Satt und übersättigt und hungrig
Philosophische Hinweise. Von Christian Modehn
Anlässlich des Religionsphilosophischen Salons am 24.6. 2016 in der Weinhandlung Sinnesfreude Neukölln
Vom 24. bis 26. Juni findet wieder das allmählich schon berühmte, wichtige Kunstfestival „48 Stunden Neukölln“ statt. Diesmal zum Thema „Satt und Übersättigt“. Das Programm ist so umfassend, dass alle an Kunst Interessierten allein in diesem Teil des nördlichen Neukölln schnell selbst, voll der Kunst, übersättigt sein könnten.
Philosophie als lebendige Form des freien Philosophierens stellt sich schlechthin jedem Thema. Das ist unsere Überzeugung. Hinzu kommt: Es gibt inzwischen eine eigene philosophische Disziplin, die Gastro-Sophie, die vor allem und entscheidend von dem Philosophen Harald Lemke (Hamburg) entwickelt wird, in zahlreichen Publikationen und mit einer eigenen website: http://www.haraldlemke.de/ Wenn es schon eine Disziplin „Sportphilosophie“ seit Jahren gibt, dann erscheint eine Gastrosophie viel dringender, weil allgemeiner orientiert. Zum Schluss dieses Beitrags weise ich auch auf das Übersättigtsein durch die Fülle etwa christlicher Lehren und Lehrgebäude hin, sozusagen als Beitrag zu einer neuen Gastro-Theologie.
Einleitend möchte ich, von Lemkes Forschungen inspiriert, nur auf zwei philosophie-historische Aspekte hinweisen. Von Epikur, dem Meister der Diät und eben kein „Epikuräer“, soll hier nicht die Rede sein, darüber haben wir früher schon einmal in unserem Salon gesprochen und entsprechende Hinweise publiziert. Hier soll an Immanuel Kant erinnert werden, der schlank und rank geblieben war sein langes Leben lang; wahrscheinlich, weil er nur einmal am Tag, eben mittags, ein langes ausführliches gutes Mahl zu sich nahm. Früh morgens um 5 weckte ihn der Diener Lampe, brachte ihm Tee und die Tabakspfeife, das war es denn auch bis mittags.
Auch wenn Kant in seiner ästhetischen Philosophie das Essen trennt von der Erfahrung der Schönheit, weil das ästhetisch Schöne für ihn zweckfrei ist, so ist das Speisen für Kant persönlich und dann auch für eine Philosophie des Miteinanders, der Freundschaft, wichtig: Als ein gemeinschaftlicher Vollzug. Gemeinsames Essen soll eine Erfahrung von Freundschaft sein. Es geht Kant auch nicht immer um große philosophische Debatten beim Mittagessen, sondern durchaus um die Freude und Lust, dem Magen etwas Schönes anzubieten.
An den Philosophen Ludwig Feuerbachs wäre zu erinnern, den Autor des großen und immer noch wichtigen Buches „Das Wesen des Christentums“ von 1841. Allgemein bekannt ist ja das Zitat Feuerbachs: „Der Mensch ist, was er isst“. Damit will Feuerbach, kurz gefasst, sagen: Der Mensch ist nicht durch Geist zuerst bestimmt. Essen ist der fundamentale Wesenszug des Menschen. Arme sind arm und oft krank, weil sie zu wenig bzw. qualitativ zu schlecht essen. „Weil du arm bist, musst du früher sterben“: Dieser Spruch hat leider heute immer noch Gültigkeit, man denke etwa an die Lebenserwartungen der Hungernden in Niger, Tschad und anderswo… Feuerbach vertrat also eine materialistisch gefärbte Anthropologie und wurde deswegen von der Uni gefeuert, weil er meinte: Vor aller Philosophie ist der Mensch auf das Essen angewiesen, er ist ein essendes Wesen. Das heißt: Er ist angewiesen auf die äußere Natur. Der Mensch kann nicht aus sich existieren. Diese äußere Natur muss der Mensch erhalten und mit anderen teilen, wenn er denn will, dass alle Menschen eben Menschen bleiben können. Feuerbach sagt religionskritisch sehr treffend in einem materialistischen Sinne: „Heilig sei uns darum das Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser!”
Das Sattsein und Übersättigtsein des einzelnen.
Philosophisches Nachdenken zu dem Thema, wie auch sonst, kann dabei niemals die empirische Situation und die soziale-historische Welt beiseite lassen. Wir sind hier in Deutschland fast immer alle satt und sehr viele sind sogar übersättigt oder zu übergewichtig. Aber Tatsache ist auch, dass es etwa in Berlin Kinder gibt, die ohne eine Mahlzeit in die Schule kommen. Viele tausend Menschen, Opfer der rigiden HARTZ IV Gesetze, können sich nur ernähren, weil es die berühmten TAFELN gibt. Der deutsche Staat wird seinem Anspruch, Sozialstaat zu sein, längst nicht mehr gerecht.
Auf Weltebene, nur einige Hinweise: 2,1 Milliarden Menschen auf der Welt sind zu dick: Auch in Afrika steigen die Zahlen der Adipösen rasant an, während viele Tausend gleichzeitig hungern. „Die Welt“ schreibt am 10.6.2014: 48 Prozent der Ägypterinnen sind fettleibig, 42 Prozent der Südafrikanerinnen. In Deutschland, zum Vergleich, sind es 23 Prozent, in den USA 34 Prozent der Frauen. Die Fettleibigkeit ist Resultat u.a. eines zu starken Zuckerkonsums auch in Zucker-Getränken, die von Europa aus in diesen Ländern verbreitet werden.
Gleichzeitig sind die TV Sendungen im reichen Norden, Europa und Amerika, zum Thema Kochen geradezu inflationär und die Zahl der Zeitschriften zum Essen ist nicht mehr überschaubar. Weil wir Europäer fast alle Küchen und Rezepte durchprobiert haben, macht sich jetzt die peruanische Küche in Deutschland breit. Schön für die hier lebenden peruanischen Köche. Problematisch, wenn man bedenkt, wie wenige Menschen in Peru tatsächlich diese peruanische Küche genießen können: Ein Zitat aus dem katholischen Sozialhilfswerk „fe y alegria“: „Ein Viertel der peruanischen Bevölkerung (30 Millionen) lebt in der Hauptstadt Lima. Rund 54 Prozent der Peruaner leben am Rande des Existenzminimums, nahezu 20 Prozent in absoluter Armut“. (Quelle: http://www.editionschwarze.de/Armut_und_Elend_in_Peru/armut_und_elend_in_peru.html)
Feinstes Speisen wird hierzulande als Luxus-Erfahrung eingestuft; die Kreise, die sich das leisten können, wollen ja in den Restaurants nicht etwa ihren ohnehin sehr seltenen Hunger stillen, sondern sich sehen lassen, gesehen werden und nebenbei ein Häppchen – halb – verzehren. Die Bewertung der stetig zunehmenden Zahl von Luxus-Restaurants mit Sternen ist dafür der beste Ausdruck. Der verwöhnte Gaumen braucht immer neue Reize. Dabei soll keineswegs eine moralisierende Haltung eingenommen werden; gelegentliche Freude am Luxus soll nicht verurteilt werden. Jeder, selbst der Arme, hat irgendwo seinen (kleinen) Luxus als Ausdruck von Lebensfreude. Ethisch schwierig wird es, wenn die Superreichen, sie stellen etwa 0,5 Prozent der Weltbevölkerung dar, also die Milliardäre, deren Zahl stetig steigt, absolut nur den eigenen Luxus frönen und jegliche wirksame (!) soziale Verantwortung von sich weisen. Und sich etwa gegen Form von Reichensteuer erfolgreich wehren, weil eben die Gesetz- gebenden Parlamentarier es sich mit diesen Kreisen nicht verderben wollen.
Der Philosoph Lambert Wiesing, Uni Jena, schreibt im neuen Heft „Philosophie Magazin“, Juni 2016, S. 74: Luxus ist ein Gegenstand, „der mit einem irrationalen, unvernünftigen, übertriebenen Aufwand hergestellt wurde. Notwendig und zweckmäßig ist ein Luxus niemals. Luxus ist unvernünftig und aufwendig“. Dann wird Luxus aber doch in gewisser Weise gelobt: Man entziehe sich im Luxus-Genuss dem Effizienz-Denken. Darin liege ein Trotz und ein Sichverweigern. Luxus Liebhaber also als Rebellen? Das wäre neu! Es bilde sich so ästhetische Freude, meint der Philosoph. Wie unterschiedlich diese Freude für einen Milliardär ist, der nur noch um des suchtvollen Haben-Wollens Geld und Güter anhäuft und wie anders die Freude bei einem Bettler aussieht, der sich einmal am Tag den Luxus gönnt, eine Curry-Wurst zu kaufen, sei dahin gestellt. Wir leben jedenfalls in einer Gesellschaft, die den Luxus, das Überflüssige, liebt; eben weil es zu viele Leute nicht wissen, wie sie ihr sich stetig vermehrendes Geld aus Finanzkapital Erträgen, nicht aus eigener Arbeit!, ausgeben können.
