beutel, I,3, Tübingen 2002.

8 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main 2009; A Secular Age (Cambridge: Harvard University Press, 2007).

9 Cf. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001), Frankfurt am Main 2001, 9-34; dersb., Nachmetaphysisches Denken II: Aufsätze und Repliken, Berlin 2012.

10 Glauben und Wissen, a.a.O. 13.

11 A.a.O., 29.

12 A.a.O. 21.

13 A.a.O. 22.

14 Vgl. Charles Taylor, Varieties of Religion Today: William James Revisited (Institute for Human Sciences Vienna Lecture) (Cambridge: Harvard University Press, 2003).

15 Vgl. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, a.a.O. 18.

16 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm/Volker Jung (Hrsg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisie-rung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015

17 Christian Stegbauer/Franz Grubauer/Brigit Weyel: Gemeinde in netzwerkanalytischer Perspektive. Drei Bei-spielauswertungen, in: Bedford-Strohm/Jung, a.a.O., 400–434.

18 Vgl. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 4. Auflage, Gütersloh 2015.

19 A.a.O., 28.

20 A.a.O., 28f.

21 A.a.O., 29.

22 Ebd.

23 A.a.O., 11.

24 A.a.O., 14.

25 Paul Tillich, Nichtkirchliche Religionen (1929), in: Dersb., GW V, 13-31, 22.

26 A.a.O. 22f.

27 Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 2012.

28 A.a.O. 32f.

29 A.a.O. 35.

30 A.a.O. 32.

31 A.a.O. 423.

32 Vgl. Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Berlin 2014, 74.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von den Lebensfragen ausgehen: Das zentrale Projekt der Theologie. Interview mit Prof. Wilhelm Gräb

Theologie in Zeitgenossenschaft: Von den Lebensfragen der Menschen ausgehen

Ein Interview mit Prof. Wilhelm Gräb, Humboldt Universität Berlin. Im Juni 2016

Die Fragen stellte Christian Modehn

In einigen Wochen werden Sie als Professor für Praktische Theologie an der Humboldt Universität emeritiert. Der Form Ihrer Theologie, der liberalen Theologie und z.B. auch der Schleiermacher-Forschung, aber auch der Begegnung mit (süd-)afrikanischen Theologen, entspricht es, mehr auf künftige Aufgaben zu schauen als den Rückblick zu pflegen. Wenn man also die religiöse Befindlichkeit der Menschen in Deutschland betrachtet und vielleicht speziell in Berlin, dann fällt die zahlenmäßig starke Anwesenheit von Menschen auf, die sich als konfessions-“frei“ oder atheistisch bezeichnen. In welcher Beziehung sollte eine liberale Theologie, ein liberal denkender Christ, zu diesen Menschen stehen?

Eigentlich geht es mir nach wie vor darum, an einer Theologie zu arbeiten, in der Menschen als Menschen zum Vorschein kommen, unabhängig davon, ob sie sich selbst als Christen oder Atheisten, Protestanten oder Katholiken, Muslime, Buddhisten oder Esoteriker bezeichnen bzw. von anderen so bezeichnet werden. Denn die Religion, die für mich das Thema der Theologie ist, fasse ich als etwas auf, das konstitutiv zum Menschsein gehört. Sie ist für mich dort besonders im Spiel, wo wir fragen, was uns als Menschen ausmacht. Wir Menschen sind schließlich solche Wesen, die gar nicht umhin können, die Frage nach sich selbst zu stellen. Wir fragen, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen und worin sich uns die Zwecke unseres Daseins versammeln.

Das sind die elementaren Menschheitsfragen. Die Religionen haben Antworten auf diese Fragen entwickelt. Doch die Zeiten, in denen damit den sog. Gläubigen verbindliche, absolute Wahrheit behauptende Vorgaben gemacht wurden, sind längst vorbei. Dieser geistigen Lage trägt die liberale Theologie Rechnung. Sie geht von der religiösen Dimension als zugehörig zum Menschsein aus, behandelt aber die Glaubenslehre des Christentums als ein Deutungsangebot, das uns Lebensdienliches über uns zu verstehen gibt, das uns gut tut, aber auch in Freiheit angeeignet sein will.

Entscheidend für das Gespräch über die Religion und ob man sich selbst auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion versteht, ist der Austausch über die Plausibilität der Lebensdeutung, die eine Religion anbietet, ob diese mir einleuchtet und mir hilft, mein Leben gut zu führen.

Wenn man die Situation der Kirchen und Gemeinden betrachtet, da ist ein starkes Betonen von Traditionen und Rechtgläubigkeit zu beobachten. Was sagt eine neue liberale Theologie zu der Frage: Was ist denn wirklich dringend und absolut vorrangig in der Gestaltung von Kirche und Gemeinde, in der Lehre und im Leben?

Kirchen und Gemeinden täten gut daran, sich nicht vorrangig über die Tradition von Lehre und Bekenntnis zu definieren. Dort finden sich nur Antworten auf Lebensfragen, die vergangene Generationen gestellt haben. Die Tradition macht keine normativen Vorgaben, sondern wird zum Medium im interpretativen Umgang mit dem, was Menschen heute in religiöser Hinsicht bewegt und beschäftigt. Vorrangig muss es in den Kirchen und Gemeinden darum gehen, von den existentiellen, sozialen und politischen Lebenserfahrungen bzw. Lebensfragen der Menschen auszugehen. Nicht Traditionsbestände gilt es zu vermitteln, es gilt, keine Glaubensvorgaben zu machen, sondern Freiräume zu schaffen, damit Menschen in ihrer Menschlichkeit zum Vorschein kommen können – in ihrer Angewiesenheit aufeinander, in ihrer Sehnsucht nach Liebe und nach Anerkennung.

Dann werden Kirchen und Gemeinden zu inspirierenden Orten für die Religion der Menschen. Denn die Religion der Menschen lebt nicht aus der Akzeptanz kirchlich vorgegebener Lehren und Lebensregeln. Sie lebt dort, wo Menschen Gelegenheit finden, zu sagen und in dem aufeinander zu hören, was sie bedrückt und belastet, was sie beglückt und freut, was ihr Leben mit Sinn erfüllt und ihnen die Gewissheit gibt, nicht vergeblich zu leben.

Wie können Kirchen, gerade im Reformationsgedenken 2017, realisieren, dass auch der Humanismus Teil des protestantischen Lebens damals war? Sollten nicht die Protestanten den humanistischen Geist, die Nähe zu Kunst und Wissenschaft, zur gesellschaftskritischen Philosophie weiter vertiefen und dadurch eine neue Weite und Großzügigkeit gewinnen?

Leider findet man auch unter den Protestanten kaum noch welche, die sich so nennen. Das Reformationsgedenken ist total in die Hände der kirchlichen Hierarchie geraten. Diese feiert sich selbst und sieht im ökumenischen Zusammenschluss eine Chance, die christliche Tradition gegen die Übermacht einer angeblich säkularen Moderne zu verteidigen. Was ich gänzlich vermisse, ist, dass eben jene protestantische Freiheit, die doch den Grundimpuls der Reformation ausmachte, sich auch heute wieder meldet. Das würde bedeuten, nicht danach Ausschau zu halten, wie die theologischen Fragestellungen der Reformation sich so nachstellen lassen, dass wir Heutigen vielleicht doch noch etwas mit ihnen anfangen können. Es käme statt dessen darauf an, zu sehen, dass die gelebte Religion die Kirchen verlassen hat, dass heute sehr viel energischer die aufs Ganze gehenden Sinnfragen in Kunst, Philosophie und Wissenschaft artikuliert und verhandelt werden. Das Christentum ist mit seinem trotzigen Vertrauen auf die den Lebensmut auch noch im Desaströsen erhaltende Macht der göttlichen Liebe jedenfalls auch außerhalb der Kirchen höchst präsent.

Doch in Kirchen und Gemeinden könnte ebenfalls wieder deutlicher hervortreten, dass das Christentum eine Lebensdeutung zu bieten hat, die uns in aller Freiheit dazu verhilft, dass wir als Menschen zum Vorschein kommen – Klarheit darüber gewinnen, was wirklich wichtig ist und wofür es sich lohnt zu leben.

Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin