Weiterdenken: Zwischenräume schätzen lernen.
Die Fragen stellte Christian Modehn
Die Ferien sind Unterbrechungen im Alltag. Wir finden uns in einem zeitlichen und räumlichen „Zwischen“ wieder: Der Alltag liegt hinter uns und was nach den Ferien kommen wird, ist letztlich nicht genau bekannt, selbst wenn es irgendeine Form des Vertrauten hat. In diesem „Zwischen“ liegt ein eigener Charme. Das Zwischen ist ja keine banale „Verschnaufpause“. Es geht um Wesentlicheres: Ist unser Leben im ganzen ein „Zwischen“, hineingesetzt zwischen Geburt und Tod? Halten Sie diese Frage eigentlich für sehr fromm oder gar antiquiert? Oder hat sie heute eine hilfreiche Bedeutung?
Ich mache im Urlaub, in dem ich jetzt auch diese Zeilen mit dem Versuch einer Antwort auf Ihre Fragen schreibe, die Erfahrung, dass sich die Zeit ungeheuer dehnt. 14 Tage kommen mir viel länger vor als dies zuhause der Fall ist. Der Rhythmus des Tages ist ein anderer, die Routinen vor allem, sie werden weitgehend verlassen. Eine Struktur zur Einteilung der Tageszeit fehlt oder muss, wenn sie jetzt überhaupt sein soll, neu entwickelt werden. Doch das eigentlich merkwürdige ist, genau diese Umstände sind es, die die Zeit lang machen. Die Zeit dehnt sich, weil wir sie in ihrem unaufhaltsamen Dahinfließen ausdrücklich erleben. Wir erleben gewissermaßen unser Erleben der dahinfließenden und zerrinnenden, ebenso aber mit Gewicht und Inhalt sich füllenden Zeit.
In den Gewohnheiten des Alltags geht die Zeit dahin, oft ist ein Tag wie der andere oder es sind die Pflichten und Geschäfte, die Sorgen und Lasten, die unsere ganze Kraft und Aufmerksamkeit erfordern. Im Urlaub hingegen kann es geschehen, dass uns das Erleben der Zeit an sich selbst bewusst wird. Dadurch spannt sie sich aus und gewinnt zugleich einen Richtungssinn. Wir blicken zurück, woher wir kommen – und schauen voraus, wohin wir gehen.
Sobald wir uns gesteigert des Richtungssinns unseres Lebens bewusst werden, liegt aber auch der Ausgriff auf dessen religiöse Deutung nahe. Woher komme ich und wohin gehe ich? Im Zwischenraum des aus dem Alltag herausgehobenen Zeiterlebens, wie ihn ein Urlaub öffnet, kann diese Frage durchaus deutlicher ins Bewusstsein dringen, womit allerdings noch nicht gesagt ist, dass die Antwort, die sich mir einstellt, einen religiösen Charakter trägt. Es ist die in der Dehnung der Zeit aufkommende Frage nach meinem Woher und Wohin jedoch genau diejenige, in der wir die Grundfrage der Religion erkennen. Von jeder Religion wird eine Antwort auf die Frage nach dem (Richtungs-) Sinn unseres Lebens erwartet. Insofern, so denke ich, kann der Urlaub durchaus zur religiösen Meditation Anlass geben oder für die religiöse Ansprache empfänglich machen. Bedenkenswert kann dann vielleicht auch die Antwort erscheinen, die der christliche Glaube auf die religiöse Grundfrage nach dem Woher und Wohin unseres Lebens gibt. Für ihn sind die Anfangs- und Endpunkte, zwischen denen unser Leben sich erstreckt, nicht mit Geburt und Tod gesetzt, sondern mit der Taufe und dem Eingang in Gottes Ewigkeit gesetzt. Gemeint ist damit, dass der Glaube dem, der ihn erschwingen kann, sein Leben mit einem hoffnungsvollen Richtungssinn erfüllt – der unendlich weit trägt, auch wenn es die Mühen des Alltags wieder zu bestehen gilt.
Wer sich auf religiöse Erfahrungen einlässt, tritt förmlich aus den Üblichkeiten des Alltags heraus. Er / sie lebt eine Unterbrechung des Alltags in einem „Zwischen“: Wer meditiert, zuhause die Bibel liest und dabei auch zur eigenen Poesie, zum Beten, gelangt, tritt in eine Art Zwischenraum: Er /sie verlässt den linearen Zeitrhythmus, erlebt nur andauernde Gegenwart: Kurzum: Ist der christliche Glaube insgesamt eine Unterbrechung alltäglicher Strukturen?
