“Ich bin multireligiös”: Thesen für ein Salongespräch

Selbstbestimmung auch in meiner Religion.

Zum Salon am 11. 1. 2013

Von Christian Modehn

Wir haben in den beiden vergangenen Salonabenden/Nachmittagen das Thema Selbstbestimmung besprochen, bezogen auf das Buch von Peter Bieri „Wie wollen wir leben?“ (Residenz Verlag). Wir werden im April 2013 mit einer Amsterdamer Gruppe gemeinsam über das 3. Kapitel „Wie entsteht kulturelle Identität“ sprechen, am Freitag 19.4. 2013.

Heute wollen wir das Thema Selbstbestimmung weiter zuspitzen zu der Frage: Wie steht es mit Selbstbestimmung in meiner Religion. Dabei wird Religion sehr weit verstanden, als grundlegende Lebensorientierung, als wichtigste Spiritualität (zu der auch der Atheismus gehören kann). PS: Am 16. 1. 2013 erreicht uns ergänzend eine mail, die wir gern wiedergeben: Wieder und wieder und in zunehmender angstbesetzter Heftigkeit behaupten römischen Kirchenführer, diesmal Herr Schwaderlapp in Köln, nur die Glaubensform, die dem vorgebenen Dogma entspricht, sei katholisch. Herr Schwaderlapp wehrt sich, so wörtlich,  gegen den religiösen “Gemischtwarenladen”. Mit diesen polemischen Äußerungen wird er die vielen multireligiösen Menschen sicher nicht in die römische Kirche (zurück)holen (Quelle zu Schwaderlapp: Zeitung Christ und Welt 17.1.2013).

Unser Gespräch wird dabei immer philosophisch bleiben, also konfessionell neutral, immer aber selbst – kritisch.

Das Thema ist kein exklusives Sonderthema „am Rande“. Es berührt den weltweiten Umbruch der Religionen bzw. der Bindungen von Menschen an Religionen.

 

1. These:
Der früher oft von Soziologen angekündigte Tod der Religionen ist nicht eingetreten. Das ist empirisch erwiesen. Die meisten Menschen bleiben spirituell interessiert. Sie folgen dabei nur nicht mehr automatisch den familiär vermittelten, angelernten religiösen Haltungen. Sie wollen religiös sein, wo wie sie es selbst für richtig und hilfreich halten. Früher waren Konversionen – etwa zu einer anderen christlichen Kirche – noch problematisch. Es herrschte das autoritäre Denken vor: Cuius regio, eius religio: Wo ich gerade geboren wurde, da habe ich die Religion anzunehmen. Das ist ein sehr europäisches, christliches Denken. In Asien ist das ganz anders.

Und in Europa und Amerika ist dieses religiös fixierende Denken überholt.

2. These

In der Übernahme von Weisheit, Praxis, usw. aus anderen Religionen: Damit wird meine eigene „angestammte“ Religiosität relativiert. Relativität wird also als Wert anerkannt: Jede Person lebt die eigene Religion relativ, sie kann dabei aber für sich subjektiv überzeugt sein, das ist meine „absolute“ Wahrheit. Sie wird diese ihre Wahrheit aber anderen nicht „aufdrängen“.

3. These

Es wird die andere Religion, Spiritualität, als nicht mehr befremdliches und Störendes wahrgenommen. Ich will von diesen anderen Religionen usw. lernen.

4. These
Damit wird die Relativität der Religionen (aller) insgesamt eingestanden.

5. These

Der einzelne ist der Maßstab, was er sich auswählt. Es gibt Zen- Christen; es gibt Sufi – Juden, es gibt katholische Shintoisten, es gibt Jesus – begeisterte Atheisten. Diese Vielfalt wächst, sie ist ein Zeichen und eine Herausforderung für ein tolerantes, respektvolles Miteinander der Unterschiedlichen Menschen und Gruppen. Das schließt nicht aus, dass es tatsächlich auch religiös – ästhetische Schleckermäulchen gibt, die mal hier, mal da probieren und im ewigen Probieren und Schleckern ihren religiösen Sinn sehen.

6. These

Der einzelne weiß, dass er auswählt, also im klassischen Sinne „häretisch“ ist.  Dabei weiß er aber auch, dass religiöses Leben individuell gestaltet, immer schon häretisch war. Beispiel: Ein Katholik kann z.B. mehr an Maria und Pater Pio glauben als an die göttliche Trinität. Häresie wird heute nur offenkundiger und sozusagen erlaubter (auch wenn die Kirchlichen Autoritäten dagegen sind und diese expliziten Häretiker verteufeln und ausgrenzen).

7.These

Wir müssen den Begriff Patchwork neu definieren und wohl von einem negativ gefärbten Verständnis befreien. Wer andere als patchworker bezeichnet (Patchwork – Familien etwa), geht aus von einem traditionellen, uniformen Familien begriff).

8. These

Religion à la carte: Man muss nicht immer das vorgeschriebene Menu bestellen.

9. These

Religion soll (mich) erlösen, d.h. mir meinen Lebenssinn zur eigenen Prüfung oder Verwerfung vorschlagen: Menschen mit multireligiösen Bindungen suchen sich diesen Lebenssinn. Das ist ein Zeichen für eine tiefe Nachdenklichkeit über das eigene Dasein. Dabei wird Gott als „göttlich“ erlebt und nicht festgelegt auf einen einzigen Modus.

10. These

Die Frage bleibt, wo und wie die zunehmende Gruppe multireligiöser Menschen ihren Austausch, ihre Zusammenkünfte, feiert. Die alten Strukturen sind noch nicht offen genug für diese neueste religiöse Entwicklung. Finden Sie die gemeinsame Kraft, die wirklich dringenden Aufgaben der Weltgesellschaft aufzugreifen, Hunger, Öko – Katastrophen, Armut….

11. These

Die multireligiöse Bindung kann ein Beitrag sein für den Frieden, für den Respekt der „anderen“, die dann ja nicht mehr die anderen sind, sondern Freunde, die mir wesentliches geben.

…..Der Roman von Yann Martel „Schiffbruch mit Tiger“, jetzt als Kino Film, Life of Pi, ist ein Bekenntnis zur multireligiösen Bindung. Bezeichnenderweise lehnen die religiösen Führer das multireligiöse Interesse von Pi ab.

Zum Thema empfehlen wir als Vertiefung: „Multiple religiöse Identität“. Theologischer Verlag in Zürich, 2008.

copyright: Christian Modehn