Ist es zu spät für Reformen im Katholizismus?

Ein neues Buch von Martin Werlen, Benediktiner im Kloster Einsiedeln, Schweiz

Ein Hinweis von Christian Modehn

Martin Werlen ist in katholischen Kreisen ein bekannter und von der Auflagenzahl seiner Bücher her auch ein erfolgreicher theologischer Autor. Er befasst sich mit der Frage, wie die katholische Kirche aus der allseits bekannten vielfältigen Krise herausfinden kann. Dass Martin Werlen an grundlegende Reformen glaubt und nicht die immer selben Traditionen als Ausweg beschwört, macht ihn sympathisch auch für den Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon, der aus der kritischen Ferne das Geschehen der Religionen, auch des Katholizismus, beobachtet.

Das neueste Buch von Werlen, es ist wohl das vierte aus dem Herder Verlag, hat den Titel „Zu Spät“, im Untertitel treten zwei Präzisierungen auf „Eine Provokation für die Kirche“ sowie „Hoffnung für alle“.

Tatsächlich ist Martin Werlen förmlich fixiert auf das beliebte Bild: “Es ist fünf vor zwölf“, mit dem in Gesellschaft und Kirche bevorstehendes Ende angedeutet werden soll. Noch ist einiges zu retten, in letzter Minute, das will diese Metapher wohl sagen. Der Theologe Martin Werlen trifft nach einigen sicher zutreffenden Analysen zum Zustand der katholischen Kirche, vor allem wohl in der Schweiz und in Westeuropa, die überraschende Entscheidung: “Es ist schon fünf nach zwölf“. Das heißt, wir sind schon über den entscheidenden Punkt, nämlich die Uhrzeit 12, hinaus. Die Katastrophe hat also begonnen, um im Bild zu bleiben. Aber gerade diese Erfahrung des “Zu spät” sieht Werlen als Chance für die Kirche. Es entsteht nämlich förmlich eine Leere, ein Abbau der Strukturen, eine neue Freiheit ohne die Last der störenden Traditionen, diese Situation fünf NACH zwölf findet Werlen gut und erfreulich. „Das entlastet“, sagt er auf Seite 139 kurz und bündig. Und er zeigt, wie in seiner Sicht die Bibel dieses „Zu spät“ als Chance beschreibt.

Man kann darüber streiten, ob diesem Bild “fünf vor oder fünf nach Zwölf” nicht zu viel Ehre angetan wird. Ich bin der Überzeugung, dies ist der Fall. Denn bei dem Bild ist ja nicht klar, ob die Zwölf Uhr Marke sich auf den Mittag oder die Nacht bezieht. Ist es kurz vor oder kurz nach 12 Uhr mittags, ist also auch nach guter Mönchstradition (Kampf gegen die acedia) die belastende Zeit des Mittagsdämons überschritten. Ist 12 Uhr Mitternacht, “Null-Uhr”,  gemeint, geht es ja danach schon wieder weiter Richtung Sonnenaufgang. Die Nacht ist zur Hälfte vorbei. Fünf nach Mitternacht ist also eher ein Lichtblick und in gewisser Weise erfreulicher als fünf vor zwölf Uhr nachts. Aber das meint Werlen vielleicht auch, spielt dann aber doch noch zu wenig mit dem Zeit-Bild…

Aber lassen wir das: Das Buch ist in 77 eher locker aneinander gereihte Kapitel unterteilt. Diese sind stark geprägt von einem höchst merkwürdigen Ereignis, das dem Mönch im Hotel einer namentlich nicht genannten Großstadt passierte: Dort ging des Nachts um drei Uhr (!) „mit großem Knall“ (Seite 62 und öfter) das Glas im Badezimmer total zu Bruch. Wie dies passierte wird – mir jedenfalls – nicht deutlich beschrieben, es haftet diesem “großen Knall” etwas Mysteriöses, man möchte sagen Wunderbares, an: Denn dieser Scheiben-Bruch zwingt den Mönch in ein anderes Zimmer im Hotel umzuziehen. Dieser Ortswechsel wird wiederum mit den Erfahrungen des Propheten Jona in Verbindung gebracht. Eine merkwürdige, wenn nicht verstörende Beziehung, so als wäre Martin Werlen eine Art neuer Jona…

Wie bei so vielen theologischen Büchern von Theologen, die sehr zurecht den Zustand der römischen Kirche beklagen und Reformen einfordern, werden auch von Werlen keine Namen, keine Orte, keine präzisen und kontrollierbaren Angaben gemacht. So klagt er über einen – in meiner Sicht – verkalkten Nuntius in der Schweiz, nennt aber nicht den Namen. Er nennt nicht den Namen der Großstadt, wo der große Knall passierte. Er spricht kurz von der katholischen Kirche in Holland. Dort haben tatsächlich sehr viele Katholiken die Kirche verlassen, sicher auch, weil Rom mit den demokratischen Katholiken der Niederlande eben sehr undemokratisch umging und umgeht. Das ist für Demokraten unerträglich! Aber hat Rom damit dort „Totenstille“ (S. 75) geschaffen? Von wegen: Man kann doch nicht behaupten, die vielen tausend katholischen Holländer, die sich von Rom zurecht verabschiedeten, seien in eine „Totenstille“ eingetreten. Diese Menschen haben aber doch auch ihre eigene, private Spiritualität bewahrt und fühlen sich nun frei, vielleicht auch im Aufbau unabhängiger ökumenischer Gemeinden, wie dies Huub Oosterhuis oder die Dominikus Kirche in Amsterdam versuchen. Überhaupt wird ein Austritt aus der römischen Kirche von dem Mönch Werlen an keiner Stelle auch nur erwähnt, er denkt eher daran, in die totale Einsamkeit einer Kartause zu ziehen…