Die Frage ist vielleicht gar nicht so sehr, inwieweit wir uns auf diese Erfahrung des „In Between“, des „Dazwischen“, einlassen. Sie kommt doch relativ leicht auf, dort, wo der Alltag unterbrochen wird, wir in das Erleben der Zeit, in das Erleben unseres Erlebens, in die reale Gegenwart, hineinfinden. Schwieriger dürfte es heute sein, Verständigung darüber zu gewinnen, ob und wenn ja welche religiöse Deutung wir dem empfundenen Richtungssinn unseres endlichen Lebens geben wollen und können.
Die Kategorie der „Unterbrechung“ wählte um 1800 schon der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher, um auf human plausible Weise zu beschreiben, warum es uns gut tut, am Sonntag von der Arbeit zu ruhen und den Gottesdienst zu feiern (Urlaub als Massenphänomen gab es damals noch nicht). Die „Unterbrechung des geschäftlichen Lebens“ (Schleiermacher) sollte der Gottesdienst durch die Besinnung auf den göttlichen Seins- und Sinngrund unseres Daseins mit einem tieferen Inhalt füllen.
Das ist ein Verweis, der in der Erfahrung des „Dazwischen“ m.E. immer noch trägt. Wir brauchen die Unterbrechung unserer alltäglichen Geschäfte und Beanspruchungen, um zur Besinnung auf den Grund dessen zu kommen, was es macht, dass wir – trotz allem, was dagegen steht und uns den Mut immer wieder nehmen kann – von hoffnungsstarker Zuversicht erfüllt unser Leben führen können.
Es gibt Menschen, die religiös interessiert sind, sich aber nicht an eine Kirche binden wollen. Sie leben also in einem Zwischen; stehen mit einem Bein förmlich noch in ihrer alten Überzeugung, z.B. dem Buddhismus, mit einem anderen schon in der christlichen Welt. Und viele entscheiden sich, auf dieser Schwelle, zwischen diesen beiden „Räumen“, zu verweilen. Entsteht also, heute vermehrt, im Zwischen eine ganz eigene Lebensform und Spiritualität?
Menschen, die auf der Suche nach dem Wohin ihres Lebensweges sind und für die die Unterbrechungen des Alltags gute Gelegenheiten sind, sich auf ihr Woher zu besinnen, verhalten sich zumeist auch selbständig zu den Antworten, Hinweisen und Anleitungen, die die Kirchen und Religionen geben. Für gar nicht so wenige scheint auch etwa der buddhistische Weg attraktiv zu sein. Denn er bedeutet offenbar, sich auch noch von der Sinnfrage zu lösen, gar nicht mehr so fixiert zu sein auf Ziele, die den eigenen Einsatz zu ihrer Erreichung verlangen. Sich von all dem zu lösen, was das Begehren weckt, an nichts mehr anzuhaften, was die Offenheit für das göttliche All-Eine begrenzt, wird dann zur Daseinsmaxime. In welche Richtung die Suche auch immer gehen mag, die Situation dürfte heute tatsächlich weithin so sein, dass die religiösen Traditionen eher zu Steinbrüchen geworden sind, aus denen die, die auf der Suche nach der spirituellen Dimension ihrer Daseinsform sind, sich herausbrechen, was sie für ihre Lebensdeutung „gebrauchen“ können. Und manchmal pendeln sie dabei auch zwischen verschiedenen Steinbrüchen hin und her, um sich das jeweils für sie passende herauszusuchen.
Im Dazwischen sich zu bewegen, zwischen verschiedenen religiösen Traditionen und ihren Lebensdeutungsangeboten, kann anstrengend sein. Es gehen diesen Weg deshalb auch nur diejenigen, die fast schon zu den „religiösen Virtuosen“ (Schleiermacher) zu zählen sind. Sie aber stehen dafür ein, dass die Religionen und Kirchen nicht dazu da sind, die Menschen Glaubenszwängen auszusetzen und sie mit Verhaltensnormen zu gängeln, sondern mit einer Wahrheit zu überzeugen, die in ihrer Lebensdienlichkeit zwanglos einzuleuchten vermag. Dazu fällt mir als christlichem Theologen allerdings gleich wieder ein Bibelwort ein, das Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8, 32).
Copyright: Prof. Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin