Ohne Erbsünde glauben!

Warum sich das Christentum von dieser verhängnisvollen Lehre befreien sollte.

Hinweise von Christian Modehn. Zu meinem Beitrag, dem auch historisch argumentierenden Plädoyer für die Befreiung von diesem Lehr-Konstrukt Erbsünde, hat Eugen Drewermann in Publik Forum ebenfalls eine Entgegnung geschrieben, mit dem verstörenden Titel, der eher an philosophische Naturalisten denn an Psychotherapeuten erinnert: “Der Mensch ist nicht frei”. Weil dieser Beitrag zum Schluss sogar polemisch auf mich Bezug nimmt, ist Drewermanns Beitrag unten abgedruckt.

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Meine Perspektive orientiert sich auch an der Philosophie Immanuel Kants in dem Zusammenhang. Der französische Philosoph André Comte-Sponville fasste diese Position, die ich teile, in dem knappen Satz zusammen: “Nach Kant ist die Eigenliebe die Quelle alles Bösen” (in: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben, Rowohlt Verlag, 2001, S. 62). Indem das Böse in dieser Welt als Objektivierung von Eigenliebe(n) verstanden wird im Laufe der Geschichte, bleibt das Böse eben auch korrigierbar und letztlich auch einschränkbar und überwindbar! Eben indem man die einseitige Eigenliebe erkennt und mutig schrittweise überwindet. Und diese praktische Überwindung deuten Christen als Gnade, als Gabe des heiligen Geistes. Christen brauchen überhaupt nicht die Lehre von der furchtbaren unüberwindbaren (!) Erbsünde aus den Zeiten des Augustinus. Diese Lehre, auch als Dogma, ist mitgeschleppte Ideologie einer  Angst machenden Theologie.

Die Menschen mit ihren Fehlern sollten also nur an ihrem eigenen Egoismus arbeiten. Das wäre ein hübsches gemeinschaftliches Kirchenprojekt: Anstelle der Gottesdienste sonntags etwa psychologische Hilfen bieten zur Einübung in ein Leben jenseits des Egoismus! Das wäre vielleicht so etwas wie erlebte “Erlösung”, von der die orthoxoxen, dogmatischen Kirchen ständig plaudern und eine Messe nach der anderen feiern.

Diese neue Praxis aber ist schwerer zu realisieren als über die Last der Erbsünde zu jammern und tausend Bücher über die Mythen im Buch Genesis hin und her zu wälzen, wie es Eugen Drewermann tut und der dabei nur die veraltete Theologie/Ideologie in psychologischen Formulierungen wiederholt.

Für alle, die Kant in dem Punkt mißverstehen, weil sie mal schnell irgendwas vom “Hang zum Bösen” bei Kant aufgeschnappt haben: Der Hang zum Guten gehört für Kant NOTWENDIG zur Möglichkeit des menschlichen Wesens! Während der “Hang zum Bösen” nicht wesentlich ist für den Menschen. Das sollte man auch bei allen Leserbriefen beachten.

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Warum sich das Christentum von dieser verhängnisvollen Lehre befreien sollte. Von Christian Modehn. (Inzwischen fanden auch Gespräche und Dispute zum Thema “Abschied von der Erbsünde” statt: Dazu weitere Informationen.

Der Beitrag vom 11.7. 2017:

Ein Hinweis vorweg: Dieser Beitrag ist das, leider vom Zeitschriftenformat her bedingte viel zu kurze Plädoyer, an einem “Punkt”  theologisch “aufzuräumen”! Mit der Bereitschaft, seelisch und spirituell belastende Lehren des Christentums beiseite zu legen und frei, also befreiend, mit den alten, veralteten, d.h. uns heute nichts mehr sagenden Dogmen und Weisungen, umzugehen. Auch Dogmen “veralten”, d.h. haben keinen Bezug mehr zur Lebenswirklichkeit der (spirituellen) Menschen. Nur die Herrscher der Dogmen wollen ihre Herrschaft durch die “Ewigkeit der Dogmen” zementieren. Die Erbsündenlehre wurde und wird als Ideologie zugunsten der Kirchen/Klerus Herrschaft gewollt:  Wenn z. B. nur die Taufe Erlösung bringt und nur der Klerus letztlich taufen darf, wird die Sache klarer. Mit dieser Erkenntnis steht und fällt alle Auseinandersetzung mit der durch allerhand Tricks durchgesetzten Erbsünden – Lehre aus dem 4. und 5. Jahrhundert. Dass der Mythos von den sündigen Menschen im Paradies auch ohne die Erbsündenlehre gedeutet werden kann, zeigt das Judentum: Da gibt es keine Erbsündenlehre.

