Der Elysée Vertrag und die katholische Kirche in Deutschland

Von Frankreich nichts gelernt – Der Elysée Vertrag und die katholische Kirche in Deutschland

Ein Kommentar von Christian Modehn

Der Elysée – Vertrag (22. Januar 1963) versteht sich ausdrücklich als Freundschaftsvertrag. Er will die deutsch – französische Zusammenarbeit fördern, möchte für menschliche Begegnungen und Partnerschaften sorgen, etwa auch zwischen Schulen und Vereinen. Der Elysee – Vertrag will mit anderen Worten auch die Gesellschaft von falschen Vorstellungen und Feindbildern befreien. Deswegen ist es normal, auch die Kirchen und Religionen mit dem Thema „Elysée – Vertrag“ zu konfrontieren, sind sie doch Teil der Gesellschaft.

Sind Franzosen und Deutsche in den letzten 50 Jahren einander näher gekommen? Wurden tief sitzende Missverständnisse überwunden? Sind Freundschaften über die Grenzen hinweg entstanden? So pauschal gefragt, wird man diese Fragen als journalistischer Beobachter – 50 Jahre nach dem Elysée Vertrag – sicher positiv beantworten.

Schwieriger wird es, wenn man einen Sektor der deutschen Gesellschaft näher anschaut, z.B. die katholische Kirche in Deutschland: Haben Katholiken hierzulande von ihren französischen Freunden gelernt? Gab es Austausch, der über das muntere Feiern und kulturell „hoch interessierte“ Besichtigen (etwa von Klöstern, Gemeinden) hinausging? Hat man sich vom französischen (katholischen) Freund anregen oder verunsichern lassen im eigenen Selbstverständnis? Diese Fragen werden im Umfeld der „Elysée – Feierlichkeiten“ nicht gestellt. Darum einige Hinweise, die dokumentieren: Wirkliches Lernen in der Begegnung mit den Religionen in Frankreich fand in Deutschland offenbar nicht statt. Was französische Katholiken von deutschen gelernt haben, ist eine eigene Frage, die später beantwortet werden kann.

Aber zuerst ein Wort in eigener Sache: Die Fragen nach der konkreten Gestalt einer bestimmten Religion gehören auch zu einem weiten religionsphilosophischen Interesse. Hegels Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie etwa bietet genaue Analysen der damaligen faktischen Religionen und Konfessionen… Mit Frankreich (und mit Franzosen) verbindet mich recht viel: Ich habe als Journalist und Theologe von 1989 bis 2005 im Saarländischen Rundfunk (SR2) ca. 50 Halbstunden – Sendungen unter dem Titel: „Gott in Frankreich“ gestaltet, Redakteur war Norbert Sommer. Diese Sendungen verstand ich als Form des Dolmetschens, also des Erklärens, was jenseits des Rheins religiös lebt. Die Ausgangsthese war, die immer wieder bestätigt wurde: Religiöses Leben ist dort –vergleichsweise – vielfältiger und experimentierfreudiger als in Deutschland, das galt auch für die katholische Kirche… Außerdem habe ich 1993 das Buch „Religion in Frankreich“ (Gütersloher Verlagshaus) veröffentlicht sowie etliche Filme für die ARD über die katholische Kirche in Frankreich realisiert, u.a. zwei Halbstundenfilme über Bischof Jacques Gaillot (in Evreux, dann nach der Absetzung durch den Papst im imaginären Wüstenbistum Partenia) oder über eine Gemeinde in Ivry, in der Banlieue von Paris, geleitet von der „Mission de France“ (2005).

Aufgrund dieser und vielfältiger anderer Arbeiten über die Religionen, vor allem den Katholizismus, in Frankreich, versuche ich anlässlich der Erinnerungen an den Elysée – Vertrag (22.1. 1963) zu dokumentieren: Ein echter Dialog, im Sinne der Lernbereitschaft zwischen der katholischen Kirche in Frankreich und der in Deutschland ist öffentlich nicht sichtbar geworden, obwohl doch gerade der Elysée – Vertrag gesellschaftliche Kräfte mobilisieren wollte, offen dem „anderen“ zu begegnen und lernbereit aufeinander zuzugehen.

Es gab bescheidene Initiativen, die auf den (finanziellen) Austausch setzten, wie die Aktion „Contact Abbé“, vor allem in Speyer: Sie war entstanden, um dem (finanziell) äußerst bescheiden lebenden französischen Klerus beizustehen. Tatsächlich erhalten französische Priester und Bischof einheitlich ein Gehalt, das dem Mindestlohn entspricht, momentan etwa 1.000 Euro monatlich.

Aber der Eindruck herrscht vor: Es gab immer – auch nach dem Elysée – Vertrag – eine starke Abwehr in katholischen Kreisen Deutschlands, das französische Modell von Kirche als Anregung zu diskutieren und wahrzunehmen. Immer lief es auf die Behauptung hinaus: Die französische Kirche ist ganz anders, da gibt es nichts zu lernen. Vor allem in grundlegenden Fragen der Kirchenfinanzierung gab und gibt es eine heftige Abwehr in führenden katholischen Kreisen: Da wird die Kirchensteuer wie ein hochheiliges Gut verstanden und verteidigt, und man bedauert eher die französische Kirche, ohne Kirchensteuer auskommen zu müssen. Das Vertrauen ins (viele) Geld ist hierzulande so stark, dass man gar die heutige offenkundige  Schwäche französischer Theologie auf die schlechte finanzielle Ausstattung zurückführt. Dabei sieht man nicht, dass von 1950 bis 1975 viele französische katholische Theologen weltweit hoch angesehen waren, wie Pater Chenu oder Pater Congar: Auch sie lebten bereits in einer „armen“, kirchensteuerfreien Kirche: Die Gründe für die Produktivität der Theologie ist eher in einem Klima der Freiheit zu suchen; dieses gibt es im katholisch – theologischen Raum bekanntlich nicht (mehr)…

Jedenfalls haben viele maßgebliche Beobachter in Deutschland nie wahrnehmen wollen: Die französische Kirche und der französische Klerus wünschen für selbst ausdrücklich kein anderes Modell der Kirchenfinanzierung als über Spenden, also ohne Kirchensteuer. Die Priester und Theologen wollen heute die Gesetze der Laicité (1905), also die Gesetze, die die Trennung von Kirchen und Staat formulieren, beibehalten. Dabei wurden diese Gesetze im Laufe der Jahre weiter entwickelt, meist zugunsten der Kirche: Staatspräsident Sarkozy sprach etwa von einer „milden“, reformierten laicité: Aber bis jetzt verbietet es sich der französische Staat, dass religiös geprägte Vorstellungen unmittelbar staatliches Gesetz werden. D.h. es herrscht nach wie vor ein gewisser Abstand, manchmal Misstrauen, zwischen der Regierung und der Kirche. Man trifft sich zum Dialog, verbietet sich aber wechselseitiges Sich Einmischen. Es wurde in Deutschland nie darüber im positiven Sinne diskutiert, ob nicht dieser „skeptische“ Abstand für die ganze Gesellschaft und den Staat hilfreich ist: Die katholische Kirche mag ja ihre eigenen Gesetze und eigenen religiös motivierten ethischen Vorstellungen haben. Aber diese dürfen niemals allgemeines Gesetz für alle werden (angesichts der religiösen Pluralität und des zunehmenden Atheismus eigentlich eine Selbstverständlichkeit). Es wäre an der Zeit, auch in Deutschland dieses Modell der laicité in Frankreich unverstellt zu diskutieren…

Gerade beim Thema Kirchensteuer wurde und wird auf deutscher Seite auch immer rühmend und stolz kundgetan, dass die Kirchensteuer doch ein viel besseres kirchliches Leben ermögliche. Dabei ist z.B. die Statistik der Teilnehmer an den Messen etwa im Kirchensteuer finanzierten Köln oder im kirchensteuerlosen Paris praktisch identisch, vor allem, was die Teilnahme jüngerer Menschen angeht. Auch die Milliarden Kirchensteuereinnahmen in Deutschland machen die Gottesdienste nicht „attraktiver“ und „voller“; die reiche  deutsche Kirche ist genauso erfolgreich bzw. erfolglos wie die arme französische. Diese Erfolglosigkeit beider Modelle hat offenbar nicht so sehr mit der Geldmenge zu tun, sondern mit der heute mangelnden geistigen Offenheit, der offiziellen römischen Abweisung von Freiheit, der Bindung an Dogmatismen usw.

Dabei wird auch übersehen, dass es zumindest bis ca. 1990 zahlreiche Initiativen in Frankreich gab, die weltweit als wegweisend empfunden wurden: Etwa die Arbeiterpriester und die Ordenskommunitäten, vor allem von Frauen, die mitten in der Stadt, oft unter den Armen, leben und den Alltag der Menschen (Ausländer usw.) teilen. Diese „typisch französischen Experimente“ wurden in Deutschland nicht aufgegriffen. In Frankreich lebten im Jahr 2000 etwa 500 Arbeiterpriester, in Deutschland 20. Es wurde hierzulande auch übersehen, dass es in Frankreich den lange Jahre andauernden Versuch gab (und gibt), neue, moderne Gemeindeformen einzurichten, mit einer Gleichberechtigung der Laien, demokratischen Leitungsstrukturen usw. (etwa die Gemeinden St. Merri in Paris oder die Chapelle St. Bernard in Paris). Es wurde in Deutschland niemals als Anregung wahrgenommen, eine halbwegs offene und wenigstens halbwegs objektive katholische Presse zu gestalten, die auch am Kiosk „für alle“ erreichbar ist, wie etwa La Croix (Tageszeitung) oder La Vie (wöchentliches Magazin) in Frankreich. Und das funktioniert ohne Kirchensteuer! Die Experimente neuer Kirchenmusik (Sylvanès etwa mit Pater Gouzes OP) wurden in Deutschland nicht wahrgenommen; es wurde kaum gesehen, dass gerade die Klöster in Frankreich Ortes des Gesprächs mit so genannten Nichtglaubenden sind. Man interessierte sich in Deutschland etwas für das Modell der Gemeindeleitung durch Laien im Erzbistum Poitiers, aber man war in Deutschland doch schnell mit dem Urteil: „Das passt doch für Deutschland nicht“. Man hat gern den vom Papst abgesetzten progressiven Bischof Jacques Gaillot eingeladen, aber seinen Ansatz einer Solidarität mit Menschen in größter Not (les sans papiers etwa) nicht übernommen. Es ist bezeichnend, dass viele Bischöfe, allen voran Kardinal Meisner, mehrfach Redeverbot für Bischof Gaillot erteilt haben. Ein Zeichen deutsch – französischer Freundschaft? Ein Zeichen dafür, den anderen als anderen zu respktieren? Die meisten Gemeinden beugten sich der autoritären Willkür Meisners, dieses „Herren der Kirche“, die Laien gingen jedenfalls nicht auf die Barrikaden.

Kurzum, es wurde viel gesprochen über den Katholizismus in Frankreich, aber es blieb so zusagen bei der Neugier, um nicht zu sagen beim interessierten Geplauder. Von wirklichen Lernschritten also keine sichtbare Spur. Mag ja sein, dass der eine oder andere mal privat einen Text von Pater Chenu gelesen hat…

Zusammenfassend kann gesagt werden: Im Bereich der katholischen Kirche in Deutschland hat der Elysée Vertrag, als Einladung zu tieferer Kenntnis und Freundschaft, keine Wirkungen gezeigt.

Und heute steht die französische katholische Kirche sozusagen ohne ésprit da: Die modernen, progressiven Ansätze sind fast verschwunden oder wurden gar verboten. Auch in Frankreich nimmt die Zahl reaktionärer Bischöfe stetig zu, man denke etwa an das Bistum Fréjus – Toulon, wo sich alle nur denkbaren äußerst konservativen „neuen Bewegungen“ sammeln. Längst sind die meisten jungen Priester mit den neokonservativen Bewegungen (Charismatiker, Communauté St. Jean usw.) verbunden: Das bis ca. 1985 noch pluralistische Gesicht des französischen Katholizismus ist zuungunsten von Gleichförmigkeit und Strenge und Dogmatismus verschwunden. „Ein trauriger Zustand“, sagt etwa der frühere Pfarrer von St. Eustache in Paris, Gérard Béneteau in seinem lesenswerten, sehr realistischen Buch „Journal d un curé de Ville“, Fayard, Paris 2011. So darf man wohl mit gutem Grund sagen: Die progressiven Kreise wurden ausgegrenzt, sie wurden ermüdet, durch immer neue Verbote in die Resignation getrieben, mundtot gemacht (Kardinal Lustiger von Paris hat darin enorme „Verdienste“, er hat das konservative, autoritäre Gesicht der französischen Kirche bestimmt, beinahe wöchentlich weilte er bei Papst Johannes Paul II). Die am Konzil noch lebhaft interessierten Kreise führen jedenfalls heute ein marginales Dasein, sind ohne Einfluss. Die traditionsreiche linke und progressive Wochenzeitung Témoignage Chrétien wird jetzt noch einmal wiederbelebt. Es gibt einige Klöster als Treffpunkte der Progressiven; es gibt die progressiven „Reseau du Parvis“, eine Bündelung kleiner Gruppen; immerhin gibt es noch die konsequent aufklärerischen Publikationen von „GOLIAS“ (Lyon): Aber die sind so unbeliebt in offiziellen Kreisen, dass selbst die große und angesehene Buchhandlung „La Procure“ in Paris die Golias Zeitschriften nicht mehr verkauft (vor einigen Jahren waren sie wenigstens noch als sogen. Bückware, ganz unten im Regal unsichtbar plaziert). Es breitet sich – wie überall im Katholizismus – eine Angst vor der Freiheit aus.

So bleibt als Gesameinschätzung: Die katholische Kirche in Frankreich ist jetzt auch von Angst besessen, sperrt sich ein, sie verliert deswegen immer mehr kreative Mitglieder. Iin manchen Regionen, wie in Centre, Burgund oder im Limousin, wird das kirchliche Leben in den nächsten 20 Jahren fast ganz verschwinden, weil dann praktisch alle Priester ausgestorben sind und niemand mehr zur Kirche geht. Die Diskussionen um den Pflicht – Zölibat, seit 1960 Dauerthema französischer Theologen, wurden von Rom, später auch von den Bischöfen, abgewürgt. Jetzt sehen diese rigoros dogmatischen Bischöfe, wie sie alsbald fast die einzigen Priester in ihren Bistümern sein werde (siehe etwa die ehrlich und mutigen Äußerungen des Bischofs von Moulins). Auch der Niedergang der französischen Kirche ist sozusagen amtlich verursacht.

Zu lernen gibt es jetzt also eigentlich nicht mehr viel, höchstens, was die Verwaltung des Niedergangs angeht. Natürlich: Einige Klöster halten sich tapfer, sind offen und einladend, und manch ein Pfarrer bemüht sich um moderne Verkündigung. Aber diese kleinen Kreise (zu denen immer noch die hoch interessante und wegweisende „Mission de France“ gehört) sind alles andere als tonangebend. Es herrscht der raue Wind des Autoritären. Und ein Frühling ist nicht in Sicht.

Copyright: Christian Modehn

 

 

 

 

 

Jacques Gaillot: Aus Gewissensgründen Nein sagen

Dieser folgende Text gehört zu dem empfehlenswerten Buch von Roland Breitenbach, “Die Freiheit wird euch wahr machen”. Über Bischof Jacques Gaillot. R. Maier Verlag. 2010.
Das Buch ist im September 2010 anläßlich des 75. Geburtstages von Jacques Gaillot erschienen.

Bischof Gaillot ist unseres Erachtens auch für alle philosophisch und religionsphilosophisch interessierten Leser eine wichtige (und bisher im katholischen Raum Westeuropas einmalige) Gestalt der Religionsgeschichte des 20. /21. Jahrhunderts. Er hatte über etliche Jahre den Versuch unternommen, Katholizismus und Moderne praktisch wie theoretisch zu verbinden. Dass er letztlich ausgegrenzt wurde, ist ein weiterer Beleg für das entschieden “antimoderne” Verhalten des offiziellen Katholizismus….Deswegen bieten wir den folgenden Beitrag als Anlaß zur Diskussuion an.

Aus Gewissensgründen nein sagen
Die konstruktive Kritik von Jacques Gaillot

Von Christian Modehn

„Christus ist außerhalb der Stadtmauern gestorben wie er auch außerhalb der Mauern geboren wurde. Um das Licht zu sehen, die Sonne von Ostern, müssen wir selbst aus den Mauern heraustreten“. Mit diesen Worten beendete Jacques Gaillot seine „Botschaft zum Osterfest 1983“, die er als Bischof von Evreux (dort seit dem 30. Juni 1982) an die Menschen im Département Eure (Normandie) richtete. Und diese kurze „Botschaft“ können wir heute wie ein Programm für Jacques Gaillots weiteres Wirken lesen: “Christus ist auferstanden, damit die Menschen leben“, schreibt er, „und eine Kirche, die nicht ein Zeichen der Hoffnung und der Freiheit für die Verstoßenen, die Arbeitslosen, die Einwanderer ist, muss sich fragen, wie sie denn als Kirche ihre Treue dem Evangelium gegenüber lebt“. Mit anderen Worten: Die Kirche ist nicht dann christlich oder katholisch, wenn sie immer dieselben Worte der offiziellen Dogmatik wiederholt, sondern wenn sie wie Jesus an der Seite der Schwachen und Ausgeschlossenen lebt.

Tausendmal hat Jacques Gaillot diese Worte wie sein „persönliches Bekenntnis“ in immer neuen Formulierungen wiederholt: Leben ist mehr als Lehre. Jacques Gaillot hat die „jesuanische Solidarität“ immer zuerst selbst gelebt, bevor er von ihr gesprochen hat. Es ist wohl das deutlichste Symbol für sein Wirken als Bischof, dass seine erste öffentliche Aktion in der französischen Gesellschaft die ausdrückliche Unterstützung für einen Wehrdienstverweigerer war. Im März 1983 nahm er an den Gerichtsverhandlungen in Evreux teil, nicht um als Zeuge auszusagen, sondern um als Zuhörer seine Sympathie für den Wehrdienstverweigerer Michel Fache unübersehbar zu machen. Die gut bürgerlichen Kreise dort waren entsetzt, galt doch das Militär und der „Dienst“ als heilige Sache der Nation. Aber Jacques Gaillot verwies sanft auf die Bergpredigt Jesu und die Gewaltlosigkeit. Als Mitglied der gewaltfreien Bewegung mit dem französischen Kürzel „MAN“ (Mouvement Alternatif Nonviolente) entschuldigte er sich nicht etwa für seine „ungehorsame Tat“, sondern verteidigte deutlich die Priorität der Gewaltfreiheit! Er ging seinen Weg weiter, schon damals angefeindet und missverstanden von Menschen, die den christlichen Glauben mit einer gutbürgerlichen Ideologie verwechselten. „Objecteur de conscience“ werden Wehrdienstverweigerer in Frankreich genannt, wörtlich übersetzt „Verweigerer aus Gewissensgründen“. Wer das weitere Leben Jacques Gaillots überschaut, kommt zu der Einsicht: Er selbst ist zu einem anderen, zu einem kirchlichen „Verweigerer aus Gewissensgründen“ geworden, d.h. zu einem Bischof, der nicht nur Nein sagt zu einem bürokratischen System von Staat, Gesellschaft und Kirche, sondern der, wenn diese paradoxe Formulierung erlaubt ist, zu einem lebendigen „Nein“ wurde. Dieses Nein darf nicht im Sinne von destruktiver Ablehnung verstanden werden. Es ist ein Nein, das der Überwindung des nur noch als leidvoll (oder überholt) erfahrenen Bestehenden gilt – zugunsten eines konstruktiven Neubeginns jenseits der eingefahrenen Üblichkeiten.

Schon wenige Monate nach seinem NEIN zur Ausgrenzung von Wehrdienstverweigerern sagte Jacques Gaillot erneut NEIN zur Absegnung der atomaren Abschreckung durch die französische Bischofskonferenz. Am 12. November 1983 gab er bekannt, „Das von der Bischofskonferenz verabschiedete Papier „Gagner la paix“ (Den Frieden gewinnen) wagt nicht eine prophetische – kritische Stimme zur atomaren Rüstung“. So etwas hatte es noch nicht geben, dass ein einzelner Bischof sich von der absoluten Mehrheit seiner Kollegen absetzt UND dies auch noch öffentlich sagt. Wie hatte Paul Bernardin, ein Arbeiterpriester, anlässlich der Einführung Jacques Gaillots in der Kathedrale von Evreux gesagt: “Der neue Bischof wird den Finger auf die Wunde legen und Fragen stellen, die die Kirche nicht stellen will“. Schon am 13. Juni 1985 widersprach Jacques Gaillot öffentlich Kardinal Ratzinger. Er warf dem Chef der Glaubenbehörde vor, die Freiheit, die das 2. Vatikanische Konzil gebracht hat, wieder einzuschränken. Die Liste des Nein zugunsten eines lebensbejahenden, kreativen Ja ließe sich lange fortsetzen: Er solidarisierte sich 1987 mit dem inhaftierten Apardheitsgegner Pierre – André Albertini aus Evreux, er bewies seine Solidarität in Südafrika selbst und konnte deshalb an der „klassischen“ Diözesan – Wallfahrt nach Lourdes zu gleichen Termin nicht teilnehmen. „Ich kann es als Bischof nicht ertragen, dass man einen Menschen erniedrigt und ausstößt. Für ihn zu kämpfen, macht mir keine Angst“. Im September 1987 wurde Pierre – André Albertini freigelassen. Jacques Gaillot lässt „ Situationen der Ungerechtigkeit in seinem Gewissen ein Echo finden“, wie er damals sagte, deswegen auch sein Eintreten für die Menschenrechte der Palästinenser seit 1987.
Der Kern der Theologie Jacques Gaillot ist so einfach – und schwierig zugleich: Im praktischen Dienst der Nächstenliebe und der Solidarität hat der christliche Glaube seine Mitte, und eben nicht in Dogmen und Liturgien, nicht in Hierarchien und Traditionen. Glaube ist in Gaillots Sinne etwas elementar Einfaches. Er will einen freien Raum schaffen, in dem alle Menschen gleichberechtigt atmen und leben können. Und dieser „einfache“ Glaube wirkt für viele so befremdlich, die sich an ein hochkomplexes riesiges Lehrgebäude mit tausenden von Paragraphen und einer langen Tradition von klerikaler Diplomatie gewöhnt haben; die sich ohne ein lateinisches Pontifikalamt im Petersdom mit viel Weihrauch und bei Palestrina Musik keinen Katholizismus vorstellen können. Dieses „Befremdlich – Einfache“ in der Spiritualität Gaillot muss alle kirchlichen Machthaber und Freunde einer mächtigen Klerus Kirche irritieren.

Im Oktober 1988 sagte Jacques Gaillot öffentlich Nein zum Gesetz des Pflichtzölibats für Priester, im Frühjahr 1989 sagt er NEIN zur Ausgrenzung homosexueller Menschen in der Zeitschrift „Gai Pied“. Er plädiert für die Anerkennung homosexueller Lebensformen. Am 12. Dezember 1989, als das Gedenken an die Französische Revolution vor 200 Jahren einen ersten Höhepunkt erreichte, war Jacques Gaillot als einziger französischer Bischof dabei, als dem Priester Abbé Grégoire (1750 – 1831) von Staatspräsident Mitterrand ein Ehrengrab im Pariser Panthéon zugewiesen wurde. Alle wussten: Abbé Grégoire verteidigte die richtigen Anliegen der Revolution, die Durchsetzung der Rechte der Juden und der Schwarzen, insgesamt ein Verteidiger Menschenrechte, im damaligen Klerus eine Ausnahme. Vor allem forderte Abbé Grégoire demokratische Strukturen in der katholischen Kirche. Gaillots Anwesenheit 1989 im Pantheon war eine Ungeheuerlichkeit für die Kreise, die das ancien régime mehr schätzten als die positiven Ergebnisse der Revolution.

Im Bistum Evreux bemühte sich Jacques Gaillot, mit Menschen aus allen sozialen Schichten, und nicht nur mit den Kirchgängern, die Zukunft der Kirche dort vorzubereiten. Von 1989 tagte für zwei Jahre die Diözesansynode. Der Bischof selbst dominierte nicht, er meldete sich als ein „Bruder im Glauben“ zu Wort, vor allem, wenn es darum ging, die Rechte der Armen und Ausgestoßenen zu verteidigen. Den Laien im Bistum Evreux wollte er so viele Mitgestaltungsmöglichkeiten bieten, wie es der sehr enge Rahmen des Kirchenrechts eben erlaubte. Nebenbei: Niemals hat Bischof Gaillot dazu aufgefordert, dass ein Laie Eucharistie feiert, er blieb immer auf dem Kurs der Orthodoxie! Er unterstützte lediglich die „Equipen“ von Frauen und Männern, die in den Dörfern als Team das Gemeindeleben koordinieren. Sie kümmerten sich um den Religionsunterreicht, die Vorbereitung auf die Sakramente usw…Damit sollte auch, aber das war nur als Nebeneffekt gemeint, das bevorstehende Ende der Kleruskirche vorbereitet werden. Um nur einen kleinen statistischen Eindruck zu vermitteln: 1997 hatte das Bistum Evreux noch 129 Priester. Im Jahr 2010 waren bei gleich bleibender Bevölkerungszahl noch 44 aktiv in der Gemeindearbeit, „In einigen Jahren gibt es fast keine Priester mehr in Frankreich“, sagen Religionssoziologen in Paris übereinstimmend. Jacques Gaillot wollte Frauen und verheiratete Männer aufs Priesteramt vorbereiten, so viel Sinn für gute Utopie war ihm eigen: Er gründete deswegen eine „école des ministères“, eine Schule der Dienstämter, die Kurse wurden von 400 Personen besucht, aber geweiht werden durfte bei den römischen Gesetzen „natürlich“ niemand. Heute zerfällt heute mangels qualifizierter hauptamtlicher Mitarbeiter, vor allem wegen des Mangels an noch nicht ganz vergreisten Priestern (das Durchschnittsalter der aktiven Priester beträgt in Frankreich jetzt 72 Jahre) das religiöse Leben in den meisten Départements. Die vielen Wallfahrten oder die „attraktiven Klöster“ dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. Laut jüngsten Umfragen gehen jetzt noch 4 Prozent der Katholiken regelmäßig sonntags zur Kirche, vor 20 Jahren waren es noch 9 Prozent, wobei regelmäßig bedeutet: Mindestens einmal im Monat! Und die Jugend bleibt längst fast vollständig weg. Lediglich die Charismatiker mit ihren Hallelluja – Rufen oder andere, so genannte neue „geistliche“ Gemeinschaften haben noch junge Leute, die sich zur alten römischen Lehre bekennen. Der Katholizismus in Frankreich heißt heute Seniorenkatholizismus, das ist eine Beschreibung und natürlich keine Bewertung, aber aufgrund dieser Altersstruktur eben doch eine „sterbende Kirche“…

Jacques Gaillot hatte als Bischof zahlreiche Kontakte mit jungen Menschen, auch mit Atheisten, mit Menschen, die durch ihn wieder Interesse an der Kirche fanden. Aber „dieser Hoffnungsträger“ wurde von Rom abgesetzt. Unverschämt geradezu der Vorwurf seiner vatikanischen Richter: „Gaillot hat sich als Bischof als unfähig erwiesen“. Im Rückblick muss man die Absetzung Bischof Gaillots als Beispiel für die „Selbstzerstörung des Katholizismus“ durch die Kirchenführung selbst interpretieren. Indem sie sich in den alten Mauern einschließt, gibt sie dem lebendigen Leben keine Chance. Ausdruck für den versteinerten Geist und die versteinerte Institution ist das Bemühen Benedikt XVI., die besonders Versteinerten, die in das Uralte verliebt sind und den Antisemitismus verteidigten, die Pius-Brüder, wieder in die römische Kirche „zurückzuholen“. Psychologen sprechen in dem Zusammenhang von der Lust am Morbiden…

Gleichermaßen politisch wie theologisch konservative bzw. reaktionäre Kräfte haben Jacques Gaillot zu Fall gebracht. „10 Jahre wurde Gaillot vom Vatikan beobachtet“, also praktisch seine ganze Zeit als Bischof von Evreux, betonte ganz freimütig einer seiner Richter im Vatikan, Msgr. J. Tauran im Januar 1995 in einem Zeitungsinterview. Danke für die Offenheit! Zu Gaillots heftigsten Widersachern gehörte, um nur ein Beispiel von vielen anderen Beispielen zu nennen, Abt Gérard Calvet vom traditionalistischen Benediktiner Kloster Le Barroux bei Avignon. Ursprünglich eng mit den Lefèbvre Leuten (den „Piusbrüdern“) verbunden sowie den Ideen des rechtsextremen Front National (Le Pen), war es Kardinal Ratzinger gelungen, diese Mönche mit ihrem Abt Calvet wieder an den Papst zu binden…Auf ihn hörte der Vatikan, als man Gaillot zu Fall brachte. Der „Fall Gaillot“ war also immer auch ein „politischer Fall“, wobei sich der Vatikan stets auf der sehr rechten Seite präsentierte…
Das offizielle römische Presse – Kommuniqué vom 13. Januar 1995 zur Absetzung Gaillots sollte mit großer kritischer Aufmerksamkeit gelesen werden. Denn darin steht die schon genannte ungeheuerliche Behauptung, „der Prälat (Jacques Gaillot) hat sich nicht als geeignet erwiesen für die Ausübung des Amtes der Einheit, das die erste Pflicht eines Bischofs ist“. Den Dienst der Einheit verstehen die Herren der Kirche in Rom nicht etwa als Einheit mit dem Evangelium, nicht als Vorschlag, den Weisungen Jesu aktuell zu folgen, sondern, so wörtlich, „als Gemeinschaft mit der Lehre und der Pastoral DER Kirche“, und Kirche wird hier wieder mit dem Papst gleichgesetzt. Nebenbei möchte ich darin erinnern, dass der Vatikan eigentlich vorhatte, Jacques Gaillot (Im Januar 1995 war er 59 Jahre alt) zum „freiwilligen“ Rücktritt zu bewegen („demissioner“) und ihm dann den Titel „Emeritierter Bischof“ zu verleihen. Sozusagen als „Altbischof“ von Evreux hätte er dann Rosen züchtend seinen langen Ruhe/Schweigestand verbringen können. Aber Jacques Gaillot bestand darauf, dass er „als offiziell abgesetzter Bischof“ doch als Titular Bischof den Vatikan verlassen könne: So wurde er dann zum „Titular-Bischof von Partenia“ ernannt, dem inzwischen weltberühmten Wüstenbistum in Algerien…Dorthin sollte er „abgeschoben“ werden und in der Öffentlichkeit verschwinden…aber daraus ist in all den Jahren seit 1995 – nicht zuletzt durch das andauernde Engagement von Katharina Haller, Zürich – auch ein blühendes Internet – Bistum geworden mit weltweiten Freunden von Partenia.

Die Absetzung Jacques Gaillots als Bischof wurde zu recht schon damals als das symbolische Ende eines um Freiheit und Evangelium bemühten Flügels innerhalb der römischen Kirche wahrgenommen. Historiker werden bei noch größerem zeitlichen Abstand feststellen: Jacques Gaillot war als Bischof eine für katholische Verhältnisse „einmalige Gestalt“ im Europa des 20. Jahrhunderts, eine Verbindung von Moderne und Evangelium, wie sie sonst kaum möglich erschien, vergleichbar vielleicht den von Rom ebenso ungeliebten Bischöfen Pedro Casaldaliga oder Dom Helder Camara, beide Brasilien…Dass auch Jacques Gaillot (wie alle anderen Bischöfe auch) einmal sozusagen im Dauerstress übereilt reagierte oder dabei Fehler machte, versteht sich von selbst. Aber seine theologische Linie, Moderne und Katholizismus zu verbinden, blieb und bleibt zweifelsfrei vorbildlich und, sagen wir es ruhig, einmalig.

Auch wenn jetzt noch einige „Reformkatholiken“ die ewig selben Reformvorschläge wiederholen und wiederholen: Der „Fall Gaillot“ hat meines Erachtens klargemacht: Reformen grundlegender, radikaler Art haben im römischen System keine Chance. Einzig eine neue Reformation hätte Sinn, dann bliebe aber zumindest ein Teil der römischen Kirche nicht mehr „der selbe“ wie vorher…(siehe Martin Luther). Jacques Gaillot hat sich entschieden, nicht zum Reformator zu werden, er wollte kein französischer Luther sein. Das ist seine Entscheidung, die es zu respektieren gilt, auch wenn niemals wenigstens gedanklich durchgespielt wurde und auch heute nicht durchgespielt wird, was denn eine neue Reformation bedeutet hätte und immer noch bedeuten würde, gerade angesichts der tiefen Krise und des absoluten Vertrauensverlustes des Katholizismus etwa jetzt im Frühjahr 2010.

Im Rückblick bleibt auch das Bedauern, dass Jacques Gaillot nie deutlich spürbare Unterstützung von prominenten Theologen gefunden hat: Die Namen der „großen“ Theologen z.B. in Tübingen oder Münster brauchen hier nicht genannt zu werden, sie haben meines Wissens diesem bescheidenen Mann des Evangeliums niemals öffentlich und deutlich zur Seite gestanden. Waren sie sich – von der Solidarität Eugen Drewermann einmal abgesehen – zu fein, waren sie sogar so unbescheiden, dass sie meinten, dieser Bischof aus Evreux und später in Partenia „biete theologisch zu wenig“? So viel Arroganz wäre schlechthin unverständlich.

Eine andere entscheidende Frage lautet: Wird Jacques Gaillot noch zu Lebzeiten rehabilitiert werden? Wird sich Rom bei ihm für die Absetzung entschuldigen und sich dann bedanken für die zahlreichen Impulse, die er den Menschen von heute gegeben hat? Wird sich die französische Bischofskonferenz entschuldigen, dass sie ihn seit 1995 weitestgehend ignoriert hat und praktisch niemals mehr zu ihren Versammlungen eingeladen hat? Wird sie diesem Bischof mit der einfachen und deswegen so befremdlich wirkenden Botschaft die Hand reichen? Gibt es noch Menschen, die glauben, der römische Katholizismus könne sich wie durch ein Wunder reformieren und dem Geist des Evangeliums entsprechen? Was bleibt für die anderen? „Um das Licht zu sehen, müssen wir aus den Mauern heraustreten“, so Bischof Jacques Gaillot zu Ostern 1983.

Das Buch mit dem treffenden Titel “Die Freiheit wird euch wahr machen” aus dem Reimund Meier Verlag in Schweinfurt enthält 24 Beiträge über Bischof Jacques Gaillot. Das Buch hat die ISBN Nr.: 978-3-926300-64-5.

copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin