Camilo Torres: 50 Jahre tot und lebendig

Camilo Torres: 50 Jahre tot und lebendig

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Der Beitrag wurde am 1. März 2016 ergänzt mit einem Hinweis zu dem bislang nicht beachteten Thema: “Camilo Torres in Berlin“, mitgeteilt von dem columbianischen Historiker Juan Biermann Lopez. Den interessanten Beitrag finden Sie weiter unten.

Am 15. Februar 1966, vor 50 Jahren, wurde ein Priester als Guerillero im kolumbianischen Urwald erschossen, in „Patio Cemento“ im Nordosten des Landes. Er hatte sich als Theologe und Soziologe, der Befreiungsbewegung ELN erst ein paar Tage zuvor angeschlossen. Camilo Torres ist sein Name, er ist einer der ersten lateinamerikanischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der das bestehende Elend der Massen als – von den Herrschenden- gewolltes und gemachtes Elend begriffen hatte und anklagte. Viele Menschen in Europa aber haben von ihm nur „irgendwie“ „etwas Schlimmes“ gehört, zumeist durch die abwertenden Urteile, wenn nicht Verteufelungen seiner Person durch katholischen Erzbischöfe, Kardinäle und Rom-ergebene Theologen im Rahmen des „Anti-Kommunismus“… als Ergebenheit gegenüber dem Imperiuim, den USA. Diese Kirchenführer sahen in Camilo Torres vor allem einen Gewalttäter, einen Revoluzzer, einen üblen Burschen, der zu den Waffen griff usw. usw. Dabei wurde und wird verschwiegen, dass Camilo Torres als einer der ersten Theologen in Lateinamerika, und noch dazu in dem ultra-konservativen Katholizismus in Kolumbien damals, die Verpflichtung der Christen deutlich formulierte: Es gilt nicht zuerst, fromme Seelen zu bilden und treue und gehorsame Kirchenschäfchen zu formen, sondern mündige Bürger, die im Geist des armen Jesus von Nazareth die Sache der Armen praktisch vertreten, und deswegen fordern: Nicht mehr caritative Hilfe, sondern bessere und gerechterer politische und soziale Strukturen in einem Staat, der den Namen Demokratie verdient. In Kolumbien damals wechselten sich Konservative und Liberale in der Regierung ab, eine dritte Möglichkeit war ausgeschlossen. Wenn es gerecht zuginge, müßte Camilo Torres, der hochbegabte Theologe und Soziologe, ein Prophet genannt werden. Gerecht geht es aber nicht zu…

Inzwischen wissen jedoch viele Menschen in Kolumbien und Lateinamerika sehr viel besser, wer Camilo Torres war: Er war Theologe und Soziologe; er war einer der ersten, der Erlösung, dieses spiritualistisch verwendete Wort, als reale Befreiung, als soziale Befreiung, als Gültigkeit der universalen Menschenrechte, verstand und selbst lebte. Er wollte zum Schluss erst dann die Messe wieder feiern, wenn die Gerechtigkeit wenigstens elementar gilt und real ist in Staat und Gesellschaft. Vorher muss eben aufgeklärt, diskutiert und informiert werden… Wohl aus Verzweiflung griff dann Camilo Torres zu den Waffen und wurde, kaum kämpfend, erschossen. Eine Tragik, die bisher keine Erklärung gefunden hat.

Camilo Torres wurde am 3. Februar 1929 in Bogotá geboren, die biografischen Daten lassen sich leicht finden. Erste Übersichten bietet wikipedia. Wichtig ist die Erkenntnis, dass die “Radikalisierung” des Studentenpfarrers Camilo Torres (zum Priester geweiht 1954) vor allem durch die “Blockadehaltung der kolumbianischen Bischöfe” verursacht wurde, davon spricht Hubert Frank in seiner Kolumbien-Studie in “Kirche und Katholizismus seit 1945, Band 6, Seite 312, 2009 Paderborn). Das heißt: Es waren die Kirchenfürsten selbst, in ihrem blockierten Denken, die einen klugen Theologen wie Camilo Torres zur politischen Radikalität führten! 1965 verzichtete er auf den offiziellen priesterlichen Dienst, hatte aber immer das Bewußtsein, weiterhin “priesterlich” (d.h. für die anderen lebend) zu wirken. In Kolumbien galt für engagierte Leute nur die abstrakte Gegenüberstellung, entweder die Mitwirkung in der Kirche (und dem Staat) in der gegebenen korrupten Form oder eben in der Guerilla. Von dem damaligen Kardinal von Bogotá, Luis Concha, wird berichtet, dass er die völlig abwegige und falsche Lehre vertrat, das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) verpflichte nur zu liturgischen, nicht aber sozialen Reformen im Land. (siehe Hubert Frank, ebd.). Solche Bischöfe haben den Status quo der himmelschreienden Ungerechtigkeit nur verlängert. Sie waren Ideologen, und was Kardinal Conchas Meinung zum Konzil betrifft, eben Irrlehrer, Irrlehrer im Bischofsamt.

Interessant ist, dass sich Camilo Torres schon als Kind in BERLIN aufhielt, sein Vater war Kolumbianischer Konsul; ein zweites Mal war er im Jahr 1959 für einige Wochen in BERLIN. Von diesem Berlin-Aufenthalt hier ist meines Wissens fast nichts Näheres bekannt. Jedenfalls kehrte er danach wieder nach Bogotá zurück. Es wäre eigentlich für eine Religions – und Theologie-Geschichte Berlins doch hoch bedeutend, darüber mehr zu wissen. Berlin, ein bißchen auch die Camilo Torres Stadt, warum denn nicht? Wäre ein Thema für eine sich katholisch, also „allumfassend“ nennende Akademie hier… Oder für den neuen Titel einer Kirche, vielleicht anstelle des kriegerischen Kaisers Wilhelm? Und seiner „Gedächtniskirche“ (An welche vorbildliche Haltung soll man bei diesem Kaiser eigentlich spirituell denken?, … aber das ist ein anderes Thema). “Camilo Torres Gedächtniskirche”: Warum sollte es solche Kirchen nicht geben? Vielleicht in Berlin, wo es mindestens schon 10 mal Luther- oder 5 mal Herz-Jesu-Kirchen usw. gibt…

Inzwischen, dank Papst Franziskus wieder mal und möglicherweise, wer weiß es, wird selbst in der römschen Kirche Kolumbiens etwas objektiver über die große humane Gestalt, den großen Theologen Camilo Torres anders, nämlich objektiver, gedacht. Der Erzbischof von Cali, Dario de Jesus Monsalve, meint gar, Camilo Torres sei heute ein „Symbol der Versöhnung für diese Zeiten des Friedens in Kolumbien“. Die Prälaten erinnern sich an das zentrale Projekt ihres neu entdeckten Helden, an die von Camilo mehrfach besprochene „amor eficaz“, die wirksame Liebe, also jene Nächstenliebe, die gerechtere Strukturen tatsächlich schafft und nicht nur bespricht.

Heute gibt es – außerhalb Deutschlands – bereits zahlreiche Orte, Häuser und Studienzentren, die nach Camilo Torres  benannt sind, in Kolumbien sogar schon und in Santander, Spanien, in Louvain, Belgien, wo Torres studierte,  ist ein Studentenheim der katholischen Uni nach ihm benannt. Inzwischen gibt es ein Studienzentrum Camilo Torres (Mitarbeiter dort ist der Historiker und Camilo Torres Spezialist Juan Biermann), das Theater La Candelaria in Medellin, Kolumbien, führt ein Torres Stück auf.

Man merke also: Die üble Anti-Torres-Propagada, vertreten durch das allmächtige Opus Dei in Kolumbien und ihren CIA-Freund, den kolumbianischen Kardinal Lopez Trujillo, (Medellin, später im Vatikan,) all diese Verleumdungen haben nicht den Sieg errungen: Camilo Torres lebt heute, sein theologisches Denken inspiriert, abgesehen von seinem späten Gang zu den Waffen. Das war eine Verzweiflungstat, der kein Verzweifelter nachfolgen darf.

Aber Camilo Torres hat schon unmittelbar nach seinem Tod inspiriert, als sich in der Kirche kritische Gruppen bildeten: So trafen sich 1968 auf dem Landgut Golconda (Kolumbien) viele Priester (mit dem Bischof von Buenaventura) zur Gründung einer eigenen Priestergruppe, die später als „Golconda-Gruppe“ internationale bekannt wurde. Sie hatte auch bis nach Argentinien gewirkt und wurde von dem damaligen Erzbischof von Buenos Aires, Bergoglio, und dem insgesamt konservativen Episkopat dort, attackiert…

CAMILO TORRES UND BERLIN: Als Camilo Torres in Berlin war….

Hinweise von Juan Biermann, Bogota.

Der Historiker und Spezialist für Camilo Torres, Juan Biermann Lopez, Bogotá, schreibt dem Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en am 1. 3. 2016 über den bislang völlig unbekannten Aufenthalt von Camilo Torres in Berlin.

„Camilo Torres hat sich in Ost-Berlin aufgehalten, für mich vom Datum her noch nicht genau zu sagen, irgendwann in den Jahren 1957 bis 1959; er besuchte Luis Villard Borda, der damals der letzte kolumbianische Botschafter war in der DDR.

Die Begegnung mit Luis Villard Borda war darin begründet, dass beide alte Freunde waren, sie studierten am Liceo Cervantes in Bogotá. Camilo Torres besuchte Berlin, um eine Gruppe junger Kolumbianer zu bilden, die gemeinsam die sozialen Probleme des Landes studieren wollten. Es bildete sich dann auch die Gruppe „Equipo Colombiano de Investigación Socio-Económica“ (ECISE), die wohl ein Jahr existierte, aber keine große Bedeutung erreichte.

Andererseits ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Camilos Mutter, Isabel Restrepo Gaviria, zuerst mit einem Deutschen verheiratet war, mit Herrn Westendorp, mit ihm hatte sie zwei Kinder, Edgar und Gerda. Dann heiratete die Mutter Calixto Torres, und mit ihm hatte sie die beiden Söhne Fernando und Camilo. Mit Gerda und Edgar lernte Camilo Deutsch auf dem Colegio Aleman, bevor er zum Liceo Cervantes überwechselte“.

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Ein weiteres Thema, das wir intensiver bearbeiten sollten, heißt: „Camilo Torres und Thomas Müntzer“ bzw. „Die lateinamerikanische Befreiungstheologie und Thomas Müntzer“.

Copyright: Christian Modehn

Zur Vertiefung:
http://www.unperiodico.unal.edu.co/dper/article/camilo-torres-restrepo-mucho-mas-que-un-cura-guerrillero.html

http://razonpublica.com/index.php/cultura/8665-en-los-zapatos-de-camilo-torres

1986 veröffentlichte die Züricher Zeitschrift des Jesuiten-Ordens ORIENTIERUNG einen sehr informativen Beitrag über Camilo Torres, leider wurde diese kritische Zeitschrift eingestellt! Aber den Beitrag von Mario Calderon kann man noch und sollte man  nachlesen, klicken Sie bitte hier.

Unter dem Titel “Camilos Erbe” hat der katholische Theologe Prof. Norbert Mette am 12. 2. 2016 einen Beitrag in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK FORUM einen aktuellen Beitrag verfasst.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon. .

 

 

Mexiko: Das Land der Legionäre … Christi

Mexiko: Das Land der Legionäre … Christi

Ein Hinweis von Christian Modehn

Eine Lektürempfehlung für alle, die Spanisch lesen können: Ein Beitrag (2014 publiziert)  von dem berühmten Recherche-Journalisten Raul Olmos (Mexiko)  über das Finanzimperium der Legionäre Christi, klicken Sie hier, auch mit hübschen Fotos.

Papst Franziskus besucht vom 12. bis 18. Februar 2016 Mexiko, sicher mit wichtigen Begegnungen in der Drogen-Stadt Ciudad Juarez oder in Chiapas, wo die Indigenas heftigsten Verfolgungen der Regierungen ausgesetzt waren. Und der “Indio-Bischof” Ruiz vom Vatikan bedrängt, wenn nicht verfolgt wurde. Aber Papst Franziskus besucht auch das Land, das die Opfer des sexuellen Mißbrauchs in der römischen Kirchewelt stets im Kopf und in der verwundeten, zerstörten Seele haben, das Land, in dem der immer noch existierende Orden “Legionäre Christi” von dem mexikanischen jungen Mann Marcial Maciel vor 60 Jahren gegründet wurde. Fehlt nur noch, dass der Papst an Legionärs-Geburtstagsparties in Mexiko-Stadt, etwa an der edlen Privatuni des Ordens, teilnimmt.

Der Ordensgründer Marcial Maciel wurde selbst von dem eher feinsinnigen und moderaten Papst Benedikt XVI. als unwürdiges Geschöpf und gar als Verbrecher bezeichnet, zu lang ist die Liste seiner Jahrzehnte langen Verbrechen an Knaben, zu lang die Liste seiner Betrügereien, seiner grenzenlosesten Habgier .. und die Liste seiner dem Anschein nach frommen Bücher usw. Der Religionsphilosophische Salon Berlin hat über die Gestalt Pater Maciels, eines ganz dicken Freundes von Papst Johannes Paul II. und etlicher Kurien-Kardinäle, seit 10 Jahren berichtet.

Wir weisen anläßlich der Reise des Papstes nach Mexiko, förmlich DAS Legionärsland immer noch, auf ein wichtiges Buch über den Milliarden Dollar-reichen Orden eines mexikanischen TOP-Journalisten hin…. und fragen uns, warum denn eigentlich kein Verlag deutscher Sprache, kein ARD Sender, kein kompetenter Regisseur wie etwa Ulrich Seidl sich dieses Themas annimmt. Nirgendwo ist die Korruption im römischen System deutlicher mit Händen zu greifen als bei den Legionären Christi. Der mexikanische Recherche-Journalist Raul Olmos hat inzwischen (2015) eine umfangreiche Studie als e book über das Finanzimperium der Legionäre Christi publiziert. Bisher hat sich kein Verlag in Deutschland für diese Studie interessiert…Wir erinnern noch einmal daran, dass schon 2001 der spanische Journalist Alfonso Robles Torres in seiner Studie (“La prodgiosa aventura de los Legionarios de Cristo, Madrid FOCA) darauf hinwies, dass der mexikanische (aus dem Libanon stammende) MultiMILLIARDÄR Carlos Slim und seine Familie mit dem korrupten Ordensgründer Marcial Maciel eng freundschaftlich verbunden war, “como el sacerdote de cámara de la familia Slim”, Seite 51, also “wie ein Hausgeistlicher der Familie Slim”. Das Vermögen der mexikanischen Familie Slim wird auf 60 Milliarden Dollar (2008) geschätzt, so die Pariser Zeitschrift aus dem Haus Le Monde, “Manière de voir”, Juin 2008, Seite 45).

Für weitere Informationen klicken Sie bitte hier.

Der Moskauer Patriarch Kyrill, Profil eines Putin-Theologen

Der Moskauer Patriarch Kyrill, Profil eines Putin-Theologen

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 12. Februar 2016 treffen sich Papst Franziskus und das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, in Havanna. Der Papst macht eine Zwischenlandung auf dem Weg nach Mexiko, der Patriarch hält sich zu  einer Art Freundschaftsbesuch bei den Brüdern Castro auf. Für Rom ist seit Jahren das sehr dringende Verlangen bekannt, Weiterlesen ⇘

Christliche Gemeinden als Schulen der Weisheit … gegen Götzendienst …und für einen Gott, der sich nicht fassen lässt. Interview mit dem Religionsphilosophen Johan Goud, Den Haag.

Christliche Gemeinden als Schulen der Weisheit … gegen Götzendienst …und für einen Gott, der sich nicht fassen lässt.

Interview mit dem Religionsphilosophen Johan Goud, Den Haag.

Die Fragen stellte Christian Modehn für die Zeitschrift PUBLIK FORUM.

Publik_Forum: In den Niederlanden nennen sich 49 % der Einwohner unkirchlich. Tendenz steigend. Die Zahl der Katholiken nimmt ständig ab. 2014 waren es noch 24 %; 16 % nennen sich protestantisch. Unter den 18 – 35 Jährigen ist der Anteil der Christen sehr gering. In einigen Jahren könnte es fast keine Kirchen mehr in Holland geben. Sind unkirchliche Holländer auch unreligiös?

Johan Goud: Sicher nicht. Schon im 17. Jahrhundert gab es „Kirche“ bei uns nur in Vielfalt. Keine konnte beanspruchen, „Religion“ und „Christlichkeit“ uneingeschränkt zu repräsentieren. Jetzt gibt es noch mehr Pluralität, religiőse Alternativen nicht-christlicher Art. Nur 24 Prozent der Niederländer zählen sich zu den traditionellen „Theisten“, also zu den Gottgläubigen. Dagegen sagen 62 Prozent, dass sie an ‘Etwas’ glauben, zum Beispiel an eine „universelle Energie“. Sie bejahen den Satz, wonach es „mehr gibt zwischen Himmel und Erde“ oder bezeichnen sich als Agnostiker. Schon 1946 vertrat der Schriftsteller Simon Vestdijk die These, dass der buddhistisch orientierten, mystisch-verinnerlichten Religiosität die Zukunft gehöre. Sein Buch wurde in kirchlichen Kreisen kaum ernst genommen. Er hat aber recht bekommen.

Kann unter diesen Bedingungen die Auseinandersetzung mit Kunst, Philosophie, Poesie auf neue Weise religiöse Erfahrungen ermöglichen?

In unserer Zeit, die beherrscht wird von rationalistischen und ökonomischen Werten, sollten Kunst und Religion einander als Verbündete anerkennen. Zwar erfordert diese gegenseitige Anerkennung, dass sie sich selbst als relativ ansehen und sich voneinander anregen lassen. Vom Literaturkritiker Paul de Man stammt jedoch die provokative Bemerkung: “Meines Erachtens kann ein Gläubiger nicht lesen“. Er meint damit, dass ein gläubiger Mensch nicht imstande sei, sich selber zu relativieren und ironisieren: ‘Ernst ohne Spiel ist blind’, könnte man darum, Kant paraphrasierend, hinzufügen. Für mich sind Aussagen wie diese eine bleibende Herausforderung. Theoretisch geschieht das Bündnis von Religion und Kunst, indem ich eine Theologie entwickle, die sich ins offene Felde der Sprache stellt und die Worte des Glaubens literarisch auffasst. Praktisch geschieht dies, indem man sich als Theologe für die vielen „Götter“ in Kunst und Literatur öffnet und sich behutsam mit ihnen auseinandersetzt. Denn in Kunst und Literatur findet sich eine Genauigkeit, die empfänglich ist für die flüssige Wirklichkeit der Seele, mit ihren Vermutungen, Beschwörungen, Träumen und Wünschen.

Wird die Suche nach Transzendenz immer mehr zur Sache des einzelnen?

War sie das in gewisser Hinsicht nicht immer schon? ‘Transzendenz’, in welchen Gestalten auch immer, übersteigt letzten Endes alle Zugehörigkeiten und sozialen Konventionen. Sie lässt sich nicht aus dem folgern, was ‘man’ für wichtig hält. Sie ist immer eine Sache von Ich und Du, eine Sache des Einzelnen also. Aber wenn ich wirklich von ihr ergriffen werde, kann ich nicht bei mir selbst als Einzelnem bleiben. Das Denken von Emmanuel Lévinas hat mich an diesem Punkt immer tief beeindruckt: Gott ist der Rätselhafte, der „Spielverderber“, den ich nie erwischen kann: ‘Ich nähere mich dem Unendlichen, insofern ich mich selbst vergesse um des Nächsten willen, der mich anschaut’.

Wie sollten christliche Gemeinden gestaltet sein, damit sie den Suchenden, auch den „Nichtkonfessionellen“, Raum bieten?

Es wäre schön, wenn die Gemeinden sich zu „Schulen von Weisheit“ entwickeln würden – ein Ausdruck des katholischen Theologen Edward Schillebeeckx. Im kritischen Sinne geht es um die Entlarvung von Scheinweisheit und Götzendienst, also um die Kritik am Ökonomismus, am Nationalismus, an der Angst vor dem Fremden. Im positiven Sinn meint „Schule von Weisheit“ die Übung im gemeinsamen Fragen (!) nach Gott, im literarischen Verstehen der Bibel und der Tradition, in der mitfühlenden Kraft von Phantasie und Denken, wie die Philosophin Martha Nussbaum es nennt. Deswegen sollten die Pfarrer Lehrer sein, Freunde unter Freunden – statt Hirten mit ihren Schäflein.

Würde sich damit das bekannte Profil des Christlichen verändern?

Eine Veränderung gibt es gewiss, aber meines Erachtens noch keine grundsätzliche. Die kirchliche Katechese wollte immer auch gläubige Kritik an ‘Luft und Leere’, also an der Eitelkeit sein. Was sich also ändern sollte, ist die Vorliebe für Macht und für große Zahlen, für die autoritäre Ordnung. Ändern muss auch sich die Bevorzugung der Sicherheit statt der Herausforderung und der Fragen. Meinte das alles nicht auch Dietrich Bonhoeffer, als er für ein mündiges, religionsloses Christentum plädierte? Es scheint mir wichtig, dieses Ideal zu pflegen! In den Niederlanden gibt es, anders als in Deutschland, seit Jahrhunderten einflussreiche freiheitliche Traditionen in den Kirchen, Glaubensgemeinschaften im humanistischen Geiste von Erasmus, Geert Grote, Hugo Grotius, Arminius und anderer. Wir brauchen Gemeinschaften, die die humane Glaubenspraxis höher schätzen als die richtige Lehre – auch als Widerstand gegen die Medien mit ihrer Propaganda, die neue und gefährliche Formen von Leichtgläubigkeit und Orthodoxie fördern. In Gemeinden, die das undogmatische Suchen und die gemeinsame Debatte über Gott pflegen, sollte der konfessionelle Hintergrund irrelevant sein.

Johan Goud (geboren 1950) ist emeritierter Professor für Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie und Theologische Ästhetik an der Universität Utrecht und Pfarrer der protestantischen Remonstranten –Kirche in Den Haag, zur Zeit in Hengelo. Zahlreiche Veröffentlichungen.

copyright: PUBLIK FORUM

 

 

 

 

 

 

 

 

An (und mit) Montaigne denken: Am 28. Februar

Am 28. Februar 1533 wurde Michel de Montaigne geboren. Gestorben ist er am 13. September 1592. Wohl kaum ein anderer philosophierender Autor, den wir durchaus Philosoph nennen sollen, (denn dieser Titel ist doch nicht Universitäts-Professoren vorbehalten), hat in den letzten Jahren so viel Beachtung gefunden, so viele Leser, die mit Vergnügen seine skeptischen und wahrhaftigen Essais lesen. Und als Inspiration begreifen, das Leben “trotz allem” zu lieben.

Ein Hinweis mit einer Lese-Empfehlung:

Michel de Montaigne: Er lehrt die Menschen „wie sie mit sich selbst sprechen sollen“

Ein Hinweis von Christian Modehn

Eigentlich muss man das Werk Michel de Montaignes nicht mehr empfehlen, er ist jetzt beliebt selbst bei Menschen, die sich sonst schwer tun mit philosophischer Lektüre. Dabei wäre es auch falsch, Montaignes Denken „leicht“ zu finden. Ihm gelingt es, komplexe Lebens-Erfahrungen nachvollziehbar und in angenehmer Sprache zu benennen. Er macht Lust am Selber-Denken. Und er ist in Zeiten der Religionskriege des 16. Jahrhunderts kritisch und selbstkritisch, man lese etwa Essay 56 „Über das Beten“ bzw. über die Verlogenheiten beim Beten und die offiziell erwünschte Frömmigkeit.

Was die Lektüre der Essais, also des Hauptwerkes von Montaigne, so erfreulich macht, ist die man möchte sagen umfassende, nahezu absolute Wahrhaftigkeit des Autors; ist die Tatsache, dass da ein Mensch im Angst-besetzten 16. Jahrhundert sich ganz frei zeigt, „ich“ sagt, eigene Überzeugungen begründet, immer als Beispiel, wie Leben auf dieser verrückten und feindseligen Welt doch noch einen Schimmer des Gutseins und der Hoffnung bewahrt. Man lese seine Empfehlung zum Selbst-Denken: “Worauf ihr zu sinnen habt, ist nicht mehr, dass die Welt von euch spreche, sondern wie ihr MIT EUCH selbst sprechen sollt. Zieht euch in euer Inneres zurück, vorher aber macht alles bereit, euch dort empfangen zu können…“ (Essay 39, Über die Einsamkeit). Und vor allem: “Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsere wahre Freistatt…“

Unpolitisch war er nicht, bei aller Liebe zu einer skeptischen Lebenshaltung: Schon als junger Mann hat er sich als Stadtrat von Bordeaux um das Wohl der Bürger gekümmert. Und vor allem kann er darauf verweisen, dass er vier Jahre lang als Bürgermeister von Bordeaux tätig war, zur Zufriedenheit der Bürger übrigen. Allerdings hat er selbst auch negative Erfahrungen gemacht: „Die Gesetze werden oft von Hohlköpfen gemacht und noch öfter von Leuten, die die Gleichheit aller Menschen hassen und dabei ihres Sinnes für die Gerechtigkeit beraubt werden. Diese Gesetzgeber sind windige und wetterwenderische Macher…. Ich finde die Gemeinwesen am gerechtesten, die am wenigsten Ungleichheit zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft, sagen wir zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, zulassen“.

Nach wie vor empfehle ich die Übersetzung der Essais durch Hans Stilett, eine großartige Leistung. Zuerst 1998 im Eichborn Verlag 1998 in einer prächtigen Ausgabe erschienen.

Copyright: Christian Modehn

DADA lebt

DADA lebt. Der 5. Februar gilt als 100. Geburtstag der DADA-Bewegung.

Ein Hinweis von Christian Modehn, Berlin

Hans Küng ist meines Wissens einer der wenigen heutigen (katholischen) Theologen, die DADA ausdrücklich verteidigen. Vielleicht liegt das daran, dass Küng Schweizer ist (der erste Treffpunkt der Dadaisten befand sich bekanntlich in Zürich)…? Oder weil er eben ein universal gebildeter Theologe ist?

Jedenfalls betont Küng ausdrücklich, dass keine Institution, kein Staat und keine Kirche das Recht haben, sich „aufgrund einer künstlerischen Darstellung ein moralisches Urteil über die Grundeinstellung eines Künstlers anzumaßen und sich als Richter auf Nihilismus, Dekadenz, Amoralität oder Lüge zu befinden. Vordergründig Absurdes kann einen hintergründigen Sinn haben“ (in: Hans Küng, “Musik und Religion”, München 2006, Seite 216f.)

Küng nennt zunächst Giorgio de Chirico, Hans Bellmer, Francis Bacon… Und er sagt weiter, dass selbst hinter dem – so wörtlich – „Unsinn einer dadaistischen Collage aus sinnentleerten Papierschnitzeln noch Sinn stecken kann“, also „Protest gegen die Unsinnigkeit des Krieges, den Rationalismus des technischen Zeitalters, die Verlogenheit der bürgerlichen Kultur, die falschen Götter“. Und Küng zitiert den großen DADA Inspirator Hugo Ball: „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind“. (S. 217).

Man könnte natürlich einwenden, dass mit Küng eben ein Theologe spricht, der in allem noch so Entlegenen einen Sinn noch entdeckt. Aber was ist falsch an dieser Haltung? Selbst wer von sich paradoxerweise behauptet, etwas Sinnloses zu schaffen, meint doch: Sinnlos ist dies für die alle anderen, nicht sinnlos hingegen für mich als den schaffenden kreativen Künstler. Diese Haltung gilt sicher nicht für die DADA-Bewegung. Die wollte mitten im Ersten Weltkrieg die Gesellschaft provozieren, wach machen für die humanen Werte, indem sie das nach außen, auf den ersten Blick der Alltagsvernunft hin Sinnlose zeigte und aussprach. Dabei macht DADA deutlich, dass die übliche logische Welt – damals, 1916, als sinnlos-kriegerische Welt alles andere als rational – eben nur eine mögliche, ein schlimme Variante des Denkbaren ist. Verrückt war nicht DADA, möchte man sagen, sondern verrückt waren die in sich verkrampften kriegerischen National-Staaten… DADA öffnete so den Geist für Mögliches, für Alternativen. ABER:

Eine in sich verkrampfte, selbstsichere, kriegerisch, brutale bürgerliche Welt konnte und wollte über DADA bestenfalls schmunzeln. Diese Welt war (und ist) schlicht zu blöd, um DADA zu verstehen. Wo ist DADA heute? DADA lebt auf andere Weise: Sicher nicht nur in der Kunst und Literatur im expliziten Sinne. DADA ist dort, wo Ungeahntes dargestellt wird als Möglichkeit, als Ausweg, als Befreiung aus Denkzwängen. Als Widerstand gegen alle Stumpfsinnigen, die da uns belehren wollen mit ihrem neoliberalen Herrschafts-Credo: „Es gibt keine Alternative“. Oder jetzt: „Das Boot ist voll“. Oder: „ Die ewige Tradition lässt keine Revolution zu, etwa in den Kirchen“. Es gibt also eine neues DADA heute, nicht als Spaß der Wortspieler, sondern als Lebensform jener, die die Hoffnung und den Lebenssinn bewahrt haben und sagen: Es gibt Alternativen. Denken wir nur mal nach.Und handeln dann gemeinsam.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon.

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