Wo finden wir Halt?
Von Christian Modehn am 17.3.2020
Diese Hinweise gehen auf Gespräche im Religionsphilosophischen Salon Berlin am 23.3. 2018 zurück. Siehe auch den Beitrag “Lob der Langeweile. Von der leeren Zeit zum Lebenssinn”.
Viele Menschen haben den Eindruck, angesichts schlimmer und bedrohlicher Erfahrungen heute, den seelischen und geistigen HALT zu verlieren: Inmitten der Corona – Pandemie, aber auch in der tatsächlich schon dauerhaften Krise durch kriegerische Aggressionen, nationalen Egoismus, Rechtsextremismus, Ignoranz gegenüber dem Klima oder sozialer Ausgrenzung, bedingt durch die wirklich horrende zu nennende ungleiche Verteilung des Eigentums usw….
Was früher religiös „stützte“ und Halt in aller Not bot, ist heute für viele zerbrochen und entschwunden. Man meint, seelisch und geistig heillos ins Schwanken und Wanken gelangt zu sein.
Die entscheidende Beobachtung ist: Wer nach Halt sucht, meint den „Sinn“. Und diese Suche gehört, möchte ich sagen, zum Wesen des Menschen. So dass jeder Mensch förmlich einen Anspruch hat, für sich selbst nicht nur einen Halt zu suchen, sondern auch zu finden. Selbst der Hungernde denkt noch über sein materielles Überleben hinaus. Er weiß, dass er einen Anspruch hat, in seinem Leben Halt, Sinn, (nicht nur Speise) zu finden. Sondern auch Gerechtigkeit, die erst den umfassenden Halt für ihn bieten könnte.
Die Frage nach dem Haltfinden gehört offenbar zur „Struktur“ des menschlichen Geistes und der Seele.
1.
Eine Alltags – Erfahrung:
Wenn wir menschliches Leben im Alltag als Unterwegssein verstehen und nicht als „Zustand“, sondern als dauerndes Suchen und Sich Orientieren, dann brauchen wir dabei immer auch Halt und Stütze. Und wir deuten diesen Halt, diese Stütze, nicht schon sofort als Fremdbestimmung oder als Einmischung in unser individuell freies Leben: Etwa beim Anstieg oder Abstieg in schmalen Treppen, etwa bei Turmbesteigungen: Da greifen wir nach dem Geländer; brauchen wir stützende, Halt gebende Sicherheit. Oder beim Bergbesteigen, da benötigen wir Stützen, Seilschaften… Leitplanken/Schutzplanken sind auf abschüssigen Autostraßen not-wendig und sehr hilfreich. Wer auf Dauer FREI laufen und FREI leben will, sucht auch Halt. Wer hingegen wie auf einer Schiene läuft – oder auf eine Schiene gesetzt wurde – und so sein Leben förmlich von anderen bestimmen und „leben lässt“, fragt nicht mehr nach einem Halt. Er hat ihn ja „vorgegeben“ und will diesen zwingenden, nicht frei gewählten Halt – aus Angst, Bequemlichkeit – nicht aufgeben. Ein solches “fixiertes” Leben ist nicht auf der Höhe eines reifen Daseins.
Die Suche nach Halt bestimmt uns dauernd, auch wenn wir uns an “Halte-Stellen” aufhalten. Aber an Haltestellen verweilt man nur kurzfristig. Aber sie sind Orte für Denk – Pausen.
Die Frage nach Halt ist förmlich eine Ehre für den freien, suchenden, fragenden Menschen. Diese Frage und das Suchen nach Halt sind also nichts Krankhaftes.
2.
Ein Buch von Hannah Arendt hat den Titel „Denken ohne Geländer“.
Diese These hat zur Voraussetzung: Denken schützt sich selbst, weil es sich selbst prüft und alles Gegebene vor „den Richterstuhl der Vernunft bringt“ (Kant) bringt, also auch alles kritisch prüft, was im Denken und durch das Denken als geistiger Halt erreicht werden kann. Denken erzeugt also nicht-materielle, d.h. unsichtbare, geistige Geländer. Das kann die Klarheit im Denken sein, der Respekt für Logik und Differenzierung. Es gilt nur, diese kritische Prüfung und das selbstkritische Fragen beständig zu pflegen. Dann werde ich in einen neuen Denkraum geführt, der sich zu einem neuen weiten Raum des Lebens weitet… und zur Aufgabe bisheriger Stützen und Halte aufgefordert.
3.
Was zeigt sich als Halt, das sich im Denken und Erfahrungen offenbart?
Wir können Halt nur finden bei etwas, das über den momentanen Gebrauch, kurzfristig oder zerbrechlich, hinausreicht. Was also insofern „erhaben“ ist. Ich will damit nicht sagen, dass das, was Halt gibt, immer schon „das Ewige“ ist. Aber es muss auch etwas anderes sein als das Greifbare und Sich – Schnell – wieder Auflösende und Schnell-Verschwindende. Konsumgüter sind meist Wegwerfprodukte, sie bieten keinen dauerhaften Halt. Also, Halt bietet etwas oder jemand, das bzw. der (die) mich für eine gewisse Zeit begleitet, mit mir geht, mit mir lebt, neue Perspektiven von Dauer erschließt. “Woran man sich halten kann”! Das kann auch eine schöne, immer wieder gehörte geliebte Musik sein, ein Kunstwerk, Literatur, Menschen, Freunde. Die uns Halt gebende Gemeinschaft von Menschen, die sich um einen reifen Umgang mit einander bemühen.
Damit ist keineswegs bestritten, dass in Situationen materieller und gesundheitlicher Not, eben das unmittelbar hilfreiche Materielle, etwa Medizin, wieder neuen Halt im Leben gibt. Aber die Frage nach dem dauerhaften Halt, selbst dann, wenn materielle Nöte behoben sind, die bleibt. Und es ist wohl so: Menschen, die diesen geistigen Halt gefunden haben, sind in der Lage, auch in Situationen der Gefahr menschlich zu handeln.
Halt ist für uns eben tatsächlich etwas Bleibendes, das sich als einzelnes Bleibendes natürlich im Laufe der Geschichte unseres Daseins je neu zeigen kann…
4.
Warum erschließen Stimmungen einen Halt im Leben?
Wie ist dann etw die Stimmung der Melancholie?
Es gibt eine lange Geschichte der Melancholie-Forschung, vielleicht zentral schon bei Aristoteles, in den „Problemata physica“. Darin fragt Aristoteles eher rhetorisch: „Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder in den Künsten als Melancholiker?“ Warum wohl: Weil diese Stimmung der Melancholie über das oberflächliche Dahinleben in die Tiefe des eigenen Daseins führt. Melancholie vermittelt ja immer die Erfahrung, dass ich mit meinem jetzigen Zustand nicht zufrieden bin; dass es anderes gibt als die Gestalt dieses momentanen Lebens. Oft wird dieses andere, bessere Leben in der Vergangenheit gesucht. Oder es wird erträumt in ferner Zukunft. Der Melancholiker kann nicht behaupten: „Dieses Leben ist so, wie es jetzt ist, immer sinnvoll und schön und sollte auch so, wie es jetzt ist, immer bleiben“. Es gibt also einen versteckten, oft impliziten Willen zur Veränderung im Melancholiker, eine Suchbewegung nach einer Wahrheit, die größer sein sollte als die gegenwärtige, bene als unvollvollkommen erlebte Alltags – Wahrheit.
Trauer hingegen ist fixiert auf ein Ereignis, auf einen Verlust etwa eines Menschen. Trauer kann nachlassen, vielleicht verschwinden, weil wir den verlorenen Menschen in einer neuen nichtweltlichen (göttlichen) Wirklichkeit wissend glauben…
Melancholie aber hält an. Sie ist eine oft dem einzelnen gar nicht bewusste, dunkle, manchmal schmerzhafte Beziehung zur Wirklichkeit. Im Unterschied zur Depression als Krankheit bietet Melancholie die Chance, zur tieferen Wirklichkeits- Erfahrung zu kommen. Und damit auch wieder zu einer Lebensfreude… Melancholie ist etwas Gesundes!
5.
Durch die Wahrnehmung unserer Stimmungen werden wir in die Tiefe unseres Daseins geführt. Und können so Halt finden.
Wir sind in Tiefe unseres geistigen und seelischen Erlebens über alle Oberflächlichkeiten des Alltags immer hinausgewiesen. Martin Heidegger hat in seinem Buch „Sein und Zeit“ (1926), dann aber auch in den Vorlesungen „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ (1929) gezeigt: Stimmungen haben einen offenbarenden, einen erschließenden Charakter, wenn der Mensch die Tiefe seines Daseins ausleuchten und verstehen will. Die Vorlesungen über die „Grundbegriffe der Metaphysik“, sind, geschrieben vor der viel besprochenen philosophischen „Wende“ im Denken Heideggers um 1933, anregende und mitvollziehbare philosophische Vorlesungen. Hier finden sich auch die viel beachteten philosophischen Analysen zur Langeweile.
Wenn wir fragen: Wie gelangt der Mensch, das Dasein, zur tieferen Seins – Erfahrung: Dann ist die überraschende Antwort Heideggers in Sein und Zeit: Durch die Stimmungen: „In den Stimmungen wird das Dasein vor sein Sein (also seine unverfügbare Tiefe) gebracht“. (Heidegger, Sein und Zeit, S. 134).
Stimmungen und Gefühle werden insofern von Heidegger philosophisch aufgewertet. Sie sind „Organe des Erkennens“. Aber Heidegger wehrt sich dagegen, dass nun Philosophie in ihrem Respekt für Stimmungen ins Irrationale der Stimmungs-Begeisterung sich drängen lässt.
Er sagt: Immer ist der Mensch irgendwie gestimmt. Uns prägen immer schon Stimmungen. Sie sind immer meine Befindlichkeit. Besondere Stimmungen überkommen uns, sie stellen sich ein, sie überfallen und beschleichen uns, wie Heidegger sagt. Wir sind nicht Herr dieser Stimmungen. Unsere Selbstbestimmung ist insofern eingeschränkt.
6.
Langeweile ist eine Stimmung, die „man“ durchlebt, wenn eine offene Zeit uns überfällt.
Das ist ein Thema der Vorlesungen „Die Grundbegriffe der Metaphysik“. In der Langeweile werde ich konfrontiert mit der unabwerfbaren Tatsache, dass ich in die Zeit gestellt, förmlich in die Zeit verfügt bin, also in einer Art Zeitlinie unausweichlich bin. Diese Zeit bin ich gewohnt auszufüllen durch allerlei Aktivitäten. Wenn es dann unvorhergesehen Momente gibt, in denen es für mich nichts zu tun, nichts mehr zu machen gibt, dann entsteht eine „Leere“ in mir. Dann falle ich förmlich ins Bodenlose. Ich habe den üblichen Halt, meinen alltäglichen Zeit – Rhythmus verloren. Ich stehe orientierungslos da.
Heidegger meint: Diese Leere, die sich in der Langeweile zeigt, sollte ich nicht überspielen, nicht verdrängen, sondern als Chance nützen, denn sie offenbart mir die Tiefendimensionen meines Daseins! Ich sollte also etwa fragen: Was ist eigentlich Zeit? Was ist „meine Zeit“? Warum will ich bloß immer die gegebene Zeit füllen, „voll stopfen“? Warum möchte ich im Gefühl einer für mich jetzt leeren Zeit diese nun frei für mich angebotene Zeit gleich „totschlagen“. Diese Alltags-Sprache sagte alles, wie ich mich meiner Lebens – Zeit gegenüber selbst als aggressiv verhalte…
7.
In der Stimmung (Melancholie oder Langeweile) kann ich, wenn ich die Stimmung aushalte, also auch reflektiere, in die Tiefe des Daseins geführt werden.
Vielleicht zeigt sich da inmitten der Suche ein Halt: Der Mensch kann sich selbst dann verstehen: Es gibt etwas ihn Übersteigendes, Größeres, Tieferes. Der Mensch ist mit diesem in seinem Geist, in seiner Seele, eng verbunden. Das sind, wie so oft in der Philosophie, hilflose Begriffe, die über das Greifbar – präzise „wissenschaftlich“ Sagbare hinausweisen. Aber Menschen können auf diese Worte und Begriffe für das Unanschauliche, aber Lebenswichtige, nicht verzichten. Tatsache ist auch: Viele haben diesen Sinn für das Nicht – Anschauliche verloren.
Man merkt, wie schwer es ist, das Sein angemessen sprachlich auszudrücken. Dieses Größere ist „im“ Menschen, aber es ist nicht Werk des Menschen. Heidegger spricht vom Sein, das der Mensch versteht und in dem er sich, das Sein verstehend, immer schon bewegt: Das Sein erschließt sich dem Menschen, er „IST“ Da – Sein. Der Mensch ist DA — SEIN. Das Sein ist in ihm „da“. Als Gabe, als das vom Menschen Nicht – Gemachte.
Das Sein ist das nicht Manipulierbare, das Nicht Zu-Umgreifende, also nicht Zu Definierende. Dieses nicht definitorisch exakt Sagbare ist aber das alles Prägende und im Dasein das Stützende. Es offenbart sich in der Stimmung.
Stimmung erkennen und Haltfinden gehören also eng zusammen.
8.
Wenn der Mensch sich auf etwas stützen will, das dauerhaft Halt bietet: Dann ist es genau das Nicht Verfügbare, das Nicht Dinghafte, sondern z. B. „das Sein“.
Religiöse Menschen sprechen von dem ebenfalls niemals dinglich zu verstehenden Gott, dem Göttlichen. Also dem, der im Innern des Menschen, in Geist und Seele, als das Ewige lebt. Oder jener Gott, den die Menschen, sprachlich hilflos, dann doch beim Namen anrufen und nennen, als den großen Gott, der in der Wüste des Lebens … Halt gibt. Als der Ewige, alles Gründende! Mit ihm und in ihm, den göttlichen, nicht dinghaften Gott, finden viele Halt. Als Geborgensein. Als Beschütztsein. Als Getragensein, wie auch immer!
Dies und nur dies ist der wahre Kern von Spiritualität und Religion. Alles andere, alles „Konfessionelle“ und Dogmatische, ist nettes (leider oft belastendes) Beiwerk, oft allerdings störend, weil es den göttlichen Gott verstellt und verdeckt.
9. Dieses alles umgreifende Sein können Menschen je nach ihrer Lebensgeschichte je verschieden, je anders, erfahren und zu Wort bringen.
Es kann Gott, ewige Natur, Buddha, Jesus usw. Immer aber muss es etwas sein, das den Charakter des Ungreifbaren, aber Umgreifenden hat. Ohne solche paradoxen Formulierungen kommen wir in der denkenden Lebensorientierung kaum weiter.
Dieses Stützende und Halt Gebende ist förmlich wie ein dinglich ungreifbares “Nichts” gegenüber der Dingwelt.
10.
Wer Halt sucht in seinem Leben, sollte sich nicht festklammern an Ideologien und offizielle Wahrheiten.
Er (oder sie) sollte das Fragen aushalten, die eigenen Fragen! Natürlich zeigen sich dann jeweils verschiedene Antworten. Aber diese Antworten rufen nur wieder weitere Fragen hervor: Das ist das Leben des Geistes!
Das Fragen befragt sich selbst und entdeckt dabei die Kraft des lebendigen Geistes, der über alle einzelne Fragen, selbst über die Skepsis, erhaben ist. Die umfassende Skepsis betrachtet nämlich die Skepsis selbst noch einmal skeptisch und gelangt so über eine dogmatische Skepsis – Bindung hinaus. Und diese Lebendigkeit des Geistes ist sicher das einzige, was Halt gibt und unerschütterlich fest ist in unserem Leben: Getragen sein, belebt sein, von der ewigen Lebendigkeit des Geistes und von den immer relativen Antworten, die zu neuen, aber wieder nur vorläufigen Antworten leiten: Das ist die Größe des Menschen, auch des religiösen Menschen.
Dieser tragende Lebenssinn, dieser Halt, erschließt sich, gerade dann, wenn alle Bilder Gottes, die man als den Lebenssinn deutete, verschwinden. Und nach diesem (persönlichen) „Bildersturm“ bleibt, wie der niederländische Theologe Koen Holtzapffel (Rotterdam) sagt, eigentlich nur Leere. „Man kann es Leere nennen, aber dann vielleicht eine wohltuende Leere, das Flüstern einer sanften Brise, die man genießen kann als Schönheit einer leeren Landschaft“ (ebd.)
Koen Holtzapffel beschließt sein inspirierendes Buch „Hou-Vast“, Meinema Verlag, Niederlande): „Leere schafft auch einen mystischen Raum, ohne einen vorstellbaren und voraussagbaren Gott“.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.