Die liberale Theologie: Wo sie lebt, was sie fordert, was ihr wichtig ist: Ein Interview mit Professor Wilhelm Gräb, Humboldt Universität zu Berlin
Die Fragen stellte Christian Modehn. Veröffentlicht am 31. 12. 2012
Die aktuellen Religionsstatistiken weltweit zeigen, dass die christlichen Kirchen zahlenmäßig zunehmen, vor allem auch in Afrika. Aber es sind Kirchen, die dem sehr konservativen, “orthodoxen”, wenn nicht dem sogen. fundamentalistischen Bereich angehören.
Woran liegt es, dass die eher liberalen und progressiven Kirchen weltweit zahlenmäßig ins Abseits geraten?
Die Kirchen, die wachsen, sind ganz selten „orthodox“, auch nicht „konservativ“ und längst nicht immer in dem Sinn fundamentalistisch, dass sie auf einem starren Wort-Glauben und einer patriarchalen Moral beharren. Die Kirchen, die wachsen, sind in ihrer Lehre undogmatisch, geben aber klare Weisung in der Lebensführung. Es sind solche Kirchen, die die religiösen, ethischen und ökonomischen Lebensbedürfnisse der Menschen zu befriedigen in der Lage sind.
Mit liberaler Theologie im alteuropäischen Verständnis haben diese Kirchen, die am zumeist der Pfingstbewegung zuzurechnen sind, natürlich direkt nichts zu tun. Auch wird man sagen müssen, dass ihre charismatischen Führer in der Regel autoritär über ihre Gemeinde herrschen und dabei oft schonungslos ihre ökonomischen Interessen verfolgen. Aber es sind Kirchen, die es ganz offensichtlich verstehen, elementare Bedürfnisse der Menschen aufzunehmen. Sie schaffen es, wie auch immer, dass die Menschen ihre Kirche als für sie lebensdienlich erfahren. Nicht immer, aber oft verbessert sich tatsächlich auch ihre ökonomische Situation. Nicht selten mag zwar der Vorwurf berechtigt sein, es würde nur die Gutgläubigkeit der Menschen ausgenutzt. Aber ich denke, das genau ist der Fehler, den die „Befreiungstheologie“ macht. Da wissen es die intellektuellen Theologen stets besser, was dem Wohl der Menschen dient und deshalb gesellschaftlich und politisch zu geschehen hat.
Liberale Theologie hat ein sie entscheidend kennzeichnendes Merkmal darin, dass sie zwischen Religion und Theologie unterscheidet. Sie will die gelebte Religion nicht intellektualisieren. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Man muss sehen, dass die kulturelle und sozio-ökonomische Situation der meisten Menschen in den Ländern, in denen die Pfingstkirchen erfolgreich sind, eine andere ist als diejenige, auf die die traditionellen Main-Line-Churches bzw. Missionskirchen immer noch eingestellt sind. Die Pfingstkirchen haben ein Gespür für die Bedürfnisse, die die Menschen selbst als sie unbedingt angehende empfinden. Diese richten sich nicht auf Theologie, schon gar nicht auf eine aufgeklärte, die Vernunft der Religion verteidigende Theologie. Liberale Theologie ist aber, da sie zwischen Theologie und Religion unterscheidet, zur Anerkennung einer kirchlichen Praxis fähig, die elementare Lebensbedürfnisse der Menschen aufzunehmen vermag. Das bedeutet nicht, dass sie alles gut findet, was zahlenmäßigen Erfolg verspricht. Aber ihre Kritik will sie als einbezogenen in weltgesellschaftlich vorgehende Bildungs- und Kommunikationsprozesse verstehen, nicht als Aufklärungskampagne aufgeklärter Theologen, die ihre liberale Theologie unters Volk bringen wollen.
Wenn Kirchen wachsen wollen, dann müssen sie den richtigen Ton finden, damit Menschen sich in dem, was sie selbst als ihre elementaren Lebensinteressen empfinden, angesprochen und verstanden fühlen. Das gelingt den Pfingstkirchen in vielen Ländern dieser Erde besser als den traditionellen aus der Reformation hervorgegangen Kirchen, die am Primat einer rationalen Theologie festhalten, aber dabei das Herz der Menschen nicht erreichen. Diese Kirchen verlieren ihre Mitglieder, da haben Sie Recht. Aber ihre liberale Theologie hilft diesen Kirchen auch nichts, solange jedenfalls nicht, als sie die liberale Theologie an einem entscheidenden Punkt missverstehen, nämlich eben dem, dass es die Theologie von der Religion und damit den seelsorglich-spirituellen und leibsorglich-materiellen Interessen der Menschen zu unterscheiden gilt. Letztere gilt es in der kirchlichen Praxis zu verfolgen. Theologie kann als Befähigung zur Reflexion auf diese Interessen hilfreich sein, muss dann aber, um wirksam zu sein, in religiöse Sprache übersetzt werden, vor allem gilt es zu sehen: Wo das Interesse an aufgeklärter Religion kein religiöses Lebensinteresse ist, dort bringt es auch nichts, dieses Interesse auf breiterer Front in der religiösen Praxis zu verfolgen.
Die wachsenden Kirchen schießen insbesondere in den Weltgegenden „wie Pilze aus dem Boden“, die einerseits nur eine schwache politische Führung haben, andererseits in dynamischen ökonomischen Veränderungsprozessen sich befinden. Diejenigen Kirchen, die die Bedürfnisse der Menschen aufzunehmen und mit einfachen Antworten zu versehen in der Lage sind, haben Erfolg. Sie ziehen die Menschen an und schaffen es manchmal sogar, zur Verbesserung ihrer Lage, auch ökonomisch, beizutragen, gerade weil sie keine Theologie machen, oder, positiv ausgedrückt, theologisch ungemein flexibel sind, indigene religiöse Traditionen problemlos integrieren, vor allem aber den Menschen ein gesteigertes Selbstbewusstsein geben.
Meine These ist, die Kirchen wachsen dort, wo sie nicht liberale Theologie zu verbreiten suchen, sondern im Geist liberaler Theologie handeln und d.h. der Beförderung einer Religion dienen, die das Leben vor die Lehre stellt, den Menschen als Ganzen sieht, mit seinen spirituellen und materiellen Bedürfnissen, dabei eine Sprache findet, bei der die Menschen sich verstanden und in ihrer Befähigung zur Meisterung des Lebens gestärkt fühlen.
Dann stehen die religiösen und moralischen Lebensprobleme der Menschen im Vordergrund und nicht die Übereinstimmung der Kirche mit ihren eigenen Bekenntnistraditionen, dogmatischen Grundsätzen und hierarchischen Selbsterhaltungsinteressen. Würden die Kirchen hierzulande im Geiste liberaler Theologie handeln und d.h. eben die Menschen in ihren religiös-spirituellen Sinnbedürfnissen und alltagsmoralischen Herausforderungen Ernst nehmen, statt überkommene, aber unverständlich gewordene dogmatische Lehren und weltfremde moralische Prinzipien zu verteidigen, sie würden auch bei uns wachsen. Die Kirchen hier schrumpfen nicht wegen der liberalen Theologie, sondern weil sie diese allenfalls habherzig und als Sache aufgeklärter theologischer Bildung betreiben, nicht im Sinne der Befreiung der Religion zu einer Angelegenheit der Menschen, der Beförderung ihrer spirituellen, materiellen und intellektuellen (bei uns haben viele Menschen gerade auch diese in Sachen Religion – aber zumeist doch ebenfalls in Verbindung mit den beiden anderen) Lebensinteressen.
Was haben die liberalen Kirchen und die liberalen Theologien etwa in Europa falsch gemacht, dass Sie für weite auch intellektuelle Kreise offenbar heute nicht so relevant sind?
Wenn ich mit Menschen über theologische Fragen ins Gespräch komme, stelle ich immer wieder fest, dass sie längst liberale Theologen und Theologinnen sind. Sie denken religiös vom Menschen und seinen Sinnfragen her und drängen drauf, dass die religiös-spirituelle Sinneinstellung auch Konsequenzen für die Lebensführung hat. Diese finden sie dann freilich eher in den vom Geist liberaler, aufgeklärter Theologie mit hervorgebrachten Menschenrechten als in dem formuliert, was ihnen als die kirchliche Moral gilt. Diese Menschen sind dann immer ganz erstaunt, dass ich als Theologe und ordinierter Pfarrer genauso denke wie sie. Da scheint mir also ein erhebliches Kommunikationsproblem zu geben zwischen Kirche und Theologie auf der einen Seite und den an theologischen Fragen durchaus interessierten Intellektuellen auf der anderen Seite. Gewiss gibt es auch die anderen unter den Intellektuellen – sie schreiben vor allem in der FAZ –, die in einer orthodox-konservativen Theologie und einer ihr Lehr- und Wächteramt wahrnehmenden (katholischen) Kirche eine dem demokratischen Diskurs, mit all seinen Relativierungs- und Kompromissnotwendigkeiten, enthobene Autoritätsmacht herbeisehnen. Diese konservativen Zeitgeist-Theologen sind m.E. jedoch weit weg von den Menschen, die sich über theologische Fragen selbst Gedanken machen. Für sie ist die liberale Theologie keineswegs irrelevant. Sie produzieren sie vielmehr selbst, meinen in der Regel aber, damit eine andere Theologie zu haben als sie die akademischen Theologen für richtig halten und als sie in den Kirchen gepredigt wird. Vermutlich haben sich die akademische Theologie und die kirchliche Verkündigung viel zu lange an den Interessen enger, traditionsorientierter kirchlicher Kreise, den sog. Kerngemeinden, ausgerichtet, statt die Mehrheit der (einstigen) Kirchenmitglieder, dabei auch die intellektuellen Kreise, im Blick zu haben. Die denken überwiegend im Modus liberaler Theologie und warten auf eine Kirche, die die liberale Theologie endlich auch predigt.
Ist die liberale Theologie vielleicht zu stark am Individualismus orientiert? Fehlt ihr die soziale Dimension?
Das ist auch so ein Missverständnis. Die liberale Theologie ist nicht aus Missachtung der sozialen Dimension am Individuum orientiert, sondern weil sie der Meinung ist, dass der Mensch, jeder Mensch, das Recht hat, in den Angelegenheiten des Glaubens und der Moral seiner eigenen Einsicht in das, was wahr und gut ist, folgen zu können. Sie plädiert für die Religion aus freier Einsicht und damit für das Recht des Individuums, für seine religiöse und moralische Autonomie. Mit einem asozialen Individualismus hat das nichts zu tun. Liberale Theologie drängt immer darauf, dass sich die individuelle Freiheit weder mit Beliebigkeit, noch mit egoistischer Selbstverwirklichung verwechselnd darf. Die Freiheit kann, wo sie sich selbst richtig versteht, nur als verantwortliche und kommunikative Freiheit gelebt werden. Sie weiß sich religiös, in Gott begründet und auf die anderen verwiesen, die alle Gottes geliebte Kinder sind.
Ist es denn überhaupt schlimm, wenn sich liberale christliche Kirchen eher als zahlenmäßig eher kleinere Kirchen zeigen, weil z.B. der liberal – theologische Gedanke längst “Welt – geworden” ist und etwa in demokratischen Bewegungen lebendig ist?
Auch das stimmt ja überhaupt nicht. Die liberalen Kirchen sind nicht nur die weltweit die am schnellsten wachsenden Kirche, auch die Großkirchen hierzulande sind an ihrer Basis, sogar die katholische Kirche – durch und durch liberale Kirchen. Nur die kirchliche Hierarchie meint immer noch, die Kirche über Lehre und Bekenntnis, Lebensordnung und Kirchenrecht steuern zu können. Aber sie trauen sich deren Durchsetzung allenfalls noch beim beruflichen Personal zu. Ansonsten hat sich das liberal-theologische Denken weitgehend durchgesetzt, auch in der katholischen Kirche, in der die „Laien“ sogar oft theologisch liberaler sind als in den evangelischen Kirchen – weil sie nicht meinen, das Lehramt zu ihrer Sache machen zu müssen, was in evangelischen Synoden und Gemeindekirchenräten manchmal durchaus der Fall ist.
Sehen Sie ein neues Thema darin, von liberal – theologischer Seite stärker den Dialog mit säkularen Humanisten zu pflegen?
Natürlich. Denn die liberale Theologie geht vom Menschen aus. Aber der Mensch ist ihr nicht ein und alles. Sie denkt eine Größe, die über dem Menschen ist, bzw. ihm vorausgeht. Sie denkt einen Gott als Grund alles Seins und als Schöpfer des Menschen. Darüber will sie mit allen Menschen und dann insbesondre mit solchen, die humanistischer Gesinnung sind, ins Gespräch kommen. Denn liberale Theologie ist aus geschichtlicher Erfahrung überzeugt, dass es den Menschen nicht bekommt, wenn sie über sich selbst hinaus nichts Größeres kennen. Der Humanismus ist gut, aber nur wenn er auch das Maß des Menschlichen kennt und wahrt. Dazu hilft die Religion, weil sie den Menschen in einem Gott gegründet weiß. Menschen, die aus dem Bewusstsein einer letzten Abhängigkeit (von Gott) leben, werden zudem eher auch ihrer Abhängigkeit untereinander ansichtig und sehen die Menschlichkeit dort verwirklicht, wo Menschen sich gegenseitig achten und wechselseitig in ihrem unveräußerlichen Lebensrecht anerkennen.
Wie deuten Sie die “neue interreligiöse Ökumene” der konservativen Religionsführer, wo etwa Papst, katholische Bischöfe, orthodoxe Rabbiner oder russisch – orthodoxe Bischöfe manchmal zusammen mit Imamen konservative Werte verteidigen, über alle sonstigen religiösen Streitpunkte hinweg (etwa im Fall von Gotteslästerung, sogen. “Homo – Ehe” usw).
Wir haben es längst mit mindestens zwei Formen einer „interreligösen Ökumene“ zu tun und der Schnitt zwischen beiden geht mitten durch die Kirchen und Religionen hindurch. Auf der einen Seite haben wir die von Ihnen angesprochene Ökumene einer antimodernen Moderne, die die Religion zum Bollwerk der Bewahrung autokratischer politischer Machtverhältnisse, patriarchaler Wertordnungen und einer autoritären Moral macht bzw. sie als solches bewahren will. Auf der anderen Seite haben wir die Ökumene derer, die für eine universale Religion der Menschenrechte eintreten, für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ – wie ein Slogan der im christlichen Kontext entstandenen ökumenischen Bewegung lautet.
Was wir in diesen Tagen gerade in Indien erleben, wo Menschen auf die Straße gehen, um für die Gleichwertigkeit von Mann und Frau – die die vom Hinduismus geprägte Kultur nicht vorsieht – zu demonstrieren, ist ebenfalls ein Zeichen dafür, dass sich diese die traditionellen Religionskulturen und Werteordnungen übergreifende Religion der Menschenrechte zu Wort meldet. Was wir im Zuge der Globalisierung, soll diese nicht nur eine des Finanzkapitals sein, bräuchten, das wären internationale Organisationsformen auch für diese universale Religion der Menschenrechte. Die Theologie dieser Religion wird eine liberale Theologie sein oder sie wird nicht sein.
Copyright: Wilhelm Gräb und Religionsphilosophischer Salon Berlin.