Der kurze Beitrag wurde veröffentlicht PUBLIK FORUM am 9.Juni 2017:

Papst Benedikt XVI. nahm seinen ganzen Mut zusammen, als er am 20. April 2007 die Lehre vom »Limbus puerorum« abschaffte. Diese Lehre, die ein heutiger Christ kaum kennt, geschweige denn nachvollziehen kann, reicht zurück bis in die Anfänge des Christentums. Für den Kirchenlehrer Augustinus war klar, dass ungetauft sterbende Kinder aufgrund der »Erbsünde« in die Hölle kommen, auch wenn sie als Babys überhaupt keine Gelegenheit hatten, zu sündigen. Gegen diese Strenge entwickelten Theologen der Frühscholastik im Mittelalter die abgemilderte Version des »limbus puerorum« (von Limbus: Saum, Rand). Nach dieser Vorstellung kamen ungetauft sterbende Kinder nicht mehr in dieselbe Hölle wie die auf ewig Verdammten, sondern an den „Rand“, in eine Art »Vorhölle« also. Diese schloss zwar ebenfalls die selig machende Schau Gottes aus, war aber immerhin ein etwas angenehmerer Ort. Durch die Aufhebung der Lehre vom Limbus wollte Benedikt XVI. das Bild eines grausamen Gottes korrigieren. »Die Logik des Schreckens«, wie der Philosoph Kurt Flasch die klassische Erbsündentheologie nennt, sollte nicht länger die Glaubenden bestimmen. Aber dann bekam der Papst doch Angst vor seiner eigenen Courage und ließ die Internationale Theologische Kommission erklären: „Die Theorie des Limbus bleibt weiterhin eine mögliche theologische Meinung“. Angesichts dieser Unentschiedenheit ist die Diskussion über Sinn und Unsinn der Erbsünde eher noch dringender geworden.

Die Erbsündenlehre ist eine »Erfindung« (so der katholische Theologe Wilhelm Geerlings) des heiligen Augustinus (354-430). Als alt gewordenem Bischof im nordafrikanischen Hippo verdunkelte sich sein Bild vom Menschen. Überall sah er Böses, Sündhaftes, Häretisches. Die Vertreibung aus dem Paradies deutete er als Schrecken für die Menschheit. Augustin wollte nicht anerkennen, dass die »ersten Menschen« beim Essen vom »Baum der Erkenntnis« ihre individuelle Freiheit entdecken. »Dadurch, dass der Mensch aus dem Paradies vertrieben wurde, kam er in die Lage, nun seine Geschichte selbst zu gestalten und sich als Individuum zu entwickeln«, meint treffend Erich Fromm.

Aber Augustinus wollte den Glanz der Gnade Gottes dadurch herausstreichen, dass er behauptete: Die Menschheit sei total der Sünde verfallen! Nur unter dieser Bedingung kann es die Pflicht zur Kindertaufe geben. Nur so kann sich die Kirche als notwendige und einzige Vermittlerin der Gnaden etablieren und zur universalen Mission aller Heiden aufrufen. Aber selbst wer getauft ist, kann nicht sicher sein, dass er wirklich gerettet wird. Denn Gottes Güte hat ihre Grenzen: In seinem Zorn über den Ungehorsam von Adam und Eva errettet Gott in seiner ewigen Vorherbestimmung nur einige Erwählte vor der ewigen Verdammnis. Der Mensch muss vor diesem wütenden Gott-»Vater« Angst haben. Aber kann Angst zum Glauben bewegen?

Anfragen der Vernunft ließ Augustin nicht gelten: Wider besseren Wissens übersetzte er einen Vers aus dem Römerbrief (5, 12) falsch und schrieb, darin dem Kirchenlehrer Hilarius folgend, dem griechischen Text zuwider: »In ihm«, also in Adam, »haben alle Menschen gesündigt«, er meinte damit: Förmlich alle Menschen seien in Adam schon enthalten gewesen. Davon ist in der korrekten Übersetzung keine Rede. Paulus spricht nur davon, dass durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und alle Sünder sind. Paulus sagt nicht, dass in Adam förmlich alle Menschen schon enthalten sind. Aber »Augustin brauchte diese Lesart«, betont der Augustin-Spezialist Kurt Flasch, um seine Erbsündenlehre als biblisch hinzustellen. Der Historiker Peter Brown ergänzt: »Der Gott des Augustinus war ein Gott, der eine Kollektivstrafe für die Sünde des einen Mannes, Adam, verhängt hatte«.

Diese Erbsündenlehre entzieht sich dem Erleben des einzelnen: Eine Person kann sich in ihrem freien Tun als individueller Sünder wahrnehmen. Sie kann sich aber nie als »Erbsünder« direkt fühlen und erleben: Die Erbsünde ist ein Konstrukt, eine bloße Theorie. Trotzdem gehört sie bis heute zum Kernbestand der christlichen Lehre aller Kirchen. Aber was ist gewonnen, wenn man den Krieg in Syrien als Resultat der Erbsünde deutet? Oder den Holocaust und die Tyrannei Stalins als Beispiele für eine erbsündliche Prägung der Menschheit? Augustinus hat nur allgemeine Sprüche zu bieten: Der Mensch sei zum Tun des Guten gar nicht in der Lage, er sei von Grund auf verdorben und zum klaren Denken unfähig. Deswegen sei auch die Philosophie vom Teufel. Die Konsequenzen sind katastrophal: Entweder fühlen sich die Menschen angesichts ihrer totalen Verderbtheit wie gelähmt, können sich nicht mehr frei entscheiden, gut zu handeln. Oder sie wollen in maßloser Begeisterung für Arbeit und Erfolg beweisen, dass sie doch von Gott »angenommen« sind. Die Erbsündenlehre ist ein unermesslicher Komplex verstörender Überzeugungen, die mit der menschenfreundlichen jesuanischen Botschaft nichts zu tun haben. Bekanntlich hat Jesus nie von »Erbsünde« gesprochen.

Zu allem Unglück aber hat Augustin seine Lehre auf das Feld der Sexualität ausgedehnt: Im Moment der Zeugung, lehrt er, werde die Erbsünde übertragen. Augustin duldete bekanntlich die sexuell bestimmte Liebe nur als »Instrument«, um Kinder zu zeugen. Auch die Ideologie vom »verführerischen Weib« hat hier ihren Ursprung genauso wie auch der Glaube an den Teufel: Schließlich wird die Schlange als ein gefallener Engel, als Teufel, gedeutet.

Früher galten weise Frauen als »teuflisch besessen«, sie wurden als Hexen verfolgt und verbrannt. Exorzisten »heilen« immer noch »Besessene«. Die Erbsündenlehre ist also eine Art »Schlussstein«, mit dem das ganze Gebäude klassischer Dogmatik steht oder fällt. Im offiziellen katholischen Katechismus (Vatikanstadt 1993) wird dem Mythos vom Sündenfall sogar die Qualität einer »Offenbarung« zugesprochen. »Wer an der Erbsünde rührt, tastet das Mysterium Christi an«. Denn Jesus ließ sich ans Kreuz schlagen, um die (Erb-) Sünde der Welt zu überwinden. Sein Opfer wird vom gütigen himmlischen Vater angenommen.

Nach Meinung vieler Theologen hat die Erbsündenlehre den christlichen Glauben verdorben. Sie ist eine esoterische Lehre des vierten Jahrhunderts, von der sich Christen endlich befreien müssen. Gibt es einen Ausweg? Augustins heftigster Gegner war Bischof Julian von Eclanum. Schon er war überzeugt: Kein Mensch ist so verdorben und so sündhaft, dass er nicht aus seiner eigenen freien Tat Gutes schaffen kann. Die menschliche Sexualität, auch die Lust, ist ein von Gott gewolltes Gut. Wenn der Mensch in seiner Freiheit Gutes tut, dann ist es seine gute menschliche Leistung. Gott ist wie ein unterstützender Helfer dabei. Er ermuntert dazu, dass der Mensch das Gute noch besser und umfassender tut. Doch Augustin setzte seine Überzeugung durch, auch mit Hilfe politischer Gewalt. Längst ist erwiesen: Die Mitglieder von Synoden, die damals über verschiedene Modelle zur Erbsündenlehre zu befinden hatten, konnte er durch Bestechung gewinnen: »Die siegreiche Partei galt dann als die rechtgläubige Partei«, so der Augustinusspezialist Kurt Flasch.

Doch um zu verstehen, warum Menschen in ihrer Freiheit böse handeln, braucht man nicht die Erbsündenlehre. Der italienische Theologe Giovanni Franzoni gibt die Richtung an: »Das Böse in der Welt ist voll und ganz innerhalb des Horizonts der Welt und des Menschen erklärbar«. Darin folgt er den grundlegenden Erkenntnissen Immanuel Kants: Das Böse kann schrittweise eingeschränkt werden, wenn die Menschen dem Spruch ihres Gewissens folgen. In ihm äußert sich das universale Sittengesetz, es kann selbst vom Verbrecher nicht ganz ausgeschaltet werden. Inmitten der Turbulenzen freier Entscheidungen hat die böse Tat ihren Ort. Aber die Freiheit als solche ist nicht deswegen böse, weil Menschen in freier Entscheidung auch Böses bewirken können. Diese Erkenntnis ist elementar, nicht nur für Kant, der betonte: Wenn ich mich von egoistischen Maximen leiten lasse und dem universalen Sittengesetz zuwider handle, entsteht Böses in der Welt. Böse ist ein egoistischer Lebensentwurf, weil er niemals allgemeines Gesetz für alle werden kann. Die Philosophin Hannah Arendt folgt in gewisser Weise Kant: Derjenige ist böse, der nicht selbst denken kann und denken will, sondern als »Mitläufer« den Autoritäten blind ergeben ist. Auch Hannah Arendt meint: Um Böses in der Welt zu verstehen, brauchen wir analytische Kritik, vernünftige Argumente, nicht Behauptungen einer Mythen nacherzählenden Erbsündenlehre.

Das Böse kann durch kritische Erziehung, durch Bildung und Gesellschaftskritik eingeschränkt werden. Woher der immer wieder erlebbare »Hang zum Bösen« (Kant) stammt, wird sich nicht restlos aufklären lassen. Aber dass der Mensch vorrangig gut ist, bleibt die wesentliche Erkenntnis Kants. Theologische Konsequenzen deuten sich an: Beim Abschied von der Erbsündenlehre befreit sich die Kirche von einem belastenden Menschenbild sowie vom Teufel und der Lehre von der allein selig machenden Kirche. Jesus ist nicht länger das »Opferlamm«, sondern das erlösende Vorbild, das zum Guten ermuntert. Ohne die Erbsündenlehre wird der christliche Glaube wieder elementar – einfach und vernünftig. Er nähert sich den guten Traditionen eines christlichen Humanismus, dem Ja zu Gottes guter Schöpfung. Wenn schon der Limbus (fast) abgeschafft wurde, dann wird auch eine Befreiung von der Angst machenden Erbsünden-Lehre möglich sein.

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Die Stellungnahme des Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann zu meinem Beitrag:

“Der Mensch ist nicht frei”:  Von Eugen Drewermann. Publik-Forum 13/2017 vom 07.07.2017

Warum wir die Erbsündenlehre nicht verwerfen sollten – und wie wir sie richtig verstehen können.

Von Grund auf glauben wir als gute Bürger an die Freiheit des Menschen. Diese Überzeugung ist die Basis unseres Moral- und Justizverständnisses. Sie erlaubt uns eine einfache Umgangsweise miteinander: Du weißt, was gut und böse ist. Du bist frei. Du kannst entscheiden, was du tust. Tust du das Böse, wirst du bestraft. Ordnung muss sein und Gesetze, die übertreten werden, ohne dass es Folgen hätte, wären keine wirksamen Gesetze.

Diese Sichtweise legt nahe, dass es uns zusteht, die Menschen einzuteilen als Gute und Böse; also, dass es im Namen der Gerechtigkeit eine sittliche, juristische, ja vielleicht sogar religiöse Pflicht ist, die Bösen zu bestrafen und auszugrenzen. Sie wussten, was gut und böse ist, und haben dennoch das Böse getan – freiwillig! Es ist genau diese Grundhaltung und Praxis, gegen die Jesus sich auf Leben und Tod verwahrt und gewehrt hat. Weil sie aus Gott einen Lieferanten von Stacheldraht macht, um Menschen von Menschen zu trennen. Weil es so billig ist, über Menschen zu Gericht zu sitzen. Weil es nicht hilft, sondern selbstgerecht macht. Natürlich gibt es Gutes und Böses, doch beides hat seine Ursachen, und denen gilt es nachzugehen. »Denn alle Gesetze können dir nur sagen, was du tun sollst, sie geben dir aber nicht die Kraft dazu«, schrieb Martin Luther 1520. Die Tragik des Bösen Die Tragik des Bösen liegt darin, dass Menschen Dinge tun, die sie eigentlich gar nicht tun wollen. Wollte etwa Kain seinen Bruder Abel ermorden? Nein. Er wollte, wie dieser, die Gunst Gottes durch die Darbringung von Opfern zurückgewinnen (vgl. Genesis 4, 3 f.). Alle Menschen jenseits von Eden handeln so: Sie fühlen sich als Verstoßene, Ausgesetzte, Ungeliebte. Und sie denken: Wenn sie das Beste hervorbringen, was sie können, wenn sie sich nützlich machen, wenn sie produktiv sind und ihre Produkte nicht einmal für sich selber genießen, sondern auf dem Altar eines strafenden, zürnenden Gottes verbrennen, dann wird man sie mögen und anerkennen. Doch niemals kommt es dazu, – die Natur ist ungerecht. Immer bevorzugt sie den einen mehr als den anderen, immer erhebt sie den einen und lässt einen anderen fallen. Eine Welt ohne Gott ist nicht nur gnadenlos, sie ist mörderisch. Wie kann man dieser gnadenlosen, mörderischen Welt den Glauben an einen Gott zurückbringen, der nicht straft und verstößt, sondern den Verlorenen nachgeht? Der die Angst des Menschen, nicht gemocht zu sein, nicht berechtigt, zu existieren, beruhigt? Der die Verzweiflung, das eigene Dasein durch die Darbringung guter Werke rechtfertigen zu müssen, durch eine unbedingte Güte überwindet und genau dadurch den eigentlichen Grund alles – in einem moralischen Sinne – Bösen überwindet? Jesus wollte eine grundlegend andere »Gerechtigkeit« als die der »Schriftgelehrten« und der »Pharisäer«, als der Juristen und der Moralisten seiner Tage und aller Zeiten (vgl. Matthäus 5, 20). Ein Mensch kann nicht, wie diese glauben, gut sein, einfach weil er will. Er kann nur gerade so gut sein, wie er an Güte erfahren hat. Mit dieser Güte gilt es, das Böse zu über-lieben, indem man zu verstehen sucht, was in anderen vor sich ging, als sie selber – wider besseres Wollen – so vorgingen, dass sie in schwerer Weise schuldig wurden. Die Gerechtigkeit Jesu Die »Gerechtigkeit« Jesu bestand und besteht darin, nicht zu verurteilen, sondern dem anderen in seiner Not gerecht zu werden und ihn zu sich selbst und den anderen zurückzutragen, wie der Hirt das verlorene Schaf im Gleichnis des Lukas- und des Matthäusevangeliums. Erst jemand, der an Gottes Gnade voraussetzungslos glaubt, überwindet die innere Gespaltenheit seiner Angst und wird fähig zum Guten. Anzeige Der Himmel – Sehnsucht, Glück und Weite Seit Menschengedenken war der Himmel vor allem eines: der Sitz der Götter. Diese Naivität gibt es nicht mehr. Dennoch fasziniert uns der Himmel immer noch. /mehr In diesem Sinne wollte Jesus den Menschen heilen und vertrauen und ihn erlösen von seiner Angst, die selbst seine besten Absichten verdirbt. Er wollte den Blick auf die menschliche Wirklichkeit absenken in die Abgründe des Unbewussten hinab, wie wir heute sagen würden. Er lehnte den Triumph aller Ethik und Staatsphilosophie, nämlich das Prinzip der Vergeltung der menschlichen Taten nach Belohnung und Strafe, absolut ab. Und er war bereit, für seine Revolution der Gesinnung in Religion und Politik in den Tod zu gehen. Er erlöste uns von aller Strafgerechtigkeit, indem er im Vertrauen auf Gott selbst die Angst vor dem Tod überwand.

Was »Sünde« wirklich meint

Was also meint die Lehre von der Erbsünde? Im ersten Moment hört sie sich wie ein sehr depressives, ja menschenverachtendes Konstrukt an – und so wird sie auch von vielen missverstanden und interpretiert (vgl. Publik-Forum 11/2017, S. 42). Doch das ist nicht gemeint. Die Erbsündenlehre widerspricht der Ethik ebenso wie der Jurisprudenz zugunsten eines tieferen Verstehens und einer tieferen Güte angesichts der Hilflosigkeit des Menschen in den Abgründen seiner Verlorenheit im Umkreis des Bösen. Es war vor 170 Jahren der Existenzphilosoph Sören Kierkegaard, der meinte, wir sollten das Wort »Sünde« ersetzen durch den Begriff der Verzweiflung. Nur so verhinderten wir die Re-Ethisierung des Christentums. Ein Verzweifelter braucht keine ethischen Vorwürfe und keine Paragrafenordnung, er braucht Menschen, die im Namen Gottes mehr an ihn glauben, als er je an sich selber zu glauben vermocht hat. In diesem Wissen besteht die ganz Botschaft Jesu, wie sie Paulus erläutert, Augustinus entfaltet und Luther zur Reformation von Kirche und Staat wiederentdeckt hat. Die in Angst verwüstete Lebensweise des Menschen kann nur geheilt werden in einem Raum absoluter verstehender Akzeptanz. »Allein aus Gnade, allein aus Vertrauen« können Menschen zu dem Gefühl gelangen, »gerechtfertigt« zu sein. Diese Auffassung dem Reformator als »inhuman« vorzuwerfen bedeutet nicht nur, Jesus ein zweites Mal todesschuldig zu sprechen. Es bedeutet zugleich eine Weigerung, das, was Luther meinte, in die Sprache der Psychoanalyse und der Existenzphilosophie (und der Kapitalismuskritik in der Gegenwart) weiterzuentwickeln. Es bedeutet, aus dem Christentum jene Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft zu machen, als die es seit den Tagen Konstantins in Erscheinung getreten ist. Wozu bräuchte man denn die Erlösung durch Christus? Das Gesetz des Moses, der Code Napoleon, das bürgerliche Gesetzbuch wären doch vollkommen ausreichend. So denken viele. Doch: Keiner wirklichen Tragödie des Daseins wird die bürgerliche Oberflächlichkeit des ethischen Optimismus »gerecht«. Unverzichtbar ist die »größere Gerechtigkeit« Jesu, indem sie »die verlorenen Kinder Evas« bei der Hand nimmt und, vorbei an den Wächterengeln mit dem Flammenschwert, zurückführt in das Paradies der Angstfreiheit und der Unzweideutigkeit des Gottvertrauens. »Erbsünde« meint gerade nicht die Belastung der Menschheit mit der Schuld eines fantastischen Adam am Anfang (vgl. Gen 3, 1-17). Das Bild vom »Sündenfall« beschreibt vielmehr das Schicksal eines jeden Menschen, dem unter dem Abgrund der Angst die Geborgenheit in Gott entgleitet und der sich hineingeworfen fühlt in die Welt, wie sie erscheinen muss im Feld der Gottesferne. In dieser Welt der Gottesferne ist die Freiheit zum Gutsein und zur Güte nicht enthalten. Sie taucht erst wieder auf in dem neuen Geschenk der Versöhntheit mit Gott. Ein Christentum, das das Fundament der Gnadenlehre, wie es sich in der Lehre von der Erbsünde spiegelt, theologisch preisgibt und den Kern der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen überhaupt nicht mehr versteht, ist auf dem Weg zum Nihilismus oder zum Atheismus oder zum sozialpolitischen Aktionismus.  (Soweit Drewermann, CM).

 

Ein Hinweis der Redaktion: In Publik-Forum 11/2017 forderte der Theologe Christian Modehn die Abschaffung der Erbsündenlehre. Dazu erreichten uns so viele Leserbriefe, dass wir in diesem Heft nur einen Teil davon abdrucken können. Weitere Leserbriefe zum Thema lesen Sie in einer der nächsten Ausgaben.

Ein Hinweis von Christian Modehn: Nach Abdruck einiger Leserbriefe zum Thema wurde die weitere Diskussion leider, leider, dann abgebrochen.  Der Mensch Jesus als erlösendes Vorbild bleibt also für viele eine offene Frage genauso wie die Erkenntnis, dass diese Erbsündenlehre eine willkürlich gesetzte klerikale These ist, gegen die es schon im 5. Jahrhundert bestens begründeten Widerspruch gab. Aber trösten wir uns, es gibt liberal -theologische, freisinnige protestantische Kirchen in Holland,  die ohne die Erbsünde  christlich leben. Man muss nicht dem Katholiken bzw. nun auch Fan der uralten Luther (Calvin) – Lehre Drewermann folgen.

Dieser Text stammt von der Webseite https://www.publik-forum.de/Publik-Forum-13-2017/der-mensch-ist-nicht-freides Internetauftritts von Publik-Forum

 

 

…..copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

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