Volkskirchen werden Minderheiten: Der religiöse und kulturelle Umbruch in Deutschland und Europa.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 25. November 2023.

EIN VORWORT:
Dieser Hinweis bezieht sich auf die aktuelle Situation der Kirchen in Deutschland und Europa im November 2023. Diese Kirchen befinden sich, soziologisch gesehen, zweifelsfrei im Niedergang, sie sind – statistisch – am Verschwinden.
Dabei steht hier der Katholizismus im Mittelpunkt der Beobachtung und Kritik. Warum? Den Katholizismus kenne ich seit meinem Theologie – Studium am besten.
Es ist offensichtlich: Religionen (waren und) sind gefährlich für eine humane, demokratische Entwicklung der Menschheit auch heute, weil sich Religionen und Kirchen oft fundamentalistisch abkapseln. Aber es sind immer fundamentalistisch verblendete MENSCHEN, fromme Leute und ihre Gemeinden, die wegen ihrer Propaganda, ihrer Ideologie, gefährlich werden, weil sie sehr oft dazu neigen, politisch radikalen Ideologen zu folgen… wegen mangelhaftem kritischen Reflexions-Vermögen. Sie folgen also verwirrten, destruktiven Politikern, die eine Bedrohung der Menschheit sind, ich nenne nur Trump, den angeblich Evangelikalen, und Putin, den angeblich Russisch-Orthodoxen, oder den von Evangelikalen unterstützten Evangelikalen Bolsonaro, Brasilien, von Polens ultra – katholischen PIS – Politikern müsste gesprochen werden usw. Vom fundamentalistischem Wahn unter Muslims und jüdischen Gruppen sprechen viele Religionswissenschaftler…
Hier aber geht es darum: Was bedeutet der Niedergang des Katholizismus (und des Protestantismus) in Deutschland und Europa? Und es geht auch um eine bisher eher verdrängte, weil provozierende Frage: Kann dieser Niedergang der Kirchen in Europa so weit reichen, dass diese Kirchen nicht nur schrumpfen, sondern verschwinden und – beinahe ? – sterben?

Am 27.11.2023 verfasst: Vieles spricht dafür, dass das Ende dieser vom Klerus beherrschten Kirche mindestens in Deutschland und West/ Südeuropa naht. Die Sturheit der katholischen Klerus-Herrscher ist maßlos, also doch wohl unerträglich für den verbliebenen katholischen Rest. Siehe dazu den Kommentar des katholischen Theologen und Psychologen Wunibald Müller zu einer jüngsten Reform-Verbots Stellungnahme aus dem Vatikan., durch Kardinal Parolin, einem der ganz Wichtigen im Vatikan und der ganzen Kirche.   LINK:

Am 1.12. 2023 ließen die Herren der Kirche im Vatikan verlauten: Am Zölibatsgesetz für Priester wird nicht gerüttelt. LINK.  Das Motto der Herren Kleriker: “Wer es (das Zölibatsgesetz) fassen kann, der fasse es”, angeblich ein Zitat aus dem Munde Jesu. Ein Freund von mir sagte: Wer sie (die römische Klerus-Kirche) fassen kann, der fasse sie, bitte schnell”…

 

1.
Eine grundlegende soziologische Untersuchung zur Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Katholischen Kirche in Deutschland wurde im November 2023 publiziert.  LINK

2.
Die Ergebnisse dieser Studie sind auch religionsphilosophisch und damit von allgemeinem kulturellen Interesse. Denn sie zeigen die Bedeutung des kirchlichen Glaubens in der Gegenwart Deutschlands und erlauben eine gesicherte Prognose für die kommenden Jahre. Auch für Westeuropa heißt die Prognose etwa für die katholische Kirche: Sie wird, wenn sie so weitermacht wie seit 1.700 Jahren als klerikale Institution, langsam verschwinden, mindestens auf den Status einer Sekte schrumpfen.

3. Einige Fakten der Studie „Wie hältst du es mit der Kirche?“ 
Auf knapp 100 Seiten wird untersucht, wie eng die Bindung an die beiden christlichen Kirchen in Deutschland noch ist. Für diese Studie wurden rund 5.000 Personen intensiv befragt. Das Ergebnis: 25 Prozent nennen sich Mitglieder der katholischen Kirche, 23 Prozent Mitglieder der evangelischen Kirche. Noch einmal: Weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland sind noch Mitglieder der beiden Kirchen, einst „Volks“ – Kirchen“ genannt. Die Bereitschaft der Mitglieder der Kirchen, bald aus ihrer Kirche auszutreten, ist beachtlich: 75 Prozent der Katholiken und 67 Prozent der Evangelischen schließen einen Kirchenaustritt nicht aus…Selbst unter den Kirchenmitgliedern verstehen sich nur noch 4 Prozent der Katholiken beziehungsweise 6 Prozent der Evangelischen als gläubig und kirchennah. Das ist eine Sensation: Nur 9 Prozent der Befragten erklären, sie hätten Vertrauen in die katholische Kirche, bei der evangelischen Kirche waren es immerhin 24 Prozent. Die Hochschätzung der Kirchen (also das globale Vertrauen in diese Institution) ist extrem bescheiden, im Fall der katholischen Kirchen sogar minimal, nur dem Islam vertrauen noch weniger Menschen in Deutschland… 43 Prozent nennen sich konfessionslos. Die übrigen gehören anderen Religionen, wie dem Islam oder den jüdischen Gemeinden an.
Für 56 Prozent der Bevölkerung spielt Religion (offenbar ist gemeint: in der sichtbaren, institutionellen Form) keine Rolle. Nur 13 Prozent haben eine „kirchlich-religiöse Einstellung“.

4.
Unter den „Noch-Mitgliedern“ der katholischen Kirche werden fast zu 100 Prozent dringend radikale Kirchen – Reformen gewünscht, wie etwa die Aufhebung des Zölibatsgesetzes, die Einrichtung synodaler Strukturen, mehr Gleichberechtigung für die Frauen auch in kirchlichen Ämtern, die üblichen Forderungen also, seit ca. 60 Jahren permanent und in denselben Worten von den Laien und einigen Priestern vorgebracht, ergebnislos seit all diesen Jahren. Und man wundert sich, woher immer noch einige Katholiken (oft sind es hauptamtliche, gut bezahlte Kirchen – Angestellte) die Kraft nehmen, wie Sisyphus, seit Jahrzehnten immer die gleichen Themen zu debattieren, um Reformen die Herren der Kirche zu „erbitten“. ,
Erhellend die Erfahrungen und Einsichten eines katholischen Pfarrers einer Kölner Gemeinde (siehe Fußnote 2. )

5. Volkskirchen werden Minderheiten
Die Erkenntnisse sind für die Kirchen selbst insgesamt niederschmetternd. Die Studie weist die „Volks“ – Kirchen in die Position von Minderheiten. Das hat Konsequenzen auch für das soziale und kulturelle Leben: Kirchengemeinden, die auch Orte von Gemeinschaft und Nachbarschaft waren, werden zwar nicht verschwinden, aber in der geringen Anzahl kaum noch relevant sein. Gerade in diesem Moment, am 26.11.2023, wird die um 1960 errichtete Kirche ST. Albertus Magnus in Berlin – Halensee geschlossen und die dort, in Wilmersdorf, rund um den Kurfürsten Damm, lebende Gemeinde hat nicht nur keine Kirche mehr, sondern auch keinen Gemeindetreffpunkt. (Weiteres: FUßNOTE 1.)
Kirchengebäude und Gemeindehäuser werden immer weiter aufgegeben, verkauft, abgerissen. Weil es keine Kleriker gibt… Dass Laien die Gemeinden leiten könnten, diese richtige theologische Idee wird nicht realisiert. Es ist die totale Klerus-Herrschaft…Kirchengebäude verschwinden aus dem Stadtbild, manche Leute werden sich noch wehmütig an Glockengeläut erinnern… Klöster werden seit Jahren schon aufgegeben und für teures Geld verkauft wegen „Nachwuchsmangel“, mit dem Geld werden die kranken und sterbenden Mönche und Nonnen versorgt. Theologisch gebildete Gemeindeleiter, also PfarrerInnen, die eigentlich auch SeelsorgerInnen sein sollten, werden noch seltener als bisher anzutreffen sein. Das Durchschnittsalter des katholischen Klerus in Deutschland und aus Deutschland ist sicher bekannt, die Pfarrer, Patres usw… sind mehrheitlich schon über 65 Jahre alt.

6. Ein kultureller Bruch
Die Studie markiert einen tiefen kulturellen Bruch. Es gilt Abschied zu nehmen von der üblichen Vorstellung, Deutschland sei kirchlich geprägt. Ob es auf neue Art christlich geprägt bleibt, ist die Frage! Wie stark in naher Zukunft noch Traditionen der Bibel angesprochen und reflektiert werden, ist ebenso fraglich. Wie viele theologische Fakultäten an den Universitäten es in Zukunft – angesichts des Mangels an Studenten und auch an qualifizierten Professoren – noch geben wird, ist offen. Katholische Theologie an den Universitäten war ohnehin durch ihre Abhängigkeit von Bischöfen und Papst keine umfassend freie Wissenschaft. Die gut ausgestatteten kirchlichen Akademien werden in dieser Vielzahl kaum nicht finanzierbar sein. In den letzten Jahren fanden sie ohnehin nicht sehr viel öffentliche Beachtung, weil sie, wie etwa die Katholische Akademie Berlin, kaum aktuelle, die Berliner Bevölkerung bewegende Fragen debattierten. Die alte Macht der Kirchen, auch ihr politischer und öffentlicher Einfluß, wird weiter schrumpfen. Wie lange werden noch kirchliche Theologen in Ethikkommissionen vertreten sein? Und es wird die Frage diskutiert: Ist denn die Ethik der Monotheisten (also der Juden, Christen, Muslims) faktisch so großartig, so friedfertig, Frieden tatsächlich stiftend, wie nachweislich hat sie eigentlich die häßlichen Ausmaße des Neokapitalismus wirksam begrenzt? Man untersuche doch bitte empirisch und detailliert, wie viele Kirchenthemen noch in den großen Nachrichtensendungen von ARD und ZDF überhaupt noch ausführlich vorgestellt werden, verglichen etwa mit der noch sehr umfassenden Kirchen – Berichterstattung vor etwa 20 Jahren. Diese Themen, so vermuten die Redaktionen, interessieren nur noch Minderheiten. Dabei ist der Niedergang der Kirchen tatsächlich ein großes, allgemein interessierendes Thema zu einem gesellschaftlichen Wandel.

7. Abschied von den alten Dogmen
Am wichtigsten ist für uns ein Hinweis dieser Studie, er betrifft die starke Ablehnung der kirchlichen Dogmen bzw. vorgegebenen Glaubenslehren selbst unter Mitgliedern der Kirche. Was den Glauben an Gott angeht: Da sagen nur 19 Prozent, „dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt.“ 29 Prozent sagen, „dass es ein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt“. 33 Prozent meinen, „dass es keinen Gott gibt und auch kein höheres Wesen“, 20 Prozent „wissen nicht so richtig, was sie glauben sollen“.

8. Die vielen Dogmen haben Christen aus den Kirchen getrieben
Das ist ein Thema, das leider in den Debatten über den Niedergang der Kirchen kaum debattiert wird: Die Fülle der Dogmen, die heute von beiden Kirchen noch gelehrt und oft auch auch in Predigten verbreitet werden, ist auch für viele Christen in Deutschland nicht mehr akzeptabel. Diese Dogmen/Lehren/Vorschriften erhellen das aktuelle Leben nicht, sie deuten das Leben in dieser verrückten Welt mit so vielen Katastrophen nicht in nachvollziehbarer Sprache … diese Lehren und Dogmen sind heute so etwas wie ideologischer Ballast. Übergestülpt, eingepaukt oder daher- geredet, in Kirchenliedern noch besungen, zumal in der Weihnachtszeit, als romantische Regression in Kindheitszeiten. Was ist Ideologie in der so genannten Glaubenslehre? Das gilt etwa für die Erbsündenlehre (LINK) und damit eng zusammenhängend die Lehre von der Erlösung, in dem Sinne: Dass der Gottessohn, Jesus, vom „Gott-Vater“ aus dem Himmel gesandt, sich aufopfert und hinrichten lässt, um die Menschen von dieser Erbsünde zu befreien. Um daran Anteil zu haben, müssen alle Menschen getauft werden, also kirchliche Christen werden. Man denke daran, dass etwa am Karfreitag immer noch in den evangelischen Gottesdiensten das Lied „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder“ gesungen wird; mit Lämmlein ist der sich hinschlachtende Jesus gemeint. Dass Jesus aus politisch -religiösen Gründen sterben musste, wird nicht gesagt…(vgl. Evangelisches Kirchengesangbuch Nr. 83.)… Ostern ist für uns das Fest des „Ewigen im Menschen“.  LINK
Unser Vorschlag: Wenn man Jesus von Nazareth in Verbindung mit Erlösung bringen will: Dann etwa: Jesus von Nazareth ist in mancher Hinsicht ein Vorbild, ein Weisheit – Lehrer mit Anregungen für eine humane, solidarische Lebenspraxis. Die dann befreiend von Zwängen, also „erlösend“ sein kann.
Und wenn man vom Bösen sprechen will, um das Böse dreht sich ja die „Erbsünden – Ideologie, dann vielleicht so: Das Böse entsteht durch die freie oder auch zwanghafte, seelisch kranke Tat der Menschen. Wer das Böse bekämpfen will, etwa die sinnlosen Kriege und das auch von Religionen unterstützte Morden und Töten: Dann nur: Indem diese religiösen Menschen so human gebildet werden, dass Friedfertigkeit identisch mit humanem Menschsein wird.
Von absonderlichen katholischen Lehren, wie dem Dogma von der Unfehlbarkeit de Papstes, der Höherstellung des Klerus gegenüber Laien, der erstarrt wirkenden Liturgie, der verstaubten Sprache in diesen Liturgien, von der immer noch päpstlichen Lehre „Homosexualität ist Sünde“, „Abtreibung ist Sünde“ und so weiter soll hier gar nicht weiter gesprochen werden. Zu diesen Themen ist eigentlich alles Vernünftige und Nachvollziehbare gesagt, aber nichts ändert sich, weil der Klerus seine Macht nicht abgeben will!
Der Jesuit und Schriftsteller Alfred Delp (1907 -1945) schrieb kurz vor seiner Hinrichtung als Widerstandskämpfer gegen die NAZIS: „Die Kirchen scheinen sich … durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen“ (Quelle: Alfred Delp: „Im Angesicht des Todes“. )

9. Werden nun alle Atheisten?
Die genannte Studie kann zu grundlegenden, vielleicht sogar grundstürzenden Fragen führen, die eine Antwort finden müssen, wollen die Kirchen vermeiden, endgültig in einem kulturellen Getto zu landen, sozusagen in einer Nische von Fundamentalisten, denen selbst die absonderlichsten Dogmen und Morallehren noch normal und nachvollziehbar erscheinen.
Sind die vielen Menschen, die die Kirchen verlassen (haben), etwa Atheisten? Viele der Befragten verneinen das selbst. Wer ist eigentlich ein AtheistIN, gegen welchen Gott wehrt er/sie sich?
Religionsphilosophisch ist deutlich: Jeder Mensch schafft sich seinen Gott, seinen eigenen Gott. Oder verehrt einen namenlosen Gott der Mystik.
Und ist Transzendenz nur in den Religionen anzutreffen? Es gibt viele Formen der Transzendenzerfahrungen: Wir leben in einer neokapitalistischen Weltordnung, in der das grenzenlose Wachstum ein schädlicher Glaube ist an eine unendliche Transzendenz des Immer Mehr und des ständigen ökonomischen Wachsens. Der Glaube an einen verdinglichten Gott ist vielfältig: Sport, Fußball zumal, kann wie eine göttliche Autorität geliebt und verehrt werden; die Autos, immer noch, können je größer je besser absoluter Mittelpunkt des Lebens werden. Sex, Arbeit, alles kann zu einer Art göttlichem, also absoluten Mittelpunkt im Leben werden. Wie wird man diese negative Transzendenz als Bindung an einen verdinglichten Gott überwinden? Wie stark und prägend ist aber die positive Transzendenz? Musik und Kunst und Literatur wollen wir hier nur erwähnen. Auch das Gespräch, den Dialog, Die höchste Transzendenz wird in der Liebe erfahren, nicht nur im eros, auch in der diakonia…Hat der dogmatisch korrekt, „wahre“ Gott der Christen von einst diese Welt und ihre Menschen nachweislich friedlicher, reifer, vernünftiger, „erlöster“ gemacht? Die Bilanz „2000 Jahre etabliertes, meist klerikales oder dann auch fundamentalistisches Christentum“ fällt unseres Erachtens negativ aus.

10.
Es gibt, philosophisch gesehen, kein geistiges Leben der Menschen ohne die Beziehung zu Göttern und das Schaffen von Göttern und eben auch den Gedanken an den einen Gott. Die Menschen sind also „immer schon“ irgendwie über alles Weltliche hinaus…Und dann stellen sich dann die Fragen: Was sind die Kriterien wahrer, d.h. befreiender Transzendenz? Das sind keine religilsen, theologischen Kriterien, sondern philosophische, vor allem die Erklärung der Menschenrechte (von 1948). LINK

Siehe auch das Interview mit dem Theologen Wilhelm Gräb: LINK

11. Wenn die Kirchen sterben…
Die Frage muss gestellt werden: Zeigt sich in den letzten Jahren eine alt gewordene Kirche, schwach und krank und morsch und eher nur ein Gerüst oder fast schon ein Skelett und nur noch künstlich am Leben erhalten? Werden die Kirchen (in Deutschland, in Europa) sterben?
Wir beziehen uns hier „nur“ auf den römischen Katholizismus. Er hat zwar weltweit, so wird nicht ohne Stolz von offizieller Seite betont, eins Komma vier Milliarden Mitglieder. Aber diese Kirche ist trotz zahlreicher Basis-Initiativen, besonders in der Caritas, erstarrt: Diese Kirche hat überall die gleiche klerikale Struktur, es herrschen überall die gleichen klerikalen Machtverhältnisse. Fast alles, was kirchliches Leben bestimmt, wird letztlich im Vatikan entschieden. Überall wird die Messe in der gleichen Form gefeiert, überall gilt das römische Kirchenrecht, überall wird der römische Katechismus studiert und eingeschärft mit seinen 800 Seiten voller Belehrungen und moralischer Verurteilungen. Überall wachen päpstliche Nuntien, dass nur ja der wahre, der römische Glaube gelehrt und praktiziert wird und so weiter. Lebendigkeit, Kreativität, Freiheit: sieht anders aus!

12.
In Deutschland und in Europa ist die katholische Kirche seit Jahren schon aufgrund der stetig sinkenden Zahl ihrer aktiven Mitglieder und wegen des vergreisenden Personals, der Priestern, in einer tödlichen Krise. Noch wird oft so getan, die alte Welt der Volkskirchen bestehe weiter, die Milliarden der Kirchensteuer fließen ja noch. Noch… Diese Kirche wird künstlich am Leben erhalten durch den Einsatz von einigen tausend Priestern aus Indien, Afrika, den Philippinen, Indonesien in den sterbenden europäischen Kirchen. Werden sie etwas dort nicht gebraucht? Sie sind in Europa so eine Art „gut bezahlter Gastarbeiter“, die einen Teil ihres in Deutschland üppigen Gehaltes in die Heimat schicken (müssen). Auch viele Nonnen aus den genannten Ländern, sogar aus Korea, versuchen den katholischen Betrieb in Europa aufrecht zu halten.

13. Der Klerus zerstört die katholische Kirche
Die mögliche Todesursache der katholischen Kirche nicht nur in Europa ist der seit vielen Jahren bekannte sexuelle Missbrauch (an Kindern und Jugendlichen vor allem) durch katholische Priester … und die Kooperation vieler Bischöfe mit diesen Priestern. Tiefer kann eigentlich diese Institution nicht sinken, die die Priester immer als „Hochwürden“ oder gar als „Geistliche“, also außerhalb der bürgerlichen Welt lebend, betrachtete, Priester galten fast schon als heilige Personen.
Und dann die vielen Katastrophen und Skandale in fast allen so genannten neuen geistlichen Gemeinschaften, es geht auch dort um den sexuellen Missbrauch durch hoch und heilig verehrte Gründergestalten mit ihrer oft sektiererisch oder spinös wirkenden Spiritualität . Alle diese neuen, angeblich geistvollen „charismatischen“ Gruppen wurden von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. als „Sturmtrupps“ der „neuen Evangelisierung Europas“ betrachtet… Und dann das Desaster. In Frankreich hat der Bischof von Fréjus – Toulon (Dominique Rey von der Charismatischen Gemeinschaft Emmanuel) zahlreiche seltsam – spinös erscheinende Charismatiker – Priester – Gemeinschaften in sein Bistum geholt, die nachdenklichen Katholiken dadurch vertrieben…LINK   Jetzt sind die Zustände in diesem „Charismatiker – Bistum“ so verheerend, dass Rom jetzt eingreifen muss und Bischof Rey endlich aufs Abstellgleis setzt…

14.
Wer ist schuld am langsamen Sterben der katholischen Kirche?
Das langsame, aber systematische Sterben der katholischen Kirche in Europa ist sozusagen „hausgemacht“, es sind nicht die „bösen Atheisten“, die dieser Kirche das Ende bereiten, es ist die Kirche selbst aufgrund ihrer inneren Verfassung, die sich aufs Sterbebett gelegt hat und nur noch Leute um sich sammelt, die der sterbende Kirche einreden: Alles nicht so schlimm, diese Kirche besteht schon weiter. Der liebe Gott hat doch persönlich diese Kirche gewollt.
Nur ein Beispiel aus Polen: Der Jesuit und Therapeut Jazek Prusak äußert sich über den aktuellen Zustand der Katholischen Kirche in Polen, also dem Land, das immer als absolut treu – katholisch galt und das sich wegen des Polen Johannes Paul II. einredete, etwas ganz Besonderes zu sein. Dabei ist die Dummheit, auch die materielle Gier vieler polnischer Bischöfe längst bekannt und in den Medien präsent. LINK. Der genannte Jesuiten -Pater Prusak gibt also zu der Aussage des Journalisten: „Manche Publizisten und auch Politiker sagen, dass jetzt ein frontaler Angriff auf die Kirche stattfindet“ diese Antwort: „Das ist eine Verteidigungsreaktion. Das sagen diejenigen, die es nicht zu echten Reformen in der Kirche kommen lassen wollen. Was ist das für ein Angriff auf die Kirche, wenn wir uns in der Kirche mit den Opfern der Kirche befassen? Wir haben es mit der größten Krise in der Katholischen Kirche seit der Reformation zu tun, eine Krise, die wir auf eigenen Wunsch geschaffen haben. Es sind doch keine Außerirdischen, die Kinder in der Kirche missbrauchen, noch tragen ihnen dies die Feinde der Kirche auf! (Quelle: https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/239/das-gericht-kommt-anna-goc-und-artur-sporniak-im-gespraech-mit-dem-priester-und-psychotherapeuten-jacek-prusak-sj/

15.
Diese Kirche klerikaler Herrschaft (die sich bis heute offiziell lobt, nicht demokratisch zu sein!) zerstört sich selbst gerade durch ihre klerikale Herrschaft. Diese Kirche verschwindet langsam…Ist dieser Gedanke skandalös? Für Fundamentalisten vielleicht, für andere nicht. Die Kirche in Nordafrika ist etwa im 8. Jahrhundert verschwunden, durch die aggressive Mission des Islams. In manchen Regionen Frankreichs, wie in Guéret, Département Creuse, ist die Kirche de facto verschwunden, das gilt auch für Barcelona oder Amsterdam usw…

16. Eine Auferstehung des Glaubens?
Ist der Gedanke an eine sterbende Kirche in Europa so unangenehm, wenn man denn theologisch – spirituell an die Dialektik glaubt, dass aus dem Tod dieser Kirche wieder neues Leben einer einfachen, jesuanischen Kirche entsteht? Ist der Glaube an Tod und Auferstehung nur auf die einzelnen Menschen bezogen oder gilt er auch für Kirchen – Institutionen?

17.
Die Frage ist: Wird es ich Menschen geben, angesichts des Zusammenbruchs, des Verschwindenden der Kirche, die den einfachen Lebensweisungen Jesu von Nazareth persönlich folgen wollen, weil sie ihn als einen Lehrer der Weisheit schätzen lernen? Wo wird es Schulen der Spiritualität geben, in denen die Psalmen oder die Weisheitsbüchern und Prophetenbücher der Bibel studiert und meditiert werden oder auch die buddhistischen Weisheiten oder Aspekte der Philosophien usw. Werden die spirituell Interessierten die Kraft haben, selbst spirituelle Gesprächsgruppen einzurichten? Wird es gelingen, in einer neuen freien Spiritualität das Leben zu verstehen, Gesellschaft kritisch zu betrachten, Widerstandsreserven gegen Hass und Krieg aufzubauen?

18. Ein Hinweis auf Friedrich Nietzsches treffende Prognosen:
Friedrich Nietzsche erzählt in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ vom „tollen Mann“, der die Frage stellt: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen: Wir haben ihn getötet, ihr und ich“. Dann heißt es weiter im 3. Buch der Fröhlichen Wissenschaft“, Nr. 125 am Ende: „Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«. Der tote Gott wird also nicht in den Kirchen(gebäuden) ausgestellt
Der niederländische Augustiner Robert Adolfs hat diesen Gedanken weitergeführt und vor vielen Jahren das Buch mit dem Titel geschrieben: „Wird die Kirche zum Grab Gottes ?“ Die Frage kann heute durchaus mit Ja beantwortet werden: Der Gott der Kleruskirche und der hierarchischen Herrschaft und des Fundamentalismus ist, in ein Grab gesperrt, tatsächlich gestorben. LINK

19.
Aber: Es könnte auch der göttlichen Gott, der Gott über diesem begrenzten Gott zu entdecken sein: Und der/die/Es ist das namenlose Geheimnis des Lebens, eine Art Schöpfer der Welt, Ursprung des Menschseins in seiner Freiheit und damit Ursprung der Transzendenz – Erfahrungen. Wer sich daran halten kann, hat schon viel gewonnen in seinem Leben. Er/sie ist religiös, ist christlich in einer großen geistigen Weite der Toleranz, er /sie spürt, erlebt und denkt einen tragenden Grund im Leben: Daraus kann Zuversicht „trotz allem“ entstehen, Hoffnung vielleicht und Kraft zum Widerstand gegen kriegerische, mörderische Situationen in der Welt.

20.
Eine einfache Religion, ein einfaches Christentum ohne Hierarchien und Klerus könnte entstehen, mitten im Leben des säkularen Alltags, das da nach dem Tod der altgewordenen Kirchen entsteht. Darf man in der Weise darüber nachdenken? Selbstverständlich. Leider tun das wenige, auch so wenige, die sich Theologen nennen. Dietrich Bonhoeffer hat darüber nachgedacht, wenige Wochen vor seiner Hinrichtung durch die deutschen Nazi – Verbrecher.

21. Menschenrechte als Grundlage der Kirchenlehre
Die klein und sehr klein werdenden Kirchen brauchen zu ihrem Neustart, einer Auferweckung post mortem, nicht nur die historisch – kritische Lektüre der Bibel. Sie brauchen die regelmäßige Lektüre und die daraus folgende Praxis der universal geltenden MENSCHENRECHTE in der Erklärung von 1948. Diese Menschenrechte sind alles andere als eurozentrisch, sie sind nicht neu – kolonialistisch. Sie entspringen dem richtigen Geist der philosophischen Aufklärung. Auch wenn die Menschenrechte von unfähigen Politikern so oft ignoriert und missbraucht wurden und werden: Sie haben in sich die Fähigkeit der weiteren Entwicklung zugunsten der Menschheit, sie sind der Basistext für eine Menschheit, die überleben will.

Die Kirchen sollten die Menschenrechte als Teil ihrer wertvollen Schriften achten und neben die üblich für heilig gehaltenen Mythen der Bibel stellen. Auch die Menschenrechte haben eine heilige Aura… Siehe dazu ein Interview mit dem protestantischen Theologen Prof. Wilhelm Gräb: LINK

Fußnote 1 zur Schließung der Berliner St. Albertus – Magnus – Kirche.
Die eher alten Gottesdienstteilnehmer müssen also rund 2 Kilometer zur nächsten katholischen Kirche laufen, fahren, humpeln, wie auch immer. Der Grund für die Schließung: Es gibt keine Priester, die die Messe in St. Alberts Magnus dort lesen können, bisher haben sehr alte pensionierte Priester noch „ausgeholfen“, aber sie haben keine Kraft mehr. Und es gibt kein Geld für eine Sanierung der Kirche. Nebenbei: Für die Renovierung der Hedwigskathedrale in Berlin -Mitte stehen 43 Millionen Euro bereit – auch staatliche Gelder! – sowie mehr als 20 Millionen Euro für den Neubau eines Kirchenzentrums “Lichtenberg-Haus” direkt neben der Kathedrale. (Quelle: Tagesspiegel 2.11.2023, Seite B 9).

Und auch dies: Im aktuellen Gemeindeblättchen der Groß – Gemeinde St. Ludwig wird die Schließung der Alberts Magnus Kirche mit keinem Wort erwähnt. Es wird nur vermerkt: Am 26.11. 2023 findet um 8.30 Uhreine Messe des Kaplans dort statt. Kein Kommentar. Dann ist Schluss, basta. So geht eine sterbende Klerus – Kirche mit den noch verbliebenen Mitgliedern um…Bürokratisch halt, wie allzu oft. (Quelle: https://www.pfarrei-deutschland.de/pfarrbrief/?pariCode=HGNHUEJQ)

Fußnote  2. Zur aktuellen Erfahrung der Kölner katholischen Gemeinde St. Peter:
Der Ausgangspunkt: Mit 522.821 Katholiken, die 2022 aus der Kirche austraten, wurde der bisherige Rekordwert aus dem Jahr 2021 deutlich überschritten.
„Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: 2022 haben mehr als 20.000Kölner*innen ihre Kirchenmitgliedschaft gekündigt, in NRW eine Steigerung der Austritte um 44 %. Das einst ‚Hillje Kölle‘ und das Katholische Rheinland sind definitiv Geschichte. In der BRD sind erstmals weniger als 50% der Gesamtbevölkerung Mitglied einer Kirche. Menschen ziehen einen Schlussstrich und wollen sich nicht mit einer Kirche identifizieren, der man nicht vertrauen kann. Ist es die Botschaft oder der Apparat? 2022 haben 90 Menschen aus Sankt Peter die Kirche verlassen: 30 Personen, die im Pfarrgebiet wohnen, und 60 Personen, die in unserer Kirche getauft wurden. Neun Taufen stehen im vergangenen Jahr neun Bestattungen gegenüber. Sicher ist es ein Zeichen der Ermutigung, wenn 2022 in Sankt Peter 40 Kinder und Jugendliche durch Taufe, Kommunion und Firmung Schritte der Eingliederung in die Kirche gegangen sind. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Sozialgestalt dieser Kirche stirbt, und zwar rasant. Trotz der zurzeit wachsenden Zahl der Gottesdienstbesucher*innen in Sankt Peter hat auch unsere Gemeinde wertvolle Frauen und Männer verloren. Sie gehen uns ab, sie fehlen. Wer sich als unter 60 Jährige*r in einen Gottesdienst verläuft, ist Minderheit. Einerseits sind diese nüchternen Fakten nur Statistik, die die vielfältige und vitale Lebenswirklichkeit unserer Kunst , Gottesdienst und Musikgemeinde nicht wirklich abbildet. Andererseits können diese Daten nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas im Argen liegt und schief läuft. Schuld an der Misere ist jedenfalls nicht bloß der bischöflich beklagte Glaubensverlust oder der Trend der Säkularisierung. Nein, in der Kirche herrschen handgreifliche Missstände. Das berührt auch den inneren Lebensnerv unserer Gemeinde und mich als Seelsorger…“
Quelle: SANKT PETER KÖLN Kirche der Jesuiten __ Kunst-Station __ Rubens-Kirche. Gemeindebrief Nr. 1/2023 _____ 5.2.2023, ein Auszug eines Beitrags von P. Stephan Kessler SJ.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, www.religionsphilosophischer-salon.de

 

 

 

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.