Der heilige Geist wird noch skeptischer angesichts der “Vatileaks”. Ein Brief aus Rom

Der heilige Geist wird noch skeptischer angesichts der “Vatileaks”: Ein Brief aus Rom

Von Christian Modehn

Unser kleiner Hinweis auf dieser website kürzlich auf den heiligen Geist, der als Geist eben auch skeptisch ist, prüfend und immer fragend, hat selbst in Rom, der Papststadt,  Aufmerksamkeit gefunden.

Wir freuen uns, dass ein Leser – angesichts der ersten bescheidenen Freilegungen etlicher älterer und jüngerer Skandale – uns aus Rom schreibt: „Der heilige Geist wird wohl noch skeptischer“.

In dem Text heißt es, und das ist neu in der Debatte: Es werde immer fraglicher, wie von diesem Staat aus, dem so genannten Heiligen Stuhl, die absolute Bestimmung zufallen kann, für alle Katholiken weltweit zu definieren, was zu glauben ist und wie „man“ moralisch zu leben hat.  Kurz: Ein offenbar korruptes, absolutistisches System, das an die „Glanzzeiten“ der Renaissance erinnert,  maßt sich an, zu definieren, was Evangelium ist, was Jesus von Nazareth tatsächlich wollte, was die große humanistisch- universale Vision Reich Gottes bedeutet.

Die Freilegung struktureller Korruptheit des römischen Systems heute ist vielleicht eine noch größere Erschütterung als die Freilegung des sexuellen Missbrauchs durch Priester weltweit über viele Jahre.

Da ist, so wird von unserem Leser betont, eine absolute Monarchie, so versteht sich der Vatikan auf seiner offiziellen Website selbst.

(„Die Regierungsform ist die absolute Monarchie. Staatsoberhaupt ist der Papst, der die absolute gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt inne hat“.

Gewaltenteilung gibt es also nicht, siehe: http://www.vaticanstate.va/DE/Staat_und_Regierung/Geschichte/Die_Vatikanstadt_heute.htm

Und diese absolute Monarchie, wo alles in den Händen – eines (nun 85 jährigen) Papstes liegt – kennt keine Gewaltentrennung, also keine demokratische Kontrolle und vom Wesen her keine Transparenz. Indem Benedikt XVI. jetzt beteuert, trotz allem weiterhin auf dem Felsen Petri zu stehen, betont er auch die Unveränderlichkeit des absolutistischen Regimes, also des Fehlens jeglicher Transparenz. „Man sollte für die Freilegung einer Dokumente sehr dankbar sein“, schreibt unser römischer Leser. Das römische System, bestehend aus älteren Herren und Höflingen (Curia ist ja der “Hof”) maßt sich an, in göttlichem Auftrag, Werte und Tugenden, Glauben, Lieben, Hoffen verbindlich für alle Katholiken zu lehren. Der Widerspruch zu einem demokratischen Leben heute könnte – einmal mehr jetzt  – dokumentiert, kaum größer sein.

Der Brief des Lesers aus Rom fragt weiter: Hat dann noch die These der heutigen  kritischen Reformer recht, man könne von Innen her dieses Renaissance – System reformieren? Unter welchen Bedingungen sind Renaissance – Systeme verschwunden, wird diese Frage diskutiert?, fragt der Leser.

Werden da nicht von Reformern Illusionen geweckt und gutwillige Leute in die Irre geführt, wird ihnen in DIESEM Engagement für Reformen kostbare Lebenszeit geraubt?

Wir geben die Fragen aus Rom gern weiter zur Diskussion.

Weiter schreibt der Leser aus Rom: Warum schweigen zu dem Thema die einst etwas mutigeren Ordensgemeinschaften?

Warum schweigen die protestantischen Kirchen zu den aktuellen “Freilegungen” im Vatikan?

Wir erlauben uns, unabhängig  von dem “Brief aus Rom”, ein Zitat aus dem neuen Buch des international geschätzten katholischen Theologen und Philosophen Prof. Dr. Tomás Halik (Prag),  “Nachtgedanken eines Beichtvaters” (geschrieben 2005, auf Deutsch 2012, Herder) , wieder zu geben. Auf Seite 293 schreibt Tomás Halik:

“Unsere Zeit ist eine Zeit der Erschütterungen…So ist eines der großen Paradoxa, die wir derzeit durchleben … wohl darin begründet, dass gerade derjenige Bereich der (römischen) Kirche, der diese weiterhin für eine =feste Burg= hält, meiner Meinung nach wie ein auf Sand errichtetes Gebäude zusammenstürzen wird”.

Copyright: religionsphilosophischer-salon.de

 

Tomas Halik: Nachtgedanken eines Beichtvaters

Die Nacktheit des Glaubens: Tomas Halik und die Nachtgedanken eines Beichtvaters

Er sagt, dass junge Menschen heute in einer postoptimistischen Zeit leben. Und hofft, dass aus Glaubenden Suchende werden. Fragen an den Prager Theologen, Philosophen, Soziologen … und Skeptiker Tomás Halík

Von Christian Modehn

Aus aktuellem Anlass wurde am 4.8. 2015 ein weiterer Beitrag über Tomas Halik hier publiziert über sein Nein zu Veranstaltungen anläßlich der “Gay Pride” in seiner Prager St. Salvator Kirche. Lesen Sie den aktuellen Beitrag und klicken Sie hier.

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Hier das Interview von 2012:

Herr Halík, Ihr neuestes Buch heißt »Nachtgedanken eines Beichtvaters«. Hat ein Beichtvater besondere Erkenntnisse?

Tomás Halík: Einmal in der Woche, meist mehrere Stunden lang, kommen Menschen zu mir zum Beichtgespräch oder zur geistlichen Beratung. Wenn ich dann spätabends zu Hause bin, bedenke ich noch einmal, was diese Menschen spüren. Dabei zeigt sich eine Art Trend: Vor allem junge Menschen haben nur sehr wenig Vertrauen in das Leben, auch wenig Vertrauen in Institutionen wie die Kirchen. Die meisten leben in einer »postoptimistischen Zeit«. Die großen Versprechen der Moderne, etwa »immer mehr Fortschritt«, gelten für sie nicht mehr. Sie können sich nicht mehr auf einen Fundus von Vertrauen beziehen. Es herrscht eine tiefe geistige Krise. Die Unterhaltungsindustrie bestimmt und verändert fast alle Lebensbereiche, selbst die Politik und die Religion. Kommerzielle Unterhaltung ist eine Droge! Diese Welt habe ich in meiner Perspektive als Beichtvater vor Augen, der die Seele der Menschen kennenlernt. Mein neues Buch ist also alles andere als ein dogmatischer Traktat übers Beichten.

Wenn der Optimismus vorbei ist – wofür treten Sie persönlich dann ein?

Halík:Ich wehre mich gegen den religiösen Optimismus, der da meint: Der liebe Gott wird schon alles zum Guten wenden; wir müssen nur fleißig beten, dann gibt es das, was wir bei Gott »bestellen«. Das ist Magie! In Tschechien gibt es den Satz: »Optimistisch ist nur ein Mensch, dem die Informationen fehlen.« Für mich ist entscheidend, die Krise, etwa den Mangel an authentischem Glauben, wirklich auszuhalten und nicht in Illusionen zu fliehen. Wir sollten das biblische Paradox annehmen: Nur durch das Kreuz und den Tod ergibt sich Neues, ein Sieg der Hoffnung.

Auch im Blick auf die Entwicklung der katholischen Kirche und der Theologie gibt es wenig Grund, optimistisch zu sein?

Halík: Meines Erachtens liegt das Christentum in Europa auf dem Sterbebett. Ich frage Pfarrer in meiner Heimat manchmal: »Welche Kirche haben wir in fünfzig Jahren?« Höre ich die Antworten, dann habe ich oft das Gefühl, dass ich mich in der Familie eines Schwerkranken befinde, wo eine stille Übereinkunft gilt, dass über diese Krankheit nicht gesprochen werden darf. In diversen kirchlichen Milieus hatte ich sogar das Gefühl, als sei ich in das Theaterstück »Geschlossene Gesellschaft« von Jean-Paul Sartre geraten. Im Theater versteht der Zuschauer ja nach einer gewissen Zeit, dass alle Akteure tot sind, obwohl sie so tun, als ob nichts geschehen sei. Ein tschechischer Priester hat die katholische Kirche einmal mit einer Mühle verglichen, die zwar noch klappert, jedoch nicht mehr mahlt.

Gilt das auch über Tschechien hinaus?

Halík: Es gibt in Europa eine große Müdigkeit unter den Christen, ich spreche gern von der »Müdigkeit am Mittag«: Der Morgen – im Bild gesprochen: die frühe Geschichte des Christentums – liegt hinter uns; die »Zeit der Reife«, also der Nachmittag, wie der Psychiater Carl Gustav Jung einmal sagte, steht bevor. Jetzt aber herrscht die Müdigkeit des Mittags. Diese Krisenzeit gilt es anzunehmen. Nur so kann die neue Zeit religiöser, mystischer Tiefe kommen.

Was bedeutet für Sie der Glaube?

Halík: Der Glaube ist keine Ideologie, keine billige Lehre, durch die wir irgendwie Sicherheit finden. Glauben ist das Ausgesetztsein dem Geheimnis Gottes gegenüber, ist – anspruchsvoll – Teilhabe am Leben Gottes. Mit dem Geheimnis zu leben, das schlage ich zum Beispiel auch »Atheisten« als Lebensmaxime vor.

Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?

Halík: Für mich gibt es heute nicht mehr die alte Grenzziehung zwischen den Glaubenden und den Nichtglaubenden. Beide können sehr selbstzufrieden in ihrer Position erstarren. Wichtiger ist, dass Gläubige wie Atheisten ihre Selbstzufriedenheit aufgeben und Suchende werden. Und mit den Suchenden Geduld haben! Ich selbst bin ein Suchender, ein geborener Skeptiker. Zum Glauben fand ich, weil ich konsequent skeptisch sein wollte und eben auch an meinem Zweifeln zweifelte. Ich will immer mehr die Tiefe des Glaubens erfahren, sozusagen »zum Grunde gehen«, und dann meine Erfahrungen mit anderen teilen – im gemeinsamen Suchen. Für mich ist entscheidend der von Paulus stammende Begriff der »Kenosis«, der Entäußerung und des Leerwerdens. Das ist das Gegenteil von Hochmut, Macht und Gewalt.

Hat diese Entäußerung auch eine aktuelle Bedeutung?

Halík: Ja. Gerade fand die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier statt. Dort habe ich kürzlich gesagt: Kann denn der Heilige Rock, bei aller Hochachtung vor dieser Reliquie, heute noch ein Symbol der Kirche sein? Der Rock blieb doch in den Händen der Soldaten. Jesus ist nackt gestorben. Ist also nicht die Nacktheit Christi als Bild der Kirche viel treffender? Der nackte Christus – das ist Ausdruck der Entäußerung. Manchmal scheint es mir, dass Gott die katholische Kirche – angesichts der Missbrauchsfälle etwa – der Schmach vor den Augen der Welt preisgegeben hat auch als Strafe für all ihren Triumphalismus in der vergangenen wie jüngsten Geschichte. Es ist die Strafe für den Mangel an Bereitwilligkeit oder auch für die Unfähigkeit, mit allen Konsequenzen demütig zuzugeben, dass die Kirche eine »Gemeinschaft von Pilgern« ist, dass sie unterwegs ist und nicht am Ziel und sie keine »triumphierende Kirche« spielen darf.

Sie sprechen in Ihrem Buch von dem »bescheidenen, dem kleinen Glauben«. Gibt es von hier eine Verbindung zu den Atheisten?

Halík: Durchaus, denn wenn jemand praktisch zeigt, dass er die anderen als Brüder und Schwestern behandelt, dann folgt er – unbewusst – der Überzeugung, dass alle Menschen Kinder eines göttlichen »Vaters« sind. Wer die Lebensqualität dieser Erde bewahren will, der nimmt indirekt auch den Schöpfer an. Im Handeln zeigt sich also ein verschwiegener Glaube. Er ist schon in der Person verwurzelt, er ist nur noch nicht auf der bewussten Ebene formuliert. Darum verstehe ich mich mit diesen »Ungläubigen« gut und weniger gut mit einigen Christen, die nur viele Worte machen. Es gibt also eine neue Grenze zwischen Suchenden und Festgefahrenen. Eine bestimmte Art atheistischer Kritik kann eine Verbündete des Glaubens sein. Sie kann den Glauben von infantilen religiösen Vorstellungen befreien.

In Ihrem Buch kritisieren Sie ausdrücklich den enthusiastischen Glauben charismatischer Kreise.

Halík:Der Glaube sollte nicht zu einer schlichten Emotion werden. Glauben ist ein ernsthaftes Ringen mit dem Geheimnis, vor dem man oft sprachlos bleibt. Gott wohnt im unzugänglichen Licht! Wir sind immer mit dem Schweigen Gottes konfrontiert. Diese »Nacht des Glaubens« möchte ich respektieren. In unserer Universitätskirche in Prag versuchen wir dem zu entsprechen. Hier kommen sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Mein Motto ist: »Alle sind eingeladen, niemand wird gezwungen.« Wir freuen uns, dass in den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit dort rund tausend Menschen getauft wurden. Diese offene Gemeinde ist für viele eine Art Zuhause, weil wir auch anspruchsvolle Meditationen oder Kunstausstellungen anbieten.

Wie dringend sind Reformen in der katholischen Kirche?

Halík: Die katholische Kirche muss sich immer reformieren. Sie sollte zudem Pluralität in den eigenen Reihen zulassen. Die frühe Kirche war ja in ihrer Organisationsstruktur, Theologie und Liturgie weit bunter als das heutige Christentum. Eine völlige Einheit der Kirche war niemals und wird wohl nie eine historische Tatsache sein. Über all die Themen, die die Kirchenvolksbewegung Wir sind Kirche vorbringt, sollte ruhig und sachlich diskutiert werden. Das schreibe ich auch in meinem Buch. Ich denke, dass diese Gruppen in mancherlei Hinsicht schließlich doch recht haben. Aber ich wende mich entschieden gegen die Vorstellung, die ich allerdings nicht allen Vertretern dieser Bewegung unterstelle, dass sich durch eine Demokratisierung und Liberalisierung der Strukturen, der Disziplin und etlicher Punkte der Moraldoktrin der katholischen Kirche ein neuer Frühling des Christentums einstellen könnte. Aber auch den Traditionalisten gegenüber habe ich meine Vorbehalte: Sie wollen in eine vormoderne Zeit zurück und suchen sich aus dem Ganzen des Glaubens aus, was ihnen gefällt. Damit sind sie häretisch. Glauben aber ist keine bequeme Gewissheit.

Sind das Perspektiven, die aus Ihrer Sicht angesichts des 50. Jahrestages des Zweiten Vatikanischen Konzils im Herbst bedeutsam sein können?

Halík: Durchaus, man denke an die festlichen Worte, mit denen das Konzilsdokument »Über die Kirche in der Welt von heute« beginnt: dass eben »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Kirche« sind. Diese Worte klingen fast wie ein Ehe-Gelöbnis: Die katholische Kirche gelobt dem modernen Menschen Liebe, Achtung und Treue in guten wie in schlechten Zeiten. Ist sie ihrem Versprechen jedoch treu geblieben? Kann sie heute mit gutem Gewissen eine »Goldene Hochzeit« mit der modernen Gesellschaft feiern? Auf der anderen Seite muss man allerdings auch nüchtern fragen: War für den modernen Menschen eine solche »Ehe« überhaupt je begehrenswert? COPYRIGHT: PUBLIK – FORUM. Wir weisen ausdrücklich empfehlend auf diese Zeitschrift hin. www.publik-forum.de

Lesetipp: Tomás Halík: Nachtgedanken eines Beichtvaters – Glaube in Zeiten der Ungewissheit. Herder Verlag. 320 Seiten. 16,99 €

PS. am 6.6.2012:  Wir erlauben uns, aus aktuellem Anlaß im Vatikan,  ein Zitat aus dem neuen Buch von  Prof. Dr. Tomás Halik (Prag),  “Nachtgedanken eines Beichtvaters” (geschrieben 2005, auf Deutsch 2012, Herder) , wieder zu geben. Auf Seite 293 schreibt Tomás Halik:  “Unsere Zeit ist eine Zeit der Erschütterungen…So ist eines der großen Paradoxa, die wir derzeit durchleben … wohl darin begründet, dass gerade derjenige Bereich der (römischen) Kirche, der diese weiterhin für eine =feste Burg= hält, meiner Meinung nach wie ein auf Sand errichtetes Gebäude zusammenstürzen wird”.

Fichtes 250. Geburtstag: Ein “Atheist” oder ein moderner Denker des Göttlichen?

Ein „Atheist“ oder ein moderner Denker des Göttlichen?

Hinweise zum 250. Geburtstag von Johann Gottlieb Fichte

Von Christian Modehn

Anlässlich des 250. Geburtstages des Philosophen Johann Gottlieb Fichte ( am 19. Mai 2012) möchte ich auf einige (!) interessante Aspekte seines Denkens – vor allem im religionsphilosophischen Zusammenhang – hinweisen.

-Es wurde vielfach debattiert, ob die „theoretischen“ Arbeiten Fichtes (also etwa seine Wissenschaftslehren) als Hauptthema neben den eher sekundären „populären“ Arbeiten stehen, also etwa der „Bestimmung des Menschen“ oder der „Anweisung zum seligen Leben“. Die Studie von Peter L. Oestereich und Herman Traub „Der ganze Fichte“ (Stuttgart 2006) zeigt, dass auch die „populären“ Arbeiten gleichberechtigt zu sehen sind und für Fichte selbst genauso wichtig waren.

–  Man darf nicht vergessen, dass ein Hauptmotiv für Fichtes eigenes Philosophieren war, die Vermittlung des Denkens an eine breite Allgemeinheit zu leisten. Es ist bekannt, dass Fichte als Vortragender und Professor – etwa in Berlin – durchaus um Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit sehr bemüht war. Rhetorik war eines seiner Hauptinteressen. Selbst fürs Predigen hatte er eine frühe Leidenschaft, Das schließt nicht aus, dass seine „Wissenschaftslehren“  durchaus höchste Konzentration verlangen, also „schwierig“ sind.  In jedem Fall: Philosophie kommt für Fichte aus dem Leben her und führt nach grundlegender Reflexion wieder zum (dann neu gesehenen) menschlichen Leben zurück.

– Diese Philosophie hatte kein anderes Ziel, als die Freiheit des Menschen zu begründen und zu verteidigen und sozusagen Mut zu machen, praktisch frei zu leben in einer autoritär geprägten Welt.

– Für Fichte hießt eine entscheidende Hauptfrage: Wie kann ich philosophisch überzeugend von dem Absoluten reden? Die religionsphilosophische Thematik gehört also entschieden zu Fichtes Denken.  In dem Zusammenhang wird dann gern auf die interessante Schrift „Die Anweisung zum seligen Leben“ (von 1806) verwiesen, sie ist in Berlin erschienen; an der heutigen Humboldt Universität war er 1811 der erste gewählte Rektor! Für alle Berlin – Interessierten: Fichte wohnte (seit 1800) in der Kleinen Präsidentenstraße Ecke Neue Promenade.

„Die Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 hat als Voraussetzung die Schrift Fichtes „Appellation an das Publikum“ von 1799. In dieser Schrift muss sich Fichte gegen den Vorwurf verteidigen, er sei Atheist. Diese Debatte hatte damals sehr viel Aufmerksamkeit gefunden und die ganze „intellektuelle Welt“ Deutschlands bewegt. Verständlicherweise, in einer Gesellschaft, in der die kirchliche Orthodoxie auch politisch noch allmächtig war. Man sprach darum von einem „Atheismus – Streit“, ausgelöst durch eine Publikation im „Philosophischen Journal“. Fichte hatte in einem Beitrag  gezeigt- darin von Kant inspiriert -, dass die Ethik der Religion VOR – geordnet ist. „Religion entsteht einzig und allein aus dem Wunsch des guten Herzens, dass das Gute in der Welt die Oberhand über das Böse behalten möge“. Und an anderer Stelle schreibt Fichte: „Es ist nicht Pflicht zu glauben, dass Gott als moralischer Weltregent existiert. Sondern es ist allein die Pflicht zu HANDELN, als ob man es glaube“. Darum ist für Fichte die „moralische Ordnung selbst das Göttliche“. Wer Gott Persönlichkeit und Bewusstsein zuspricht, wird in blasphemischer Weise dafür sorgen, dass Gott zu einem endlichen Gegenstand wird, so Fichte. Diese Debatten sind bis heute aktuell, man denke nur an die Diskussionen rund um die Publikationen des niederländischen Pfarrers (der mit den Remonstranten verbunden ist) Klaas Hendrikse. Fichte jedenfalls verteidigte sich 1799, er wollte angesichts dieser Einsichten nicht als Atheist gelten (was auch sozial  und finanziell damals höchst unerfreulich gewesen wäre). „Fichte hat einen großen Teil derer, die sich in der Öffentlichkeit zu äußern pflegten, zumindest darin auf seine Seite gezogen, dass die Anklage des Atheismus grundlos sei“, so Wilhelm G. Jacobs, in der Rowohlt Monographie „Fichte“.

Diese Position von 1799 hat Fichte dann in seiner Publikation „Die Anweisung zum seligen Leben“ (1806) revidiert. Jetzt hat Fichte offenbar die radikale Subjektivitätsphilosophie seiner früheren Jahre verlassen, in der vom Subjekt aus die ganze Wirklichkeit konstituiert wurde. Nun wird Religion als etwas Objektives gedeutet, das vor aller „Konstitution“ durch das Ich besteht. Religion wird nun als objektiv gegebene Macht erlebt, die den einzelnen wie die Gesellschaft zu bilden vermag. Nun sieht Fichte – durchaus mystisch -, dass es vor allem auf die Liebe ankommt, in der der Mensch  sich mit dem Göttlichen vereinigen kann. In der Liebe werden die Grenzen der Vernunft überschritten. Im Gedanken kann der Mensch dann das Ewige hier auf dieser Welt erreichen und aussprechen. Dann erreicht der Mensch in der das Denken eröffnenden Liebe das „Leben in Gott, das Freisein in Ihm“. Aber dieses Ewige soll im Gedanken „egriffen“ werden!

– Was ist menschliches Leben für Fichte? Es ist geistiges Leben, das sich philosophierend gestaltet, nicht nur in einer Art von philosophischer Kontemplation, sondern im Einsatz für die Freiheit im Staat und in der Gesellschaft.

– Zur Grundtendenz seiner Philosophie schreibt Fichte: “In Absicht der Religionslehre ist der Zweck meiner Philosophie der, dem Menschen weder seinem Verstand noch seinem Herzen irgendeinen Standpunkt übrig zu lassen, als den der reinen Pflicht und des Glaubens an eine übersinnliche Welt“.

Fichte wurde am 19.5. 1762 in Rammenau in der Lausitz geboren, er ist am 29.1.1814 in Berlin gestorben.

Copyright: Christian Modehn

 

Tugenden und Laster: Eine philosophische Revue

Müßiggang ist aller Liebe Anfang

Wenn Tugenden zu Lastern werden – und umgekehrt.   Christian Modehn im Gespräch mit dem Philosophen Martin Seel

Wollen Sie an einer philosophischen Revue teilnehmen? Dabei können Sie ganz schön erschüttert werden. Denn im Laufe der Revue werden Tugenden zu Lastern und umgekehrt. Der Philosoph Martin Seel (Universität Frankfurt am Main) zeigt überzeugend, wie fließend die Übergänge sind zwischen gutem und bösem Verhalten. »111 Tugenden – 111 Laster« heißt sein neuestes Buch. Es stellt keineswegs 111 Tugenden den 111 Lastern gegenüber. Vielmehr sind die 111 menschlichen Charakterbilder in sich doppeldeutig: Eine Tugend kann zum Laster werden und ein Laster zur Tugend.

Herr Seel, verwischen Sie in Ihrem Buch nicht das klare Bild, das bisher ein tugendhaftes beziehungsweise ein verabscheuungswürdiges, ein lasterhaftes Leben auszeichnete?

Martin Seel: Auch nach der Lektüre meines Buches bleibt es dabei, dass Tugenden ein gutes und gerechtes Leben fördern und Laster ein solches Leben behindern und im Extremfall zerstören. Jedoch führt das Buch vor, dass in den meisten der menschlichen Charaktereigenschaften, die wir auf den ersten Blick als Laster verbuchen, durchaus auch Energien der Tugend stecken und entsprechend, dass in den menschlichen Tugenden häufig auch Kräfte des Lasters wirksam sind. Das heißt: Tugenden sind heikle Balancen, die oft nur mit Mühe gehalten werden können – aber die Mühe ist es wert.

Zum Beispiel: Warum kann das hoch gelobte Mitgefühl auch lasterhaft, also schädlich sein, für den Mitfühlenden wie für die Betroffenen?

Martin Seel: Wir alle kennen das Phänomen des falschen Mitleids. Aber auch dort, wo wir nicht nur ein geheucheltes, sondern ein echtes Mitgefühl für die Lage anderer Personen aufbringen, kann es vorkommen, dass wir die anderen durch unsere Empathie erdrücken: Wir glauben, besser als diese selbst zu wissen, wie es ihnen ergeht, und maßen uns an, deren Leben in unsere Hand zu nehmen. Zugleich kann übersteigertes Mitgefühl auch denen schaden, die es zeigen. Dies geschieht, wenn sie vor lauter Anteilnahme das Gespür für ihr eigenes Wohlergehen verlieren, was ihnen früher oder später die Kraft und die Fähigkeit zu aufrichtiger Anteilnahme raubt.

Oder denken wir an die Tugend der Frömmigkeit. Warum kann sie ins Lasterhafte »umkippen«?

Martin Seel: Wie immer man Frömmigkeit im Einzelnen versteht, ob als eine religiöse Haltung oder auch nur eine Haltung der »Weltfrömmigkeit« (die von jener gar nicht immer so leicht zu unterscheiden ist) – ihre Formen kippen ins Lasterhafte um, wenn der Glaube der Frommen zu einem starren, dogmatischen und darum intoleranten Glauben wird, der keinen anderen neben sich duldet. Insofern ist aller Fanatismus fehlgeleitete Frömmigkeit.

Nehmen wir eine relativ milde Form des Lasters, etwa die Faulheit. Kann denn aus Faulheit eine tugendhafte Haltung werden?

Martin Seel: Aber sicher. Das ethische Lob der Faulheit ist ja durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder gesungen worden. Nicht weil Faulheit in jeder Hinsicht wohltuend und sozialverträglich wäre, aber doch, weil in ihr manchmal ein Geist des Widerstands gegen falsche eigene Erwartungen und maßlose gesellschaftliche Zumutungen steckt, der durchaus heilsam sein kann. In der richtigen Dosis erweist sich Faulheit als eine Form des Müßiggangs. Und entgegen anderslautenden Gerüchten ist Müßiggang nicht aller Laster, sondern aller Liebe Anfang.

Könnte man es ethisch rechtfertigen: Wer nie untreu war, weiß nicht, was Treue ist? Also sollte man sich eine gewisse »Dosis« Untreue gönnen?

Martin Seel: Ich würde vorsichtiger sagen: Wer den Zweifel an der Treue nicht kennt, kennt den Sinn der Treue nicht. Der Zweifel, auf den es hier ankommt, betrifft die Frage, ob die Person oder Sache, der ich treu bin, es wirklich wert ist, dass ich es bin. Sich dies fragen zu können ist selbst ein Zeichen der Fähigkeit zur Treue.

Ein hundertprozentig heiliger Mensch ist also philosophisch gesehen nichts als ein frommer Wunsch?

Wenn wir mit der Figur des Heiligen, wie es in der Moralphilosophie und Moraltheologie immer wieder geschehen ist, das Ideal einer Person verbinden, die sich vollkommen sicher auf der Seite des Guten bewegt, weil diese den Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Selbstsorge und Sorge für andere, zwischen den Forderungen des Tages und denen über den Tag hinaus (usw.) überhaupt nicht kennt, dann handelt es sich nicht einmal um einen frommen Wunsch, sondern einfach um eine unsinnige Vorstellung. Denn moralisch zu sein heißt gerade, den Widerstreit zwischen unterschiedlichen Anforderungen und Erwartungen ohne Bedauern anzunehmen – ohne den Irrglauben, man könne ein für alle Mal auf der richtigen Seite sein. Die wirklichen Menschen übrigens, die in religiösen Traditionen als »Heilige« verehrt werden, haben sich diesen Irrglauben kaum zuschulden kommen lassen.

Der Revolutionär Robespierre etwa wollte »nur tugendhaft« sein. Ist er gerade deswegen zum Massenmörder geworden?

Martin Seel: Unter anderem deswegen würde ich sagen. Moralischer Rigorismus ist gerade politisch gefährlich. Er verletzt das menschliche Maß eben dadurch, dass er sich einbildet, im Besitz der einzig wahren Deutung dieses Maßes zu sein. Auch hier gilt: Die reine Illusion ist immer eine Illusion der Reinheit.

Gibt es denn für Sie ein Laster, das niemals die Möglichkeit hat, sich positiv zur Tugend zu entwickeln?

Martin Seel: Ja, zumindest ein Laster bildet in meinem Buch eine Ausnahme von der Ambivalenz-Regel: die Grausamkeit. Grausam sind Personen oder Institutionen, die bereit sind oder es in Kauf nehmen, die leibliche und seelische Integrität von Personen ohne Rücksicht auf ihr Wohlergehen zu verletzen. In dieser Einstellung steckt nicht der geringste Keim einer Orientierung am Guten.

Es kommt in Ihrer Tugend-Philosophie darauf an, die Übergänge wahrzunehmen, wenn zum Beispiel aus der authentischen Freundlichkeit das Bloß-freundlich-Tun wird?

Martin Seel: Überall in der menschlichen Lebensführung kommt es auf die feinen Unterschiede an – so auch hier. Wobei nicht einmal das bloße Freundlich-Tun ganz zu verachten ist, etwa, wenn wir an die »professionelle« Freundlichkeit von Schalterbeamten oder Kassiererinnen denken.

Sie wenden sich gegen die definitive Abgeschlossenheit einer bestimmten Lebenshaltung. Könnte man sagen: Sie wollen das Leben flüssiger machen? »So bin ich und so bleib ich auf ewig«: Dieser Spruch hat dann wenig Sinn?

Martin Seel: »Das Leben« flüssiger machen zu wollen wäre wohl allzu vermessen. Außerdem erscheint es den meisten von uns ohnehin als einerseits zu flüssig (und flüchtig) und andererseits zu festgelegt (und beengend). Der Prozess der Lebensführung aber kann so gestaltet werden, dass in ihm eine Offenheit für die Ungewissheiten und Instabilitäten des Lebensvollzugs zum Ausdruck kommt. Nur dank dieser Offenheit ist so etwas wie ein über einzelne glückliche Augenblicke hinaus gelingendes Leben möglich.

Sie nennen Ihr Buch »eine philosophische Revue«: Das heißt, die Leserinnen und Leser können mit der Lektüre irgendwo beginnen, zum Beispiel bei der »Coolness«. Dann werden sie lesen, dass Coolness durchaus eine Mischung aus Gleichmut, Lässigkeit und Gewitztheit ist. Aber dann schreiben Sie auch: Coolness, »diese wohltemperierte Leidenschaft, lässt sich auf Dauer im wirklichen Leben nicht durchhalten«. Hoffen Sie darauf, dass durch Erkenntnis eine neue Einstellung zur Coolness, vielleicht zum Leben insgesamt, gelingt?

Martin Seel: Das Argument an der Stelle, auf die Sie sich beziehen, besagt, dass ein Leben lang durchgehaltene Coolness zur bloßen Fassade verkommen müsste: »Nur brüchige Coolnes ist cool«, lautet deshalb in dieser Sache das paradoxe Fazit. Wer das akzeptiert, verleiht seiner Lebenseinstellung einen bestimmten Akzent. Die Sache der Tugenden und Laster ist aber zu komplex, als dass man im Nachdenken über eine von ihnen sogleich die ganze Einstellung zum Leben neu konfigurieren könnte. Dies aber kann man ohnehin durch Nachdenken allein gar nicht bewerkstelligen. Erfahrung und Übung, und mit ihnen Enttäuschung und Überraschung, sind die unumgänglichen Begleiter einer wirksamen ethischen Reflexion.

Meinen Sie also, dass philosophische Besinnung und Kritik einen therapeutischen Charakter haben kann?

Martin Seel: Ja, durchaus: vor allem deshalb, weil es sich um Selbsttherapie handelt, die ihre Basis in einsamer oder gemeinsamer Selbstverständigung hat.

Sind denn Tugenden aus Ihrer Sicht lernbar? Und wenn ja, wer sollte Tugenden lehren?

Martin Seel: Hier möchte ich paradox sagen: Sie sind lernbar, aber nicht lehrbar. Dies folgt aus dem, was ich eben gesagt habe: Die Ausbildung von Tugenden und auch Laster ist wesentlich eine Sache der individuellen Selbstformung, die im günstigen Fall von beständigen Lernprozessen begleitet wird. Das bedeutet freilich weder, dass man den eigenen Charakter insgesamt in Regie nehmen könnte, noch, dass man nicht auf die Hilfe und das Beispiel anderer angewiesen wäre. Dennoch bleibt der Gedanke eines Tugendlehrers ein hölzernes Eisen. Die Fähigkeit, im eigenen Handeln diverse Tugenden zu beweisen, hat nicht die Verfassung eines Expertenwissens, das in feinen Dosen an die Laien weitergegeben werden könnte. Denn es gibt hier weder Laien noch Experten. Wohl aber gibt es Menschen, die anderen durch Erziehung, Anleitung, Imagination und Animation auf die Sprünge helfen können, indem sie veranschaulichen oder vormachen, wie es trotz allem möglich ist, sich selbst und den anderen einigermaßen gerecht zu werden.

Sollten heute Philosophen bestimmte Tugenden in den Mittelpunkt stellen, wenn nicht fördern? Etwa Gerechtigkeit, Engagement, Solidarität?

Martin Seel: Dies sind wichtige und unbedingt zu stärkende soziale Tugenden, über denen aber auch die stärker individualethischen Tugenden nicht vergessen werden sollten, wie beispielsweise Humor, Selbstachtung und Selbstvertrauen. Denn ohne diese werden jene nicht umsichtig wirksam werden können. Außerdem ist zu beachten, dass gerade die primär sozialen Tugenden in einer Gesellschaft wie der unseren nicht allein individuelle, sondern zugleich institutionelle Werte bezeichnen: Ohne gerechte Institutionen beispielsweise bleibt das individuelle Bemühen um Gerechtigkeit immer auch ohnmächtig. Daher hat die Förderung von Tugenden von vornherein eine politische Dimension.

Wie können Philosophen die verschiedenen Formen der Gier, etwa in der Finanzwelt, analysieren und kritisieren?

Martin Seel: Gerade an diesem Beispiel zeigt sich die eben erwähnte politische Dimension der Rede von Tugenden und Lastern. Das Problem der Finanzmärkte und ihrer Regulierung liegt ja nicht in erster Linie an der persönlichen Gier der Akteure, die auf dem Parkett der Börsen zugange sind. Es liegt vor allem an den systembedingten Imperativen, denen die Finanzindustrie gehorcht, und ihrer Indifferenz gegenüber den Entwicklungen der Realwirtschaft. Hier gegenzusteuern – und damit auch die Spielräume individueller Gier zu verringern – ist eine eminent politische Aufgabe, die zudem nur im internationalen Maßstab angegangen werden kann.

Warum brauchen wir eine neue Tugendlehre? Reicht im Alltag nicht der kategorische Imperativ Immanuel Kants als Orientierung völlig aus, der mich mahnt, immer zu prüfen, ob meine Lebensmaxime allgemeines Gesetz für alle werden kann?

Martin Seel: Der kategorische Imperativ oder andere Formen eines Instrumentalisierungsverbots im Verhalten der Menschen untereinander reichen allein deshalb nicht aus, weil sie angesichts konkreter Situationen viel zu wenig aussagen können. Und weil sie nicht in der Lage sind, der Möglichkeit von normativen Konflikten gerecht zu werden. Eine moderne Tugendlehre erinnert demgegenüber an die praktische Auslegung allgemeiner moralischer und rechtlicher Grundsätze, wie sie in der Gestalt einer Pluralität von Tugenden und Lastern in unserem alltäglichen Leben wirksam ist – und dort auch immer wieder verhandelt wird. Denn das ist der Sinn der Tugenden: Denen, die sich um ihren Besitz bemühen, eine Deutung ihres Lebens zu geben, die es ihnen erlaubt, ihr Dasein in Selbstachtung und in mit anderen geteilter Selbstbestimmung zu vollbringen.

Buchhinweis: Martin Seel. 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue.

S. Fischer. Frankfurt am Main. 288 Seiten. 18,95 €

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2012 in der empfehlenswerten Zeitschrift Publik Forum.

Hinweis am 2.1.2019: Über das neue (2018) Buch von Martin Seel “Nichtrechthabenwollen” klicken Sie hier.

Coypright: christian modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Biophilie und Nekrophilie. Perspektiven von Erich Fromm

Biophilie und Nekrophilie

Perspektiven von  Erich Fromm

Anlässlich des „Religions –  philosophischen Salons“ am 20.4.12.

Von Hartmut Wiebus, Berlin

Der Beitrag von Hartmut Wiebus (Dipl. Päd.) führt in einigen systematischen Überlegungen hin zum Verständnis der grundlegenden Kategorien „biophil“ und „nekrophil“, die treffend die psychische und kulturelle/politische Situation unserer Zeit analysieren. CM.

Um den Hintergrund seines wissenschaftlichen Ansatzes zu verdeutlichen, möchte ich kurz die Lebensdaten sowie die Studiumsrichtungen und die beruflichen Tätigkeiten von Erich Fromm skizzieren:

Erich Fromm wurde am 23.März 1900 als einziges Kind orthodoxer jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren.

Seine wissenschaftliche Laufbahn begann mit dem Studium der Fächer Psychologie, Philosophie und Soziologie in Frankfurt und Heidelberg. Nach seiner Promotion folgten noch weitere Studien in Psychiatrie und Psychologie an der Universität in München. Ein psychoanalytisches Training absolvierte er von 1926  – 1929 in München und Berlin. 1930 gründete er mit anderen das „Süddeutsche Institut für Psychoanalyse“ in Frankfurt am Main. Dort war er auch Mitglied und Dozent des Institutes für Sozialforschung der Universität, aus dem die „Frankfurter Schule“ hervorging. Die empirische Untersuchung über die autoritäre Charakterstruktur der deutschen Arbeiter und Angestellten vor Hitler (in der Weimarer Republik) war die bedeutendste Tätigkeit, die Fromm neben seiner psychoanalytischen Praxis und Lehre am Institut für Sozialforschung abschloss.  Wegen der Nationalsozialisten emigrierte Erich Fromm 1933 über die Schweiz, 1934 in die USA. Dort hielt er eine Reihe von Vorlesungen am Institut für Psychoanalytik in Chicago. Auch das Institut für Sozialforschung musste wegen der Nationalsozialisten an die Columbia Universität New York verlegt werden.

E. Fromm zog deswegen nach New York um. Ende der dreißiger Jahre nahm er seine Arbeit am „Institut für Sozialforschung“ neben seiner psychoanalytischen Praxis wieder auf. Bis 1949 arbeitete er im den USA an verschiedenen Instituten und Universitäten. In Mexiko übernahm er 1949 eine Professur an der Autonomen Nationalen Universität von Mexiko – Stadt und eröffnete dort eine Abteilung Psychoanalyse der Medical School. Hier lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr l965. Neben all dieser Lehrtätigkeiten betrieb er seine psychoanalytische Praxis  weiter (insgesamt über 45 Jahre), auch war er als Supervisor und Lehranalytiker tätig. Von l957 bis 1963 leitete er eine Feldforschung in Mexiko, die er mit Michael Maccoby 1970 unter dem Titel: „Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschafts-Charakter eines mexikanischen Dorfes“ veröffentlichte.

Die Theorie vom Wesen des Menschen und der existentiellen Bedürfnisse

E. Fromms Definition des Wesen oder der Natur des Menschen geht vom Vergleich mit dem Tier aus. Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist das Bewusstsein seiner selbst, und dies ist die konstante Natur, die allen Menschen gemeinsam ist. Im Menschen ist die Einheit mit der Natur zerbrochen, in der sich das Tier noch befindet. Der Mensch ist sich seiner Vergangenheit und seiner Zukunft und damit auch seines Todes bewusst, also auch seiner Ohnmacht gegenüber seinem natürlichen Schicksal.

E. Fromm beschränkt sich aber nicht darauf, das Wesen des Menschen in diesem Konflikt zu sehen. Erst im Zusammenhang mit der Frage und dem Bedürfnis nach einer Antwort, die aus dem oben genannten „Zerbrechen der Einheit“ resultieren, ist das Wesen des Menschen ganz erfasst. Dieser Zusammenhang ist für E. Fromm die Ursache für die von ihm festgestellten existentiellen Bedürfnisse. Sie sind als psychische Bedürfnisse zu verstehen, deren Befriedigung für E. Fromm genauso lebensnotwendig sind wie die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlaf, Sexualtrieb). Es wurden von ihm 6 existentielle Bedürfnisse definiert:

1. Das Bedürfnis nach Bezogenheit

Dieses Bedürfnis ist bedingt durch das Abgeschnittensein von der primären oder so genannten instinktiven Einheit mit der Natur. „Der Mensch ist von der ursprünglichen Einheit mit Natur, welche die tierische Existenz kennzeichnet, weggerissen. Da er zugleich mit Vernunft und Vorstellungskraft begabt ist, kommen ihm seine Vereinsamung und sein Abgetrenntsein, seine Ohnmacht und sein Unwissen und die Zufälligkeit seiner Geburt und seines Todes zu Bewusstsein. Er könnte diesen Zustand nicht einen Augenblick ertragen, fände er nicht neue Bindungen an seine Mitmenschen, welche die einst von Instinkten gelenkten ersetzen“ (Der moderne Mensch und seine Zukunft, Frankfurt am Main, 1978, S.31(DmMusZ)

2. Das Bedürfnis nach Transzendenz

Dieses Bedürfnis betrifft den Erwerb der spezifisch menschlichen Qualität (Vernunft, Bewusstsein). Dadurch bedingt ist das Bedürfnis, die passive Kreatürlichkeit zu überwinden, also selbst die Rolle des Schöpfers zu übernehmen. „Transzendenz soll andeuten, dass der Mensch die egozentrische und narzisstische Bezogenheit aufheben kann, also die Gefangenschaft des eigenen Ichs überwinden kann“ (Anatomie der menschlichen Destruktivität, Reinbek bei Hamburg, 1978, S.260 Fußnote (AdmD)

3. Das Bedürfnis nach Verwurzelt – Sein

Dieses Bedürfnis ist bedingt durch den Verlust der Geborgenheit bei der Geburt und damit des Verwurzelt – Seins in der Natur.

„Nie sind wir frei von zwei einander widerstreitenden Strebungen: uns aus dem Mutterleib, aus der tierischen Form unserer Existenz zu einer humaneren Gestaltung unseres Dasein zu erheben, von der Gebundenheit zur Freiheit aufzusteigen – und der andern: in den Mutterschoß, zur Natur, zur Gewissheit und Sicherheit heimzukehren……. Hier liegt auch der Schlüssel zur humanistischen Psychoanalyse“ (DmMusZ, 28/29).

4. Das Bedürfnis nach einem Identitätserlebnis oder Einheitserlebnis

Dadurch, dass die Einheit mit der Natur zerbrochen ist, ist es für den Menschen unerträglich, „wenn er sich nicht ein Gefühl der Einheit in sich selbst und mit der natürlichen und menschlichen Welt außerhalb erstellen könnte.“ (AdmD, 262) Die Lösungsmöglichkeiten des Problems sind aber vielfältig, wobei die Determination durch sozioökonomischen Umstände den „Weg“ des Menschen entscheidend beeinflussen. Allerdings sieht E. Fromm  auch den subjektiven Freiraum des Einzelnen:

„Die Alternative, zwischen dem regressiven und dem progressiven Weg, Erlösung zu finden, ist nicht nur ein sozial-historische. Jeder einzelne Mensch ist mit derselben Alternative konfrontiert. Sein Spielraum an Freiheit, die regressive Lösung in einer Gesellschaft, die sich für sie entschieden hat, abzulehnen, ist bestimmt klein – doch er existiert. Aber große Anstrengung, klares Denken und die Anleitung durch die Lehren der großen Humanisten sind dabei unentbehrlich“ (AdmD, 264).

5. Das Bedürfnis nach Wirkmächtigkeit (Das Bestreben, etwas zu bewirken)

Aus der spezifischen Situation des Menschen entspringt das Gefühl der Ohnmacht. Dieser Zustand zwingt den Menschen, etwas zu tun bzw. zu wirken, um das Gefühl seiner Identität und seines eigenen Willen zu erhalten, um sich nicht nur als Objekt der Natur zu empfinden, der „physischen Gesetzen“ (DmMusZ, S.25) er unterworfen ist. In der Wirkmächtigkeit erlebt der Mensch sich nicht als Objekt, sondern als schöpferisches Subjekt.

6. Das Bedürfnis nach einen Rahmen der Orientierung und nach  einem Objekt der Hingabe

Analog zu seiner Wesensbestimmung hat E. Fromm hier ein Bedürfnis benannt, das den Menschen als intellektuelles Wesen fasst.

„Bewusstsein seiner selbst, Vernunft und Phantasie – jene neuen Eigenschaften des Menschen, die weit über die Fähigkeiten selbst der klügsten Tiere zum instrumentalen Denken hinausgehen – erfordern ein Bild von der Welt und ein Bild vom Platz des Menschen in dieser Welt, das strukturiert ist und einen inneren Zusammenhang besitzt. Der Mensch braucht eine Landkarte seiner natürlichen und sozialen Welt, ohne die er in Verwirrung geraten würde und unfähig wäre, zielgerichtet und konsequent zu handeln“ .(AdmD, S.259)

Der Charakter

Die Antworten auf diese existentiellen Bedürfnisse äußern sich als verschiedene Charakterzüge oder menschliche Leidenschaften. Sie resultieren aus der Charakterorientierung, weil sie im Charakter des Menschen integriert sind.

Für die unterschiedlichen Antworten auf die existentiellen Bedürfnisse werden von E. Fromm weitgehend die sozialen Verhältnisse verantwortlich gemacht. Natürlich berücksichtigt der Psychoanalytiker E. Fromm auch die ererbten Dispositionen, wie das Temperament und die vorgeburtliche Ereignisse und die Geburt selbst. Sie begünstigen aber für ihn lediglich eine bestimmte Charakterorientierung vor anderen.

Ferner übersieht E. Fromm auch nicht die physischen Bedürfnisse des Menschen. Für ihn sind sie die dem Menschen noch verbliebenen Instinkte, d.h. seine organischen Triebe wie Hunger, Durst, Schlaf und Sexualtrieb. E. Fromm hält ihre Befriedigung für lebenswichtig, denn sie liegen in der Beschaffenheit des menschlichen Körpers begründet. Die Intensität der physischen Bedürfnisse ist für ihn aber geringer als die der Charakterzüge:

„Das dramatische Element im menschlichen Leben wurzelt in den nichtbiologischen Leidenschaften und nicht in Hunger und Sexualität. Kaum jemand begeht Selbstmord, weil er in Bezug auf seine sexuellen Wünsche nicht auf seine Kosten kommt, aber viele nehmen sich das Leben, weil sie ihren Ehrgeiz oder ihren Hass nicht befriedigen konnten.“ (Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen, Stuttgart, 1979 ( Ps + Grenzen)

– Gesellschaftscharakter

Mit dem Gesellschaftscharakter erklärt E. Fromm die Übereinstimmung der psychischen Haltung der einzelnen Individuen einer Gesellschaft oder Kultur. Im Gegensatz zum individuellen Charakter, durch den sich die Menschen eines Kulturkreises unterscheiden, ist der Gesellschaftscharakter der gemeinsame Kern der Charakterstruktur aller Mitglieder einer Gesellschaft bzw. einer Kultur.

E. Fromm betont zwar  bei der Formung des Gesellschaftscharakters den dominierenden Einfluss der sozioökonomischen Verhältnisse, berücksichtigt aber auch die ideologischen Einflüsse durch Ideen und Ideale (religiöse, politische und philosophische Ideen), die in einer gewissen Wechselwirkung mit der sozioökonomischen Struktur einer Gesellschaft stehen.

Bei der Vermittlung auf den Individualcharakter spielt die Familie die entscheidende Rolle: „Die Familie ist das Medium, durch das die Gesellschaft bzw. die Klasse die ihr entsprechende, für sie spezifische Struktur dem Kind und damit dem Erwachsenen aufprägt; die Familie ist die psychologische Agentur der Gesellschaft.“ (Über Methoden und Aufgaben einer Analytischen Sozialpsychologie, GA I, S.42)

Um mit dem Dilemma fertig zu werden, das seiner Existenz mitgegeben ist, gibt es für den Menschen nur eine regressive oder progressive Lösung. Es existiert für E. Fromm aber kein angeborener Trieb zum Guten oder zum Bösen. ( Die Seele des Menschen, Stuttgart, 1979, S 121 (Seele)

Progressiv bedeutet bei E. Fromm soviel wie fortschreiten, dem Leben dienen. Progressiv entspricht seinen Begriffen produktiv und biophil. Regressiv entspricht seinen Begriffen nichtproduktiv, nekrophil, d.h., das Leben eleminieren, zur vormenschlichen Form der Existenz regredieren. (Sigmund Freuds Psychoanalyse – Größe und Grenzen. Stuttgart, 1979,S.152 (Ps u. Grenzen) Die biophile Antwort resultiert nach seiner Theorie aus der zerbrochenen Einheit des Menschen mit  der Natur, während die nekrophile Lösung in den historischen, von Menschen selbst geschaffenen soziologisch-ökonomischen Dichotomien begründet ist. Darum können sie auch vom Menschen selbst verändert werden.

„Gleichzeitig ist noch hinzuzufügen, dass, wenn ich sage, dass die gesellschaftlichen Umstände für die Entwicklung des Menschen verantwortlich sind, ich damit nicht unterstellen möchte, er sei das hilflose Objekt der äußeren Umstände. Die Umweltfaktoren fördern oder hindern die Entwicklung bestimmter Charakterzüge und bestimmen die Grenzen, innerhalb derer der Mensch handelt. Trotzdem sind des Menschern Vernunft und Wille sowohl individuell als auch sozial machtvolle Faktoren in seinem Entwicklungsprozess. Nicht die Geschichte macht den Menschen, der Mensch erschafft sich selbst im Prozess der Geschichte“ (,AdmD S.299)

Das Hauptanliegen E. Fromms ist diese Förderung der produktiven Kräfte, der lebensfördernden Leidenschaften: „In Wahrheit sind alle menschlichen Leidenschaften, die ´guten´ wie die ´schlechten´, nur als Versuch des Menschen zu verstehen, die banale Existenz der reinen Fristung des Lebens zu transzendieren. Wandel der Persönlichkeit ist nur dann möglich, wenn es ihm gelingt, sich zu einer neuen Art, dem Leben Sinn zu geben, zu ´bekehren´, indem er seine lebensfördernden Leidenschaften mobilisiert und auf diese Weise eine stärkere Vitalität und Integration erfährt, als er sie zuvor besaß.“ (AdmDA, S.26)

Die folgenden kurzen Beschreibungen der Grundformen des Charakters sind idealtypisch gefasst, obwohl der Charakter eines bestimmten Individuums meist eine Mischung einiger dieser Orientierungen darstellt, wobei allerdings eine Orientierung dominiert.

Ferner sind sie nach Assimilations- und Sozialisationsprozess unterschieden, also durch Aneignung und Assimilierung der Dinge und indem der einzelne Mensch sich zu den Menschen und zu sich selbst in Beziehung setzt.

Die Differenzierungen der Charakterorientierungen und die Zusammenfassung in biophil und nekrophil, sind das Resultat der Beobachtungen E. Fromms, in seiner psychoanalytischen Praxis (AdmD, 373, Seele, 7 u. Illusion, 16).

Die nekrophilen oder nicht-produktiven Charakterorientierungen im Assimilierungsprozess

Die durch unser Gesellschaftssystem bedingte Machtlosigkeit, Objekthaftigkeit und Ohnmacht des einzelnen, sind nach E. Fromm hauptsächlich verantwortlich für die regressiven Tendenzen der Menschen. Die Möglichkeit der Veränderung zu den produktiven Orientierungen hin ist demnach ein gesellschaftliches Problem.

Die rezeptive Orientierung

„Bei der rezeptiven Orientierung hat der Mensch das Empfinden, die „Quelle alles Guten“ läge außerhalb seines Selbst. Er glaubt das Wünschenswerte (gleichgültig, ob es sich um etwas Materielles handelt oder um Zuneigung, Liebe, Wissen und Vergnügen) nur von diesem außer ihm Liegenden empfangen zu können. (Psychoanalyse und Ethik, Frankfurt am Main l978 (Ethik, 77)

Mit der Marktorientierung vermischt, bildet sie den heute vorherrschenden Konsumcharakter.

Die ausbeuterische Orientierung

Parallel zur rezeptiven Orientierung wird auch hier die „Quelle alles Guten“ außerhalb des eigenen Selbst vermutet. Nur besteht hier nicht die Passivität, sondern die Aktivität in Form von Stehlen. An sich reißen, Wegnehmen, Ausbeuten ist für diese Orientierung symptomatisch. Das mangelnde Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten führt im geistigen Bereich zum Plagiat.

Zu den Orientierungen im Sozialisationsprozess besteht die größte Affinität zu den verschiedenen Formen des Sadismus.

Die Hamsterorientierung (hortende Orientierung oder auch analer Charakter)

Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Orientierungen zeichnet sie sich durch große Distanz aus, die aus der Angst gegenüber der Umwelt resultiert. Nähe ist nur durch totales Beherrschen des anderen zu ertragen. Charakteristisch ist hier übertriebene Sauberkeit, Pünktlichkeit, sterile Ordnungsliebe. „Der hortende Mensch hat leicht das Gefühl, dass er eine begrenzte Menge an Kraft, Energie und geistiger Kapazität besitzt……….Für ihn besitzt Tod und Zerstörung mehr Realität als Leben und Wachstum“ (AdmD 332)

Die Marktorientierung

Diese Orientierung ist für E. Fromm die dominanteste Orientierung unserer Zeit. Sie ist ein Resultat unserer westlichen Industriegesellschaft, deren Markt auf Angebot und Nachfrage basiert. Nicht der Gebrauchswert einer Ware ist entscheidend, sondern das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt den Wert der Ware.

Diese Regulation des Marktes beeinflusst stark die Persönlichkeitsstruktur des Menschen dieser Gesellschaft. „Ihr wirkliches Wesen besteht darin, dass kein spezifisches und ständiges Bezugssystem entwickelt wird, die Auswechselbarkeit der Haltung ist das einzige Beständige einer solchen Orientierung. Es werden nur diejenigen Eigenschaften entwickelt, die sich am besten verkaufen lassen.“ (Ethik, 92)  Im Sozialisationsprozess besteht die größte Affinität zum konformistischen Charakter.

Die nekrophil-destruktive Orientierung

Seit l964 (in „Seele“ und noch deutlicher 1973 in „AdmD“)  hat E. Fromm noch eine weitere Orientierung zu den Orientierungen von 1947 (in „Ethik“)  herausgearbeitet. Die Möglichkeit der atomaren Vernichtung der Menschheit und der daraus resultierenden Frage, wie der Mensch selbst diese grauenhafte Massenvernichtung erdenken konnte und das Problem, wie der Mensch im Namen des Fortschritts die Welt so verpestet, dass es „zweifelhaft geworden ist, ob die Erde in hundert Jahren  noch bewohnbar ist“ (AdmD, 394), waren wohl die wichtigsten Voraussetzungen, die E. Fromm zu der Formulierung der nekrophil – destruktiven Orientierung führten. „Dabei macht es kaum einen Unterschied, ob er das absichtlich tut oder nicht. Wenn er die drohende Gefahr nicht kennen würde, könnte man ihn vielleicht von der Verantwortung freisprechen. Aber es ist das nekrophile Element in seinem Charakter, das ihn hindert, aus dem was er weiß, die Konsequenz zu ziehen.“ (AdmD, 395)

Bei der nekrophil – destruktiven Orientierung im Assimilierungsprozess handelt es sich um eine „bösartige Form“ der Legierung von hortender bzw. Analer und der Markt-Orientierung.

In den Träumen von nekrophilen Klienten E. Fromms (AdmD, 376), erscheint neben der Freudschen Symbolik des Todes, wie Exkremente und verwesende Körper, häufig mächtige Maschinen und andere Materialien aus Metall und Glas.

Die nicht-produktiven Orientierungen im Sozialisationsprozess

Diese Orientierungen stellen die unterschiedliche Art und Weise der nichtproduktiven zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Sie sind auch wieder idealtypisch gefasst.

E. Fromm unterscheidet zwei Gruppen der unproduktiven menschlichen Beziehungen, die eine ist durch Distanz und Zerstörungssucht gekennzeichnet und die andere ist die symbiotische Verbindung. Unter Symbiose versteht er den Verlust der eigenen Integrität durch eine abhängige Beziehung.

Die Orientierung der Distanz und Zerstörungssucht ist der Versuch, die Ohnmacht und Isoliertheit der spezifisch menschlichen Situation, durch Zerstörung des möglichen Bezugsobjektes aufzulösen.

Die symbiotischen Orientierungen

Der Masochismus

Passivität und Unterwerfung sind die dominierenden Kennzeichen dieser Orientierung.

„Die Macht jener Person, der man sich unterwirft, ist übersteigert, mag sie nun ein Mensch oder ein Gott sein. Sie ist alles, ich selbst bin nichts, abgesehen allein davon, dass ich ein Teil von ihr bin. Denn damit bin ich auch ein Teil ihrer Größe, ihrer Macht, ihrer Sicherheit. Der  Masochist hat selbst keine Entscheidungen zu treffen, hat kein Risiko auf sich zu nehmen, er ist niemals allein.“ (Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main l977, S. 38(Liebe)

Mit Rationalisierungen begründet der Masochist sein Verhalten gegenüber Kritikern und sich selbst. Abhängigkeit wird als Liebe, Minderwertigkeitsgefühle als vernünftige Einschätzung der Unterlegenheit und Leid als Schicksal erklärt.

Die Affinität dieser Orientierung zu der rezeptiven Orientierung im Assimilationsprozess ist durch die nach außen gerichtete Erwartungshaltung deutlich.

Unter der symbiotischen Beziehung des Masochismus und des Sadismus ist nicht primär als sexuelle Perversion zu verstehen. Das so bezeichnete sexuelle Verhalten ist nur eine der vielen Ausdrucksformen dieser Orientierung.

Der Sadismus

Während der Masochist sich selbst als Erweiterung eines anderen Wesens empfindet und formen lässt, dominiert der Sadist in der symbiotischen Beziehung als aktiver Teil, der ein anderes Wesen als Erweiterung seiner selbst einbezieht.

E. Fromm unterscheidet drei Arten des Sadismus:

1. die absolute Beherrschung des anderen,

2. die Ausbeutung Aushöhlung des anderen

3. das Quälen, Demütigen, Erniedrigen (körperlich, seelisch oder geistig)

Die erste und zweite Form des Sadismus hat eine Affinität zum ausbeuterischen Charakter im Assimilierungsprozess; während die dritte Form des Sadismus eine starke Affinität zum hortenden Charakter im Assimilierungsprozess besitzt. (AdmD S. 331)

Die Orientierungen der Distanz und Zerstörungssucht

– Die konformistische Orientierung

Die Entstehungsbedingungen dieser Orientierung sind in der Marktorientierung beschrieben, ihrem Pendant im Assimilierungsprozess. Die dort aufgeführte Wertkonzeption führt zu einer Persönlichkeit, die sich „anonymen Autoritäten“ des Marktes unterordnet. Diese Ausrichtung nach den anonymen Autoritäten führt zur total entfremdeten Persönlichkeit.

„Ich sollte tun, was jederman tut – also muss ich mich anpassen, nicht verschieden von den anderen sein, nicht auffallen; ich muss bereit und willens sein, mich zu wandeln, wenn das Schema sich wandelt ; ich darf nicht fragen, ob ich recht oder unrecht habe, sondern nur, ob ich angepasst bin, nicht eigenartig, nicht unterschieden von der Umwelt.“ (DmMusZ, S.138)

Die Gefahr der anonymen Autorität für die Entwicklung des Menschen bzw. des Wandelns der „offenen Autorität“ (Vater, Lehrer, Chef, Priester, Gott….) in die unsichtbare Autorität, liegt in deren unbewussten Verinnerlichung und dem daraus entstehenden Trugbild der Individualität. Diese Täuschung verhindert die kritische Auseinandersetzung oder Auflehnung gegenüber Verhältnisse, die für Entfremdung und Unterdrückung verantwortlich sind.

– Die nekrophil-destruktive Orientierung

Es handelt sich hier um die bösartige Form der sadistischen Orientierung, die auf Zerstörung abzielt.

Im Gegensatz zur sadistischen Orientierung, in der die Bezugsperson beherrscht und ausgebeutet, aber nicht zerstört wird, ist das Kennzeichen der nekrophil – destruktiven Orientierung, die totale Bezugslosigkeit dem Menschen, den Dingen und sich selbst gegenüber, die in der Faszination des Todes gipfelt.

„Aber selbst die Sadisten leben noch mit anderen; sie wollen sie zwar kontrollieren, aber nicht vernichten. Diejenigen, den selbst diese perverse Art der Bezogenheit abgeht, die noch narzisstischer und noch feindseliger sind, das sind die Nekrophilen. Ihr Ziel ist, alles Lebendige in tote Materie zu verwandeln; sie wollen alles und jeden zerstören, oft sogar sich selbst; ihr Feind ist das Leben selbst“ (AdmD 392)

Der Geist der Industriegesellschaft, wie er in der gleichnamigen Orientierung des Assimilationsprozesses beschrieben wurde, führt auch in der zwischenmenschlichen Beziehung zu dieser Leidenschaft der Zerstörung und der negativen Bezogenheit.

– Die narzisstische Orientierung

Ist die nekrophil – destruktive Orientierung aufgrund ihrer Zerstörungssucht die sozial gefährlichste, so ist die narzisstische die am meisten unbezogene Orientierung, die sich durch größte Distanz auszeichnet. In ihr wird nur die eigene Welt als real anerkannt, während die Umwelt verzerrt beurteilt wird. Da die Selbstüberschätzung der Kernpunkt dieser Orientierung ist, wird Kritik an der eigenen Person als feindselige Attacke aufgefasst.

„Wenn er die Welt ist, so gibt es keine Außenwelt, die ihm Angst einflößen kann; wenn er alles ist, so ist er nicht allein. Daher fühlt er sich in seiner ganzen Existenz bedroht, wenn sein Narzissmus verwundet wird.“ (Seele 75)

Die Wut kann zur Zerstörung des Kritikers führen, aber auch zur Depression, wenn durch die Kritik die Selbstaufblähung unhaltbar geworden ist. Die extremste Ausformung des Narzissmus ist die Psychose, in der keine Beziehung mehr zur äußeren Realität besteht, die durch die eigene Person ersetzt wurde.

– Gruppennarzissmus

E. Fromm sieht im Gruppennarzissmus die häufiger auftretende Form des Narzissmus beim Durchschnittsmenschen, bei dem die Entwicklung eines intensiven, auf die eigene Person bezogenen Narzissmus durch seine soziale Lage (z.B. geringer sozialer Prestige), eingeschränkt ist. „Er ist ein Nichts. Wenn er sich jedoch mit seiner Nation identifizieren oder wenn er seinen persönlichen Narzissmus auf die Nation übertragen kann, dann ist er alles.“  (Ps u. Grenzen,71)

Der Narzissmus der nationalen, politischen und religiösen Gruppen, ist für E. Fromm die Wurzel eines jeden Fanatismus. Durch die Identifikation mit der Gruppe, wird jede Kritik an diese Gemeinschaft, als persönlicher Angriff erlebt und dementsprechend bekämpft.

Die produktiven Orientierungen

Hier handelt es sich um die Beschreibung der Qualität des Fühlens und des Denkens, die bei den Menschen vorherrscht und nicht um einzelne Charaktere, wie bei den nicht-produktiven Orientierungen.

Eine kurze Zusammenfassung der Ausdrucksformen der produktiver Orientierung ist im folgenden Zitat enthalten.

„Im Bereich des Denkens drückt sich die produktive Orientierung in der richtigen Erfassung der Welt durch die Vernunft aus. Im Bereich des Handelns findet sich ihr Ausdruck in schöpferischer Tätigkeit, deren Prototyp Kunst und Handwerk sind. Im Bereich des Gefühlslebens ist die Liebe der Ausdruck der produktiven Orientierung als das Erlebnis des Einswerden mit einem andern, mit allen Menschen und mit der Natur unter Beibehaltung der Integrität und Unabhängigkeit.“ (DmMusZ, S,33)

Die Vernunft hat für E. Fromm im Gegensatz zum Verstand (Intelligenz) diese Aufgabe:

„Etwas zu wissen, zu verstehen, zu erfassen und den Menschen durch dieses Begreifen zu den Dingen in Beziehung zusetzen. Die Vernunft durchdringt das Außen der Dinge, um deren Wesen zu entdecken, ihre verdeckten Zusammenhänge, ihren tieferen Sinn.“ (Ethik, 117)

Liebe ist in erster Linie nicht Bindung an eine bestimmte Person; sie ist vielmehr eine Haltung, eine Orientierung des Charakters, die das Verhältnis einer Person zur Welt als Ganzes, nicht aber zu einen einzigen Objekt der Liebe bestimmt. Wenn ein Mensch nur eine einzige  andere Person liebt und seinen übrigen Mitmenschen gegenüber Gleichgültigkeit empfindet, ist seine Liebe nicht Liebe, sondern eine symbiotische Bindung oder gesteigerter Egoismus.“(Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main 1977, S. 69 (Liebe)

In seinen letzten Buch „Haben oder Sein,“ Stuttgart 1977, schuf  E. Fromm mit den beiden Modi des Habens und des Seins Abstraktionen zur Wertung menschlicher Wirklichkeit.

Sein Verständnis von Charakter, der für ihn jeden Ausdruck menschlicher Existenz bestimmt und der von eben diesen zwei entgegengesetzten Grundorientierungen des Habens und des Seins beherrscht wird, wobei die jeweilige dominierende Orientierung das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen grundlegend prägt, ist das Ergebnis seiner sozialpsychologischen Erfahrung und Einsicht.

Die subjektive Möglichkeit, sich aus der Habenstruktur zu lösen, um dem Sein zu folgen, sieht E. Fromm nur gegeben, wenn wir „aufhören Sicherheit und Identität zu suchen, indem wir uns an das anklammern was wir haben, indem wir es besitzen, indem wir an unserem Ich und unserem Besitz festhalten.“(ebd. S. 91)

Da das Sein sich für ihn auf die Wirklichkeit bezieht im Gegensatz zum verfälschenden illusionären Bild, ist für ihn unbedingt vermehrte Einsicht in die Realität des eigenen Selbst, der anderen und unserer Umwelt erforderlich. Dabei muss uns bewusst sein, dass die Gesellschaftsstruktur und deren Werte und Normen weitgehend unsere Entscheidung zu einer der beiden Tendenzen bestimmt.

Aber wir sollten auch die Tatsache berücksichtigen, dass das Sein durch die Praxis wächst. Das heißt, dass Solidaritäts- und Kooperationsfähigkeit, Liebe, Vernunft, das künstlerische und intellektuelle Schaffen in der Praxis wachsen, allerdings nicht als losgelöste Verkehrsform einzelner Menschen, sondern nur auf dem Hintergrund des Bewusstseins, dass das durch die Habenorientierung determinierte Gegeneinander den Interessen aller Menschen widerspricht.

In der Diskussion im Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon wurde auch auf die nekrophil/schädlichen Strukturen von religiösen Institutionen hingewiesen. Dazu folgt demnächst eine eigene Stellungnahme.

—-Empfehlend weisen wir ausdrücklich auf ein grundlegendes Buch des sehr angesehenen Kenners des Werkes von Erich Fromm hin, auf Rainer Funks Buch „Mut zum Menschen“.

 

—-Copyright: Hartmut Wiebus, Berlin.

Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Welche Religion pflegen die Kandidaten

Frankreich 2012: Was glauben die Präsidentschaftskandidaten?

Von Christian Modehn     Ergänzung vom 23.4. 2012 nach der Ersten Wahlrunde: Die sogen. praktizierenden Katholiken, also die einmal im Monat an der Messe teilnehmen, so die franz. Definition,  haben überwiegend Rechts und Mitte gewählt, so “Harris” heute. Für Sarkozy haben 47%  der praktizierenden Katholiken gestimmt (26,9 % aller Franzosen), für Hollande (Sozialist) hingegen nur 14 % ( 28,7 unter allen Franzosen). Die rechtsextreme Marine le Pen erhielt von praktizierenden Katholiken immerhin 15 % (18,5 % Landesdruchschnitt), alle Katholiken zusammengenommen, also auch die gelegentlichen Mess- Besucher, sind es tatsächlich 20 %. Die Warnungen der Bischöfe vor Le Pen nützen offenbar nicht sehr viel. Le Pen und Front National sind also unter “normalen Katholiken” sozusagen “normal” geworden. Man muss wissen, dass die regelmäßig praktizierenden Katholiken mehrheitlich der älteren Generation angehören. Sie wünschen keinen Wandel, sie sehen nichts Problematisches bei Sarkozy wie es viele andere tun, jüngere und Gebildetere Franzosen vor allem. Bezeichnend: Für die Grünen (Madame Joly) stimmten 2 % der Katholiken.  Erfreulich bleibt in unserer Sicht, dass immerhin 17 % der praktizierenden Katholiken für Bayrou gestimmt haben, einen Christen, der die Laizitität voll ernst nimmt und schätzt.

 

Es ist eine der Grundlagen der französischen Kultur, dem einzelnen nahezulegen, über den persönlichen Glauben an Gott eher diskret zu schweigen. Religion ist Privatsache, das ist der Geist, der seit der Trennung von Kirche und Staat im Jahr 1905 herrscht.

Durch Nicolas Sarkozy ist ein gewisser Wandel eingetreten. Er hat in seinem Buch „Die Republik, die Religionen und die Hoffnung“ (2004, Paris, éditions du cerf) von seiner Bindung an die katholische Kirche öffentlich gesprochen, aber eingestanden, dass er nicht regelmäßig “praktiziert“, also an der Messe teilnimmt. Wegen seiner offenen Liebe zum Katholizismus (nicht unbedingt zur katholischen Morallehre und der katholischen Soziallehre, siehe hier etwa seinen entschiedenen Willen, störende Ausländer, etwa Sintis und Roma, aus Frankreich zu vertreiben) wurde er dreimal (!) von Papst Benedikt XVI. empfangen. Er hat als (wiederverheiratet – geschiedener) Laie sogar den Titel eines „Ehrenkanonikus der Lateranbasilika“ vom Papst Benedikt empfangen (da interessierte sich der Papst nicht so stark wie sonst für die ( in seinem Sinn) eher zweifelhafte moralische Existenz der Wiederverheiratet Geschiedenen). Als Dank für die päpstliche Ehrung sagte Sarkozy: Die Priester seien wichtiger für die Ethik als die Lehrer an staatlichen Schulen. Sarkozy sorgte dafür, dass die Studien – Abschlüsse der katholischen Privatuniversitäten – wie des Institut Catholique in Paris – auch staatlich anerkannt werden. Sarkozy will die Laizität verändern zugunsten einer für die Kirche „positiven Laizität“. An dem Beispiel zeigt sich, was auch für den Vatikan „Kirchen- Diplomatie“  bedeutet.

Gegen die Instrumentalisierung des Glaubens durch einen Politiker wehrt sich mit Nachdruck ein Präsidentschaftsandidat, dem die Öffentlichkeit seinen authentischen Glauben tatsächlich seit Jahren schon abnimmt: Es ist Francois Bayrou von der Partei der Mitte „Modem“. Er ist ein Verehrer des Schriftstellers Charles Péguy oder der Philosophin Simone Weil und des katholischen Pazifisten Lanza del Vasto. Trotz seiner tatsächlichen, offen bekannten religiösen Praxis wehrt sich Bayrou, die bestehenden Gesetze der Laizität, also der Trennung von Kirche und Staat, zugunsten der Kirche verändern. Im Verlag Albin Michel (Paris 2010) erschien zu dem Thema das Buch „Les politiques ont- ils une ame?“, also : Haben die Politiker eine Seele? Um der Laizität willen kritisierte er etwa, als in Frankreich zum Tode Papst Johannes Paul II. die Flaggen auf Halbmast gesetzt wurde;  er war dagegen, dass im Projekt einer Verfassung der Europäischen Union der christliche Glaube als eine Wurzel erwähnt werden soll. „Es gibt die eine Ordnung, die des Gesetzes, und es gibt eine andere Ordnung, die des Glaubens“ heißt sein – typisch französisches, aber darüber hinaus sympathisch – richtiges – Motto.

Auch die Kandidatin des rechtsextremen Front National Marine Le Pen, bekennt sich als Katholikin, allerdings mit der Einschränkung, sie sei eine “catholique de parvis“, also eine Katholik eher auf dem Vorplatz vor der Kirche. Sie erinnert aus taktischen Gründen – gegen die Muslime ! – immer wieder an die christlichen Wurzeln Frankreichs. Weil nur die Priester der Piusbruderschaft diese Positionen unterstützen, sonst der Klerus und die Bischöfe aber eher gegen Le Pen sind, empfiehlt die rechtsextreme Kandidatin: Die Priester sollten sich aus der Politik heraushalten und „in der Sakristei bleiben“.

Ausdrücklich „atheistisch – tolerant“ präsentieren sich Nathalie Arthaud von der trotzkistischen Lutte ouvrière (LO) und Philippe Poutou, von der Neuen antikapitalistischen Partei (NPA). Wobei Poutou durchaus sozial engagierte Katholiken schätzt, etwa Mitarbeiter von EMMAUS, dem Sozialwerk, das Abbé Pierre gestiftet hat. Nathalie Arthaud (Professorin für Ökonomie) bekennt: “Der Mensch hat Gott geschaffen und die Götter nach seinem Bild, und nicht umgekehrt!“

Über ihre religiöse Bindung äußert sich fast gar nicht Francois Hollande (PS): In einem Buch aus dem Jahr 2002 „Ceux qui croient au ciel…  („Diejenigen, die an den Himmel glauben und diejenigen, die nicht an ihn glauben“)  hingegen gesteht er, doch überzeugt zu sein, das Gott nicht existiert. Er verteidigt den Geist der Aufklärung und des Rationalismus, gibt aber zu, dass der Glaube an ein höchstes Wesen eine „gewisse Erleicherung verschaffte und verschafft“. Hollande wurde in Rouen in einem Pensionat mit dem Namen „la Salle“ „christlich“ erzogen.

Auch der recht populäre linke Kandidat Jean – Luc Mélenchon (Front de Gauche) weigert sich über seinen religiösen Glauben ausführlich zu sprechen. „Der Glaube betrifft einzig und allein nur mich selbst”, sagte er. Er wehrt sich gegen die –angebliche ? – Rekonfessionalisierung der Republik unter Sarkozy. Im März 2011 gestand Mélenchon, einst Messdiener gewesen zu sein, „zu einer Zeit, als man die Messe noch auf Lateinisch las“. Er war früher auch Journalist bei der christlichen Wochenzeitung „La Voix Jurassienne“…

Also, ganz können selbst die über Religiöses Schweigsamen doch nicht darauf verzichten, gelegentlich religiös etwas zu plaudern.  Die neugierige Öffentlichkeit will halt bedient werden.

Auch die Kandidatin der “Grünen”, Eva Joly, hat sich auf die Bibel bezogen, als sie inbesondere das 8. Gebot  (der “10”) in den Mittelpunkt ihres Interesses stellte: “Ich verachte die Lüge, wer auf die Bibel schwört und dann ein falsches Zeugnis gibt, hat weder Respekt vor sich selbst noch vor seinem Gesprächspartner”. Sie legte in einem Interview mit La Vie allen Nachdruck darauf, “für das Gemeinwohl zu arbeiten”.

Der Kandidat der Partei “Debout la République”, Nicolas Dupont – Aignan, gibt sich als “Katholik seit meiner frühen Kindheit”. Er hatte Verständnis, sich einige sehr konservative Katholiken schockiert zeigten über das Theaterstück von Romeo Castellucci, das von “Integristen” auch als blasphemisch gedeutet wurde. Sie kämpften für das Verbot des Theaterstücks in Paris.

Jacques Cheminade steht der “la Rouche” Bewegung nahe.

 

 

Copyright: Christian Modehn Berlin

Der Artikel verdankt etliche Informationen dem empfehlenswerten Sonderheft der Zeitschrift LA VIE (PARIS) mit dem Titel „Les Présidents et Dieu“.  2011.