Die Industrie, die Luxusgüter, diverse „tod (!)- chice“ Accessoires oder Parfums oder edelste Cognacs herstellt, gilt als die stabilste und ertragreichste weltweit. Aber, sie beschäftigt, relativ gesehen, nur wenige Mitarbeiter. Eine Überwindung der Arbeitslosigkeit durch Zunahme der Luxus-Güter-Industrie ist also ein abwegiger Gedanke.
Der einzelne satte Mensch: Bei dem Thema wäre daran zu erinnern, dass Sattsein bedeutet, nicht zu hungern, also ein Leben führen zu können, das kein Elend kennt, das die Kräfte des Körpers erhält und so ein gemeinschaftliches Leben ermöglicht. Die Freude am Essen, die Freude am gemeinsamen Essen, ist die erste Dimension, die es zu pflegen gilt. Gleichzeitig aber ist klar, dass Essen und Sattwerden kein Endziel im Leben ist, sondern nur die Ermöglichung eines humanen, gemeinschaftlichen Lebens. Hingegen kann Hungern eine zentrale Erfahrung sein: Gemeint ist die biblische Lehre vom Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit. Die so viel Hunger und Durst ertragen um einer gerechten Weltordnung willen, die werden im Evangelium selig genannt, also als vorbildliche Menschen gepriesen. Wer hungert und dürstet heute unter nach der Gerechtigkeit auf dieser Welt und setzt diesen Hunger, diesen Durst, in politisches Handeln um? Es sind wohl Menschen wie Rupert Neudeck oder Menschen, die sich in humanen NGOS engagieren.
Vom Fasten wäre zu sprechen, der Diät, der Freude am einfachen Essen, von der philosophisch gebotenen Abwehr des fast food. Diese Abwehr bedeutet: Selbst bei einfachen Speisen, dem berühmten „Schwarzbrot der Mystiker“, gibt es genussvolles Miteinander Essen. Von der Bewegung des besseren gemeinsamen Essens, im „slow food“, wäre zu sprechen. Langsamkeit beim Essen ist sicher auch ein medizinischer und kommunikativer Gewinn. Die Frage bleibt jedoch, was genau wir denn nun slowly essen, etwa eine prachtvolle seltene Fischsorte aus dem Viktoriasee in Afrika? Können wir bei dem Gedanken an hungernde Fischer dort noch happy slowly genießen? Vielleicht sollte man endlich, dies wäre eine neue Idee, die zu besprechen wäre, den Community-Food entwickeln, etwa in neu zu gründenden Speisestuben in den Städten, wo Menschen, besonders Nachbarn aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, täglich mit einander kochen und preiswert essen. So könnte Kommunikation in der Stadt erlebt werden. Kirchengemeinden könnten ihre ins religiöse Getto abgedrängten Abendmahl – bzw. Eucharistie – Zelebration überwinden und neuen Schwung des Humanen erhalten, wenn sie ihre halbwegs erträglich -„gemütlichen“ Gemeinderäume und dort vorhandenen Küchen von allen nutzen ließen… aber das geschiehrt eben nicht, Bürokratie herrscht überall. Das ist ein anderes, ein religionskritisches Thema, das sich mit der kaum vorhandenen Bereitschaft zu grundlegendem Wandel in den Kirchen befassen müsste.
Die zentrale Frage ist: Wie kommt der einzelnen zu einer neuen Lebensform, die dem hier Beschriebenen in etwa nahe kommt? Es gibt das Plädoyer für eine Selbstbindungskultur, von ihr spricht der Philosoph Volker Heidbrink (Uni Kiel) ebenfalls im „Philosophie- Magazin“ vom Juni 2016: „Wir brauchen eine stärkere Selbstbindungskultur, eine stärkere Selbstbindungskompetenz. Menschen müssen erkennen können, wie sie sich selbst binden. Und vor allem in Situationen, in denen sie leicht schwach werden. Der Konsument zum Beispiel kauft im Supermarkt häufig die konventionellen Produkte, weil sie billiger sind. Dieser Konsument muss sich viel stärker binden. So wie Odysseus sich hat fesseln lassen, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen. Odysseus ist der Prototyp dieser intelligenten Selbstbindung. Eine solche Bindung ist im Grunde ein Hilfskonstrukt zur Unterstützung einer nicht funktionierenden Kultur der Eigenverantwortlichkeit“. Darauf antwortet der Schriftsteller Bernhard Schlink: „Das Interessante an dem Mythos ist: Odysseus kann sich nicht selbst an den Mast binden, er muss von den Gefährten an den an den Mast sich binden lassen. Er will gebunden wrden, aber er kann, was er will, nicht ohne die anderen bewerkstelligen…“
Es muss aber auch auf den entscheidenden Hintergrund für unser Sattsein in Europa und Amerika hingewiesen werden, dabei sind die Milliardäre aus dem kommunistischen China in ihrer totalen Luxus-Verschwendungssucht mitgemeint: Wir leben in einer Gesellschaft, in Staaten, die uns ständig, von den globalisierten Ökonomien angefeuert, überall einreden und propagieren: Wir müssen immer weiter wachsen. Wir müssen ständig wirtschaftlich wachsen. Stillstand oder Abnehmen seien tödlich.
Dieser Ideologie (die Philosophin Barbara Muraca spricht deswegen von Götzen, in ihrem wichtigen Buch „Gut leben“, Seite 50) kann sich kaum jemand entziehen. Dieser Götze hat ein Dogma: Es gibt zum ökonomischen Wachstum keine Alternative. TINA heißt diese Göttin: There is no alternative. So glauben die Menschen hier, man müsste ständig wachsen, weiter wachsen und größer werden. Und das kann schnell auch körperlich verstanden werden. Denn die andere Seite der Wachstumsgesellschaft ist der Konsumismus, die Idee, wir Menschen seien in erster Linie Konsumenten. Überall werden wir als Konsumenten angesprochen, zum Verzehr aufgefordert, zum Kaufen … damit die Konzerne Profit machen. Sparen lohnt nicht mehr, also konsumieren wir. Dabei werden eigentlich Menschen, die die Jugendzeit hinter sich gelassen haben, Er-Wachsene genannt. Sie haben sozusagen den Status der körperlichen Reife erreicht, den man nur noch hüten und pflegen sollte. Ohne dabei dem Wahn zu verfallen, körperlich noch mehr er-wachsen sein zu wollen, als man ohnehin ist. Wachsen ist für einen Er-wachsenen nur ein geistiges Wachsen, nur ein Reifen und Weiterreifen, im ganzen Leben. Die Idee des Wachstums hat also nur unter einer, der geistigen Perspektive, Sinn. Wachsen als ständige Erweiterung der Leibesfülle ist medizinisch Unsinn. Aber diese Erkenntnis ist schwer, weil wir nun einmal in einer absoluten Konsumgesellschaft leben. In manchen fast food Lokalen bestellen manche Over-Eater nicht einen Becher Hähnchenflügel, sondern einen ganzen großen Eimer, so wörtlich, für sich allein. Man möchte die Welt verschlingen, um aus ihr herauszutreten und fettleibig zu verschwinden…
Dabei ist klar, dass wir wenigen Reichen diese unsere gemeinsame Erde schon ausgeplündert haben. Wenn tatsächlich unseren europäischen bzw. deutschen Lebensstil und Konsumstil alle Menschen jetzt praktizieren würden, dann bräuchten wir nicht nur eine Erde, sondern gleich sechs Erden. Der Untergang könnte fast programmiert sein. So dunkel ist das Thema Sattsein und Übersättigtsein. Nur ein schlichtes Beispiel: Für ein Kilogramm Rindfleisch werden 15.000 Liter Wasser benötigt: Für einen Hamburger werden 2.400 Liter Wasser benötigt, denken wir dabei an die Wasserknappheit, die beginnt schon in Spanien, in den ausgedorrten Regionen Andalusiens, wo die Gemüse-Produktion das Wasser frisst…damit wir im Dezember frische Tomaten essen anstatt eingelegten Kohl aus hiesigen Gebieten.
Philosophisch gesehen ist dieser Vorgang sehr interessant: Wir definieren uns als Subjekte. Das sind die individuellen Herrscher, die der Welt, auch der Natur gegenüber-stehen. Und über diese Natur können wir verfügen, meinen wir, denn wir können sie uns aneignen, wir können sie wörtlich fressen. Denn diese Natur ist das andere zum Menschen, das Unterlegene, über das die Menschen herrschen können. Dabei wird nicht mehr gesehen, dass die Menschen TEIL der Natur sind. Wir gehören zur Natur, sie ist die Mutter allen Lebens. Und das muss auch spirituell neu eingeübt werden. Etwa in den Gottesdiensten: Da sollte man nicht so viel „Großer Gott wir loben dich“ singen, sondern „Du liebe Mutter Erde, wir ehren dich“. Aber so viel politische Vernunft ist den Kirchen kaum noch zuzutrauen, sie sind eben ad (in)finitum dogmatisch erstarrt.
Wenn man sich dieser hier beschriebenen Perspektive anschließt: Dann geht s nicht mehr nur um slow food als Überwindung des fast food, es kommt auf das andere Essen an und das gelingt nur, wenn sich eine Neu-Definition des Menschen als Teil der Natur durchsetzt. Wir sind nicht isolierte Subjekte, sondern immer schon mit anderen, mit Welt auch, verbunden. Dies ist der Ausgangspunkt aller Reflexion über „den“ Menschen.
Nebenbei zur Vertiefung: Bezeichnenderweise werden Praktiker wie Theoretiker, die die Verwüstungen der ökonomischen Wachstums-Ideologie kritisieren, also die Verwüstungen in Natur und Umwelt und Gesundheit, die diese Wachstums-Ideologie anrichtet, Vertreter der „Dé-croissance“ genannt. Dieses französische Wort könnte man als „Ent-Wachstum“ bezeichnen, als Zurücknahme des Wachstums. Man denke an den maßgeblichen französischen Denker wie Serge Latouche oder den deutschen Theoretiker Niko Paech. Sie gehen gegen die kollektive Vorstellung an, Wachstum sei immer und überall gut. Dass von dieser Herrschafts-Ideologie nur die 10 % der Reichen dieser Welt profitieren, die anderen aber hungern und krepieren, wird verschwiegen von den Ökonomen des Wachstums.
Ich finde es hoch interessant, dass sogar der sehr konservative Finanzminister Schäuble in einem Interview mit der ZEIT vom 9. Juni 2016 betont: „ Ich sage es meinen G7 Kollegen: Eigentlich brauchen wir doch gar nicht mehr so viel Wachstum, lasst uns doch lieber die aufstrebenden Ökonomien des Süden stärker fördern. Das wollen die G7 Kollegen allerdings nicht hören“. Wird Schäuble ähnliche vernünftige Worte noch von sich geben?
Also: Auch ökonomisch ist Ent-Wachstum angesagt, Diät sozusagen. Und diese Diät muss noch gefunden werden und besprochen werden und ausprobiert werden. Wie sieht eine Gesellschaft aus, die nicht ständig wachsen will? Dieser Gedanke ist revolutionär, er wird deswegen von den herrschen Cliquen, den Profiteuren, die nur an ihren eigenen Gewinn denken, verschmäht als Unsinn. Dabei werden die insgesamt desaströsen Konsequenzen unseres Wachstumswahns nicht gesehen….
Ein anderes Thema wäre die Reflexion zu der Aussage: „Ich habe das satt“. Ich habe meinen bisherigen Job satt, meine Partei, meine Kirche usw. Dann wird der Ausstieg vorbereitet aus einer satten Umgebung hin in eine noch ungewisse „hungernde“ Zukunft. Aber viele Menschen, die den Spruch „Ich habe das satt“ nicht länger bloß sagen wollten, sondern in den „Hunger“ gingen, sind über ihre Entscheidung doch recht froh geworden. Lieber mal hungern als vor Sattsein gelangweilt dahin dämmern.
Übersättigt im Wissen
Das Dringende gilt es zu erkennen. Aber was ist das Dringende? Die Antwort liegt auf der Hand: Was der Menschheit zum Überleben hilft. Jetzt folgt ein besonders problematischer Teil: Wir erleben alle ein große Breite der Übersättigungen, der Überinformationen, oft mit dramatischen Ausgängen: Nur einige zufällig gewählte Beispiel: Etwa in Molenebeek und den Anschlägen in Brüssel: Da wussten die vielen getrennt arbeitenden Dienste von Polizei usw. offensichtlich viel zu viel, sie konnten das überbordende Wissen nicht koordinieren. Auch zum Mörder der Homosexuellen in Orlando, Florida. Da wusste man einiges vom Täter, beobachtete ihn aber nicht, das Wissen taugte nichts. Auf facebook werden wir mit Informationen überschüttet. Alles sind kurze Meldungen, manchmal 100 am Tag. Wir werden mit Stichworten überflutet. Selbst wer seriöse Zeitungen und Bücher liest: Wir werden dort überschüttet mit Informationen, haben zehn Minuten nach der Lektüre von Schlagzeilen schon wieder vergessen, worum es eigentlich geht. Diese Halbbildung ist inszeniert. Die reaktionäre Boulevard – Presse, Bild in Deutschland, in England Sun und Daily Mirror oder Die Krone in Österreich, wollen den halbgebildeten, vieles und letztlich dann doch nichts lesenden und nichts verstehenden Menschen. Dieser lässt sich aufhetzen, populistisch verblöden, er wählt dann FPÖ, AFD, Le Pen, PVV in Holland und stimmt für den Brexit. Dies ist eine Meinungsäußerung!
Auch seriöse Vielleser klagen über die Überfütterung, Übersättigung: Ein Zitat von Emil CIORAN im Interview mit Hans Jürgen Heinrichs, „Ich habe ungeheure viel gelesen, aber das aus Verzweiflung nur, um nicht zu denken. Ich habe Philosophie studiert, aber ich vermied das Philosophieren, ich wollte nur anhäufen, Bekenntnisse und Bücher, eine Furcht vor dem Leben. Ich habe dann aber bemerkt, dass die Wahrheit nicht in den Büchern ist, sie ist in den Empfindungen, nicht in den Büchern, nicht in den Ideen…“
In seinem neuesten Buch mit dem Titel „Überlebenswichtig. Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen“ sagt der brasilianische Religionswissenschaftler Leonardo Boff: „Wir sind in der größten Krise der Menschheit, was die Gerechtigkeit angeht, die Pflege der Natur, das Überleben der Erde. Diese globale Krise ist eine Krise auf Leben und Tod. Angesichts dieser Krise hilft nur die Einführung neuer Parameter, neuer Werte“.
Es gilt also, angesichts dieser tödlichen Krise der Menschheit vor allem das Wichtige zu lesen, den Quatsch der Kleinigkeiten beiseite zu lassen. Boff zitiert das berühmte Dokument „ERD Charta“, darin heißt es: „Wir haben die Wahl, entweder bilden wir eine globale Partnerschaft, um für die Erde und für einander zu sorgen. Oder wir riskieren, uns selbst und die Vielfalt des Lebens zugrunde zu richten“ (S. 11). Unsere Erkenntnis, unser Studium, unsere geistige Energie sollte auf diese Priorität gerichtet sein. Damit wird überhaupt nicht gegen das Wissen und Wissenwollen und die allseits hoffentlich blühende Wissenschaft gesprochen. In der von Boff zitierten und gelobten „ERD Charta“ heißt es: „In die formale Bildung in das lebenslange Lernen muss das Wissen, müssen die Werte und Fähigkeiten integriert werden, die für eine nachhaltige Lebensweise nötig sind“.
Es wird auch von mir nur verlangt, dass jenes Wissen vertieft und verbreitet wird, dass der Menschheit eine allseits humane Zukunft bringt. Der große Philosoph Ivan Illich (Cuernava, Mexiko) sprach von „Lebensdienlichkeit der Forschung“. Das bedeutet auch, dass viel mehr in dieser Hinsicht relevante Themen geforscht und verbreitet werden. Dass etwa die Pharmaforschung auch die Krankheiten der Menschen in Afrika in den Blick nimmt und preiswerte Medikamente zur Verfügung stellt. Das bedeutet, dass etwa Theologen nicht zum 1000. Mal die Tugendlehre des Thomas von Aquin erforschen. Sondern sich etwa fragen, wie können Menschen in einer multireligiösen Welt zu einander finden … und dafür praktische Beispiele erkunden.
Oder in der Philosophie: Nicht zum 1000. mal über Descartes schreiben, sondern den Menschen das Philosophieren und Fragen und Zweifeln beibringen in neuen philosophischen Akademien.
Das heißt: Wir müssen aus dem üblichen Überfressensein durch übliche Anhäufung selbst abwegiger wissenschaftlicher, aber bloß noch marginal relevanter Erkenntnisse herausfinden zu Wissenschaften, die dem Überleben der Menschheit und den Menschenrechten dienen. Das klingt jetzt alles sehr funktional, erinnert vielleicht an staatliche Eingriffe in die Forschung: Aber das ist überhaupt nicht gemeint. Natürlich sollen sich etwa Historiker mit der ganzen Breite der Geschichte befassen. Aber Konzentration auf das Wesentliche im Sinne der „Rettung der Menschheit“ wäre doch ein hübsches Diskussionsthema.
Hier wird also ein Filter empfohlen, um der Überfressenheit der Wissenschaften und Philosophien etwas Einhalt zu gebieten. Dieser Filter, dieses Sieb, dieses Kriterium, ist die Frage: Welchen Beitrag leistet mein angehäuftes Wissen, das ich in mich hineinfresse, für die Menschheit? Für die Gerechtigkeit, für das Überleben der Mutter Erde, für den Frieden, die Fragen nach der Gerechtigkeit, der bedrohten Demokratie, der Sorge um die Mitmenschen.
Zur Gastro-Theologie:
In der alten Welt der umfassenden christlichen Belehrung, und die dauerte in Europa bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, war ein guter Christ ein solcher, der umfassend viel vom Glauben wusste. Glaubenswissen wurde von der Hierarchie und deren Mitarbeitern förmlich eingehämmert. Der offizielle Katechismus der katholischen Kirche, erschienen 1993, verfasst unter Leitung von Kardinal Ratzinger und Kardinal Schönborn, Wien, umfasst mehr als 800 eng bedruckte Seiten. Das alles sollte ein Katholik eigentlich wissen. Glaube wurde so noch einmal als Annahme einer äußeren Lehre, von außen, von den Autoritäten vorgegeben, verstanden. Welche religiösen Erfahrungen sich im einzelnen zeigten, was er/sie wirklich innerlich glaubte, woran das Herz wirklich innerlich glaubte, das galt als zweitrangig, interessierte offiziell nicht, höchstens als Wiedergabe des eingepaukten Wissens. Glaube wurde also vor allem im katholischen Raum als Übernahme eines Herrschaftswissens verstanden: Der Papst weiß, was Glauben heißt, nur er und seine alles prüfenden und beurteilenden bischöflichen Untergebenen. Sie stellen dann auch die Ketzer fest, die zu viel Eigensinn haben in der Zusammenstellung des je eigenen religiösen “Menus”. Dieses Menu hat sich das “fromme Volk” ohnehin doch selbst zusammengestellt, und eben Maria mehr verehrt als die Trinität. Die Zeugnisse der barocken Kunst in den Kirchengebäuden geben davon ein Zeugnis, dass de facto jeder sich seinen eigenen Glauben zusammenstellte. Er durfte es nur den Autoritäten gegenüber nicht sagen. Es gab also immer individuelle Auswege aus der dogmatischen/moralischen Übersättigung.
Wer aber, etwa als Theologe, diese offiziellen Lehren tatsächlich übernahm, in seinen Kopf stopfte, fühlte sich schnell sehr satt, wenn nicht übersättigt. Manche hatten es dann mit diesem Glauben satt, der ja immer auch als ausgetüftelte, angeblich „ewige“ Moral „des“ Menschen daher kam. Und sie suchen sich einen einfachen Glauben, liebten etwa die Bergpredigt, die Gleichnisse Jesu, einige Psalmen usw. Die Mystik und die Mystiker wurde für viele ein Ausweg angesichts des Übersättigtseins durch die Dogmen und die Moralvorschriften.
Glauben ist einfach, dafür haben wir im Religionsphilosophischen Salon schon oft deutlich plädiert und entsprechend publiziert.
Auch das neueste Interview mit dem protestantischen Theologen Wilhelm Gräb, Humboldt Uni, geht in diese Richtung. Ich empfehle dringend die Lektüre dieses Interviews vom Juni 2016, klicken Sie hier.
Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon