Wenn ich Nein sage: Mittelpunkt der Lebensphilosophie
Hinweise anlässlich einer Begegnung mit der Amsterdamer Philosophen-Gruppe aus der Gemeinde „de Vrijburg“ am 17.4.2015 in Berlin.
Von Christian Modehn
Das Nein-Sagen ist meines Erachtens bisher kein explizites Thema in den Philosophien. Wenn ich mich da irre, bitte ich um korrigierende Mitteilungen. Natürlich wird das Nein im Zusammenhang der Dialektik, des Skeptizismus, des Nihilismus diskutiert. Uns interessiert hier das viel elementare Neinsagen als Praxis im Dasein in der Welt, als Vollzug der „Lebensphilosophie“.
Es gibt philosophiehistorische Hinweise, die auch Bausteine bieten könnten für ein systematisches Bemühen um eine Philosophie des Nein. Der bekannte Bonner Philosoph Heinz Robert Schlette bietet in seinem Buch „Notwendige Verneinungen“ (DJRE Verlag, Königswiner, 2010) einige Hinweise: Die Philosophie der Aufklärung hat sich als NEIN- Sagen verstanden, betont er. Ohne das Nein zum autoritären Regime, zum ancien régime, hätte es keine Französische Revolution gegeben. Später wird Albert Camus den rebellischen Menschen (l homme révolté) als den Menschen definieren, der Nein sagt.
Wer das NEIN als Grundvollzug des Philosophierens thematisiert, folgt einer Erkenntnis, die manche vielleicht selbstverständlich, „banal“ finden. Philosophieren bezieht sich aber immer auf das angeblich Selbstverständliche, angeblich so Vertraute, und es zeigt dann aber, wie befremdlich und neu das Vertraute dann doch in vertiefter Reflexion ist.
Es gehört zum Kern des Humanen: Der Mensch kann Nein sagen. Und er kann Nein sagen, weil er reflektiert. D.h., weil er sich auf das bezieht, was er ist, weil er sich selbst „betrachten“ kann als ein Wesen, das sich immer schon in der Welt aufhält und immer schon vor Entscheidungen gestellt ist und sich auch entschieden hat für eine bestimmte Lebenspraxis. In dieser Wahl einer bestimmten, individuellen Lebenspraxis oder eines bestimmten individuellen Lebensentwurfes wird selbstverständlich immer als Voraussetzung dafür NEIN gesagt zu mehreren Möglichkeiten. Mit der Entscheidung selbst wird dann – oft auch nur vorübergehend- Ja gesagt zu einem Lebensentwurf.
In dieser Reflexion wird schon deutlich: Vieles, was uns umgibt, vieles, was uns bestimmt, vieles, was wir bereits selbst leben, ist eigentlich von uns selbst abzulehnen. Weil es nicht unseren aufrechten tiefen Selbstbild entspricht, nicht unsere tief sitzende wahre Vorstellung vom eigenen Leben in Freiheit und Würde fördert. Die Frage ist, warum so viele Menschen diese – traurig stimmende – Erfahrung machen und doch nicht in der Lage sind und die Kraft haben, NEIN zu sagen. Sie folgen vielleicht aus Bequemlichkeit der Anpassungsbereitschaft an die Masse und weigern sich, ihr eigenes und persönliches Nein zu sagen. Sie weigern sich damit aber auch, eigenständige Personen zu werden.
Um so mehr verdienen Menschen, wie jetzt aus aktuellem Kino-Anlass, etwa Georg Elser alle Hochachtung und Zuneigung. Georg Elser hatte die Kraft, gegen alle, die aus Ignoranz, Hass oder Bequemlichkeit Ja sagten zum Wahnsinn der Nazi-Deutschen, eben auch praktisch NEIN zu sagen.
Wichtig ist: Das Neinsagen geschieht nicht um des Neinsagens willen; das gilt nur für Menschen, die dem Nihilismus verpflichtet sind. Bei den anderen, wohl den meisten, steht das Neinsagen im Dienst eines größeren Ja. Ein Ja zu einer anderen Welt, zu einem besseren Ich. Das Neinsagen ist eine Art geistige Bewegung, die mich zu einer authentischeren Existenz hin führt.
Wer das Nein auf diese Weise schätzen und praktizieren lernt, erlebt wohl ein bewusstes Leben. Ich nehme die Zustände des eigenen Lebens wie der Welt wieder wahr in ihrer Ambivalenz und auch in ihrem negativen Charakter. Ich sehe: Was bisher als normal gilt, muss nicht wahrhaft gut sein und menschenwürdig. Im Nein wird eine Grenze angesprochen. Diese Grenze will ich nicht überschreiten. Sie ist nicht akzeptabel. Ich sage: Das geht zu weit.
Um das Menschliche und Geistvolle in mir zu schützen, muss ich Nein sagen können. Nein sagen zu einer Politik, die von Gerechtigkeit spricht, tatsächlich aber nur das Wohlergehen der ohnehin schon Reichen fördert. Das Neinsagen müssen wir pflegen zu allen propagandistischen Verlogenheiten, etwa wenn groß tönend die Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet werden sollen, aber praktisch politisch Monate lang nichts geschieht, diesen armen Menschen umfassend beizustehen.
Wir haben den Eindruck: Das Nein Sagen ist andererseits auch allgegenwärtig in den Gesellschaften, in den Staaten, in den Religionen wohl hoffentlich auch. Es gibt ja auch so wenige Erfahrungen, wo ein halbwegs nachdenklicher Mensch heute noch Ja sagen kann etwa bei himmelschreienden Zuständen in der Gesellschaft, im Staat, den Kirchen als bürokratischen Institutionen usw.
Die Frage bleibt brisant auch angesichts der vielen radikalen, nihilistischen Neinsager aus Kreisen, die eher den Gesamtzusammenhang unserer halbwegs noch zivilisierten Rest – Welt in die Luft sprengen wollen. Auch dieses zerstörerische Nein, das schon kein positives Ja mehr als Zielpunkt ist, das ist gegenwärtig. Dazu gilt es Nein zu sagen, indem man diesen Menschen zeigt, dass eine humane Gesellschaft auch noch ihnen – nach Abkehr vom Wahn – Raum zum Leben bietet…
Die Frage ist also philosophisch brisant: Wie kann ich die richtige Unterscheidung treffen und erkennen, ob ein Nein berechtigt ist, mehr noch: richtig und gut, in dem Sinne, dass es neue humanere Lebensmöglichkeiten erschließt?
Ich habe einen eher „einfachen“ Vorschlag, der sich der Philosophie Kants verdankt: Das Kriterium, ob (m)ein Nein zu bestimmten Zuständen moralisch berechtigt ist, ist der Kategorische Imperativ: Also die Auseinandersetzung mit der Frage: Kann mein Wollen, mein Nein Sagen, auch meine entschiedene Zurückweisung einer Haltung, einer Sache, also meine Lebensmanxime, allgemeines Gesetz werden?
Das kann man natürlich an zahllosen Beispielen des Nein Sagen praktisch durcharbeiten. Nehmen wir als eine beliebige Möglichkeit etwa die Meinung: Tempobegrenzung auf Autobahn sei falsch. Wir sagen dazu Nein, weil es ohne Tempobegrenzung zu viele Unfälle gibt. Und die elitäre Auto-Lobby: Sie tritt für die absolute Tempofreiheit ein, die wiederum von der Regierung (die Autoindustrie schafft ja Arbeitsplätze etc) gestützt wird…Oder: Die Vertreibungen von Mietern aus Wohnungen, aus spekulativen Gründen, seien korrekt, weil sie doch nur Ausdruck des so genannten freien Marktes sind: Wir meinen dazu aus philosophischer Sicht: Da muss Nein gesagt werden, weil auf diese Weise Menschen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden, sie werden wie Objekte behandelt; kein Spekulant möchte das selbst erleben, siehe Kant: Kategorischer Imperativ. Es könnte eine neue Kultur des NEIN entwickelt werden, wenn die selbstkritische Reflexion einen höchsten Stellenwert hätte, und nicht der ökonomische Profit….
Wir leben aber in einer Welt mit vielen großen weltweiten Bewegungen des NEIN (die den Hintergrund eines großen Ja haben, im Sinne eines Humanismus). Man könnte an die Occupy-Bewegungen denken, an Basisinitiativen, soziale Netzwerke, auch an „Podemos“ in Spanien. Viele folgen noch den Inspirationen von Stephane Hessel und seinem Aufruf „Empört euch“.
Diese und viele andere soziale Bewegungen sagen Nein zu einer weltweit propagierten Ideologie: Es gebe keine Alternative mehr zu der jetzt so bestehenden Welt. Das ist ja das Glaubensbekenntnis von Madame Thatcher gewesen: There is no alternative, abgekürzt: TINA
Philosophien können nicht in die unmittelbare Lebensberatung einsteigen, sie setzen auf die Selbsterkenntnis des einzelnen angesichts der beschriebenen Erfahrungen. Dennoch: Wo und wie kann ich mich in meinem NEIN wirksam gesellschaftlich und für mich seelisch/geistig stabilisierend einsetzen?
1. Jeder und jede sollte sein eigenes soziales und politisches Nein leben, ein konkretes Nein. Und dieses Nein ausdrücken in einer Gemeinschaft, die zu seiner/ihrer persönlichen Biographie passt: Also: Ein Arzt kann sein Nein am ehesten ausdrücken, wenn er sich für medizinische Bewegungen einsetzt, die dem Hungertod Widerstand leisten usw. Was er in diesen Widerstandsbewegungen erlebt, kann ihm persönlich weiterhelfen, er macht neue Erfahrungen, lernt neue Menschen kennen. Das Neinsagen eröffnet einen kreativen Raum eines interessierten Lebens.
2.Tatsächlich ist ein noch umfassenderes Engagement möglich: Warum kann man sich nicht in die Welt der Online Kampagnen einschalten? Siehe etwa change.org .
Wichtig ist, noch einmal gesagt, die Erkenntnis: Wir leben oft unthematisch immer schon im Ja. D.h. wir sagen zu unserem Leben, wie es nun einmal ist, (oft notgedrungen) Ja. Dies ist die Basis allen Lebens und dann auch aller Lebensfreude. Dieses Ja zu vertiefen, zu erweitern, kommunikativ zu pflegen, ist Aufgabe des je neu gesprochenen und gelebten NEIN….
Noch ein Wort zum Thema „Religion und Nein sagen“. Auch das religiöse Leben lebt seit alten Zeiten vom Nein Sagen. Die 10 Gebote sind ja auch Ausdruck des Nein Sagens, ganz elementar: „Du sollst nicht töten“.
Es gibt aber auch gängige und schon selbstverständliche religiöse Werte, die man im Sinne des Nein kritisch hinterfragen muss: Ich denke etwa an den Begriff und den Wert der Toleranz. Er ist nicht mehr als eine erste Stufe im Miteinander der Gesellschaft. Und deswegen als Anfang sicher wichtig. Toleranz heißt aber auch weitergehend, dass ich nicht alles tolerieren darf. Ich kann die Feinde der Toleranz nicht tolerieren.
Aber: Es kommt auf Respekt an, respektieren kann ich nur einen, der den Respekt respektiert. Wir müssen gemeinsam den Respekt lernen.
Nebenbei: Wir Deutsche wissen oft gar nicht, dass wir im Grundgesetz Paragraph 20, Absatz 4, ein Widerstandsrecht haben gegen jene, die die demokratische Ordnung zerstören wollen. Der Absatz heißt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
Wir müssen in einer philosophischen und theologischen Spiritualität auch lernen, zu Gott Nein zu sagen: Also: Nein sagen zu den vielen infantilen Gottes-Bildern. Nein sagen zu dem ideologisch missbrauchten Gott. Insofern geht es auch um ein Ja zur Blasphemie!
Zum Schluss ein Hinweis auf KANT: „Eine Regierung, die ihre Bürger wie unmündige Kinder behandelt, selbst wenn es unter dem Titel der Fürsorglichkeit geschieht, ist für Kant der Inbegriff der Despotie“ (in Enzyklopädie Philosophie, S 2993, Beitrag Matthias Kaufmann). Unmündige Kinder sind jene, die nicht qualifiziert Nein sagen können, sondern alles annehmen, was “Vater Staat” oder “Mutter Kirche” befehlen…
Diese wichtige Erkenntnis muss selbstverständlich auch auf die Religionen und Konfessionen angewendet werden:
Viele fromme und auch atheistische Seelen leben auch zweifellos im Zustand der Despotie. Und sie merken es nicht einmal, sondern sind glücklich von Klerikern, Rabbiner, Imams, Gurus, Meistern usw. beherrscht (oder bemuttert) zu werden. Es ist der Fehler religiöser und weltanschaulicher Institutionen und der mit ihnen verbundenen staatlichen Systeme, dass sie aus Gründen des Machterhalts das NEIN SAGEN nicht als einen der höchsten (auch religiösen) Werte lehren, verbreiten, besprechen, pflegen. Wann werden Gottesdienste gefeiert, die die Spiritualität und Mystik des Nein pflegen und feiern?
Ein wahres Ja zum Leben, zu einem freien und humanen Leben, erreichen wir nur im ständigen Nein. Auch zu vielen Aspekten, die wir leben, um ein größeres Ja zu gewinnen, zu dem wir dann eines Tages – um des wachsenden geistvollen Lebens willen – wieder Nein sagen….
copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.