Die leeren Kirchen und die Fülle der Theologie. Über Tomás Halík.

Hinweise auf das neue Buch von Tomás Halík „Die Zeit der leeren Kirchen“ (Herder Verlag 2021)
Von Christian Modeh am 7.3.2021

1.
Tomás Halík (Jahrgang 1948) ist inzwischen zu einem der bekanntesten katholischen Priester und Theologen in Europa geworden. Er lebt in Prag und ist seit vielen Jahren für die von ihm gegründete „Akademische Gemeinde“ in der St. Salvatorkirche verantwortlich. Auch die „Christliche Akademie“ in Prag leitet er als ihr Gründer. In den letzten Jahren hat Halík immer wieder über seine Schwerpunkt – Themen publiziert. Darin wehrt er sich gegen die Ausgrenzung „unkirchlicher Menschen“ durch den Titel „Atheisten“. Für Halik sind „Atheisten“ meistens „Suchende“. Und er warnt immer wieder und immer heftiger vor dem endgültigen Niedergang der katholischen Kirche, etwa in der Tschechischen Republik, wenn nicht endlich der Klerikalismus, der Moralismus und der Dogmatismus überwunden werden. Ob dazu die sehr konservativen tschechischen Bischöfe noch die Kraft haben, bezweifelt Halik wie viele andere Theologen. Er sieht den Weg des Katholizismus in Europa zur zahlenmäßig kleinen wie theologisch schwachen Sekte. Reformen bzw. Reförmchen der Kirchenleiung heute nennt Halik „nur das Hin und Herschieben der Liegestühle auf der Titanic“ (S. 98). Welch treffendes Bild, auch Ausdruck des feinen tschechischen Humors!
Dass sich Halík in dieser durchaus provozierenden Haltung sozusagen vor dem Zorn der Hierarchie schützen muss, ist ihm klar. Aber Halik kann sich doch etwas sicher fühlen: Er hat inzwischen den international hoch angesehenen und bestens dotierten (mehr als eine Million Euro) Templeton-Preis erhalten. Und zudem kann er sich einer gewissen Sympathie vonseiten Papst Benedikt XVI. erfreuen: Der ernannte Halik nicht nur zum „Päpstlichen Prälaten“, sondern hat ihn auch in seinen eigentlich konservativ geprägten Schülerkreis – mit Treffen in Castelgandolfo – einbezogen. Unter diesen sicheren Bedingungen ist es dann doch für Halík eher ungefährlich,kritisch zu werden, wenn er natürlich auch nicht zu eigenwillig handeln darf: Er folgte etwa dem Verbot des konservativen Prager Kardinals Duka, in der St. Salvator Kirche wie schon angekündigt einen Gottesdienst mit und für Homosexuelle zu gestalten, das war im Jahr 2015. Heute regt sich Halik allerdings auf, wenn „Homosexuellen und Migranten“, so wörtlich, „von faschistischen Kampfgruppen attackiert werden“ Dies schreibt er in einem Beitrag, der sich mit der Pseudoreligion des Fundamentalismus und des Fanatismus befasst. Der Artikel wurde am 14.11.2020 auf der Website des „Münsteraner Forum Theologie und Kirche“ veröffentlicht (gelesen am 7.3.2021).
2.
Nun hat der Herder-Verlag im Februar 2021 ein neues Buch Haliks herausgebracht, erschienen ist es in Prag 2020. Es hat den Titel „Die Zeit der leeren Kirchen“, der Untertitel ist „Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens“. Mit „leere Kirchen“ meint Halik die aufgrund der Corona-Epidemie 2020 auch in Tschechien geschlossenen Kirchen. Und in einer leeren Kirche, „seiner“ St. Salvatorkirche, hat denn auch Halik Predigten bzw. kurze theologische Vorträge gehalten. Sie wurden als Video-Aufnahmen life gesendet und fanden viel Beachtung auch außerhalb Tschechiens.
3.
Das neue Buch „Die Zeit der leeren Kirchen“ ist also vor allem ein Buch der Predigten. Dies wird in der Verlagswerbung allerdings nicht gesagt. Und dies ist für viele erst einmal eine Überraschung, die das Buch in der Hand haben. Predigten als Titel verkaufen sich wahrscheinlich nicht so gut. In einem Vorwort von 20 Seiten fasst er noch einmal seine Grundideen zusammen, erinnert an die jüngste Geschichte der katholischen Kirche in Tschechien und erläutert die äußeren Umstände, die zu diesen Video-Predigten/Vorträgen führten. Die Leser können nun überprüfen, welche speziellen theologischen Ideen in der Corona-Pandemie (gemeint ist hier die Zeit vom Dritten Fastensonntag bis zu Pfingsten) von Halík verbreitet werden.
Auch in den Predigten werden die seit langem bekannten „Halík“ – Themen angesprochen:
Er unterscheidet wieder zwischen dem vulgärem Atheismus der „primitiven Vorstellungen von Gott“ und dem suchenden Atheismus derer, die zwar kirchenfern, aber doch irgendwie insgeheim vielleicht sogar Mystiker sind. Glauben und Nichtglauben spielt sich für Halik eher auf der bewusstseinsmäßigen Ebene ab, in der Theorie sozusagen. Der Gedanke Jesu, dass fromm jener ist, der die Nächstenliebe tätig tut, wird nicht so stark akzentuiert. Dann wird oft auch die Haltung der offiziellen katholischen Kirchenführung beklagt: Wenn Ehepaaren, die „geschieden, aber – nach staatlichem Recht – wiederverheiratet sind, der Empfang der Eucharistie/des Abendmahles verweigert wird.
Deutlich wird in den Predigten erneut, wie eindringlich Halik die Leistungen seiner Gemeinde beschreibt bzw. lobt, die tatsächlich in großer Offenheit für Kultur, Diakonie und Mystik eigentlich alles richtig macht. Und auch viel Erfolg hat, was die Anzahl der Taufen in der Gemeinde betrifft. Und nun hat die Gemeinde, Halik spricht auch von „Salvator-Gemeinschaft“, sogar in der Stadt Kolin (bei Prag) ein eigenes Meditationshaus.
4.
Aber es wird in den Predigten / Kurzvorträgen nicht recht deutlich, was denn nun diese Gemeinde, vor allem die jüngeren Leute, an elementarer praktischer Hilfe etwa für alte und kranke Menschen in der Not der Pandemie geleistet haben. Konnten die Gemeindemitglieder wenigstens Lebensmittel den Alten vor die Tür stellen, gab es telefonische Beratung, wie wurden Bestattungen gefeiert: Dazu erfährt der Leser nichts.
5.
Und ein weiterer Mangel in meiner Sicht ist: In diesen Predigten in Prag im Jahr 2020 soll ja wohl Elementares des christlichen Glaubens in einer neuen, also nicht verbrauchten und angestaubten formelhaften Sprache mitgeteilt werden. Aber der schöpferische Mut, aus dem Alten und Angestaubten wirklich zu neuen Einsichten und neuen Worten zu kommen, also alte Begriffe mutig in neuen Bildern zu formulieren, das fehlt, nicht nur mir.
Nur ein Beispiel: Warum kann Halík die Bedeutung Jesu von Nazareth nicht als erlösendes Vorbild darstellen? Und warum muss er schreiben: “Es war nicht der Glaube der Jünger, der Jesus zum Leben auferweckte“ (S. 139). Warum eigentlich nicht? Was denn sonst, war es wieder mal ein Wunder, ein völlig unverständliches Eingreifen des himmlischen Gottes nun mal auf dem Kalvarienberg? Die theologische Lösung ist doch einfach: Die Jünger vom Heiligen Geist geprägt, erkennen nach Jesu Tod: Derselbe Geist Gottes, der uns zur Erkenntnis bringt, hat auch den verstorbenen Jesus in eine ganz neue Lebendigkeit geführt, in die Ewigkeit Gottes geführt. Der ewige, göttliche Geist ist lebendig, ist auferweckend, bei den Jüngern wie im Fall des verstorbenen Jesus von Nazareth. Im ewigen göttlichen Geist wird deutlich: Dass alle Menschen kraft des Geistes auferstehen. Ich vermute, wenn man solche oder ähnliche Worte fände, wären sie verständlich in einem „atheistischen Milieu“. Halík hingegen hält sich viel zu oft an die Dogmatik des offiziellen Katechismus (von Ratzinger!) und spricht auch vom Abstieg Jesu in die Hölle (S. 121). Und er sogar, der Hinweis eines japanischen Jesuiten sei für Euripa hilfreich: Der Jesuit, Pater Kadowaki sagt: „Auf dem Weg in die Tiefe des Geheimnisses wird dir das Licht der westlichen Rationalität nicht helfen“ (S. 123). Warum das so ist, also warum der Vernunft wieder einmal die totale Unfähigkeit zum Verstehen Jesu von Nazareth und seines Lebens und Auferstehens bescheinigt wird, bleibt ohne Erklärung. Schade.
6.
In Pandemie Zeiten mit den Lock-Downs muss natürlich auch über Politik und Politiker gesprochen werden. Das macht Halik äußerst sparsam in seinen Predigten, er erwähnt den von vielen kritischen Beobachtern letztlich unfähigen populistischen tschechischen Präsidenten Zéman in einer Fußnote auf Seite 206. Das ist alles explizit Politische.
Da ist Halík in dem genannten Aufsatz „Pseudeoreligion“ vom November 2020 schon etwas weiter, aber da gilt die politische Kritik dem Nachbarn Polen, Kaczynskis Regime nennt Halík einen „autoritären Staat“.
7..
Interessant ist, dass Haliks Predigen nicht Teil einer tatsächlichen, aber virtuellen Eucharistiefeier waren. Für den Prager Theologen kann es Eucharistiefeiern nur mit leibhaftig anwesenden Gläubigen geben (S. 61). Ein diskutabler Gedanke. Aber andererseits berichtet Halik, wie er als Priester in der Zeit der Kommunismus für sich ganz allein – offenbar trotz aller Gefährdungen gern – ganz privat die Messe feierte. War die Not im Kommunismus größer als in der Corona Pandemie? (vgl. die Darstellung auf S. 90: „ich selbst habe – im Kommunismus – Tag für Tag elf Jahre lang, meistens allein oder mit eine paar getreuen, die Messe gefeiert)
8.
Halik deutet die Unmöglichkeit (für ihn) alleine in der St. Salvatorkirche Eucharistie zu feiern als eine Art göttlichen Eingriff: „Das erzwungene Fasten von der Eucharistiefeier und anderen Sakramenten hielt ich für einen wertvollen Ausdruck der göttlichen Pädagogik“… eben tiefer im „Fasten“ als Verzicht auf Eucharistiefeier nachdenken zu können, S. 14f. Auf der anderen Seite aber wehrt sich Halik dagegen, die Pandemie irgendwie mit dem Handeln Gottes, etwa eines strafenden Gottes, in Verbindung zu bringen (S. 25). Gilt also: Strafender Gott: Nein, pädagogischer Gott: Ja?
9.
Auch die Deutung der atheistischen Lebensformen in Tschechien scheinen mir zwiespältig zu sein: „Die tschechische Gesellschaft ist stark entkirchlicht, aber nicht atheistisch“ (S. 23) Die größte Gruppe derer, die sich nicht zu den Kirchen bekennen, seien die Menschen „die gleichgültig sind gegenüber der Religion“ (S.23)
Andererseits meint Halik, die große Mehrheit ´der Tschechen hat Ostern schon lange als Feiertag des Frühlings erlebt, freie Tage, die höchstens durch die folkloristische Nachahmung der heidnischen (! sic) Bräuche farbenfroh gemacht wurden.“ (S. 27)
10.
Mich freut, dass Halik wenigsten in einer knappen Formulierung das Grundprinzip der neuen protestantischen liberale Theologie für sich akzeptiert: „Jeder Mensch hat eine geistige Dimension seiner Persönlichkeit, jeder Mensch fragt auf irgendeine Weise nach dem Sind seines Lebens“ (S 23). Das ist die Grundlage für eine ökumenische Theologie, die alle Menschen bewegen kann.

Tomás Halìk, Die Zeit der leeren Kirchen. Von der Krise zur Vertiefung des Glaubens. Herder Verlag, 2020, 207 Seiten, 20 Euro. Übersetzt aus dem Tschechischen von Markéta Barth und Benedikt Barth.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

„Land ohne Glauben ?“ Christentum im Osten Deutschlands. Ein Film im Rahmen der ARD Themenwoche „Woran glaubst du?”

Der Film von Kai Voigtländer wurde gesendet im Ersten Programm am 12.6.2017 um 22.45 Uhr

Weiterführende Hinweise von Christian Modehn am 13. 6. 20171.

1. Wieder einmal wurden auch in diesem Film durch abstrakte Begriffe, unvermittelt, sich gegenüberstehende ideologische Gruppen im Osten Deutschlands beschworen: Die (wenigen) „Glaubenden“, die „Religiösen“, wurden als Kirchenmitglieder und gelegentliche Gottesdienstbesucher der Kirchengemeinden dargestellt. Und denen stehen, in dieser Sicht, unvermittelt die vielen „Nicht-Glaubenden“, auch Atheisten, gegenüber; als wären diese eine homogene Masse. Wiederum, wie üblich in einer gedankenlosen Sprache, wurde diese Masse  „konfessionslos“ genannt, also „bekenntnislos“. Als hätten diese Menschen nicht Weiterlesen ⇘

Jeder Mensch hat seinen Gott. Für ein neues Verstehen des Atheismus. Text einer Ra­dio­sen­dung

Der folgende Beitrag ist der Text einer Ra­dio­sen­dung auf NDR Kultur am 25. Mai 2014 um 8. 40 Uhr in der Reihe “Glaubenssachen”:

“Jeder Mensch hat seinen Gott”. Für ein neues Verstehen des Atheismus‘

Von Christian Modehn

Redaktion: Dr. Claus Röck, Norddeutscher Rundfunk, Religion und Gesellschaft, Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22, 30169 Hannover

www.ndr.de/ndrkultur

– Unkorrigiertes Manuskript -Zur Verfügung gestellt vom NDR. Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR.

………………….

Sprecher:

Immer mehr Menschen in Europa nennen sich Atheisten. Das Gottesbild der Bibel halten sie für eine Illusion, die dogmatischen Lehren und moralischen Weisungen der Kirche lehnen sie ab. Repräsentative Umfragen und religionssoziologische Untersuchungen dokumentieren den aktuellen religiösen Wandel.

Sprecherin:

Vor 30 Jahren galt Spanien noch als ausschließlich katholisch geprägtes Land. Heute nennen sich bereits 10 Prozent der Einwohner Atheisten. In Frankreich ist jeder Dritte ungläubig, ebenso viele sind es in den Niederlanden, in Böhmen sind es sogar 70 Prozent. In Polen wurde bei den dortigen „Tagen des Atheismus“ mitgeteilt, dass sich jeder Zehnte Einwohner gottlos nennt.

Sprecher:

In Deutschland ist jeder Dritte konfessionslos. Dazu gehören unkirchliche, doch spirituell interessierte Menschen, aber auch Skeptiker, Agnostiker oder militante Atheisten. Gläubige wie Ungläubige sind oft zugleich auch Anhänger esoterischer Lehren, wie der Astrologie oder der Rückführung in vormalige Leben. Für den Gott der Bibel gibt es dann nur noch selten Interesse.

Sprecherin:

Man könnte sich mit dieser Analyse der religiösen Situation schnell abfinden. Einige Beobachter sehen darin tatsächlich den Untergang des christlichen Abendlandes. Andere jubeln im Geist der philosophischen Aufklärung, weil bislang übliche religiöse Bindungen nun von persönlicher Freiheit und Wahlmöglichkeit abgelöst werden.

Sprecher:

Gibt es einen Ausweg aus dieser abstrakten Gegenüberstellung von gläubig oder ungläubig, von religiös oder atheistisch? Sind die Gesellschaften Europas so tief gespalten, dass keine gemeinsame weltanschauliche oder philosophische Basis mehr vorhanden ist? Europa sollte doch mehr sein als ein Wirtschaftsverband.

Sprecherin:

Dass die Europäer zunehmend als ungläubig oder atheistisch angesehen werden, gilt nur dann, wenn man Atheismus sehr eng definiert. Nämlich als die entschiedene und bewusst formulierte Ablehnung des Gottesbildes der Kirchen. Gegen diese Festlegung wehren sich heute immer mehr Menschen. Umberto Eco zum Beispiel, weltweit bekannter Autor aus Italien und Professor für Semiotik, nennt sich selbst in einer neuen Konfessionsbeschreibung „weltlich religiös“. Er betont in dem Buch „Woran glaubt, wer nicht glaubt?“:

Zitator:

Ich bin Agnostiker, weiß also nicht genau, ob es Gott gibt. Ich bin aber fest überzeugt, dass es eine weltliche Religiosität gibt, also einen Sinn für das Heilige, und den gibt es, auch wenn ich nicht an einen personalen und alles vorhersehenden Gott glaube.

Sprecher:

Die Bindung an etwas Heiliges ist der Mittelpunkt dieser weltlichen Religiosität. Und die entdecken viele Menschen nicht in ekstatischen Erlebnissen oder mystischen Verzückungen. Sie erfahren Heiliges, Erhabenes, Transzendentes nicht in Tempeln, Kirchen oder Klöstern, sondern inmitten ihres alltäglichen Lebens.

Sprecherin:

Gläubige wie auch ungläubige Menschen sind erstaunt, tief berührt oder gar erschüttert, wenn sie beim Spaziergang innehalten und sich ganz in die Pracht der Kirschblüten versenken oder die Lichtung im Wald. Oder wenn sie am Meer verweilen und die Weite des Horizonts bewundern. Unvermittelt ergibt sich dann die Frage: Warum ist das alles, warum ist nicht vielmehr nichts? Für Immanuel Kant gehört die Ehrfurcht vor dem Erhabenen zum Wesen des Menschen. Das Erhabene zeigt sich, so meinte Kant, wenn der Mensch den bestirnten Himmel über sich wahrnimmt und das moralische Gesetz in sich selbst.

Sprecher:

Wer dem moralischen Gesetz, also seinem Gewissen folgt, setzt sich auch für andere Menschen ein, so könnte man heute Kant verstehen. Kann man denn einen Menschen ungläubig nennen, der zum Beispiel einen guten Teil seiner Lebenszeit in humanitären Organisationen einsetzt? Etwa in einer der zahlreichen Nichtregierungsorganisationen, wie den „Ärzten ohne Grenzen“, wo jüngere und ältere Fachärzte mitten in den kriegerischen Auseinandersetzungen Afrikas ihre Hilfen anbieten. Ihren Einsatz können diese Menschen nur leisten, weil sie glauben, dass die Ärmsten der Armen genauso viel Respekt verdienen wie die wohl situierten Bürger in Berlin, Hamburg und anderswo. Dieser Glaube an den unbedingten Wert eines Jeden ist der persönliche spirituelle Mittelpunkt dieser engagierten Menschen, egal, ob sie sich religiös oder atheistisch nennen.

Sprecherin:

Man muss aber nicht immer nach den großen Vorbildern oder Helden Ausschau halten: In der Nachbarschaft leben Menschen, die einem zentralen Wert unbedingt entsprechen wollen, wenn sie etwa angesichts des Leidens und der Not anderer den eigenen Lebens-entwurf radikal umstellen. Man denke an die Frauen und Männer, die sich voller Hingabe der Pflege ihrer Angehörigen oder Freunde widmen. Sie sind überzeugt, dass alte und kranke Menschen besser nicht in Pflegeheimen untergebracht werden sollten, sondern gerade zuhause noch Lebensfreude erleben können.

Sprecher:

Auch diese Menschen folgen einer elementaren Überzeugung, die Philosophen eine Evidenz-Erfahrung nennen: Absolut und unumstößlich schätzen sie den Wert eines jeden Menschen, gerade der Kranken, Ausgegrenzten oder Verarmten. Der österreichisch-amerikanische Theologe und Religionssoziologe Peter L. Berger geht sogar noch weiter, wenn er schreibt:

Zitator:

Ich nenne Phänomene und Verhaltensweisen in unserer alltäglichen, natürlichen Lebenswelt Zeichen der Transzendenz, wenn sie über die enge alltägliche Welt hinaus-weisen. Transzendenz ist hier nicht im üblichen konfessionellen Sinne zu verstehen, sondern als ein geistvolles Überschreiten der Alltagswelt.

Sprecher:

Berger bietet dafür ein eindringliches Beispiel. Er erinnert an die Sorge der Mutter um ihr Kind. Es beginnt nachts zu schluchzen und zu schreien, so sucht es voller Angst die Nähe seiner Mutter.

Zitator:

Sie wendet sich beruhigend ihrem Kind zu, spricht sanfte Worte oder sie singt ihm ein Schlummerlied. Der Grundtenor dieses Verhaltens ist bei allen Menschen derselbe: Hab keine Angst, mein Kind. Alles ist in Ordnung, alles ist wieder gut. So gewinnt das Kind sein Vertrauen in die Wirklichkeit zurück, es kann wieder einschlafen.

Sprecher:

Die Mutter kann ihr Kind nur trösten, weil sie überzeugt ist: Wir Menschen können unserem Dasein in dieser Welt vertrauen, selbst wenn wir nicht alles überschauen und vieles uns auch ängstigt. Es gibt aber in uns eine Energie, eine geistige Kraft, die uns zu solchen Aussagen ermuntert und die Gewissheit schenkt: Die Tröstung meines Kindes ist keine Lüge. Die Mutter lebt in dem elementaren Glauben: Die Dunkelheit der Nacht und das Beängstigende des Lebens sind nicht allmächtig. Dieser Glaube hat nur ein ganz einfaches Dogma: Hab keine Angst, die Welt ist – trotz allem – gut.

Sprecherin:

Diese Religiosität des Alltags hält uns lebendig und inspiriert uns: Sie ist die Basis, auf der eine Bindung an eine Kirche oder religiöse Institution weiter aufgebaut werden kann oder eben auch die Entscheidung für den Atheismus. Diese weltliche Spiritualität, die in uns lebendig ist, wird noch von der abstrakten Gegenüberstellung von gläubig und ungläubig oder von christlich und atheistisch erlebt. Weltliche Spiritualität ist wichtig, weil sie uns erleben lässt, wie wir über das eigene Ego und die begrenzte Welt hinausblicken.

Sprecher:

Philosophen, Sozialwissenschaftler und auch Theologen können diese elementaren religiösen Empfindungen mitten im Alltag nicht übersehen. Der österreichische Sozialwissenschaftlers Thomas Luckmann hat dazu 1967 seine Studie unter dem Titel „Die unsichtbare Religion“ veröffentlicht. Angesichts der Macht der Kirchen als Institutionen sollten auch die vielen Beispiele individueller, also eher unsichtbarer Formen von Religiosität wissenschaftlich gewürdigt werden. Thomas Luckmann

schreibt:

Zitator:

Jeder Mensch hat ein Wertesystem, das für ihn heilig und absolut geltend ist. Heute bilden sich Menschen in ihrer Privatsphäre ihre individuelle Religiosität. So schaffen sie sich Werte und Themen, denen sie eine entscheidende, letzte Bedeutung zuweisen.

Sprecherin:

Diesen Mittelpunkt im Leben entfaltet jeder Mensch auf seine persönliche und individuelle Art, etwa bei der Frage: Worauf freue ich mich am meisten? Welche Gemein-schaft von Menschen erlebe ich als Wohltat, vielleicht sogar als Stärkung, so dass ich immer wieder gern mit ihnen zusammen bin? Wie erlebe ich meine Dankbarkeit für schöne Stunden? Und: Wem oder was kann ich zutiefst dankbar sein?

Sprecher:

Als Mittelpunkt ihres Lebens bezeichnen Menschen auch Hobbys, wie das Fußballspiel mit der geradezu innigen Liebe zu einem Verein; es kann auch der ständige Besuch im Fitness-Studio sein, wo alles für den perfekten Körper getan wird. Zentral für ihr Leben nennen andere ihre Begeisterung für Mozart oder Wagner. Oder ihre völlige Hingabe an die Arbeit, von der nicht nur Manager, sondern auch Künstler und Schriftsteller sprechen. Immer gilt es, einem hoch geschätzten Wert zu entsprechen, dem man sich voller Hin-gabe und Begeisterung zuwendet. Diese intensive emotionale Bindung an das Erhabene nennt man auf Lateinisch „religio“, also Religion.

Sprecherin:

Der Begründer der Soziologie in Frankreich, Emile Durkheim, wollte diese vielfältige Bindung an Werte sortieren, differenzieren und Schwerpunkte setzen: Für ihn ist entscheidend die starke Verbundenheit mit grundlegenden humanen Werten. Sie finden in den allgemeinen und universellen Menschenrechten ihre sprachliche Gestalt. Darin sieht Durkheim die allen gemeinsame Religion der Moderne. Emile Durkheim lebte von 1858 bis 1917; zuletzt war er Professor an der Sorbonne in Paris. Dort hat er die Menschenrechte als etwas Heiliges verteidigt:

Zitator:

Wer auch immer einen Menschen angreift, erfüllt uns mit einem Gefühl der Abscheu. Die Person hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihrem Gott verleihen. Dieses Gefühl der Abscheu bei Gewalt gegen einen Menschen ist ähnlich dem Gefühl des Gläubigen, wenn er erlebt, wie sein göttliches Idol nicht respektiert wird.

Sprecher:

Natürlich propagiert Durkheim nicht die Anbetung des Menschen durch den Menschen. Er will auch keine neuen Kulte entwickeln, die wie zur Zeit der Französischen Revolution, die Vernunft des Menschen zur Göttin bzw. zum Götzen erklärten. Durkheim denkt nüchtern und kritisch: Wer die menschliche Person heilig nennt, meint ihre unantastbare Würde, den Schutz, die Förderung und die Pflege, die sie absolut verdient. Vor aller konfessioneller religiöser Bindung, so unterstreicht Durkheim, gibt es diese allen gemeinsame Erfahrung der Erhabenheit und Heiligkeit der Person. Und diese Vorschläge wirken noch heute weiter: Etwa bei dem katholischen Soziologen und Philosophen Hans Joas. Er lehrte viele Jahre in Chicago und Freiburg im Breisgau. Vor kurzem erschien sein Buch „Die Sakralität der Person“, darin schreibt er:

Zitator:

Der Glaube an die Menschenwürde ist eine Form, den Menschen als ein heiliges Wesen anzusehen. Ohne diese Überzeugung hätte es nie eine Abschaffung der Sklaverei gegeben. Und aus der Vorstellung einer von Gläubigen und Nichtgläubigen geteilten Erfahrung von Heiligkeit des personalen Lebens ergeben sich heute politische Konsequenzen.

Sprecher:

Von dieser Einsicht in die Heiligkeit der Person lassen sich zahlreiche Theologen inspirieren. Für den protestantischen Theologen Wilhelm Gräb von der Berliner Humboldt Universität ist sie die Basis. Denn nur so können das Fragen und Suchen des einzelnen Menschen absolut ernst genommen werden, meint Gräb. In einem Vortrag zum Thema: „Religion – eine Angelegenheit des Menschen“ sagte er kürzlich:

Zitator:

Wir sollten von der Gleichsetzung loskommen, die darin besteht, Kirchlichkeit und Religion zu identifizieren. Religion ist doch zuerst das gefühlte Vertrauen in den Sinn des Daseins. Und dieses Gefühl haben alle Menschen! Auch wenn also das Wort Gott im modernen Lebenszusammenhang nicht gebraucht wird, machen doch Menschen religiöse Erfahrungen, wenn sie fragen: Was gibt meinem Leben Inhalt und Sinn. Die Theologie muss diese Fragen ernst nehmen. Wir brauchen eine Theologie, die die Menschen völlig respektiert und keine anderen Interessen hat, als den Menschen zur besseren Klarheit über die eigene Spiritualität zu verhelfen.

Sprecherin:

Auch für den katholischen Theologen und Jesuiten Karl Rahner gibt es keinen Zweifel: Alle Menschen machen als geistvolle Wesen auch religiöse Erfahrungen. Damit will er nicht Atheisten und Agnostiker in den Schoß von Mutter Kirche heimholen. Er würdigt nur elementare Formen geistigen Lebens, die als Hinweise auf die Transzendenz zu ver-stehen sind. Karl Rahner betont in seinem Aufsatz „Selbsterfahrung und Gottes-erfahrung“:

Zitator:

Mitten im Alltag ereignet sich eine Erfahrung Gottes. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe macht und das Geschenk einer Begegnung und plötzlich selig erschreckt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird. Darum meine ich: Wenn die Menschen, auch die so genannten Atheisten, unbedingte Treue, absolute Wahrhaftigkeit und selbstlose Hingabe an das Wohl anderer kennen und leben, dann wissen sie irgendwie schon etwas von Gott.

Sprecher:

Beobachter der religiösen Situation in Ostdeutschland melden da ihre Fragen an: War denn nicht die Werbung für den Atheismus und der Kampf gegen die Kirchen in der DDR so stark, fragen Pfarrer und engagierte Christen zwischen Rostock und Chemnitz, dass sich letztlich der Atheismus durchgesetzt hat? Sind diese so genannten Atheisten wirklich irgendwie noch religiös? Heute nennen sich nur 15 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern Christen.

Sprecherin:

Die Leipziger Soziologie-Professorin Monika Wohlrab-Sahr hat bei ausführlichen Befragungen von Bewohnern der ehemaligen DDR entdeckt, dass auch dort bescheidene, aber ungewöhnliche Formen von Transzendenz erlebt wurden: als Überschreitung des alltäglichen Einerleis. In ihrem Buch „Forcierte Säkularität“ schreibt Monika Wohlrab-Sahr:

Zitator:

In den Interviews lobten die Gesprächspartner die damaligen Ideale, etwa den gemeinschaftlichen Zusammenhalt der Menschen in der DDR; sie lobten das Ideal der Ehrlichkeit untereinander in dem kleinen überschaubaren Alltag. Auch das Ideal der Solidarität wurde hervorgehoben. Ausdrücklich betonen die Interviewpartner, dass in ihrer Erinnerung das egoistische Leben nicht so verbreitet war. Man habe mehr füreinander statt nebeneinander gearbeitet, sagen sie.

Sprecher:

Menschen können wichtige Werte und Ideale auch dann hoch schätzen, wenn sie in einer religionsfeindlichen Gesellschaft aufwachsen. Das Bestreben des menschlichen Geistes, sich geistige Mittelpunkte und spirituelle Zentren im Leben zu schaffen, verbindet nämlich alle.

Sprecherin:

Natürlich fördern nicht alle Ideale oder Werte in gleicher Weise die freie, selbst-bestimmte Individualität. Es mag ja im persönlichen Erleben durchaus faszinierend sein, wenn ich mich mit ganzer Hingabe meinem Motorrad widme. Vielleicht spielt da eine Bewunderung für die technischen Leistungen der Menschen hinein, vielleicht sogar ein Respekt vor dem schöpferischen und erfinderischen Geist. Aber es kann auch gefragt werden, ob diese erhöhte Aufmerksamkeit für eine Maschine meine persönliche Entwicklung fördert, mich also zu größerer geistiger Weite und Reife führt.

Sprecher:

Der Philosoph Erich Fromm ist zwar als Psychotherapeut überzeugt, dass jeder Mensch eine intensive Bindung an einen zentralen Mittelpunkt im Leben braucht. Nur so kann er die eigene enge Welt überhaupt ertragen und möglicherweise auch übersteigen, um sie besser und gerechter zu gestalten. Aber für den Psychologen Fromm steht fest: Es sollten niemals irdische Dinge und leibhaftige Menschen so verehrt werden, wie ein Gott. Jeglicher Götzendienst macht den Menschen unfrei und tötet den lebendigen Geist und die Kreativität. Deswegen schärft Erich Fromm seinen Lesern ein:

Zitator:

Der Kampf gegen den Götzendienst kann Menschen aller Religionen und auch Menschen ohne Religionen vereinen, und zwar gerade um der geistigen Freiheit willen und der personalen Entwicklung eines jeden. Bindung an höchste Werte darf nie zum Götzen-dienst werden.

Sprecherin:

Diesen kritischen Hinweisen schließen sich auch Theologen an. Zum Beispiel der Hamburger Jesuitenpater Paul Bolkovac. Bis zu seinem Tod 1993 war er in der Hanse-stadt tätig. Ihn beschäftigte die Frage: Wo sind die Maßstäbe, um das Wertvolle im eigenen spirituellen Leben zu unterscheiden von dem, was mich in den engen Rahmen meines Alltags nur einschließt? Wie kann ich in der Bindung an höchste Werte seelisch gesund bleiben und reifen? Paul Bolkovac schreibt in dem Buch „Atheismus kritisch betrachtet“:

Zitator:

Im praktischen Leben wird deutlich, wofür oder wogegen der Mensch steht. In der Praxis, in den praktischen Interessen, wird sichtbar, ob ein Mensch mit Heiligem zu tun hat oder mit einem Götzen. Maßstab der Erkenntnis ist für mich das Gebot der Liebe zu sich selbst und zum Nächsten. Darum kann man sagen: Wer in seinem praktischen Alltag nichts tut, um das Miteinander und Füreinander der Menschen zu fördern, geht seinen Weg fern von Gott und ohne Gott. Gottlos ist derjenige, der im Egoismus befangen bleibt. Diese Atheisten, also diese Egoisten, gibt es quer durch alle Weltanschauungen, unter Christen wie unter Nichtchristen. Und jeder einzelne Mensch, wenn er Egoist bleibt, bewegt sich in dieser Zone der Gottlosigkeit.

Sprecher:

Die höchsten spirituellen Werte, für die sich die Menschen so vielfältig entscheiden, können also auf ihre Qualität hin befragt und überprüft werden. Das Heilige mitten im Alltag wird dann als wertvoll erfahren, wenn es die Liebe zu sich selbst wie die Liebe zum Nächsten und Fernsten fördert. Diese Aussage ist alles andere als pathetisch oder bloß poetisch, meint der Philosoph Maurice Blondel. Denn wer liebt, so sagt er, erlebt zugleich auch seine geistige Energie, sie ist eine Gabe, die den Menschen auszeichnet. Diese Liebe nennt Blondel auch die heilige Unruhe, denn sie führt über die Enge der Welt hinaus in eine offene Transzendenz, an die sich Gläubige wie Atheisten gleichermaßen halten können.

 

Zum Autor:

Christian Modehn, Theologe und Journalist aus Berlin;   http://religionsphilosophischer-salon.de/

 

Literaturangaben:

Umberto Eco (mit Cardinal Martini) „Woran Glaubt, wer nicht glaubt“, DTV Taschenbuch 1999

Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel, Herder Spektrum, Freiburg 1991

Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Suhrkamp, Frankfurt 1991

Emile Durkheim, „Der Individualismus und die Intellektuellen, 1898, zit. in Hans Joas, Die Sakralität der Person, Suhrkamp Verlag 2011.

Hans Joas,  Die Sakralität der Person, Suhrkamp, 2011.

Wilhelm Gräb, Religion, eine Angelegenheit des Menschen, Vortrag 2014, gehalten in Wien, bisher nur veröffentlicht in: www. religionsphilosophischer-salon.de

Karl Rahner, Selbsterfahrung und Gotteserfahrung in: Karl Rahner, Schriften zur Theologie Band X., Benziger Verlag Zürich, 1972.

Monika Wohlrab Sahr, Forcierte Säkularität, Campus Verlag Frankfurt 2009

Erich Fromm, Gesamtausgabe,  Band VI, darin „Ihr werdet sein wie Gott“. Deutsche Verlagsanstalt, 1980.

Paul Bolkovac, „Atheismus im Vollzug – Atheist durch Interpretation“, in „Atheismus kritisch betrachtet“

(hg. von Emerich Coreth) Walter Verlag, 1971