„Ein Hauch von Transzendenz“: Die Sonntagsfeiern ohne Gott
Von Christian Modehn. (Dieser Beitrag erschien in der empfehlenswerten Zeitschrift PUBLIK-Forum, am 8.5.2015, in einer etwas kürzeren Fassung.)
In den Song „99 Luftballons“ stimmt die Gemeinde voller Inbrunst ein: Mit diesem (etwas angestaubten) “Hit” der achtziger Jahre wird die „Sunday Assembly“ in Berlin eröffnet. 60 TeilnehmerInnen, auch jüngere Menschen, sind zusammen gekommen, interessiert, in dieser Gruppe „das Leben zu feiern“, wie es im Programm heißt. Die meisten nennen sich „nicht-religiös“ oder „konfessionslos“. Aber sie brauchen – wie die Frommen – das Gemeinschaftserlebnis, das „zwecklose Miteinander“, eine Art Sonntagsgottesdienst ohne Gott, zur ausgeschlafenen Zeit, um 14 Uhr.
Zu Beginn erheben sich alle von ihren Plätzen. Einige strecken enthusiastisch ihre Arme in die Höhe, dankbar, dass man hier gemeinsam singen darf. Wie in einer Kirche blicken alle nach vorn. Dort befinden sich weder Altar noch Kerzen oder Bilder, sondern nur ein Tisch, ohne Decke, ohne Blumen sowie ein Pult mit dem Mikro. Von hier aus werden die Ansprachen gehalten, heute über den „Weg der weißen Wolken“ und „Die Reise des Helden“. Die Vorträge werden wie in einer liturgischen Ordnung von Songs umrahmt, dafür tut eine Vorsängerin ihr Bestes.
Wir befinden uns in dem schlichten Sitzungssaal des „Akademischen Verein Hütte“ in Charlottenburg. Hier hat die „Sonntagsversammlung Berlin“ – zur Miete – Unterschlupf gefunden. Sie ist eine Filiale der inzwischen weltweiten Bewegung der „Sunday Assemblies“: Von London aus gesteuert, werden sie in 86 Städten angeboten. Auf dem Flyer der Londoner Zentrale werden die für alle Assemblies gültigen „atheistischen Glaubensprinzipien“ formuliert. Man will „keine Doktrin verbreiten“ und auf „kämpferischen Atheismus“ verzichten, um offen „für alle“ zu sein. Aber sind die „Prinzipien“ kohärent? „Wir glauben nicht an Übernatürliches“. Trotzdem soll auch „ein Hauch von Transzendenz“ in den Alltag wehen“.
Wo kommt dieser „Hauch“ von Transzendenz zum Wehen, fragt sich der Besucher angesichts der vielen bloß gut gemeinten, meist englischen Songs und der eher nüchternen (Volkshochschul-)Vorträge. In der Feierstunde selbst findet die „Pflege der Gemeinschaft“ kaum statt. Das Gespräch etwa mit den Sitznachbarn ist kurz und knapp. Die Teilnehmer dürfen auch nicht spontan zum Mikro gehen. Wie in der Kirche bestimmen einzig die „Liturgen“ das Geschehen. Muss eine Lebensfeier also reglementiert sein?
Schließlich wird auch die Kollekte eingesammelt. Denn die Gemeinde arbeitet ehrenamtlich, erhält von der offenbar finanziell gut ausgestatteten Londoner Zentrale keine Zuschüsse. In den „Vermeldungen“ wird auf weitere Veranstaltungen hingewiesen, etwa einen philosophischen Gesprächskreis und eine Meditationsrunde.
Nach der Feierstunde bleiben einige im Nebenraum bei Kaffee und Kuchen beisammen. Etliche Teilnehmer betonen, unbedingt diese Gemeinschaft zu brauchen und eine gewisse Feierlichkeit außerhalb der Kirchen erleben zu wollen. Einige finden das Motto der Assemblies hübsch: „Lebe besser, hilf öfter, staune mehr“. Was diese Prinzipien im Berliner Alltag bedeuten, wird nicht erläutert. Was nützen sie den Obdachlosen oder den Flüchtlingen?
Um die Organisation kümmert sich in Berlin die Autorin Sue Schwerin von Kroswig. Sie hatte sogar zur „Wintersonnenwende“ eine eigene Veranstaltung vorbereitet. Im Katholizismus groß geworden, hat sie, wie sie sagt, für Rituelles eine gewisse Sensibilität. Von daher wird die Vorliebe für ein rituelles Gerüst, aus der katholischen Messe bekannt, verständlich.
Im September 2014 fanden in Berlin die ersten nicht-religiösen Feierstunden statt; auch in Hamburg ist man erfolgreich. „Wir stehen finanziell ganz gut da“, berichtet der dortige Leiter Rainer Sax. Über seine Gemeinde sagt er: „Unter den Nichtreligiösen sind erstaunlich viele Esoteriker. Wir wissen noch nicht so recht, wie wir damit umgehen“. Wie weit sind rituelle Erweiterungen im Angebot dieser „Gottlosen Kirche“ möglich? Wird es Namensfeiern geben, die den christlichen Taufen nachempfunden sind? Oder Hochzeitsfeiern? In dem Bereich haben die Humanisten schon ihre rituellen Angebote. Der „Humanistische Verband Deutschland“ steht den assemblies wohlwollend, aber nicht gerade enthusiastisch gegenüber.
Die assemblies wurden in London im Januar 2013 von beiden Komikern Sanderson Jones und Pippa Evans gegründet. Jones hat eine schlichte Antwort auf die Frage, nach der inhaltlichen Konzeption: „Wir haben uns die besten Elemente einer Kirche genommen, und lassen Gott einfach weg“. „Aber das ist doch so, als könne man eine Oper aufführen, und die Arien einfach weglassen oder zum Steak Essen einladen und aufs Fleisch verzichten“, sagt ein kritischer Beobachter schmunzelnd, „aber einigen gefällt das“.
Selbst in den so christlichen Vereinigten Staaten kommt die Assembly Idee gut an. Dort gibt es aber die ersten Abspaltungen vom „Mutterhaus“ in London: Viele Gottlose dort sind nicht bereit, den offenbar universal vorgeschriebenen Weisungen des Gründer-Pärchens zu folgen.
Werden die assemblies trotz ihrer doch eher oberflächlichen Botschaft bzw Inhalte und trotz ihrer doch äußerst bescheidenen „Riten“ erfolgreich sein? Die Sehnsucht nach Kontakten ist wohl so groß, dass sich viele Menschen zumal in den Großstädten auf diese unverbindlichen Feiern einlassen werden. Für theologisch und philosophisch Interessierte bleibt die Frage: Ist dies wirklich eine auf der Höhe der Reflexion sich bewegende “atheistische” Botschaft? Wird über die permanente Verklammerung von Theismus und Atheismus überhaupt nachgedacht, so dass eigentlich Atheismus nur die andere Seite des Theismus ist, also “heillos” mit diesem verbunden bleibt. Gäbe es denn eine Position jenseits von Theismus UND Atheismus? Wäre dies nicht ein dringendes Thema auch für die assemblies? Oder ist dieses Thema vielleicht zu anspruchsvoll? Es führt in die Mystik, in eine Ebene des Unanschaulichen, des Geheimnisses (das, allen philosophischen Laien sei dies gesagt, selbstredend etwas ganz anderes ist als das Rätsel). Anders gesagt: Müssen diese assemblies so intellektuell bescheiden, so anspruchslos, volkshochschulmäßig bleiben? Das frage ich als Theist, der den Theismus auf eine höhere, mystische Ebene, wenn man so will, überwinden will.
Die andere Frage ist: Warum haben die assembly Teilnehmer keinerlei Erwartungen mehr an die Kirchen? Sollten die Kirche nicht interessiert sein, Näheres von diesen Menschen zu erfahren? Und die Kirchen? Sollten sie sich nicht herausgefordert sehen, endlich zur Gemeinschaft für alle zu werden und jeden Menschen in der Gemeinde, in jeder Gemeinde, vorbehaltlos zu akzeptieren, auch im Gottesdienst, und selbstverständlich auch beim Abendmahl. Sind die Chrisen etwa die verfügenden „Herren“ des Abendmahls? Die Kirchen sollten sich bemühen, eine von jeglicher esoterischer Sondersprache befreite, also eine möglichst vielen verständliche Sprache zu sprechen. Dann könnten sie auch neu Gottesdienste feiern, warum sollten die nicht „Feiern des Lebens“ heißen? Eine neue „liberale Theologie“ könnte dabei hilfreich sein.
Copyright: Christian Modehn Religionsphilosophischer Salon