Spiritualität für Atheisten und alle anderen: Die Haikus.
Der Philosoph Michel Onfray entdeckt die berühmten „Dreizeiler“ der Zen Tradition
Ein Hinweis von Christian Modehn
Michel Onfray (Caen, Frankreich) ist einer der besonders umstrittenen und streitbaren und polemischen Philosophen Frankreichs, Autor vieler, zum Teil sehr voluminöser „Geschichten der Philosophie“, zudem ein militanter Gegner des religiösen Glaubens im allgemeinen. Dass er in seiner radikalen Religionskritik oft sehr „daneben liegt“, haben inzwischen philosophische Studien gerade in Frankreich gezeigt. Das hindert Onfray freilich nicht, weiter zu polemisieren und zu pauschalen Urteilen zu kommen. Auch in Deutschland sind seine Bücher verbreitet.
Interessant und sicher wichtig auch für die weitere Diskussion in Deutschland über Spiritualität ist, dass Michel Onfray seit einigen Monaten eine für uns bislang neue, unbekannte Dimension seines Denkens zeigt, eine weniger polemisch-polternde, sondern eben ruhige, sanfte, sensiblere Art: Onfray schreibt Poesie, vor allem Haikus. In diesen Dreizeilern aus alter Zen-Tradition wird die Frage nach Gott offen gehalten, ja, sie kommt gar nicht vor und kann auch im Raum der Zen-Tradition gar nicht vorkommen als solche. Onfray tritt entschieden für die Geltung der Haikus auch in der Jetzt-Zeit ein, wenn er selbst “seine Haikus” schreibt. Er verteidigt zudem das Projekt, dass eigentlich jeder und jede – mühsam und mit Geduld – Haikus schreiben kann. Für Onfray ist eine Voraussetzung dafür die Verbundenheit mit der Natur, die Nähe zu ihr, das Erleben der Natur. In der Stadt, so Onfray, könne er keine Haikus schreiben. Was jedoch problematisch ist, denn sehr viele an Haiku-Spiritualität Interessierte leben nun einmal in Städten. Wer Haikus nur in der Einsamkeit kleiner Dörfer schreiben kann, rückt sie in den Rahmen einer idealisierten ländlichen (alten) Welt.
Aber immerhin, der Vorschlag ist gemacht und verdient umfassende Diskussion: Können Haikus, die schon vielen vorliegenden Haikus der großen Meister aus Japan und Haikus eines Monsieur Onfray und vieler anderer Damen und Herren heute, können diese also eine Basis sein für ein spirituelles Gespräch zwischen Menschen aller Glaubens-Richtungen, also Atheisten, Skeptiker, Mystiker, christlicher Rationalisten usw. Wir im Religionsphilosophischen Salon meinen ja, Haikus können eine gute spirituelle Basis sein. Wie auch andere Traditionen des Zen, etwa die Tee-Zeremonien, noch entdeckt werden sollten für eine außerreligiöse UND religiöse Spiritualität. Da gibt es noch viel zu tun für unseren privaten und völlig unabhängigen Religionsphilosophischen Salon Berlin und die viel besser finanziell etablierten Akademien usw. Die Suche nach gemeinsamen Traditionen für Atheisten und Glaubende/Religiöse ist doch nicht ergebnislos und uferlos, die gemeinsame Gesprächs-Basis könnte es bereits geben, wenn man nur diesen Vorschlägen ausgerechnet von Onfray folgen möchte: Schreiben wir Haikus….
Zu den französischen Publikationen Haikus und Poesie von Michel Onfray:
Un Requiem athée (Galilée, 2013). Avant le Silence/Haïkus d’une année (Galilée, 2014). Les Petits Serpents (Galilée, 2015). L’Éclipse de l’éclipse (Galilée, à paraître en 2016).#
Haikus hat die von Martin Heidegger inspirierte Philosophin Ute Guzzoni in ihrem großartigen Buch „NICHTS“ (Verlag Karl Alber) dargestellt und philosophisch interpretiert. Eine anregende und anstrengende Lektüre!