Vernunft vernünftig verstehen. Eine philosophische Meditation aus aktuellem Anlass!

Kant

Ein Plädoyer für die Vernunftkritik der Philosophie
Eine philosophische Meditation von Christian Modehn

1.
Das Wort Vernunft wird oft gesprochen, selten verstanden, aus ideologischen Interessen wird es ständig mißbraucht.

2.
Zur kritischen Reflexion auf die Vernunft des Menschen (oder besser Vernunft „in“ jedem Menschen) werden wir auch durch politische Entwicklungen aufgefordert.

3.
Jetzt schmückt sich mit „Vernunft“ eine neue politische Gruppierung: das BHW (Wagenknecht), und es formuliert als Programm: „Für Vernunft und Gerechtigkeit“. Sind also die anderen demokratischen Parteien nicht „für Vernunft und Gerechtigkeit“? Welche Inhalte verbirgt das BHW hinter der Floskel „Für Vernunft und Gerechtigkeit“? Das ist eine politische Frage. Eine Antwort bietet die philosophische Reflexion über „Vernunft“ und danach auch zur „Gerechtigkeit“.

4.
Vernunft ist ein universaler Begriff, der die auszeichende Qualität jedes Menschen beschreibt.

5.
Vernunft muss von Verstand unterschieden werden: Verstand bezieht sich auf den technischen, praktischen Umgang mit Welt. Vernunft ist die Selbstreflexion des Geistes, zum Beispiel auf die vorgegebenen Strukturen der Vernunft. Philosophen nennen diese das Apriori, die geistige Dimension, die kein Menschen in eigener Tat beseitigen kann, etwa die Bindung an Wahrheit: Alle Lügner behaupten noch, die Wahrheit zu sagen. Vernunft benennt das Allgemeine, das alle Menschen als Menschen miteinander verbindet: Das Denken und Reflektieren, der Geist, der sich sprachlich äußert.

6.
Vernunft entdeckt im Denken, in der Reflexion durch sich selbst und auf sich selbst, den sachlichen Inhalt dessen, was Vernunft ist. Das heißt:
Vernunft kann ihre inhaltlichen Bestimmungen nur aus sich selbst entwickeln. Inhaltliche Vernunft-Bestimmungen werden also im philosophischen, kritischen Reflektieren auf die Wirklichkeit der Vernunft „entdeckt“.
Dabei zeigt sich: In der Vernunft gibt es absolut geltende Grundsätze: Etwa Kants Prinzip des kategorischen Imperativs, ein formales Kriterium, das anzeigt, unter welchen Bedingungen Handeln der Menschen ethisch wahr oder ethisch falsch ist. Die sich reflektierende Vernunft erkennt also kategorisch geltende Wahrheiten: Der Kategorischen Imperativ ist der absolute, niemals von Menschen abzuschaffende Imperativ: Ethisch handelt nur, also der Würde des Menschseins entsprechend, wer respektiert: Meine persönlichen Maximen für mein Leben sind nur ethisch zu respektieren, wenn sie auch Gesetz für alle anderen Menschen sein können.

In der vernünftigen Reflexion auf die Vernunft als die jedem Menschen gegebene Möglichkeit der Orientierung zeigen sich also die absolut geltenden, universalen Menschenrechte.

Diese evidente Erkenntnis gilt universal, selbst wenn “Menschenrechte” meist nur als politisch-ideologische Floskeln von Politikern missbraucht werden. Menschenrechte gelten selbstverständlich universal, selbst wenn sie in der westlichen Welt enstanden sind und durch die Philosophie der Aufklärung formuliert wurden. Zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte, mit einem Hinweis auf HAITI, siehe Nr. 14.

7.
Vernunft und Menschenrechte sind insofern eins. Auch wenn die vernünftige Reflexion auf die Vernunft immer wieder neue Menschenrechte wahrnimmt, etwa das Menschenrecht, dass kein Mensch Hunger, Analphabetismus, Sklaverei, erleiden darf.

Und es ist ebenso evident, wie sehr die absolut gültige Idee der Menschenrechte missbraucht wurde von Europäern, Politikern, Ökonomen, Kirchenführern, die als Kolonialherren Menschen in Afrika versklavten und die Länder der Afrikaner ausplünderten.

Diese Greueltaten aber sind kein Hindernis, an der Idee der Menschenrechte heute unbedingt festzuhalten und für deren Geltung weltweit zu kämpfen: Was tun denn sonst die NGOs, etwa die Ärzte ohne Grenzen, Amnesty International usw., als für diese – leider so oft ignorierten – Menschenrechte praktisch und politisch zu kämpfen? 

Sehr schlimm ist nur, dass zentrale Kirchengebäude der Evangelischen Kirche, etwa in Berlin, immer noch, trotz einiger Proteste, ganz ungeniert und offenbar naiv, nach Preußischen Kolonialherren und Kirchen-Chefs, Kaiser Wilhelm I und II, benannt werden, wie etwa die “Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche” in Berlin. LINK:

Die Kirchenleitung weiß selbst, was für einen Skandal mit diesem Titel für ein Gotteshaus sie heute erzeugt, und nennt diese Kirche nur noch schamhaft KWG (analog zum benachbarten KaDeWe ?? ) oder prosaisch “Gedächtniskirche”, um irgendwie ein heiliges Gedächtnis (Demenz?) zu beschwören… Wer wird das noch erleben, dass diese KWG und Gedächtniskirche der Kolonialkaiser einen würdigen, einen humanen, meinetwegen christlichen Titel erhält? Vielleicht im Jahr 2050? Aber dann gibt es ohnehin nur noch sehr sehr wenige Kirchenmitglieder in Berlin…

8.
Der Kategorische Imperativ gilt auch als Maßstab für das Unternehmen BSW, zumal sich das BSW für Vernunft einsetzen will.

Kant
Immanuel Kant

Das Problem ist: Das Programm des BSW will explizit den nationalen Interessen Deutschlands Vorrang geben, das BSW will national sein. Und das Ganze kippt wohl ins Nationalistische um, wenn der Schutz und die Förderung des Nationalen der Abwehr von Zuwanderung von Flüchtlingen und „Fremden“ gegenübergestellt wird. Und dann das Nationale Vorrang haben soll. Die Nation kann niemals oberster Wert sein, auch die Nation und deren Interessen unterstehen dem kategorischen Imperativ. Was wäre eine Nation, etwa in Afrika, die Interessen ihrer Bürger über den Schutz der dort lebenden Deutschen stellen würde? Wer dieses Problem einfacher formuliert haben will, orientiere sich an der universal gelten und universal (theoretisch) anerkannten „Goldenen Regel“.

9.
Der Sozialstaat, der von dem BSW angestrebt wird, ist ein Sozialstaat für Deutsche und für dringend benötige, gut ausgebildete, privilegierte Einwanderer bzw. die wenigen (hochbegabten) anerkannten Flüchtlinge. Das Prinzip Gerechtigkeit, und dies kann nur eine Gerechtigkeit für alle sein, wird also in den Dienst des ökonomischen Vorteils des Nationalen gestellt. Von umfassender Gerechtigkeit kann also keine Rede sein.

10.
Alles Reden von großen, universalen philosophischen Leitbegriffen wie etwa von Vernunft und Gerechtigkeit, muss sich unter die Kriterien der Vernunft stellen, die die Vernunft selbst als absolut gültig erkennt, siehe die Hinweise zum Kategorischen Imperativ. So werden Unklarheiten, Widersprüche, ideologische Bindungen etwa auch im Reden von Freiheit und Gerechtigkeit frei gelegt.

11.
Welche Erkenntnis bleibt nach einer philosophischen Mediation über „Vernunft und Gerechtigkeit“? Nach dem Ende der Post-Moderne und der von den postmodernen Denkern geforderten Relativität von allem, erkennen wir heute mit philosophischer Evidenz: Es gibt für das Leben und Überleben der verschiedenen Zivilisation bzw. Kulturen bzw. Nationen universale Gebote des Handelns (von universalen Werten zu sprechen wäre wohl noch zu beliebig). Auch die Prinzipien des BSW müssen unter diese Kriterien gestellt werden. Unter den ersten Mitstreitern des BSW sind explizit Putin-Freunde dabei, also Leute, die mit diesem Aggressor noch verhandeln wollen und meinen, er möchte über den Frieden (als Anerkennung der Realität des umfassenden Ukrainischen Staates) verhandeln.
Diese naive Haltung der „Putin – Versteher“ im BSW zeigt, wie eingegrenzt das Vernunft-Verständnis dieses Bündnisses ist.

12.
Zur Erinnerung: Putin ist mit seiner zerstörerischen Kriegspolitik gegen universale Menschenrechte gerichtet, siehe dazu die jüngsten Erläuterungen zu Putins Rede am 5. Oktober 2023 im Club „Valdai“, Putin sagte klipp und klar: “Das internationale moderne Recht, konstruiert auf das Basis der Vereinten Nationen, (also die Menschenrechte, CM) ist überholt und muss zerstört werden, und man muss irgend eine neue Sache schaffen“. Auch die Verbundenheit Putins mit Hamas wurde in dieser Rede wieder deutlich.
Siehe dazu:   LINK

13.
Abgesehen von der Nähe des BSW zu Putin: Das BSW ist ein unvernünftiges Projekt. Es kann vor der evidenten philosophischen Reflexion nicht bestehen.

14.

Ergänzung zur aktuellen Bedeutung der Menschenrechte: Der Schrei der Gequälten und Sterbenden in den Lagern Chinas, Russlands, Irans, Saudi-Arabien usw. ist der Schrei nach der Geltung von Menschenrechten, selbstverständlich der nun einmal in der westlichen Welt formulierten UNIVERSALEN Menschenrechte. Diesen Zusammenhang festzustellen, hat absolut gar nichts mit “Kolonialismus” zu tun. Ein weiteres aktuelles Beispiele: Wer setzt sich für die Menschen in HAITI ein, wie viele Reportagen und Sondersendungen werden zum grauenhaften Sterben dort im europäischen Fernsehen gezeigt? Ist diese Ignoranz Ausdruck von Rassismus? Haiti ist ein untergehender, eigentlich schon ein untergegangener  Staat in der Hand der Drogenbanden… Die Bevölkerung (ver)hungert….Im 3. Quartal 2023 wurden dort 1.239 Menschen ermordet, 700 HaitianerInnen wurden entführt, darunter 221 Frauen und 26 Kinder. (Quelle: Vatican news, am 24. Oktober 2023, oder auch Tagesschau ARD 23.10.2023: LINK:

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Konfessionen, Kirchen, Religionen relativieren – zugunsten einer universalen Vernunftreligion.

Warum Immanuel Kant Frieden stiften könnte … und zu einem Vorschlag des Ägyptologen Jan Assmann.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Hinweis erinnert an Erkenntnisse der Philosophie zur Überwindung dogmatisch – fixierter Theologien bzw. Ideologien in Kirchen und Religionen. Philosophie muss solche Erkenntnisse formulieren, verbreiten und zur Diskussion stellen, selbst wenn die Aussichten auf Erfolg, d.h. praktisch-politischen Respekt,  minimal sind. Aber: Es gibt auch Verpflichtungen vernünftigen Denkens. Daran ist festzuhalten, selbst wenn allgemein menschliche, vernünftige Erkenntnisse von (sich religiös nennenden) Terroristen nicht beachtet werden, wie etwa von der Hamas in ihrem Krieg gegen jüdische Menschen in Israel wie auch gegen muslimischen Menschen („Nicht-Hamas-Freunde“) in Gaza.

ERSTER TEIL: Allgemeine Grundsätze

1.
Die gegenwärtigen (und früheren) Kriege sind auch von Religionen bzw. Theologien motiviert und unterstützt, und mit denen haben sich oft Ideologien des Nationalismus zu einer Einheit verbunden. Es ist immer eine fundamentalistische Form religiösen Glaubens, die zu Aggression, Krieg und Auslöschung des „anderen“ (des Feindes) führt. Diese Aggressionen gegen „andere“ haben auch ihre Wurzeln in den Mythen und Erzählungen („heiligen Schriften“) der monotheistischen Religionen. Das heißt: Religionen und Konfessionen, Kirchen, die behaupten, DIE Wahrheit, also die absolute, für alle gültige Wahrheit zu besitzen, müssen schon aufgrund dieser Ideologie den anderen, den „Nichtglaubenden“ und „Anders-Glaubenden“ aggressiv gegenüber treten und sogar zur Konversion auffordern, wenn nicht zwingen, falls die „anderen“ überleben wollen. Die Missionsgeschichte etwa der Christen und Muslime bietet dafür zahllose Beispiele.

2.
Religiöser Glaube kann zu militantem Wahn, werden: Diese Ideologie (oft Theologie genannt) bezieht sich auf Worte aus den Büchern der „göttlichen Offenbarung“: Diese „Offenbarung“ – Interpretation wird aus Gründen politischer Macht ins Reale, Politische, hineingezogen, also aktuell – wortwörtlich, d.h. fundamentalistisch, verstanden. Dabei sind es Mythen, literarische Erzählungen aus uralten Zeiten, die als „Offenbarungen“ Gottes behauptet werden und nun im 21. Jahrhundert noch wegweisend sein sollen. Und dabei werden die vernünftigen Erkenntnisse der universal geltenden Menschenrechte nicht nur ignoriert, sondern verurteilt und bekämpft.

3.
In unserer pluralistischen Welt kann das Kriterium fürs Verstehen religiöser Traditionen niemals aus der dogmatischen Lehre einer Religionen oder Kirche hergeleitet werden. Deren Horizont ist viel zu begrenzt, dogmatisch und intellektuell viel zu verschlossen, um kritische Erkenntnisse für heute zu befördern. Kriterium für ein Verstehen der Religionen, auch ihrer Mythen, ihrer Erzählungen, ihrer Dogmen und Moral-Lehren, ist darum einzig die allgemeine kritische, den universalen Menschenrechten verpflichtete Vernunft. Diese Einsicht wird aber von den Religionen und Konfessionen im eigenen Interesse verdrängt und verfolgt, aber Theologen ahnen: Nur die Anerkennung eines vernünftigen Kriteriums in der Interpretation der Religionen und ihrer „heiligen Bücher“ befreit vom traditionell etablierten, fundamentalistischen Wahn, der zu Gewalt und Krieg führt.

4.
Der katholische Theologe Hans Küng hat recht, wenn er sagte: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden zwischen den Religionen“. Dies ist sein Motto und Programm des Weltethos-Projektes. (vgl.“Projekt Weltethos“, 1980). Aber die Religionen müssen, um friedlich zu werden, den Prozess der Selbstkritik durchlaufen, ehe sie wirksam zu Frieden auffordern können. Die Religionen und Kirchen müssen selbst friedlich werden und tolerant, ehe sie selbst glaubhaft und wirksam Frieden stiften können. Sonst bleibt es bei den üblichen, hundertfach bekannten Dialog-Debatten prominenter religiöser Führer und den Aufrufen zu Gebeten für den Frieden. Mit dem Friedensgebet wird – etwa von Päpsten bis heute – unterstellt: Ein persönlicher Gott im Himmel hört die Gebete der Frommen und wirkt dann als Gott je nach Belieben Wunder, die den Frieden bringen. Manche fragen sich:
Wie soll sich Gott bloß entscheiden, wenn etwa im 1. Weltkrieg deutsche Katholiken für den Sieg Deutschlands, französische Katholiken für den Sieg Frankreichs beteten. Aktuellere Beispiele für ein solches nationalistisches Gebets-Verhalten gibt es es viele.

5.
Wenn die Ideologien (Theologien) der Religionen und Konfessionen so bleiben wie sie sind, also sich fundamentalistisch äußern und entsprechende gläubige Zustimmung in der jeweiligen Bevölkerung finden, kann es keinen Frieden unter den kulturell und religiös verschiedenen Menschen geben.

6.
Die entscheidende Frage also heißt: Können heutige, sich selbst absolut setzende Religionen lernen und sich neu orientieren, indem sie auf ihre vertrauten dogmatischen Bestimmungen verzichten oder diese nach Grundsätzen der allgemeinen humanen Vernunft interpretieren?

7.
Nur eine radikale Reform der Inhalte (Theologien, Ideologien) aller Religionen kann zum Frieden führen. Und Reform heißt: Radikale Reduzierung der Dogmen, historisch-kritische Lektüre der so genannten heiligen Schiften: Sie können gar nicht „Wort“ eines in die Welt reinredenden Gottes sein, sondern sie sind bunt gemischte, vielfältige, zum Teil widersprüchliche religiöse Poesie einer bestimmten Zeit.

ZWEITER TEIL: Über Immanuel Kants Vorschläge

Kant
Kant

8.
In seiner „Religionsschrift“, „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793, 2. Auflage schon 1794, nach dieser Ausgabe wird, wie üblich, mit „B“ versehen, zitiert), setzt sich Immanuel Kant kritisch, mit den dogmatisch bestimmten christlichen Kirchen („Kirchenglauben“, B 253) auseinander. Er zeigt, wie diese Kirchen vom abgehoben herrschenden „despotischen“ Klerus (B 277) bestimmt sind, wie die Glaubenden in ihrer religiösen Praxis zum Aberglauben und Wunderglauben geführt werden, wie dieser Kirchenglaube insgesamt die Menschen unfrei macht („in eine Beherrschung der Mitglieder der Kirche führt“ B 251).

9.
Weil die dogmatischen, von „Statuten“ (wie Kant sagt) bestimmten Kirchen die göttliche Wirklichkeit nach außen, in die „Ereignis – Geschichte“, auch in die Mythen und Erzählungen versetzen und die göttliche Idee eben nicht im Innern der allgemeinen Vernunft suchen (B 255), kommt es zum ständigen Streit und Kampf über die richtige Interpretation all dieser äußeren, angeblich göttlichen Gegebenheiten. Jede Kirchen hält sich, so Kant, „für die ein(z)ige allgemeine Kirche“ (also die allein selig machende, CM), deswegen wird „der, welcher ihren besonderen Kirchenglauben gar nicht anerkennt, von ihr ein Ungläubiger genannt und von ganzem Herzen gehasst“ (B 155, 156). Kant spricht dann weiter von Irrgläubigen und Ketzern, die als Abweichler von den jeweiligen Kirchen bestraft und ausgesondert werden.
Kant nennt diese allgemeine kirchliche Verirrung „Religionswahn“, der im Aberglauben gründet. Dieser kirchliche Aberglaube ist völlig dem „wahren, von Gott selbst (in der Offenbarung durch die Vernunft, CM) geforderten Dienst (der Nächstenliebe) entgegen“ (B 256). Es geht Kant um die Anerkennung der Erkenntnis: „Die Erfüllung aller Menschenpflichten ALS göttlicher Gebote, ist es, was das Wesentliche aller Religionen (!) ausmacht“ (B 158). „Das Lesen der heiligen Schriften oder die Erkundigung nach ihrem Inhalt, hat zur Endabsicht, bessere Menschen zu machen“ (B 161). Dies ist das „oberste Prinzip aller Schriftauslegung“ (ebd.) Es kommt darauf an, beim Studium des auf Geschichte und heilige Bücher fixierten Kirchenglaubens zu entdecken, „was darin eigentliche Religion (also Vernunftreligion, CM) ist“ (B 162).
Der Vernunftglaube lebt also bereits fragmentarisch in den einzelnen Religionen, wie sollte es auch anders sein, ist Religion immer auch unvollständiger und weithin unvernünftiger Ausdruck des menschlichen Geistes bzw. der Vernunft…

10.
Nebenbei: Kant erwähnt in Fußnoten auch den „Mohammedanismus“ (B 285, Fn. 1), „Er findet in den Siegen und der Unterjochung vieler Völker die Bestätigung seines Glaubens…“ Für den „jüdischen Glauben“ (B 186) sieht Kant die entscheidende Mitte in dessen Fixierung auf „bloß statutarische (also äußerliche, historisch gegebene Satzungen, CM) Gesetze“ (B 186).

11.
Ein Ausweg aus dem konfessionalistischen Religionswahn (den Kant zur Zeit König Friedrich Wilhelm II. in dessen Schikanen und Zensurbestimmungen erlebte,) sieht Kant in der Förderung einer allgemeinen, alle „wohldenkenden Menschen“ betreffenden „unsichtbaren Kirche“ (B 271). Diese unsichtbare, d.h. institutionell nicht wahrnehmbare, aber geistig lebendige Kirche entwickelt aus der allgemeinen Vernunft drei in der Sicht Kants evidente Grundsätze: Den Glauben an einen göttlichen Schöpfer der Welt, die Überzeugung von der Freiheit eines jeden Menschen und die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele des Menschen. Diese allgemeine, „alle Menschen betreffende Vernunftreligion muss auf Vernunft gegründet sein“ (B 163).

12.
Das Erstaunliche ist: Kant „plädiert für eine „allgemeine Weltreligion“ (B 255). Dieser Vorschlag einer allgemeinen Menschheits- Religion entspricht der Idee der „unsichtbaren Kirche“, wie Kant sagt, also der Kirche aller „Wohlgesinnten“, die eine „wahre alleinige Religion“ leben. Diese Religion wird nicht durch äußere Offenbarung vermittelt, sie „offenbart sich im Menschen durch reine Vernunft“ (B 255). „Der reine Vernunftglaube beweist sich selbst“ (B 194), er ist also für jeden Menschen evident.

13.
Aber noch besteht, sagt Kant, der fest etablierte Kirchenglaube. Deswegen vollzieht sich der Übergang zur allgemeinen Vernunftreligion langsam (B 181), die als Vernunft aber auch einen ethischen vernünftigen Staat aufbauen will. „Die wirkliche Errichtung eines ethischen Staates auf Erden als Ziel (den Kant sogar wörtlich als göttlich qualifiziert, B 181) „ist noch in unendlicher Weite von uns entfernt“ (ebd.).

14.
Kant zeigt sich trotz der Repressionen in Preußen zu der Zeit in seiner Religionsschrift durchaus explizit kritisch, wenn nicht polemisch gegenüber der einzelnen dogmatisch – historisch gebundenen Religionen, Konfessionen, die ja Staatsreligionen – von Königen geleitet – damals waren. Von seinem Ziel wird er nicht müde zu sprechen: „Die universale Religion des guten Lebenswandels ist das wahre Ziel des religiösen Menschen, wenn dereinst, so die Hoffnung bzw. Utopie, der Kirchenglaube überwunden ist (vgl. B 269). Erst dann wird Frieden eintreten und die Menschen mit viel weniger Entfremdung leben können…

Dritter TEIL: Moses Mendelssohn und die Vernunftreligion

15.
Immanuel Kant kannte bereits die Publikation des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) mit dem Titel „Jerusalem. Über religiöse Macht und Judentum“. Kant schrieb einen Brief an Mendelssohn am 16.8.1783, kurz nach Erscheinen des Buches. Kant ist voller Bewunderung für Mendelssohn Vorschlag. Worum geht es?
Für den Forscher der Religionsgeschichte der monotheistischen Religionen, den Ägyptologen Jan Assmann, bietet hier Moses Mendelssohn den entscheidenden Unterschied „zwischen den partikularen Religionen wie Judentum, Christentum, Islam einerseits und der allgemeinen Menschheitsreligion (mit ihren von sich aus evidenten Vernunftwahrheiten, CM) andererseits.“ Und Mendelssohn versteht diese Vernunftreligion als eine allen Menschen gemeinsame, auf ihrer gemeinsamen Teilhabe an Gottes Schöpfung beruhende Religiosität. Jeder Mensch gehört demnach zwei Religionen an. Einer bestimmten und angestammten Religion, in die er hineingeboren oder zu der er konvertiert ist, und der allgemeinen Menschheitsreligion. Diese doppelte Mitgliedschaft stiftet, wenn die Menschen sich ihrer nur bewusst werden, Anerkennung und Frieden zwischen den Religionen“ (Jan Assmann, „Totale Religion“, Wien 2016, S. 166).
ABER: Wer sorgt für einen Sieg der Vernunftreligion, wer fördert diese Menschheitsreligion, wo wird sie wie gelehrt in allen Ländern? Dies ist die entscheidende Frage, gerade jetzt.

VIERTER TEIL:  Jan Assmann und die “religio duplex”

16.
In seinem Buch „Totale Religion“ spricht Jan Assmann von der „Religio Duplex“, der doppelten religiösen Bindung, die Menschen leben sollten: Einerseits die Bindung an eine bestimmte Konfession, in der man möglicherweise als Kind erzogen wird.Und der allgemeinen Vernunftreligion, die einige wenige vernünftige religiöse Prinzipien artikuliert. Diese allgemeine Vernunft ist universal für alle Menschen und deswegen wichtiger als die Bindung an die enge, historisch-dogmatische Konfession, in der man groß geworden ist. Und Assmann erinnert auch (S. 172) an die „Goldene Regel“ („Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“): „Niemand sollte sich unter Berufung auf religiöse Vorschriften bereitfinden, anderen anzutun, was er selbst sich nicht antun lassen will“, so übersetzt Assmann diese uralte, allen Religionen bekannte „Goldene Regel“ in die heutige Problematik.
Assmann weist darauf hin, dass Gandhi diese religiöse Doppelstruktur im Bewusstsein des einzelnen Frommen schätzte: „Alle konkreten Religionen zielen auf die eine, noch versteckte Religion der Wahrheit“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, S. 259). Diese Religion hat mystischen Charakter, betont Assmann, mit ausdrücklichen Bezug auf Jacob Böhme.

17.
Ein Ausweg aus den Formen des militanten religiösen Fundamentalismus könnte auch die Akzeptanz der „Ringparabel“ sein, wie sie Lessing populär gemacht hat, auch darauf weist Jan Assmann hin. Der echte Ring der drei Ringe (Religionen) ist gar nicht zu erweisen. Assmann schreibt: „Das heißt ja nicht, dass es keinen echten Ring gibt und alles nur Einbildung ist, sondern dass die Echtheit des Rings eine Sache des Glaubens und der tätigen Liebe , aber keine Sache des sicheren Besitzes ist. Es gibt die Wahrheit und es gibt Offenbarung, aber da es mehr als eine gibt, bleibt die absolute Wahrheit verborgen“ (Assmann, „Monotheismus unter Gewaltverdacht“, 2015, S. 255). Und in demselben Beitrag kommt Assmann auch auf die Religion Duplex zurück: „Der Preis dieser Theologie ist die behutsame Zurücknahme des harten Offenbarungsbegriffes, d.h des absoluten Wahrheitsanspruches einer bestimmten Offenbarung, ihr Gewinn ist die Entschärfung des interreligiösen Konflikts“ (S. 258).

18.
Es ist wohl eine Niederlage der Vernunft, dass diese hier erinnerte Möglichkeit einer Kultur, also dieses Wissens von der Relativität der eigenen religiösen Bindung, aus unserer Zivilisation und aus den Köpfen der Politiker verschwunden ist … bzw. ignoriert wird, gerade weil es nationalistische Machtinteressen stört. Wir leben also in einer Welt, in der Nationalismus, Fundamentalismus, Festhalten an sozialer Ungerechtigkeit die obersten Götter sind. Kant sagt in der“ Religionsschrift“: „Der Eigennutz ist der Gott dieser Welt“ (B 243)… Insofern ist unsere Welt polytheistisch … Der Monotheismus, heute interpretiert, findet sich in der friedensstiftenden universalen Botschaft der Menschenrechte. Ihr Text sollte in den religiösen Veranstaltungen der verschiedenen Religionen genauso oft verlesen und gedeutet werden wie die Bibel des Alten und Neuen Testaments oder des Korans. Warum soll denn nur die Bibel oder der Koran als heilige Buch der Juden, Christen und Muslims gelten? Wenn schon diese Religionen von einem handelnden und „sprechenden“ Gott reden, warum soll dieser Gott nicht auch in universal geltenden vernünftigen Menschenrechten „sprechen“ und sich gerade so – für die Frommen – als der lebendige Gott erweisen? Sind nicht die Menschenrechte Ausdruck eines säkularen Monotheismus?

19.

Siehe auch das Interview mit dem Theologen Prof. Wilhelm Gräb (Berlin, + 2023) über das Thema: “Die Menschenrechte Bekenntnisgrundlage einer universalen Religion?” LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Wenn PolitikerInnen „etwas auf den Weg bringen“…

Hinweise zum Verfall der Alltagssprache von Christian Modehn. Veröffentlicht am 14.10.2023.

Ergänzung am 13.5.2024: Jens Jessen schreibt in “Die Zeit” vom 25.4.2024 (Seite 41) einen Beitrag über “nichtssagende sprachliche Formeln” unter dem Titel “Eingemauert in Plattitüden”. Er erläutert etliche Beispiele: “Frei Haus”, “Traumatische Erfahrungen”, “Zumutungen”, “nicht okay” und vor allem der Politiker Lieblingsfloskel “Hausaufgaben machen” und “Eine Auszeit nehmen” usw…

Unsere These: Der Verfall der Sprache, die Banalität der so oft wiederholten  Floskeln entspricht dem Verfall, d.h. dem Verzicht auf kritisches Denken. Diesen Zusammenhang haben alle verstanden, die einige Seiten von Hannah Arendt gelesen haben. Aber sie wehren sich selten gegen den Verfall des Sprechens d.h. den Verfall und Ausfall des kritischen Denkens.

1.
Spätestens seit Ludwig Wittgensteins Einsichten hat sich das Philosophieren und damit die Philosophie auch mit Verfall und Missbrauch der Sprache, also auch des Sprechens von Politikern in der Öffentlichkeit, zu befassen. Ein Verfall der Sprache, auch als begriffliche Vernebelung und Verschleierung von Fakten, verstellt unsere Erfahrung von Wirklichkeit. Darauf kritisch zu reagieren, gehört zur philosophischen Lebenshaltung.

2.
Ein aktuelles Beispiel: Hören Sie „Spitzen – Politikern“ ein paar Minuten zu, etwa in Interviews mit Fernsehreportern, und zählen Sie, wie oft von Politikern die Floskel benutzt wird: „Das haben wir auf den Weg gebracht“. Ich habe bei einer „Spitzenpolitikerin“ diese Formel in einem Interview von ca. 3 Minuten etwa 15 mal gehört. Ihr fiel keine andere Sprache ein, um ihre politische Aktivität zu beschreiben.

3.
Mit dieser Floskel soll die dumpfe Ahnung geweckt werden, die Politiker hätten „etwas getan“, „etwas realisiert“, „etwas verändert“, „etwas reformiert“, „ein Versprechen praktisch eingelöst“.

4.
Wer die Floskel und Formel „Etwas auf den Weg bringen“ so oft gedankenlos daher redet, will eigentlich sagen: Ich habe auf einem Weg irgendetwas hingestellt, abgestellt. Es ist ja ein „etwas“, ein Projekt, ein Vorhaben, eine Reform, die der Politiker da auf einen Weg stellt. Es ist kein Mensch, keine Gruppe, keine Organisation lebendiger Wesen, die, zu einem Weg geleitet, nun etwas an einem Ziel bewegen könnten. Sondern es wurde ein etwas auf einem Weg abgestellt. Eine bequeme Lösung, etwas loszuwerden. Und ein Verzicht auf eine Antwort: Wohin führt denn dieser Weg? Was ist die Qualität dieses Weges?

5.
Als Berliner muss ich bei dieser Politiker – Floskel daran denken, dass so viele Mitbürger dieser Metropole ungeniert und schamlos ihren Dreck, ihren Müll, ihre alten Sofas und TV-Geräte oder ihren Computer Schrott, ihre zerfetzten Bücher und stinkenden Hosen eben einfach so „auf den Weg bringen“. Also auf die Straße stellen oder auf Wegen im Park oder im Wald ablegen. Sie entledigen sich ihrer Dinge, bringen also auf ihre Art etwas auf den Weg … und dort bleibt es eine Weile liegen. In Rom, so hört man ständig, bringen viele Bewohner ihren Müll auf den Weg, indem sie ihn neben die schon bestehenden Dreck – und Müllberge legen. Und nur hoffen, dass die Stadtreinigung, falls noch nicht ganz verschwunden, irgendwann mal zupackt…

6.
Wer diese Floskel „Ich bringe etwas auf den Weg“ oder „Wir Politiker, wir Wirtschaftsmanager haben das auf den Weg gebracht“, ernsthaft als Erkenntnis verkaufen will, erzeugt nichts als Nebel. Sprachkritik wird so zur Kritik der Politiker.

7.
Wir bräuchten Politiker, die sagen: Dieses und jenes genau beschriebene Reformprojekt realisieren wir ab jetzt, wir gestalten es Schritt für Schritt, und wir erklären den Bürgern, wie wir in diesen Schritte täglich vorangehen. Und sagen, wie dieses Vorangehen der Reformprojekte dann gelingt oder eben auch nicht gelingt… aufgrund widerwärtiger politischer und ökonomischer Mächte.

8.
Und wir Politiker sind es auch, die wir uns selbst auf den Weg gebracht und auf den Weg gemacht haben, und wir versprechen: Wir wollen uns wirklich bewegen, einer gerechteren Zukunft entgegen gehen.

9.
Und auf diesem Unterwegssein, also Handeln der Politiker, begleiten wir Bürger sie gern hilfreich, weil wir ja nicht passiv auf dem Weg stehen, sondern unterwegs sein wollen.

10.
Über den Verfall der Alltagssprache müsste mehr geforscht werden. Es sind vor allem die Mächtigen, die sich gern hinter Floskeln und leeren Worthülsen verstecken oder in der Verwendung von angeblich allgemein bekannten Begriffen sich anbiedern wollen. Immerhin werden „Unwort des Jahres“ seit langem dokumentiert. Ein Wort ist der Begriff „Kollateralschaden“, er soll verschleiern, dass bei militärischen Attacken gegen einen Feind auch unschuldige Zivilisten getötet werden. „Auch Zivilisten wurden getötet“ klingt verstörender und erregender als zu sagen: „Es gab Kollateralschäden“. Es ist die Verwendung von Substantiven aus dem technischen Bereich, die das Unmenschliche verschleiert. Nur für das Ertrinken so vieler tausend Flüchtlinge im Mittelmeer seit Jahren gibt es noch keinen verschleiernden, verharmlosenden, neutralisierenden Begriff. Vielleicht könnten zynische Politiker in ihrer Frechheit verschleiernd sagen: „Leider sind wieder viele Nichtschwimmer aus Afrika im Mittelmeer gescheitert“.

11.
Ein weites Feld der philosophischen Sprachkritik liegt vor uns: Wer untersucht etwa die sehr häufige Verwendung des Begriffs „Maßnahme“ durch führende Politiker? Wie viele hundert mal habe ich Politiker von Maßnahme schwadronieren hören, als sie von Wärmepumpen und der Versorgung mit Gas und Erdöl nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine sprachen. Und Maßnahmen muss man auch noch „durchführen“.

12.
Ein weiteres Projekt muss angedeutet werden:
Natürlich gibt es auch seit Jahrhunderten einen Verfall der religiösen Sprache: Man zähle nur einmal, wie oft etwa Papst Franziskus bei jeder kleineren oder größeren oder ganz großen Krise sich auf die Formel zurückzieht: „Ich werde für die Betroffenen beten“. Damit will er in einem korrekten theologischen Verständnis sagen: Ich bin überzeugt, ich kann eine himmlische göttliche Macht durch meine Worte bewegen, alles zum Guten zu wenden.
Kann man ja behaupten und vielleicht auch glauben…Man kann diese Haltung aber auch Aberglauben nennen. Ob auch gegen den Aberglauben „nur noch beten hilft“? Oder ist Beten das letzte Schreien der hilflosen Kreatur?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Schweigen spricht. Eine philosophische Meditation.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophisch meditieren bedeutet: In der Stille eine bestimmte Form unseres Lebens im Denken zu analysieren, vielfältige Dimensionen einer bestimmten Frage zu ordnen, um zu einem tieferen Verständnis zu kommen. Damit befreien wir uns durch eigenes Denken von Üblichkeiten (Zwängen) des Alltags. Philosophieren leistet dadurch einen Beitrag zur Lebensorientierung. Das ist ihr erster Zweck. Ihn zu pflegen in dieser ver—rückten Welt, ist dringend.

2.
Schweigen wird oft noch durch Worte eingeleitet: Zum Beispiel: „Ich bin sprachlos“. Oder auch nur: „Sprachlos!“. Ein Wort, das man oft auf Todesanzeigen lesen kann.

3.
Was ist gemeint, wenn ich sage: „Mir fehlen die Worte“: „Ich kann keine Begriffe finden, die das Ereignis ausdrücken und in ein Gespräch führen können“. „Das Ereignis fällt – momentan – aus dem Horizont meines begrifflichen Denkens. Das Ereignis ist größer als mein Verstehen und Denken“.

4.
Ich verstumme also, gewissermaßen aus Unfähigkeit, in dieser Situation noch verbal zu sprechen: In der Literatur und in Alltagserfahrungen, wie in Krankheit oder im Krieg, gibt es viele Beispiele von Menschen, die für lange Zeit verstummen. Sie machen sich noch die Mühe des Überlebens, aber sie sagen kein Wort mehr. Aber ihr bloßes verstummtes Dasein spricht, hat Bedeutungen…

5.
Schweigen spricht: Das heißt: Die Haltung des Schweigens wird von anderen nicht nur wahrgenommen, sondern gedeutet, etwa: bedauert oder als Arroganz zurückgewiesen. Schweigen ist für den Schweigenden immer ein Tun des Sich – Äußerns. Schweigen ist eine Äußerung ohne Worte. Der Schweigende schreibt noch, er geht spazieren, er pflegt seinen Garten, er meditiert..

6.
Beide Möglichkeiten des Sich-Äüßerns, das verbale Sprechen wie das Schweigen, sind immer mehrdeutig: Der verbal Sprechende kann Lügen verbreiten, der Schweigende kann die Haltung seines schweigsamen Erschüttertseins nur vorspielen. Der viel Redende kann viel Unsinn sprechen. Der in Gesprächsrunden nur dasitzende Schweigende kann Nachdenklichkeit oder intellektuelle Überlegenheit nur vortäuschen. Das „authentische“ verbale Sprechen und Schweigen zeigt sich als solches erst im Rückblick. Kommunikation ist immer ein Risiko der Wahrheit.

7.
Schweigen bleibt also eine Form des Sprechens, also des Sich – Äußerns, und es steht auf einer Ebene mit dem verbalen Sprechen. Verbales Sprechen und Schweigen sind gleich viel wert.

8.
Und vor allem: Verbales Sprechen und Schweigen sind miteinander verbunden. Schweigen hat seinen Ort in der Stille, in der Ruhe, in der Einsamkeit.
Deswegen wird im Schweigen reflektiert, nicht nur über das eigene Leben und die Welt im ganzen, sondern auch über die Qualität der sprachlichen Rede, der eigenen wie der Rede der anderen.

9.
Schweigen im zeitlich begrenzten Rückzug in die Stille macht die dann folgende eigene Rede erst wertvoll. Um über das Wetter zu plaudern, braucht es nicht den Rückzug in die Stille des Schweigens. Wer aber sich selbst mitteilen will, wer versucht, Aspekte der Welterfahrung oder der Kunst oder des Lebens und Liebens auszusagen, muss vorher die Stille des Schweigens erlebt haben. Gibt es noch ein Gespür dafür, dass sich einige Menschen, Dichter, Künstler, Philosophen, Mystiker, Musiker, “aus der Erfahrung des Schweigens” äußern, sprechen?

10.
Die permanenten verbalen Äußerungen von Politikern zu „allem Möglichen“ werden deswegen so schnell vergessen, weil sie eher der Welt des Geredes als der Welt der reflektierten Argumente angehören. Demokratische Politiker plaudern zu viel und erklären zu wenig die Bedingungen des Lebens in der Demokratie. Rechtsextreme Politiker und Diktatoren lügen permanent, finden aber Dumme, die den Blödsinn glauben.
Viele der ständigen Talkshows sind oft nur Shows von Journalisten und Politikern, denen es eher um ihr Ego und ihre Karriere geht als um die Erschließung von Wahrheiten, auch von unbequemen Wahrheiten. Diese werden aus taktischen Gründen der Karriere oft verschwiegen.

11.
Ein philosophischer Vorschlag: Es sollte überhaupt nicht als peinlich gelten, wenn sich TeilnehmerInnen von Gesprächsrunden Momente des Schweigens erlauben. Also Momente, in denen möglicherweise besser nachgedacht werden kann als in dem permanenten Gerede und polemischen Aufeinander-Einreden.
Das gemeinsame Schweigen sollte jeder und jede aushalten und als Chance wahrnehmen, wieder ins eigene kritische Denken zu finden. Nichts ist störender, wenn einzelne die Stille der Pause durch verlegenes Gequatsche überbrücken wollen.

12.
Schweigeminuten, von Regierungen manchmal verordnet, heißen oft auch „Gedenkminuten“. Die Verbundenheit von Schweigen und Denken wird da einmal mehr betont, wenn auch diese offiziellen Schweigeminuten meist nur oberflächlich als „Pflichtübungen“ hingenommen werden.

13.
Aber es ist für eine Philosophie als Form der Lebensgestaltung alles andere als oberflächlich oder sogar albern, auch „Schweigeminuten“ als spirituelle Praxis den einzelnen anzuempfehlen. Aus fünf Minuten Schweigen kann dann auch eine Viertelstunde werden, in denen der einzelne in Stille dasitzt und schweigt, die vielen Gedanken vertreibt und vielleicht nur einen wichtigen Gedanken bedenkt, etwa als Beitrag für ein künftiges Gespräch.
Ohne konkrete Vorschläge bleibt alles Philosophieren als Lebenshaltung abstrakt…Ganz andere Vorschläge sind aber für Menschen notwendig, die lange Zeit allein leben und oft tagelang mit niemandem sprechen können. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die einen permanent reden, um nicht zu sagen quatschen (vor allem über die so genannten sozialen Netzwerke) und viele andere, die ins Verstummen abgedrängt sind, die Alten, die Kranken, die Flüchtlinge in ihren Notunterkünften….

14.
Schweigt Gott?

Diese Frage sollte in einem „religionsphilosophischen Salon“ nicht fehlen. Eine schwierige Frage. Wir meinen: Gott als Gott, also der Ewige, der Absolute, wie auch immer man die klassischen Gottes -„Namen“ wählt, kann gar nicht sprechen und auch nicht schweigen. Er ist weder ein Ding noch ein Mensch. Einige fromme Menschen fühlten sich aber berufen, ihre religiöse Lebenserfahrung in Büchern, Bibel, Koran, niederzuschreiben und diese ihre Texte dann als Gottes Wort auszugeben.
Aber es kann gar nicht Gott als Gott sein, der da in diesen Büchern, in diesen Texten spricht. Es sind religiöse Menschen, die da ihre immer diskutablen religiösen oder moralischen Überzeugungen mitteilen. Und ihre Äußerungen für Gottes Wort halten und so “verkaufen”. Die Macht des Klerus in allen Religionen bedient sich dieser Behauptung, “Gottes Wort” als solches zu besitzen. So entsteht in allen Religionen gewalttätiger Fundamentalismus.

15.
Wenn überhaupt eine „absolute“, eine von Menschen nicht manipulierbare Wirklichkeit  wahrnehmbar ist im Leben, also „spricht“, dann nur im Gewissen eines jeden. Dort zeigt sich ein absoluter Anruf, der vom Menschen nur mit innerer Gewalt „abzuschalten“ ist.

Was hört da jeder Mensch?: „Handle so, dass die Maxime deines Handelns auch allgemeines Gesetz für alle Menschen werden kann.“
Diese einfache , schwache „Sprache“ eines Absoluten im Gewissen ist machtlos, sie überlässt sich der freien Antwort der Menschen. Und die Menschen überhören oft diese „Sprache“, ziehen das alltägliche Gerede und Geplapper vor – so meinen sie, ihren Egoismus als Grundoption ihres Lebens am besten kaschieren zu können. Das Gewissen verstummt dann irgendwann und die Unvernunft beginnt ihre – auch politische – Herrschaft.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

Die Herrschaft von Wahn und Aberglaube in einem polnischen (schlesischen) “Heil-Ort”

Über den Roman “EMPUSION” von Olga Tokarczuk.  Von ihr eine „Schauergeschichte“ genannt.

Ein Hinweis von Christian Modehn und Hartmut Wiebus am 4.Okt. 2023

1.
Der neue Roman Olga Tokarczuks (Nobelpreis für Literatur 2018) hat den Titel „Empusion“, ein Wort, das sich auf Empusia bezieht, eine weibliche Spukgestalt der griechischen Mythologie und auf Symposion, also das Treffen der alten Griechen zum Umtrunk. Der Untertitel des Buches: „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“.

2.
Dass „Schauergeschichte“ hier nicht im Sinne eines „Gruselromans“ zu verstehen ist, muss wohl nicht betont werden. Es ist ein Roman, der – vor dem 1. Weltkrieg – in dem schlesischen Lungen-Heil-Ort Görbersdorf angesiedelt ist. Dort wird eine Clique alter kranker, ewig parlierender Männer vorführt: So wurden bei manchen Kritikern Assoziationen geweckt an Thomas Manns „Zauberberg“. Aber diese Verbindung muss man nicht vertiefen, sie ist überhaupt nicht zentral.

3.
Entscheidend ist es wahrzunehmen, dass in diesem Lungen-Heil-Dorf das Unheil anwesend ist und zwar gewalttätig. Da gibt es einerseits die uralte, zwanghafte auch religiös gefärbte Volkstradition der Dorfbewohner im Verbund mit den im Wald lebenden Köhlern: Immer im November einen Mann in den Wald zu entführen und ihn dort abzuschlachten. Das ist wie eine Art Selbstverständlichkeit! Dadurch soll offenbar der Natur ein Opfer dargebracht werden. Von diesem Wahn des Mordens und Opferns können sich die Bewohner nicht lösen. Sie sind zwanghaft besessen.

4.
Zwanghaft denken auch die älteren Männer, die im Sanatorium von ihrer Lungenheilkrankheit geheilt werden wollen. Sie sind auch geistig krank, total verdorben in ihrem immer wieder öffentlich in „geselliger Runde“ artikulierten Hass auf „die“ Frauen: Sie gelten als Geschöpfe zweiter Klasse, zu Hilfsdiensten bestenfalls geeignet und als Gebärende und Hausfrauen wichtig … und als „Nutten“. Die übelsten Beschimpfungen auf Frauen werden von diesen kranken Männern geäußert in den Stunden der Langeweile, die sich immer mit mehreren Gläsern Schnaps versorgen. Und der Schnaps hat den bezeichnenden Titel „Schwärmerei“, so werden die Schleusen des Unbewussten geöffnet, es wird tiefsitzende, kulturelle Schmutz, den Frauenhass, herausgespült. Die Herren beginnen zu „schwärmen“ und geistig wegzuschweben… Und keiner wehrt sich dagegen oder hat gar ein schlechtes Gewissen.

5.
In dieser Gesellschaft, beherrscht von einem doppelten Wahn (Tötungsritual und Frauenhass), ist die Hauptperson der junge polnische Student Mieczyslaw Wojnicz. Er leidet nicht nur unter Lungenbeschwerden, er fühlt sich total ausgegrenzt, weil sein männlich wirkender Körper bei näherer Betrachtung (also nackt) weibliche Geschlechts-Identitäten aufweist. Diesen besonderen, eher seltenen Status seines Körpers kann der junge Student überhaupt nicht akzeptieren, er schämt sich und ist dabei verzweifelt. Erst der psychoanalytisch gebildete Arzt in der dortigen Klinik hilft ihm, das eigenen Anderssein anzunehmen, nicht als Last irgendeiner Behinderung, sondern als normalen Ausdruck für die Vielfalt menschlichen Daseins. Auf Seite 341 finden sich großartige Worte des modernen Arztes mit dem bezeichnenden Namen „Doktor Semperweiss“. Es sei normal, dass es Menschen außerhalb der üblichen Schwarz-Weiss-Einteilungen gibt“, Menschen „in der Welt des Dazwischen“. Aber absolut gleichwertig!

6.
Der Doktor befreit den jungen Studenten von den falschen Ideen des „ausgegrenzten, kranken Anderen“, Wahn-Ideen, die die herrschende Gesellschaft ihm einimpfte. Und denen er bisher gehorsam folgte…
Aber Schlimmes muss der junge Mieczyslaw Wojnicz nach seiner seelischen Befreiung noch überstehen: Er wurde von den wahnsinnigen Dorfbewohnern im Verbund mit den Köhlern ausersehen, als November-Opfer abgeschlachtet zu werden. Nur eine Art Naturwunder rettet den jungen Mann, kurz vor der Tötung und Zerstücklung im Wald: Die mordenden Köhler, der Natur als Gewalt gegenüber gläubig, fliehen vom Ort ihrer Untat und lassen das überlebende Opfer zurück.

7.
Ins Gästehaus der Patienten zurückgekehrt, sucht sich der junge Mann neue Kleider: Er findet sie in den Schränken der verstorbenen Gattin des Gästehaus-Chefs (war es Tod durch Suizid oder Mord?). Er probiert also Schuhe, Wäsche, Kleider …. alles passt: Mieczyslaw Wojnicz kann sich auch äußerlich eine neue Identität zugelegten. Er ist von jetzt an Klara Opitz. Als Frau verlässt er/sie an Seele und Leib geheilt das Dorf des Unheils.

8.
Man sollte den Roman „Empusion“ lesen als Plädoyer für die Rechte der sexuellen Diversität. Und das ist zumal im heutigen Polen alles andere als selbstverständlich, bei der reaktionären, katholisch-nationalistisch geprägten PIS-Regierung gilt nur das Gesetz: entweder Mann oder Frau, selbst Homosexuelle haben in diesem verrückten System der polnischen PIS Leute keinen Platz. Und dieses Polen gehört zur EU, erhält Milliarden von der EU und kann inhumane Praktiken und Ideologien im eigenen Land verbreiten. Man bedenke, dass Polen das unerhörteste, rabiateste Anti-Abtreibungsgesetz der Welt hat. Die Pro-life Katholiken jubeln, etwa im Umfeld des reaktionär antisemitischen katholischen Medien-Imperiums Radio Maryja.
Wie viel Wahn hat der katholische Glaube etwa in Polen erzeugt: Die heilige Jungfrau Maria wird tausendfach verehrt, aber den Frauen in Not wird jede Hilfe und jede Selbstbestimmung verweigert. Was ist das für eine Kirche, was ist das für ein sich christlicher nennender Glaube? Wagt der Papst, diesen machtvollen Club polnischer PIS Katholiken öffentlich zu verurteilen? Dies ist uns nicht bekannt.

Olga Tokarczuk, Empusion. Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte. Kampa Verlag, 383 Seiten,

Copyright: Christian Modehn und Hartmut Wiebus, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Franz Hengsbach, ehem. Bischof und Kardinal von Essen: Des sexuellen Missbrauchs angeklagt, ein Freund des Opus Dei und ein Feind der Befreiungstheologie…

Ein Hinweis von Christian Modehn am 20.9.2023 …. zu bis bisher ungenannten Aspekten des so genannten „Oberhirten“. Zu den zahlreichen Beiträgen über den sexuellen Missbrauch durch Bischof Hengsbach:  LINK.

Immerhin: Die (äußerst kitschige) Statue an der Essener Münsterkirche, die Kardinal Hengsbach als Kleriker in voller Montur darstellt, soll nun (Stand 24.9.2023) entfernt werden, an der Stelle soll ein Gedenkort an die Opfer sexueller Gewalt entstehen.    LINK

Ist diese Aktion ein Vorbild für andere Kirchen  (etwa in Berlin), die sich etwa nach Kaiser Wilhelm nennen, einem ungleich noch häßlicheren Verächter der Menschlichkeit, um es milde auszudrücken…  Zur Statue: LINK:

Man darf gespannt sein, wie das “Opus Dei”, diese katholische Geheimorganisation, auf den “Fall Hengsbach” und dessen nun offizielle kirchenamtliche Degradierung reagiert, war Hengsbach doch spätestens seit Beginn der 1970 Jahre wenn nicht sogar Mitglied, so doch engstens verbunden mit diesem so genannten “Werk Gottes”. Und gestaltete in dessen Sinne auch “Adveniat”. (Siehe Fußnote 2).

1.
Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie ist immer Religionskritik und Kirchenkritik. Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie also im Sinne der Philosophie der Aufklärung kann in aller Freiheit, im Unterschied zu katholisch gebundenen, von Angst vor „oben“ bestimmten Medien, umfassendere Informationen bieten. (Einige biographische Hinweise zu Franz Hengsbach und seiner steilen Karriere im Klerus siehe Fußnote 1)

2.
Umfassender als bisher müssen jetzt Fakten zum „Fall Erzbischof und Kardinal Franz Hengsbach“ genannt werden.

3.
Leider ist der Eintrag zu Bischof Franz Hengsbach in wikipedia sehr oberflächlich, es wird dessen umfassende Tätigkeit für das katholische Hilfswerk ADVENIAT zugunsten Lateinamerikas und sein Kampf gegen die lateinamerikanische Befreiungstheologie sowie seine explizite Freundschaft mit der katholischen Geheimorganisation OPUS DEI völlig verschwiegen LINK , gelesen am 20.9.2023 um 13.40 Uhr).

3.
Der Chefredakteur des katholischen „Dom Radio“ (Köln) Ingo Brüggenjürgen behauptet in seinem Kommentar vom 19.9.2023: „Hengsbach habe in zahlreichen Ämtern segensreich gewirkt – das ist unbestritten“. Und in “Christ und Welt” (Beilage “Die Zeit”) wird am 21.9.2023 sogar vom Chefredakteur von “Christ und Welt” behauptet, Bischof Hengsbach sei “links gewesen”. Als Opus-Dei Freund/Mitglied und Feind der Befreiungstheologie war er faktisch alles andere als links …. so werden in angesehenen Medien Unwahrheiten verbreitet…Und diese Falschmeldung noch nicht einmal korrigiert…

4.
Die Wahrheit ist: Hengsbach hat überhaupt nicht immer „segensreich“ gewirkt. Nicht nur der jetzt langsam von der Kirchenführung eingestandene Missbrauch des Bischofs Hengsbach (1953 wurde er Weihbischof in Paderborn, 1958 dann Bischof des neugegründeten Bistums Essen) ist alles andere als „segensreich“.

5.
Man denke an die Protektion Hengsbach für Missbrauchstäter im eigenen Umfeld: Etwa für den Prälaten Emil Stehle, er war von 1977 – 1988 als Geschäftsführer von ADVENIAT in Essen, ein sehr enger Vertrauter von Bischof Hengsbach. Wikipedia schreibt über Emil Stehle: „Stehle habe in mehreren Fällen durch Namenscodierungen, Tarnadressen und Unterhaltshilfen dafür gesorgt, dass wegen Sexualdelikten in Deutschland angeklagte Priester verdeckt in Lateinamerika bleiben konnten. Zudem habe Stehle selbst häufig vor allem jüngere, zum Teil noch minderjährige Mitarbeiterinnen sexuell bedrängt, oft unter Zuhilfenahme von Alkohol und im Schutz der selbstverständlichen Annahme, dass sein priesterlicher Stand und seine Position ihn ungestraft handeln lassen würden“  LINK,  gelesen am 20.9.2023 um 13.55 Uhr).

6.
Auch der Priester Peter Hullermann, des sexuellen Missbrauchs überführt, arbeitete bis 1980 als Priester im Bistum Essen, bevor in das von Joseph Ratzinger geleitete Erzbistum München übersiedelte und dort weiter seinen „Neigungen“ nachgehen durfte. LINK

7.
Erzbischof und Kardinal Hengsbach: Ein verlogener Typ also, ein klerikaler Karrierist. Das ist sehr unangenehm für die Kirche, in der Hengsbach alle Stufen der Kleriker- Karriere erfolgreich bewältigte und der als ein Intimus von Papst Johannes Paul II. galt. Und dieser hatte bekanntlich viel Sympathie und Zuneigung für klerikale Missbrauchstäter, man denke an die Hochschätzung des Papstes für den Gründer des Ordens Legionäre Christi, Pater Marcial Maciel. Diesen Verbrecher nannte der Papst öffentlich einen „Freund und Vorbild der Jugend“…

8.
Katholische Medienleute sollten sich die Mühe machen, und einige Seiten der Studie „Glaubenswächter“ von Peter Hertel lesen, das wichtige Buch ist im katholischen Verlag ECHTER in Würzburg im Jahr 2000 erschienen. Antiquarisch kann diese unersetzliche Dokumentation immer noch erworben werden…
Im Hengsbach – Bistum Essen fand 1968 ein Katholikentag statt, bei dem sich eine katholische Opposition gegen die Enzyklika „Humane Vitae“ laut stark bemerkbar machte und die katholische Einheit mit der CDU gestört wurde. Seit dem Katholikentag 1968 und einer dort sichtbaren linken katholischen Präsenz ist Hengsbach auf die Seite der konservativen und reaktionären Bischöfe gegangen, ein Schritt, der ihm große Karriere einbrachte.

9.
Als Chef des katholischen Lateinamerika Hilfswerkes ADVENIAT„blies Hengsbach 1972 im römischen Zentrum der Opus-Dei-Priester zum Kampf gegen die lateinamerikanische Theologie der Befreiung“ (Peter Hertel, S. 36): „Der Oberhirte Hengsbach identifizierte Befreiung mit geistiger Emanzipation und attackierte dann beides. Diese Ideen seien gescheitert, da sie im Namen der Freiheit Böses taten… Marxistische und liberalistische Ideologen werden keine bessere Zukunft und keine wahre Befreiung des Menschen bringen“ (Peter Hertel S. 37). Diese Gleichsetzung von Marxismus und Liberalismus war eine zentrale politische Idee des polnischen Papstes, er verachtete beide, also auch die Demokratie…
Der Hengsbach Vortrag ist 1973, passend zur Opus – Dei – Connection, im Adamas Verlag des Opus Dei in Köln erschienen. Es waren die Jahre, in denen Hengsbach sehr eng mit dem Kölner Kardinal Joseph Höffner zusammenarbeitete (S. 38), auch hinsichtlich der Gründung der konservativen theologischen Fachzeitschrift COMMUNIO (später das Lieblingsblatt des Joseph Ratzinger. )

10.
Der Kampf gegen die Befreiungstheologie, angeführt durch Bischof Hengsbach, sammelte sich dann in dem von ihm mit begründeten internationalen, extrem konservativen Studienkreises „Kirche und Befreiung“ im Jahr 1974. Von Bischof Franz Hengsbach ist das skandalöse Wort überliefert: „Die sogenannte Theologie der Befreiung führt ins Nichts. In ihrer Konsequenz liegt der Kommunismus…“ (KNA, 13.5.1977). Papst Johannes Paul II. glaubte an diese Einschätzung! ( Zum “Studienkreis Kirche und Befreiung”  und der führenden Rolle Bischof Hengsbachs dabei, siehe den Beitrag des kath. Theologen Norbert Greinacher “Wie es zum Konflikt um die Theologie der Befreiung kam”, in: „Konflikt um die Theologie der Befreiung“, Benziger Verlag 1985, Seite 51 – 61).

11.
Von diesem Hengsbach – Verein aus ergaben sich enge Verbindungen für den Essener Bischof mit hohen, ultra-reaktionären lateinamerikanischen Klerikern, wie etwa Erzbischof Alfonso Lopez Trujillo oder Bischof Dario Castrillon Hoyos. Kardinal Lopez Trujillo war einer der heftigsten Feinde gegen die Gleichberechtigung von Homosexuellen, er selbst war aber ständiger „Kunde“ von Strichern in Medellin wie später dann in Rom, das hat der Soziologe Frédéric Martel in seiner Studie„Sodom“ dokumentiert. Link

12.
Über den unerfreulichen Einfluss Hengsbach auf progressive katholische Kreise schreibt der progressive brasilianische Kardinal Aloisio Lorscheider in seinem Buch: „Lasst euer Licht leuchten“, erschienen in der edition ITP-Kompass, Münster: „Wir wussten, dass von Deutschland aus, vor allem von ADVENIAT, Druck gegen die Befreiungstheologie aufgebaut wurde. Das ging sogar so weit, dass der Erzbischof und spätere Kardinal Hengsbach aus Essen, dem Sitz von Adveniat, eine ganze Studienreihe mit diversen Büchern und Publikationen gegen die Befreiungstheologie organisierte. Einige Bischöfe Lateinamerikas standen auf seiner Seite. Es gab dann in Deutschland eine REGELRECHTE VERSCHWÖRUNGSWELLE, ausgehend von der Gruppe um Hengsbach. Sie verfügten über viel Geld…“

13.
Bischof Hengsbach, Chef eines Hilfswerkes für die Armen in Lateinamerika, Adveniat genannt, empfing 1974 die Ehrendoktorwürde der Opus Dei-Universität von Pamplona, Spanien. UND: Vom Diktator Hugo Banzer in Bolivien (August 1971 – Juli 1978) erhielt Bischof Hengsbach im Mai 1977 in Bolivien eine sehr hohe staatliche Auszeichnung. Bekanntlich war der deutsche Naziverbrecher Klaus Barbie ein Mitarbeiter von Banzer in Bolivien. Wusste Bischof Hengsbach von diesen Verbindungen “Banzer und die Nazis”?

Quellenangabe: Im Mai 1977 wurde Bischof Franz Hengsbach in Bolivien von Banzer, dem Diktator Boliviens, der höchste Verdienstorden “Condor der Anden” verliehen, berichtet der katholische Theooge Norbert Greinacher in seinem Buch “Die Kirche der Armen”, Piper Verlag 1980, S. 158f. Über die Verfolgung kritischer Christen unter der Diktatur Hugo Banzers in Bolivien hat Enrique Dussel in seiner Studie “Die Geschichte der Kirche in Lateinamerika” etliche Beispiele genannt  (Mainz 1989, S. 390). “Landarbeiter und und Kleinbauern werden im Tal von Cochabamba am 25. Januar 1973 niedergemetzelt”, erstes prominentes Opfer der Repression wurde Pater Mauricio Lefevre, Profesor der Nationaluniversität , er wurde am 23.Oktober 1971 ermordet. Der päpstliche Nuntius in Bolivien Giovanni Gravelli zur Zeit der Banzer – Diktatur betonte: “Die Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind herzlich”…

Wann wird eine umfassende Studie von unabhängigen Historikern über “Bischof Hengsbach und ADVENIAT” erscheinen?

14.
Kardinal Hengsbach ist wohl der erste Kardinal, der als Missbrauchstäter gelten könnte, wie einige Medien sicher treffend schreiben.Aber das ist die Sensation: Ein Opus – Dei – Freund als Missbrauchstäter – wie wird das Opus Dei reagieren, die Lieblingsorganisation von Hengsbach?

15.
Franz Hengsbach, Bischof, Erzbischof, Kardinal, sehr einflussreicher Bischof in Deutschland und auch in Lateinamerika, ein Mann, der über viel Geld verfügte (im Rahmen des Hilfswerkes Adveniat), Freund der Päpste und Mitglied der katholischen Studentenverbindungen, Autor einer theologischen Dissertation mit dem Titel: „Das Wesen der Verkündigung – Eine homiletische Untersuchung auf paulinischer Grundlage“…
Dieser hohe Kleriker führte nun, nachgewiesen, ein Doppelleben. Wem war es bekannt? Wer hat ihn gedeckt und geschützt? Und warum wohl wurde er so protegiert in der konservativen katholischen Kirchenführung?

Fußnote 1:

Franz Hengsbach war von 1958 bis 1991 Bischof von Essen, zuvor war er seit 1953 Weihbischof in Paderborn. Er wurde 1910 geboren, gestorben ist er 1991.
In Essen wurde er in manchen frommen Kreisen fast wie ein Heiliger verehrt. Es gibt eine Statue von ihm am Essener Dom, Straßen und Plätze und kirchliche Zentren wurden nach ihm benannt.
„Ihr werdet meine Zeugen sein“, ist das Motto – ein Wort Jesu von Nazareth – aus neutestamentlichen Text „Apostelgeschichte”, das sich Hengsbach als sein Motto als Kardinal wählte. Jetzt treten endlich Zeugen öffentlich auf, die ihn anklagen. Jesus kommt später noch … (himmlisch?). Es gibt auch Zeugen für das alles andere als befreiende Engagement Hengsbachs für Lateinamerika — als Chef von Adveniat.

Fußnote 2:

In dem Buch “Kirche und Befreiung” (Pattloch Verlag, 1975), bemüht sich Bischof Hengsbach durch allerlei Zitate aus Konzilsdokumenten nachzuweisen: “Wer meint, im Namen Christi sich darauf beschränken zu können, die äußeren (gemeint sind die politisch-sozialen, CM) Verhältnisse zu ändern, tut sicherlich zu wenig, ja er tut etwas Falsches” (S. 26). Gemeint sind von Hengsbach die Befreiungstheologen in Lateinamerika, die sich angeblich vor allem um soziale und politische Veränderungen kümmern und angeblich nicht die “Innerlichkeit”, also die “innere Erlösung durch Christus” an erste Stelle setzen. Dass diese befreiungstheologischen Katholiken in Lateinamerika sich von rechtsextremen katholischen Militärs in Lateinamerika foltern und erschießen liessen, im Namen ihrer “Innerlichkeit”, ihres tiefen Glaubens, übersieht der reaktionäre Bischof Hengsbach natürlich…Dass es “Christenverfolgung in Lateinamerika” durch rechtsradikale katholische Militärs gab, war Bischof Hengbach als Chef des Lateinamerika – Hilfswerkes ADVENIAT offenbar unbekannt? … Vielleicht haben die dummen ideologischen Reflexionen Hengsbach zur Befreiungstheologie dann in Lateinamerika auch zu Verfolgung und den Mord an Befreiungschristen motiviert…

Dieser Text Hengsbach ist ein Stück üblicher, ideologischer und klassischer Innerlichkeitstheologie, der Text endet, wie sollte man sich wundern, mit einem lobenden Hinweis auf das Opus Dei und dessen Gründer, “Msgr Josémaria Escrivá ” (S. 28). Hengsbach meint, dieser Geheimclub leiste “einen Dienst an der Welt” (S. 28). Bloß welchen Dienst, für wen und in wessen Auftrag?

Wird Adveniat jemals die Kraft finden, von selbst, durch eine unabhängige Historiker – Kommission geleitet, die Verbindung Hengsbach – Opus – Dei und Kampf gegen die Befreiungstheologie bzw. die Basisgemeinden zu dokumentieren?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Die Welt-„Synode“ im Vatikan: Eine große Illusion… und Frustration!

Dieser Hinweis, verfasst von Christian Modehn, Berlin, Initiator des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin, wurde am 3. Oktober 2023 veröffentlicht.

Ein Hinweis von Christian Modehn vom 17.9.2023 zum gleichen Thema wird gekürzt unten zur Lektüre noch einmal angeboten.

Ein Foto der Klerus-Versammlung zur Eröffnung der “Synode”: LINK

Ein Motto von Thomas Piketty, Ökonom und Soziologe: “Jedes Regime neigt dazu, die Prinzipien, die ihm dienen, möglichst unreformierbar zu machen und jeden Versuch, sie in Frage zu stellen, als illegal zu brandmarken” (“Eine kurze Geschichte der Gleichheit”, München 2022, Seite 126).

1.
Über die „Katholische Weltsynode“ im Vatikan vom 4. bis 29. Oktober 2023 ist schon von kritischen Beobachtern alles gesagt: Die Synode gibt sich nur den Anschein einer demokratischen Veranstaltung, das meint doch der jetzt übliche Begriff von Synode. Presseleute und damit die Öffentlichkeit ist während der Debatten nicht zugelassen. Eine geheime Veranstaltung. Diese so genannte Synode ist ein Treffen des führenden Klerus aus aller Welt. Die Laien, zumal die Frauen, sind in der absoluten Minderheit. Vor allem: Die Beschlüsse der Synodalen sind nichts als Bittgesuche an den Papst. Er allein als Chef der absoluten Papst-Monarchie kann alle noch so guten Reformbeschlüsse verwerfen und ablehnen oder ad aeternum verschieben, so geschehen nach den richtigen Beschlüssen der so genannten „Amazonas-Synode“ 2019.

Zu den Debatten der Synode sind Journalisten ausgeschlossen,  die Mitglieder müssen sich zum Stillschweigen verpflichten? Diese Weltsynode im Oktober 2023 ist also eine Veranstaltung, die Angst vor der Öffentlichkeit hat, und das passt gut zu all den üblichen bekannten Verschleierungen und Vertuschungen des Klerus. LINK

Kann die katholische Kirche ernst genommen werden, wenn sie sich nun selbst etwas um demokratischen, synodalen Anschein bemüht und sowieso nach außen als Verteidigerin der Menschenrechte auftritt? LINK
2.
Das vom Klerus ständig wiederholte, aber vernünftig nicht nachvollziehbare Standardargument heißt: Man müsse bei allen Reform-Entscheidungen doch die ganze Weltkirche Kirche mit ihren 1,5 Milliarden Mitgliedern respektieren. So wird dieser Hinweis auf die  komplexe und multikulturelle Welt-Kirche zu einer Art Universalentschuldigung alle Reformbeschlüsse vom Tisch zu fegen.
3
Aber sind Katholiken in Sri Lanka oder Paraguay wirklich so empört, wenn Katholiken in Deutschland einen anderen Ausdruck des Glaubens leben wollen, … weil sie eben in Deutschland und nicht in Sri Lanka oder Paraguay leben und – ohne Wertung ! – einen anderen kulturellen Horizont hochschätzen auch in ihrem Glauben als Europäer des 21. Jahrhunderts? Warum muss der bekannte Hass auch der katholischen Bischöfe Ugandas auf Homosexuelle mehr Beachtung finden als der Wunsch europäischer Katholiken für Segnungen homosexueller Paare? Warum werden in Rom und von den Bischöfen reaktionäre Positionen immer höher bewertet und eifriger respektiert als progressive Vorschläge? Ein Jammer, über den weiter nachzudenken eigentlich verlorene Zeit ist. Aber Religionskritik der Vernunft am undemokratischen Katholizismus ist nun mal eine Art Sisyphusarbeit, der man sich aber bald entledigen sollte. Sollen die Kleriker doch machen was sie wollen… Der Philosoph Voltaire, alles andere als ein Atheist!, sagte bezogen auf das damalige Kirchensystem im 18. Jahrhundert vor der Revolution: „écrasez l infame“…Man vergesse nicht: Die Kirche ist nicht nur seit ca 15 Jahren durch die Freilegung sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in einer tiefen Krise, sondern schon seit Jahrhunderten gibt es diesen sexuellen Missbrauch. LINK:
4.
Der Papst und die Seinen verwenden die Ideologie der “Einheit der Kirche“ nur, um alles beim alten zu lassen, also die Kleruskirche unverändert fortzusetzen inclusive der nicht mehr nachvollziehbaren, überhaupt nicht mehr glaub—würdigen Dogmen. Diese sind längst als politische bedingte Ideologien von einst enthüllt, wie das furchtbare Erbsündendogma, die absurde Trinitätsdogmatik, die Unfehlbarkeit des Papstes, die Unbefleckte Empfängnis, die Aufnahme Marias in den Himmel, die Lehre „außerhalb der römischen Kirche kein Heil usw. usw… Hinzukommt: Die nur noch floskelhafte, erstarrte und nicht mehr verständliche Sprache der Spätantike in den Messen bis heute… : „Der Herr sei mit euch“, „Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit“, Jesus wurde „gezeugt, nicht geschaffen“ so das Glaubensbekenntnis , oder: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt“ usw…)
5.
Dabei könnte der Papst aufgrund seiner als Dogma sogar formulierten Macht sofort, innerhalb weniger Minuten, das Zölibatsgesetz für die Priester aufheben, er könnte sofort die Segnung homosexueller Paare erlauben. (Nebenbei: Dabei wäre nur die Homo-Ehe und die Ehe-Zermonie in einer Kirche für homosexuelle Paare die eigentliche heute übliche Form. „Segnungen von Homo-Paaren“ steht auf einem Niveau wie die seit langem übliche Segnung von Tieren oder Autos oder Waffen…
6.
Weiter:
Der Papst könnte sofort das gemeinsame Abendmahl mit Protestanten gestatten.
Weiter: Der Papst könnte sofort Frauen wenigstens als Diakoninnen eine offizielle Funktion gestatten. Nichts spricht theologisch dagegen, dass Frauen auch römisch-katholische Priesterinnen werden können. Mit dem versteinerten und verkalkten Ausschluss von Frauen von allem „Heiligen“ in der Sicht der offiziellen Theologie werden Frauen tatsächlich zu Menschen zweiter Klasse, mit schlimmen Folgen: Man bedenke die Gewalt gegen Frauen in den katholischen Ländern Lateinamerikas, die Femizide auch in katholischen Ländern, die Maria als prächtige Himmelskönigin (Göttin?) hochpreisen, aber reale Frauen verachten und ihnen Funktionen des „Heiligen“ (Priesterinnen) verwehren. Diese Zusammenhänge sollte man endlich genauer untersuchen. Stichwort: Die Liebe zur imaginären Maria und der Hass auf Frauen in der Macho-Welt Lateinamerikas.
7.
Diese Themen sind im Vatikan tabu. Stattdessen wird viel Zeit und viele Energie und viel Geld (die Flugkosten ! bezahlen wahrscheinlich die spendefreudigen Laien) in endlose Debatten im Vatikan verschleudert, alles mit der hübschen, immer permanent beschwichtigend vorgetragenen Begründung: „Es ist doch wichtig, dass so viele Kleriker einander zuzuhören“, unverbindlich zuzuhören, natürlich. Als könnte man nicht einander auch unverbindlich zuhören über das Internet usw…
8.
Aber das Wichtigste ist: Diese groß aufgebauschte Synode (man freue sich schon auf die prächtigen Bilder all der prächtigen Herren Bischöfe und Kardinäle beim feierlichen Einzug in den Petersdom), diese Synode wird wohl vor allem von inner-katholischen theologischen Problemen sprechen.
9.
Nicht etwa wird über die wirklich absolut drängenden Fragen der Menschheit gesprochen: Etwa: Was können alle katholischen Bistümer und alle Ordenshäuser für die Abwendung der Klimakatastrophe sofort tun? Was tun sie für eine gerechtere Gesellschaft, für die Umverteilung des Reichtums und die mögliche Begrenzung des Eigentums der Milliardäre, was tun sie in ihrer gemeinsamen Kritik am westlichen Neoliberalismus und deren ökonomisch-politischen Herrscher? Was tun sie für die Ausbildung möglichst vieler Katholiken zu Aktivisten des Friedens weltweit. Es müßte also auch um eine globale kritische politische Analyse gehen. Und die Rolle der Kirche dabei: Die stinkend reichen katholischen Kirchen des Nordens und die armen Kirchen im Süden, sind diese Verhältnisse etwa vorbildlich?
10.
Aber nein: Die Herren Kleriker und der „Heilige Vater“ (was für ein Wort, „Einer ist heilig, nämlich Gott“, sagt kein Geringerer als Jesus) diese Herren der Kirche also debattieren mit einigen wenigen erwählten Laien über Kirchenreförmchen, die dann vom Papst sowieso nicht akzeptiert werden.
11.
Man sollte Psychologen fragen, warum es immer noch so viele Laien auch Deutschland gibt, die sich das alles antun, dieses Ja zur Unterlegenheit in einer Herrschaftskirche, in einer Kirche, die sich ja auf Jesus bezieht, obwohl der gar keine Kirche wollte und keine gründete. Aber dieser Jesus lehrte als Weisheitslehrer genau das Gegenteil von dem, was heute und seit 1.900 Jahren Praxis der römischen Kirche ist: Herrschaft, die sich jetzt etwas freundlich, ein ganz klein Bißchen liberal, etwas großzügig zeigt: Ist es nicht toll: 45 Laien als SynodenteilnehmerInnen bei ca. 320 Klerikern. Und auch diese 45 Laien mussten sicher geloben, nichts zu verraten, was die Herren in der so genannten Synode da so alles geheim beraten…
„Was für ein Zirkus“, schrieb mir gerade ein theologischer Freund aus Rom…

Ich habe ihm geantwortet: “Es gibt auch eine einfache, eine vernünftige nicht klerikale Form eines christlichen Glaubens. Kant hat da seine Vorschläge, die nach wie vor aktuell und hilfreich sind.  LINK

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. www.religionsphilosophischer-salon.de

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Der gekürzte Hinweis von Christian Modehn zum gleichen Thema vom 17.9.2023:

Ca. 1,5 Milliarden Menschen nennen sich Mitglieder dieser Kirche, etwa 99 Prozent von ihnen sind Frauen und Männer, also so genannte Laien, in der Klerus-Sprache „das gläubige Volk“… Der Papst hat – welche Sensation ! – etwa 45 Laien als stimmberechtigte Mitglieder dieser Synode ausgewählt, alle anderen sind als Kleriker eng und gehorsam und als Kleriker meist ängstlich mit dem Papst verbunden: Es sind 275 Bischöfe und 50 weitere männliche Kleriker… Von einer repräsentativen Veranstaltung kann also keine Rede sein, einer Synode, die wirklich die Mitgliederverhältnisse der Organisation katholische Kirche spiegelt…
Die anwesenden theologischen Expertinnen und Experten dürfen nicht abstimmen.

Auf die Ergebnislosigkeit und deswegen auch Sinnlosigkeit dieser so genannten „Synode“ weisen kompetente Theologen und Kirchenhistoriker jetzt vermehrt hin. Etwa Prof.Hubert Wolf, Kirchenhistoriker an der Uni Münster. In einem Interview, im katholischen Dom Radio zu Köln am 16.9. 2023 publiziert, sagte Prof. Wolf u.a.: „Behauptet wird jetzt, dass Laien und sogar Frauen bei der Weltbischofssynode etwas entscheiden können. Das ist vollkommen falsch. Tatsächlich können sie den absolutistischen Herrscher nur demütig bitten, irgendetwas zu ändern. Es gibt noch nicht mal eine Tagesordnung…. Papst Franziskus kommt nicht aus einer europäischen, synodalen Tradition. Sein ganzer Regierungsstil zeigt: Er hält sich nicht an Regeln.Das zeigt etwa der Fall Woelki, wo der Papst laut Kirchenrecht innerhalb von drei Monaten über das Rücktrittsgesuch des Kölner Kardinals hätte entscheiden müssen.“
So sollte man mit guten Gründen denken, die Weltsynode hätte gar keinen Sinn. Aber vielleicht sorgt der heilige Pater Pio für ein Wunder oder vielleicht die heiligen Seherkinder von Fatima? Prof. Wolf meint richtig und theologisch ernüchtert: „Es braucht weder einen Synodalen Weg noch eine Weltbischofssynode. Das wird ein weiterer Debattierclub ohne rechtliche Vollmachten. Die großen Streitpunkte sind aus historischer Sicht längst geklärt… Es gibt in der Tradition verheiratete Priester – lasst uns sie also wieder zulassen. Es gibt in der Tradition Diakoninnen – lasst uns also wieder welche weihen. Es gibt in der Tradition alternative Leitungsmodelle für Gemeinde – lasst sie uns also praktizieren.
Meine Befürchtung ist: Nach der Weltbischofssynode wird es wieder viele Enttäuschungen geben.“
Quelle: https://www.domradio.de/artikel/historiker-nennt-synode-debattierclub-ohne-vollmachten.

Auch in „Christ und Welt,“, der Beilage von „Die Zeit“, am 14.9. 2023, Seite 4, befasst sich der Historiker, Prof. em. Volker Reinhardt, Fribourg (CH), mit dieser so genannten Weltsynode:
„Der Papst tut so, als gehe es in dem Gremium um Mitbestimmung. Dabei ist es eine pseudodemokratische Illusion“. Prof. Reinhardt dokumentiert genau die ablehende Haltung von Papst Franziskus gegenüber dieser „Synode“: Den „synodalen Weg“ in Deutschland etwa nannte er eine neue Art von Pelagianismus, also eine Ketzerei…
Demokratische Mitbestimmung wird absolut abgelehnt im Vatikan. „Denn sie verstößt gegen die himmlisch garantierte Grundordnung der Kirche….Vor allem: Inhaber unbeschränkter Gewalt geben diese nicht freiwillig ab“, so Prof. Reinhardt in dem genannten Beitrag.

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