Wie so oft wird leider nicht thematisiert, dass es die Lehre, das Dogma, die frauenfeindliche und homosexuellen feindliche Moral –Ideologie ist, die die Menschen aus der römischen Kirche treibt. Diese Lehren müssen weg um der Menschen(rechte) willen. Das heißt für die Reformer: Die Lehre müsste reduziert und modernisiert werden. Die Glaubensbekenntnisse müssten von der Sprache des 4. Jahrhunderts befreit werden, die Kirchenlieder müssten entstaubt werden, das sind Aufgaben, die natürlich das starre römische System nicht leisten kann. Weil es sich nicht von alten, einmal formulierten Dogmen verabschieden kann. Es ist der vatikanische Wahn, dass einmal dogmatisch Formuliertes so auf ewig bestehen bleiben muss. Erich Fromm nannte diese Haltung “nekrophil”… Diese Fixierung treibt die Leute aus der Kirche. Insofern ist es wirklich viel zu spät, auf eine von alten Lehren und Ideologien befreite römische Kirche zu hoffen.

PS:  Ich habe leider den leichten Eindruck, dass dieses Buch in einem enormen Tempo geschrieben wurde. Hat der Verlag auf einen weiteren Bestseller gedrängt? Denn sonst wäre diese Melange aus eher schlichten Bibel-Meditationen und theologischem Essay anders gestaltet worden. Wie kommt sonst mit einem einzigen Satz dieser (von sehr vielen Scharlatan genannte) Pater Pio ins Buch, gleich danach wird komischerweise Dietrich Bonhoeffer erwähnt (Seite 148)? Vom Zölibatsgesetz meint Werlen zurecht, es sein kein Dogma, übersetzt Dogma aber als „Glaubensfrage“ (Seite 93). Dogma ist hingegen keine Frage, sondern eine definierte Lehre. Ziemlich unvermittelt wird auf Seite 78 f. plötzlich die Kolonial – Geschichte des Kongo innerhalb einer theologischen Reflexion eingebaut. Interessant ist Pater Werlens Idee, der ja selbst lange Abt im Barock Kloster Einsiedeln war, dieses monumentale „Gebäude abzureißen   und etwas Modernes zu errichten – in aller Schlichtheit, wie es dem Evangelium entsprechen würde“ (S. 90). Muss man aber deswegen ein barockes Gebäude abreißen? Ein Museum wäre doch hübsch… Sollen doch die Mönche nach Zürich ziehen in eine Mietswohnung oder in Berlin Pankow oder Hamburg Sankt Pauli ein Klösterchen eröffnen….Und ich finde es alles andere als mutig, wenn Werlen (s. 67 f.) schreibt, er hätte “gern” ein homosexuelles Paar in einem Restaurant nach der Unterzeichung des Partnerschaftsvertrages gesegnet. Ein Kirchengebäude als Gemeindekirche oder gar die schöne Klosterkirche inmitten der anwesenden und interessiert dreinschauenden Mönche wäre in aller Öffentlichkeit meines Erachtens die theologisch richtige Lösung gewesen, auch für die offenbar verschüchterten beiden katholischen Schwulen, die bloß keinen Ärger machen wollten und die Segnung der Partnerschaft (Ehe) in der Kneipe diskret vorzogen.

Mich erinnert diese Beschreibung an die Segnung von Hetero-Ehen in der dunklen Sakristei einer katholischen Kirche, bloß weil ein Ehepartner evangelisch war. Das passierte früher in Berlin. Oder ich denke an die diskriminierende Bestattung von Suizid-Toten am Rande eines Friedhofes. Das ist alles Diskriminierung, wenn nicht Rassismus, das gilt vielleicht auch für die so gemütliche Kneipen- Segnung homosexuell Liebender.

Pferde und Autos und Handys werden bekanntermaßen öffentlich vor den Kirchen von römischen Priestern gesegnet, nicht aber alle Liebende..

Was nach der Lektüre dieses Buches bleibt: Die Idee, dass erst die Leere (fünf NACH zwölf) die Freiheit der Spiritualität schenkt. Und: Ich nehme diese Überzeugung wieder einmal mit: Wer sich in der römischen Kirche als Reformer outet, ist und bleibt doch noch sehr gebremst in seinen Vorschlägen. Er hat immer noch Angst, die viel besprochene „Provokation“ (so der Untertitel) umfassend kritisch und faktengestützt zu beschreiben. Trotz aller Bezüge zum Propheten Jona.

Martin Werlen, Zu Spät. Herder Verlag, 2018. 192 Seiten. 18€.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.