Bei der Endlichkeit stehen geblieben. Hinweise zum Philosophen Odo Marquard
Von Christian Modehn
Sein Tod hat die breite Öffentlichkeit kaum berührt. So ist es heute in Deutschland, wenn Philosophen sterben, selbst wenn sie sich in ihren Essais um allgemeine „Erreichbarkeit“ ihrer Argumente bemühten, also durchaus eine gewisse „Öffentlichkeit“ bedienen wollten. Odo Marquard hat die meisten seiner Texte, durchaus bezeichnend für ihn, im (populären) Reclam-Verlag Stuttgart (in den griffigen gelben Heften zu erschwinglichen Preisen) publiziert. Er wollte wohl heraustreten aus dem Elfenbeinturm, in dem sich so viele Philosophieprofessoren in Deutschland heute verstecken und ihre Bücher eher für Fachkollegen als für kulturell Interessierte, Philosophierende, schreiben. Marquard wollte kein philosophisches Getto. So wurde er direkt oder indirekt inspirierend bei der Einrichtung philosophischer Praxen und philosophischer Salons, also jener Orte, in denen das philosophisches Denken, eben das elementare Philosophieren, belebt wird. Es ist sicher bezeichnend, dass Gerd B. Achenbach, der Gründer der ersten philosophischen Praxis in Deutschland (1982 gegründet!), bei Odo Marquard in Gießen promoviert wurde. Und es ist weiter bezeichnend, dass man Marquards zahlreiche Essais („Ende des Schicksals“, „Philosophie des Stattdessen“, „Zukunft und Herkunft“, um nur einige zu nennen) mit der nötigen Konzentriertheit, aber doch eben als bloß Philosophierender noch mühelos lesen konnte, eben weil sie in jede Jackentasche passten, auf Reisen, in Wartesälen, auf Parkbänken…Dabei waren seine Gedanken alles andere als „leichte Kost“, schon gar nicht philosophisches fast food, auch wenn Marquard oft locker und ironisch, manchmal gar an der Grenze des Albernen formulierte: Er war alles andere als ein „Populärphilosoph“, auch wenn er, wie gesagt, nachvollziehbar schreiben konnte und schreiben wollte. Am 9. Mai ist der vielfach ausgezeichnete „Transzendentalbelletrist“, wie er sich selbst nannte, im Alter von 87 Jahren gestorben: Odo Marquards hat immer Wert darauf gelegt, Schüler des Philosophen Joachim Ritter zu sein, tausend mal hat er davon gesprochen, um immer nur klarzumachen, dass er einem konservativen Denken verpflichtet sei und deswegen nichts von den Veränderern, den linken „Revoluzzern“ schon gar nichts, halte. Seine ironisch formulierte Polemik gegen den Philosophen und Soziologen Jürgen Habermas war heftig (und falsch in unserem Sinne). Marquard selbst publizierte eine „Apologie der Bürgerlichkeit“, das war wohl für ihn eine Variante einer bei ihm konservativ verstandenen Skepsis.
Ich habe etliche Essais von Marquard dann doch gern gelesen, weil sie eben sprachlich hübsch waren und schnell zum Widerspruch reizten: Man denke etwa an seine Warnung vor dem Willen, vieles zu verändern in der Gesellschaft: Die Beweislast, dass die veränderte Situation besser ist als die gegenwärtige, trage der Veränderer, so Marquard, darin durchaus beruhigend fürs Bestehende eintretend und darin eben der skeptischen Tradition verpflichtet. Damit wollte er warnen vor allzu heftiger Gesellschaftskritik, vor der Bindung an Utopien, überhaupt an Hoffnungen, dass „es später doch einmal besser werden muss“. Diese These hat mir nie eingeleuchtet: Weil doch das Leiden so vieler Menschen an dieser Gesellschaft so groß ist, dass diese Unerträglichkeit doch überwunden werden muss! Und die Leidenden schreien ja förmlich danach. Die neue, andere Situation kann nicht noch schlimmer sein als die gegenwärtige, sagten mir Slumbewohner in Santo Domingo. Da zeigt sich ohnehin die strukturelle Begrenztheit des Denkens von Odo Marquard: Er dachte im Horizont des alten Europa, vielleicht des alten Deutschland, der Bundesrepublik: Globalisierung und Elend in der Dritten Welt und Ökologische Katastrophen und Rechtsextremismus und Islam und so weiter und so weiter kamen bei ihm nicht vor. Er war in meiner Sicht doch der biedere Philosoph, irgendwie auch der etwas brillante Schöngeist, der mit seinen Essais durchaus seine klassische philosophische Kompetenz zeigte, aber doch in der bürgerlich-konservativen Welt befangen blieb.
Nebenbei: Meines Wissens hat Odo Marquard bei seinen ständigen Hinweisen und Lobeshymnen auf seinen hoch verehrten Lehrer Joachim Ritter in Münster niemals daran erinnert, dass dieser Ritter (offenbar in der Jugend ein Kommunist) am 11. November 1933 zu den Unterzeichnern des Bekenntnisses der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat gehörte; und dass Ritter 1937 in die NSDAP, die NS-Studentenkampfhilfe, den NS-Lehrerbund und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eintrat. Diese „Herkunft“, auch so ein Lieblingswort Marquards, wurde von ihm nicht thematisiert. Marquard war eben dann doch kein konsequenter Aufklärer, denn Aufklärung war ja auch nicht gerade seine Lieblingsphilosophie.
Man hat trotzdem Marquards Essais gern gelesen, weil sie zum Widerspruch aufforderten! Marquard selbst hat ja die von ihm betriebene Skepsis als „Zerstörung von Zustimmungen“ beschrieben (in „Skepsis und Zustimmung, 1994, Seite 10). Und das konnte man bei ihm lernen. Sein Insistieren auf der „endlichen Endlichkeit“ war schon penetrant und in meiner Sicht unphilosophisch-unkritisch, selbst wenn Marquard förmlich als Entschuldigung beteuerte, von Hegels Denken sich abgewandt zu haben: Aber es tut trotzdem gut an Hegel zu erinnern und ist von der Sache her wohl geboten, dass Endlichkeit ALS Endlichkeit eben nur in dem Darüberhinaussein, also im Transzendieren, überhaupt nur sein kann. Wir sind also als Endliche immer schon ins Unendliche einbezogen. Aber davon wollte Marquard partout nichts wissen: Er wollte die ins einer Sicht prinzipielle Endlichkeit unseres Daseins und Denkens dadurch erträglich machen, dass er diese prinzipielle Endlichkeit aufteilte, in viele kleine Endlichkeiten, um so das Leben noch im Alter – kurz vor dem Tode – halbwegs erträglich zu machen: „Endliches zeigt sich als das Menschliche nicht dadurch, dass es aufhört, das Endliche zu sein, sondern dadurch, dass bekräftigt wird, dass es das Endliche ist. Endliches wird humoristisch nicht durch Unendliches, sondern durch anderes Endliches distanziert, in dem man – sozusagen – die Endlichkeit auf die Schultern möglichst vieler Phänomene verteilt: Geteilte Endlichkeit ist lebbare Endlichkeit.“ (IN „Endlichkeitsphilosophisches“. Über das Altern. Hrsg. v. Franz Josef Wetz. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 2013)
Dieser Vorschlag, hübsch formuliert, klingt wie eine verhaltenstherapeutische Weisung, er löst aber nicht das philosophische Problem der in jeder Endlichkeitserfahrung eben mit-gegebenen Unendlichkeitserfahrung: Da war der ebenfalls kürzlich verstorbene große Philosoph Michael Theunissen (Berlin) sehr viel reflektierter und sehr viel gründlicher im Denken als unser „Transzendentalbelletrist“. (Nebenbei: Auch an den großen Michael Theunissen wurde leider kaum erinnert).
Inspirierend, aber eben zur Kritik inspirierend bleibt auch der Essay Marquards „Lob des Polytheismus“ von 1978, der zweifellos eine gewisse Breitenwirkung hatte. Dort deutet er – durchaus kreativ, das wollte er ja immer sein – die demokratische Gewaltenteilung als „entzauberte Wiederkehr des Polytheismus“ und behauptet, das Individuum als Individuum könnte im Monotheismus gar nicht entstehen (in: „Abschied vom Prinizipiellen“, 1981, Seite 108). Da wird dann die später in rechtsextremen Kreisen (der Neuen Rechten, der nouvelle droite in Frankreich etwa) verbreitete These in Umlauf gebracht: Der Mensch müsse im Monotheismus „dem einzigen Gott nur parieren“, wie es Marquard polemisch ausdrückt. Dass durch die Vorstellung des einen Gottes die Menschen als gleichwertige „Menschheitsfamilie“ gesehen werden, dass also im Einheitsdenken die Menschenwürde eines jeden einzelnen gerettet wird und also im Monotheismus der Ursprung der Menschenrechte liegt, all das kann und will Marquard in seinem „Lob des Polytheismus“ nicht sehen und zugeben. Es mag wie ein (schwerer) faux-pas erscheinen, dass Odo Marquard in dem Beitrag ein paar Zeilen später in Hinweisen zur Mythenrezeption (Seite 109) in einem Atemzug „Roland Barthes und Alfred Baeumler“ einfach so hintereinander nennt: Als wäre Alfred Baeumler ein gleichermaßen kritischer und wichtiger Kopf wie der große Roland Barthes. Es wird nicht mit einem Wort erwähnt, dass der (sachlich wohl unnötigerweise) zitierte Alfred Baeumler der führende und prominente Kopf der Nazi-Philosophen war. Er gehörte zu den wenigen NS Philosophen, die nach 1945 nicht an eine deutsche Hochschule zurückkehrten. Muss Marquard wirklich dann in Fußnote 32 auf eine Arbeit Baeumlers hinweisen? Ohne weiteren Kommentar?
Trotz aller Kritik: Die Essais von Marquard bleiben (manchmal leicht) lesbar, trotz aller Egozentrizität mancher Formulierungen und der gewollt witzigen Bonmots. Marquards Essais, er schrieb ja eigentlich nur Essais, also in gewisser Weise kurze Studien, vielleicht manchmal auch Fragmente, bleiben inspirierend, gerade weil sich an ihnen so schnell der Widerspruch, das Nein, entwickelt.
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.