Weihnachtliche Leerformeln: Erlösung, Heil und Rettung…

Ein Hinweis von Christian Modehn

„Weihnachten hat doch irgendetwas mit dem Christentum zu tun“: Mit diesem Satz formulieren die meisten Menschen in Europa, so Umfrageergebnisse, ihre Antwort auf die Frage: „Was denn nun eigentlich am 24. Dezember oder 25. Dezember gefeiert wird?“. Man gestaltet also ein Fest, dessen Anlass und Inhalt man nicht kennt. Kann man den Menschen, oft noch Kirchenmitgliedern, Vorwürfe machen, dass sie so wenig wissen von Weihnachten? Dass sie zwar manchmal noch an Heiligabend in den Kirchen die uralten Lieder singen mit dem Inhalt „Christ, der Retter ist da“ usw.. Aber es bleibt wohl nur eine ferne diffuse Sehnsucht nach einem Retter, der möglicherweise – wie ein anderes Lied bekennt – aus Himmelshöhen herab auf Erden gekommen ist. Dabei hat das Weihnachts-Fest mehr zu bieten als diffuse Gefühle, wenn man denn die Geburt dieses Jesus von Nazareth als Geburt eines “erlösenden Vorbilds” betrachtet.

Die Frage darf philosophisch und theologisch nicht verdrängt werden : Bricht mit Weihnachten die Erlösung an und das endgültige Heil? Hat das „Heils“ – Versprechen des christlichen Glaubens irgendetwas mit der Erfahrung der Menschen in der Welt zu tun?

Blicken wir um uns und in die Welt: Wo bitte ist da Erlösung sichtbar und spürbar? Herrscht nicht allgemeine Unvernunft? Sind denn nicht so viele Politiker und Wirtschaftsbosse kaum noch zurechnungsfähig?

Dass so viele, selbst ursprünglich noch kirchlich gebildete Menschen dann nicht wissen und vor allem nicht innerlich erfahren, was Weihnachten heißt, ist meines Erachtens Schuld der Kirchen. Sie haben über Jahrzehnte und Jahrhunderte die Bilder der alten Weihnachtslieder und Weihnachtsmythen in den Evangelien einfach so stehen lassen und sie in den Predigten dann nur nacherzählt, ohne diese Mythen zu entmythologisieren. Entmythologisieren bedeutet ja bekanntlich: Den (kleinen) wahren und gültigen Kern der Weihnachtsmythen in nachvollziehbarer, allgemeiner und deswegen vernünftiger Sprache auszusagen.

Was wäre ein allgemeiner, vernünftiger Kern des Weihnachtsfest: Jesus von Nazareth ist als Mensch Inspiration und Vorbild für die eigene Lebensgestaltung. Seine Botschaft: Lebe selbst dein Leben, lass es nicht von anderen gelebt werden. Überprüfe Gesetze und Vorschriften, ob sie dem sinnvollen Lebensentwurf in Freiheit entsprechen. Und vor allem: Lebe die Liebe, zu dir, deinen Nächsten, liebe die Welt, sie ist erhaltenswert und liebe den Sinn deines Lebens. Darin kann sich das Göttliche zeigen. Dann werden Momente der Befreiung, der “Rettung”, erfahrbar, dann ist Weihnachten nicht mehr eine leere Behauptung von Erlösung.

Jesus von Nazareth nahm für diesen Lebensentwurf in Freiheit und Gehorsam nur dem eigenen Gewissen gegenüber (darin hörte er die Sprache des Unendlichen, Gottes) sogar in Kauf, zu scheitern, also getötet zu werden von Menschen, die absolut an unsinnige Gesetze und Vorschriften gebunden waren. Darin ist sein qualvoller Tod doch irgendwie noch ähnlich zum gesammelten, eher friedvollen Tod des Sokrates.

Diesen Jesus als inspirierendes Vorbild gilt es Weihnachten zu feiern.

Vergessen sind die mittelalterlichen hoch komplizierten, von Theologen konstruierten Lehren, Jesus sei gekommen, um Gott Vater mit der heillos sündigen Menschheit zu versöhnen, indem er sich am Kreuz abschlachten lässt. Wenn diese Idee stimmt und die Versöhnung durch den Tod Jesu tatsächlich objektiv stattgefunden hat, dann „müssten die Christen mindestens erlöster aussehen“, wie Nietzsche sagte. Diese Versöhnungs-Theorie ist graue Theorie, die niemanden bewegt. Denn angeblich, so diese „ontologische These“, ist ja das Entscheidende objektiv, sozusagen göttlich, geschehen. Was muss da der Mensch noch tun?

Ist hingegen Jesus ein Vorbild von humanen und gerechten Lebensentwürfen, dann sind der einzelne und die Gemeinschaft in der tätigen Praxis gefordert. Dies ist keine Last. Sondern ein freier Lebensvollzug! Da wird es in dem Sinne absolut wichtig, sozusagen vom Göttlichen (im Gewissensspruch) so gewollt, dass die Menschenrechte respektiert werden, dass eine Kultur des Respektes entsteht, der Achtsamkeit für die eigene Seele und die Seele der anderen. Und natürlich für den “Leib”, also für die menschenwürdige Existenz in einer Gesellschaft, die den Namen Demokratie tatsächlich verdient. Mit Jesus von Nazareth wird förmlich der Blick in eine humane Gegenkultur eröffnet, jenseits von Gier, Effektivitäts – Zwängen, Unruhe und blinder Herrschaft. Diese moderne Gesellschaft nannte Hegel den „Atheismus der sittlichen Welt“, also den Atheismus, der in Gesetz und Brauchtum sich verfestigt hat und keine Öffnung auf Transzendenz mehr zulässt….

Das wäre im richtigen Sinne Weihnachten bzw. eine religiöse und kirchliche Weihnachtsfeier: Menschen aller denkbaren humanen Weltanschauungen im Sinne der Menschenrechte, kommen zu einer Feier zusammen und sprechen über ihr Leben. Sie feiern, tanzen, singen, speisen, trinken. Hören Musik und Poesie, eben auch Geschichten aus der Bibel. Und verpflichten sich, bei einer späteren Feier Weiteres zu bedenken, auch auf einen politischen Weg zu kommen im Sinne einer ökologisch lebensfähigen fairen Welt…In jedem Fall wäre zu bedenken: Dass Jesus von Nazareth aus einem grenzenlosen Vertrauen in den Sinn des Lebens lebte, dass er die Erfahrung machen konnte und weitergeben wollte: Bedenkt, dass wir Menschen „immer schon“ in einem alles gründenden, nicht zu umgreifenden Sinn-Horizont leben. Man könnte dies eine Form von metaphysischer Geborgenheit nennen. Sie hat nichts mit Weltflucht zu tun. Diese Sinnerfahrung sich selbst und anderen zu erschließen, ist wohl das, was Weihnachten unter Erlösung und Rettung verstehen sollte.

Aber diese neue “Weihnachts – Praxis” wird auch in diesem Jahr zu Weihnachten nicht stattfinden. Die Kirchen und ihre Pfarrer können sich zu keiner Unterbrechung der üblichen Weihnachtsfestivitäten, mysteriösen Liedern und Gottesdiensten entscheiden. Ein Freund sagte mir treffend: “Das ist alles theatralisches Trallala. Das ist gepflegte Regression”. Die Kirchen fürchten halt, die Leute treten bei radikalen Neuansätzen aus der Kirche aus und zahlen nicht mehr für die Fortsetzung des üblichen Kirchenbetriebes.

Also weiter so, selbst wenn sogar viele Gottesdienstteilnehmer dann immer noch nicht wissen, wo denn nun diese verheißene Erlösung spürbar ist. Da komme mir keiner mit dem Hinweis, zu Weihnachten werde die Befreiung von der Erbsünde als Tat der Erlösung gefeiert. Diese Erbsündenlehre ist, das sagen Religionswissenschaftler und Historiker, eine kirchliche Ideologie, sie wurde von Augustinus mit Macht durchgesetzt, um den Menschen Angst und Schrecken einzujagen und um den Zwang zu untermauern, dass alle Menschen getauft, d.h. missioniert bzw. kolonisiert werden müssen. An die Befreiung von der Erbsünde glaubt Gott sei Dank fast niemand mehr, auch nicht zu Weihnachten. Das Böse in dieser Welt muss allein durch den Egoismus der Menschen erklärt werden, nicht mit Adam und Eva… Da heißt ja auch, dass sich jeder Mensch auch als fehlerhafter und schuldhafter Mensch begreift. Aber dazu braucht man keine Ideologie der Erbsünde…

Zurück zum Weihnachtsfest bzw. jetzt wohl nur noch Weihnachts – Kommerz -Trubel: Die Menschen brauchen offenbar die Regression in naive kindliche Welten, sie brauchen das Lametta, das „O du fröhliche“ (wer kann da fröhlich sein angesichts von Trump und Co ?), „Leise rieselt der Schnee“ und „Still und starr liegt der See“ (könnte auch eine Horrormeldung sein, man denke an den sehr stillen und starren ökologisch vernichteten Aral-See). Aber wo sind die Grenzen der Regression? Wann wird religiöse Regression zum betäubenden Opium? Brauchen wir Opium, um diese Welt zu ertragen? Warum vertrauen wir der Vernunft nichts mehr zu?

Aber, wie gesagt, Weihnachten hätte Sinn, wenn man sich auf die elementare Erfahrung allein und gemeinsam bezieht: Jesus von Nazareth als inspirierendes Vorbild kann wie ein Gottesgeschenk gelten. Er öffnet den Weg in ein Leben, das zum Sein führt und das Haben verhindert, um einmal die bekannten Begriffe von Erich Fromm zu gebrauchen. Nebenbei: Es gibt freilich noch andere inspirierende Vorbilder in der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte. Aber zu Weihnachten denken wir nun einmal an den Menschen Jesus von Nazareth.

PS: Es wäre zynisch zu meinen, dass sich Rettung und Erlösung an Heiligabend und den beiden Weihnachtsfeiertagen sozusagen in der übertriebenen und kaum zu bremsenden bürgerlichen Festtagsfreude abspielen. Weihnachten wäre dann ein Fest, das die Begüterten an drei Tagen besonders glücklich macht und die vielen anderen leer ausgehen lässt. Das ist zwar die Situation unserer Welt heute. Aber so muss es ja nicht bleiben…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin