André Comte Sponville. Atheistische Spiritualität

ANDRE COMTE SPONVILLE

Eingetaucht in die Leere des Kosmos
Mystik ohne Gott: Der Philosoph André Comte-Sponville hat sich vom Christentum abgewandt.
Er vertritt eine atheistische Spiritualität – ohne Militanz

Von Christian Modehn

Er hat in der Christlichen Studierenden Jugend in Paris aktiv mitgearbeitet. Als Gymnasiast war er bei Exerzitien in einem Trappistenkloster dabei. Noch immer rühmt der heute 54-Jährige die beiden katholischen Pfarrer, die ihn als Abiturienten prägten und mit dem Mystiker Blaise Pascal vertraut machten: »Ich hatte zwar einen gewissen Glauben, war aber doch von Zweifeln bestimmt.«

André Comte-Sponville ist inzwischen einer der bekanntesten Philosophen Frankreichs. Mit seinen leicht lesbaren Büchern erreicht er weite Kreise. Wie viele andere Intellektuelle hat er sich schon als Student vom dogmatisch geprägten Glauben der katholischen Kirche verabschiedet. »Ich bin Atheist. Aber das ist für mich keine wissenschaftliche, absolut sichere Erkenntnis, sondern eben auch ein Glaube. Als Philosoph kann ich nur sagen: Ich glaube, dass Gott nicht existiert.« Von kämpferischer Gottlosigkeit also keine Spur. »Die Wirklichkeit Gottes, wie sie in den Kirchen vorgestellt wird, genügt meinen intellektuellen Ansprüchen nicht. Der klassische Begriff Gott ist zu widersprüchlich, die Geschichten der Offenbarung sind zu diffus. So bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass Gott eine Erfindung der Menschen ist, geschaffen zum Trost, zur seelischen Beruhigung und zur gesellschaftlichen Kontrolle.«

In seinem Arbeitszimmer in Paris zeigt André Comte-Sponville sein neuestes Buch: »L’esprit de l’athéisme«. Es trägt den Untertitel: »Einführung in eine Spiritualität ohne Gott«. »Atheisten sind alles andere als spirituell arm. Das ist wichtig zu wissen in einer Zeit, in der jeder dritte Franzose konfessionslos ist und sich zwanzig Prozent der Bevölkerung atheistisch nennen.«

Viele Menschen bewegt die Frage: Kann es nach dem Abschied vom dogmatischen Glauben, nach dem Abschied von Gott, eine Spiritualität der Ungläubigen geben? André Comte-Sponville hat in der Kathedrale von Rouen mit einem Priester öffentlich darüber diskutiert; der atheistische Philosoph wird in Toulouse von der Theologischen Fakultät eingeladen; die Liste seiner Vorträge ist lang: »Am meisten interessiert mein Buch christliche Kreise«, hat er die Erfahrung gemacht. Sie sähen in der Entwicklung einer atheistischen Spiritualität so etwas wie die Entdeckung dieses Jahres.

»Auch Atheisten haben ein Anrecht auf ein spirituelles Leben, für mich ist dies ein konstitutives Element menschlicher Existenz. Sie haben ohne jeden Zweifel genauso wie die Gläubigen die Fähigkeit, sich dem Geheimnis des Lebens zu stellen«, betont der Philosoph. Er beschreibt dazu eine Erfahrung, die der Schriftsteller Romain Rolland einmal das »ozeanische Gefühl« nannte, das Eingetauchtsein in das Ganze des Kosmos. Er verweist auf das Schweigen, das Aushalten der Stille und die dabei erfahrbare Leere. »Dabei habe ich gespürt, wie ich angstfrei leben kann, wo ich sonst ein eher ängstlicher Mensch bin. Dabei habe ich gespürt, dass wir Menschen ewig sind, nicht ewig in einer fernen himmlischen Welt, sondern ewig im Hier und Jetzt.«

Atheistische Spiritualität lebe von den Unterbrechungen im Alltag, von der Wahrnehmung des Erstaunlichen, des Wunderbaren, das einem zufällt. »Ich erinnere mich noch an einen Spaziergang spätabends in einem Wald, wo ich das Gefühl hatte, vom Ganzen der Natur bergend umfangen zu sein. Wo ich Teil des Geheimnisses dieser Welt war. Das war für mich eine mystische Erfahrung. Aber beim Nachdenken über diese Erfahrung ist mir klar geworden: Da erlebte ich nichts Transzendentes, nichts Göttliches, Absolutes. Sondern ich war Teil des Ganzen und Einen. Ich möchte als Philosoph dieses Geheimnis offenhalten, es nicht benennen, nicht festmachen. Atheistische Spiritualität weigert sich, in diesen Erfahrungen eine absolute Person, einen Gott, am Werk zu sehen. Ich als spiritueller Atheist liebe die menschliche Bescheidenheit.«

André Comte-Sponville übt sich regelmäßig im Za-Zen, dem stillen Sitzen in der zen-buddhistischen Tradition. Er liebt die klassische Musik: Bach und Mozart. »Ich will mich auf meine philosophische Art an den inneren Christus halten, der nichts mit dem Christus der Dogmen zu tun hat, sondern auf einer Stufe mit Buddha, Sokrates, Laotse steht. Aber Christus steht mir als Europäer besonders nahe. An seine Werte will ich mich halten, die er als Lebensmodell vorgeschlagen hat: Solidarität, Nächstenliebe, Friedfertigkeit.«

André Comte-Sponville nennt seine Lebensphilosophie einen »treuen« Atheismus. »Ich bleibe verbunden mit gewissen Werten aus der Moral, der Kultur, der Spiritualität, die auch in den großen Religionen entstanden sind«, erläutert er. »Für mich verläuft die Grenze nicht zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden, sondern zwischen den freien, offenen, toleranten Geistern auf der einen Seite und den dogmatischen, fanatischen Geistern auf der anderen Seite. Ich kämpfe gegen die Fanatiker und auch gegen die Nihilisten. Das sind die Leute, die an nichts glauben, die nichts respektieren, die keine Werte, keine Regeln haben, keine Prinzipien, keine Ideale. Darum schlage ich allen anderen eine Art Bündnis vor, das die gemeinsamen Werte der Menschheit verteidigt.«

André Comte-Sponville hat die philosophischen Cafés mit entwickelt. Mehr als hundert von ihnen gibt es inzwischen in Frankreich. Sie sind der deutlichste Beleg für dieses freie Suchen nach Lebensweisheit. Dazu zählt auch die neue Monatszeitschrift Philosophie Magazine, die seit einem Jahr aus dem Stand heraus mit 90 000 Exemplaren verbreitet wird.

André Comte-Sponville weiß, dass seine atheistische Spiritualität Fragen offenlässt, dass etwa im Umgang mit dem Tod liebster Menschen große Ernsthaftigkeit verlangt ist. Den Atheisten bleibe angesichts des Todes eher die Revolte als der Trost, meint er. »Aber es kann doch sein, dass die Wahrheit traurig ist«, wie der Bibelwissenschaftler Ernest Renan einmal sagte. Eine atheistische Spiritualität habe noch viele praktische Themen anzugehen, etwa die weltlichen Bestattungen. Sie sollten weniger oberflächlich gestaltet werden, findet der Philosoph. Oder die Frage nach Gemeinschaften atheistischer Spiritualität – warum gibt es davon so wenige?

Eine atheistisch-philosophische Spiritualität sei keine intellektuelle Spielerei, kein Hobby, sagt der Denker aus Paris. »Bei dem Projekt geht es mir darum, wie ich überleben kann, an Leib und Seele. Aber diese unsere Welt reicht mir. Ich brauche keinen Jenseitstrost. Ich habe den Eindruck, besser zu leben, seitdem ich Atheist bin. Die Vorstellung der Hölle ist für mich störender als die Vorstellung eines Nichts nach dem Tode. Wichtig ist: Jetzt erlebe ich erfüllte Ewigkeit, die sich in der Liebe zeigt. Sie eröffnet das Bleibende.«