Selbstbestimmung – ein Projekt, das niemals an ein Ende kommt
Von Christian Modehn
„Was wäre ein selbstbestimmtes Leben?“
Die folgenden Hinweise gelten für das Gespräch im Religionsphilosophischen Salon am 19. 10. 2012, anlässlich der Diskussion des 1. Kapitels des Buches von Peter Bieri: „Wie wollen wir leben?“ (St. Pölten, 2011)
Philosophie reflektiert vor allem –in unterschiedlicher Sprache – das menschliche Leben. Sie zeigt die Grundstrukturen, sozusagen, um ein Bild zu verwenden: Wie das Gebäude des Lebens, auch meines Lebens, im einzelnen „gebaut“ ist, wie der Grundriss ist, die Anlage der einzelnen Räume aussieht, der Zustand der Zimmer. Philosophie macht mich sensibel für meine Sprache und meine Begriffe: Was meine ich wirklich, wenn ich Leben sage oder Wahrheit oder Selbstbestimmung. Philosophie unterbricht mit dieser Besinnung das Gebundensein an den üblichen Lauf der Dinge. Sie erzeugt Gegenwart, lange Dauer der Gegenwärtigkeit des Denkens.
Der erste Vortrag Peter Bieris ist im Konjunktiv formuliert:
Was wäre ein selbstbestimmtes Leben? Der Konjunktiv deutet zumindest die Schwierigkeit der Selbstbestimmung an. Die Schwierigkeit liegt sicher auch in der faktischen Situation heutigen Lebens: Dieses Ausgesetztsein der Werbung und ihren „Erlösung“ versprechenden Sprüchen, die Hilflosigkeit, den alles Denken tötenden Stress zu überwinden, die dogmatischen ideologischen Zwänge, die ungefragt respektiert werden, wie: Erfolg als oberster Wert, „Quantität ist wichtiger als Qualität“, „Arbeit ist wichtiger als Muße“, „ich“ bin wichtiger als die anderen usw. Darin zeigt sich, wie unfrei wir bereits faktisch leben.
Nur einige Hinweise zum Begriff Selbstbestimmung.
Seit dem 16. Jahrhundert taucht der Begriff auf, schreibt Volker Gerhardt in der „Enzyklopädie Philosophie“, Band 2, S. 2409. Dieser Begriff ist verbunden mit dem Entstehen des Humanismus (Pico della Mirandola, Erasmus von Rotterdam). Noch Luther war noch gegen die Selbstbestimmung in Freiheit (de servo arbitrio). Katholische Dogmatik hat bis heute wenig Vorliebe für Selbstbestimmung. Man beachte, dass noch in dem 8 Bände umfassenden „Herders Theologischen Lexikon“ von 1973, also nach dem 2. Vatikanischen Konzil, kein theologisches Stichwort zur Selbstbestimmung vorkommt; hingegen, wenn man nach einer Wortkombination mit „Selbst“ sucht, lediglich auf einen Beitrag zur „Selbstmitteilung Gottes“ findet. Dafür gibt es in dem genannten angesehenen Lexikon einen ausführlichen Artikel zum Stichwort Gehorsam… wobei allerdings darauf abgehoben wird: Der gehorsame folgsame Mensch sollte erkennen, „dass eine Anordnung dem Wohl des Menschen nicht widerspricht“. (Band 2, S. 384).
Selbstbestimmung ist jedenfalls als Vollzug des Menschen ein moderner Begriff, obwohl die gemeinte Sache, der Vollzug der Freiheit des handelnden Menschen schon in der Antike, etwa bei Aristoteles, reflektiert wird.
Volker Gerhardt weist darauf hin, dass sich in philosophischen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts der Begriff noch gar nicht findet (ebd). Aber ab Mitte des 18. Jh. wird der Begriff Selbstbestimmung dann doch „eine dominierende Denkfigur“ (Gerhardt S. 2411) der europäischen Philosophie und des europäischen Denkens insgesamt; Kant stellt die Selbstbestimmung als zentralen Begriff in die praktische Philosophie. Vorher aber hatte der englische Philosoph David Hume grundlegende Zweifel an der Selbstbestimmung geäußert: Wir Menschen, so meinte er, seien als angeblich vernünftige Wesen doch eher Sklaven der Leidenschaften. Bei Kant kommt es dann zum Eingeständnis: Wir sind zwar heteronom vorgeprägt, können uns aber innerhalb der heteronomen Bindungen doch frei verhalten.
Hegel sah etwa, dass es Momente gibt, wo ich mich gern fremd bestimmen lasse, etwa in der Liebe.
Ich will noch kurz den aktuellen Horizont etwas ausleuchten:
Dass der Begriff und die gemeine Sache heute aktueller denn je sind, zeigen etwa auch die Diskussionen im Rahmen der Bioethik, Stichworte Patientenverfügungen, aktive Sterbehilfe, usw. Und man denke etwa noch an den populären Slogan der Befürworterinnen der Abtreibung: „Mein Bauch gehört mir“, das Motto wurde ausgelöst durch einen Beitrag im STERN im Jahr 1971, wo sich mehr als 300 Frauen dazu bekannten „Ich habe abgetrieben“…
Vor 20 Jahren wurde im Bundestag übrigens das Gesetz novelliert, wonach die Frau und nicht der Arzt entscheidet, ob eine Abtreibung vorgenommen wird…
Nur nebenbei, um noch einmal auf die katholische Szene zurückzukommen: In der Dominikanischen Republik ist aufgrund massiven bischöflichen Einflusses jegliche Abtreibung bis heute verboten. Und in Nikaragua ist aufgrund des politischen Opportunismus der herrschenden Sandinisten heute ebenfalls Abtreibung streng verboten, einfach nur, um der dortigen katholischen Kirchenführung zu gefallen (und sich dadurch katholische Stimmen zu sichern).
Peter Bieri führt uns entschieden zu Frage: Wer will ich sein, wer kann ich sein, wer bin ich…
Wir wollen Regeln selber bestimmen bzw. mit bestimmen. Und dann einsehen: Ja, das sind auch unsere Regeln, auch wenn sie von anderen formuliert wurden.
Wichtiger ist noch: Innere Selbständigkeit.
Wir wollen uns selbst kennen, uns selbst kritisch sehen, unser Selbst dabei sehen.
Wir beginnen unsere Selbstbestimmung nie am Nullpunkt. Wir sind immer schon vorgeprägt… Es gilt, den Sinn für das Mögliche zu entwickeln. Was kann ich noch wollen unter den Bedingungen, unter denen ich (gebunden) lebe. .
Ich mache mich selbst zum Thema: Ich reflektiere. Ich denke mein Denken. Ich denke mein Fühlen. Ich denke mein Tun. Ich beziehe mich auf mich. Das ist der Kern. Denn bei der Reflexion sehe ich, dass ich auch anders denken und handeln könnte. Ich verstehe, wer ich bin, sehe eine Art Selbstbildnis von mir. Kann ich in meinem Tun meinem Selbstbildnis entsprechen?
Das erfordert: Aktivität, „Arbeit“, innerer UMBAU, gegen die innere Monotonie, gegen das Erstarrte.
Monotonie hat etwas mit der Zeit Erfahrung zu tun: Die sich stets wiederholende Zeit, der starre Rhythmus, der krank macht.
Das Hineingestelltsein in die Zeit: Können wir in der Zeit glücklich sein? Herrscht die Zeit über uns? Offenbar haben seelische Erkrankungen mit dem „einseitigen“, kankmachenden Umgang mit Zeit zu tun, etwa in der starren Bindung an (meine) Vergangenheit. Psychotiker etwa beklagen den Stillstand ihrer Lebenszeit, sie erleben diese Zeiterfahrung als Ohnmacht.
Aber müssen wir das unabwerfbare Hineingestelltsein in die Zeit immer negativ, als entfremdend, deuten? Wäre Zeit nicht auch ein eher neutrales Phänomen, ein „neutrales“ „Apriori“ (Kant)?
Die zentrale Frage bleibt: Wie kann ich die „Regie“ in meinem Leben entdecken oder wieder entdecken?
Copyright: Christian Modehn