Was tun? Wie können wir das Bessere und das Wertvolle tun in politischen Krisenzeiten?

Hinweise für ein Gespräch im religionsphilosophischen Salon am 15.9.2017

Von Christian Modehn

Der Titel des Buches der Philosophin Hilal Sezgin „Nichtstun ist keine Lösung“ hat uns zum heutigen Salon inspiriert, einige philosophische Hinweise zu diskutieren: Über das Tun, unser Tun, in einer radikal als Krise und Umbruch erfahrenen Gegenwart. Dabei wird jeder selbst entdecken, wo und wann und wie er sich im politischen Tun neu orientiert. Kriterium bleibt wohl immer: Mein Tun soll vor den Kriterien der allgemeinen Vernunft bestehen.

Eine Reflexion über unser Tun:

Was kann ich tun im Sinne der Verbesserung der Verhältnisse, denn darum geht es. Es soll besser werden, d.h. nicht Krieg geben, sondern Frieden. Nicht dumme Politiker, sondern reflektierte wollen wir wählen können. Und vor allem: Weil ich nie als einzelner und Isolierter lebe und denke: Was können wir gemeinsam tun im Sinne einer Verbesserung der Verhältnisse?

Was kann das Philosophieren da leisten?

Es ist sicher die aus dem Abstand geleistete Reflexion auf einige Begriffe wie TUN und Handeln, beide sehe ich jetzt mal noch als Einheit.

Dabei ist es philosophisch wichtig, bereits auf die Implikationen zu achten, die in meinem Tun immer schon indirekt, oft aber unreflektiert, mit enthalten sind. Dann nämlich ist das neue Handeln zugunsten des Besseren durch uns gar nicht mehr so fern und fremd. Neues und Besseres tun ist keine ferne Idee und unerreichbare Utopie. Mit einem Wort: Wenn wir handeln und immer schon handelten, dann wollen und wollten wir immer schon das Bessere. Wir müssen JETZT nun nur sehen, was denn in dieser Situation das Bessere ist! Das heißt: Wenn ich etwas tue, wenn ich mich um mich kümmere, meine Bildung, meinen Beruf, dann ist darin immer enthalten eine grundsätzliche Lebensbejahung. Ich will durch mein Tun leben! Und zwar möglichst gut leben und damit wohl auch besser als in meinem jetzigen Zustand, weniger krank,, gebildeter, kommunikativer. Selbst wenn ich das Gegenteil von all dem wähle, glaube ich noch, dass der Rückzug oder der Egoismus oder das Verharren auf einem ungebildeten Niveau für mich dann doch das “Beste” sein soll.

Mit anderen Worten: Ich entkomme in meinem Leben nicht und niemals der Praxis, gut und möglicherweise besser als in meinem jetzigen Zustand zu leben.

ABER: Das gute Leben hat für uns hier in Europa eine andere Bedeutung hinsichtlich des materiellen Wohlstandes als für einen armen Bauern in Brasilien. Er hat sehr berechtigte Wünsche, dass es ihm auch materiell besser geht. Bei uns hier ist der Wunsch nach materiell besserem Leben eher auch problematisch, gebunden an das unreflektierte Dogma des ständigen ökonomischen Wachstums… Fortschritt hat für den Bauern in Brasilien eine andere Bedeutung als für uns. Fortschritt ist für uns hier eher auch Askese, möglicherweise Verzicht, den aber alle leisten sollten, nicht nur die Rentner und prekär Beschäftigten.

Diese Hinweise sind also keineswegs als Bejahung der Wachstums – Ideologie zu verstehen. Das gute Leben ist mehr als das finanziell gute Leben.

Dabei ist aber auch eine weitere Implikation klar: Mein Leben kann ich nur gestalten in meinem Tun, wenn ich anerkenne: Alles, was ich tue, verdanke ich den anderen. Andere haben mich meine „Mutter“ – Sprache gelehrt; andere liefern das Getreide, andere sind bereit, mich zu informieren usw. Das heißt: Wenn ich also handle zu meinen Gunsten, bin ich immer schon eingebunden in ein Netz von anderen. Und das ist entscheidend: Ich kann mich also nur um mein gutes Leben kümmern, wenn ich mich auch gleichzeitig um die anderen kümmere und ihnen die gleichen Chancen einräume wie mir. Und das neue Tun zugunsten des Besseren kann nur in einer neuen Gemeinschaft gelingen.

Diese Implikationen zu erkennen, scheint mir fürs persönliche Philosophieren zentral zu sein.

Indem ich leben will, will ich auch, dass andere gut leben. Das heißt in meiner gesamten Alltags – Praxis ist indirekt der Wunsch nach einem guten und besseren, im Sinne des ethisch besseren Lebens, für alle enthalten. Aber das gute Leben ist jeweils weltweit inhaltlich abgestuft, das ist eine Form der Gerechtigkeit.

Aber was ist eigentlich Tun/Handeln?

Wir müssen erkennen, dass Tun und Erkennen, also Theorie, stets eine Einheit sind. Es ist nicht so: Hier erkenne ich sozusagen erst mal isoliert vom Tun am Schreibtisch etwas, widme mich also dem Geistvollen und der Theorie. Und dann trete ich aus der Studierstube hinaus und handle in einem eigenen, vom Erkennen, getrennten Vorgang. Diese falsche Vorstellung einer totalen Trennung von Theorie und Praxis fällt mir immer ein, wenn ich an die Parteitage der SED oder der KPDSU denke: Da hieß es: Wir müssen die Beschlüsse, also die angehoben theoretischen Erkenntnisse der Parteitage, nun in die Praxis umsetzen, also in der Außenwelt gegenüber der Innenwelt der Theorie realisieren. Grüner Tisch gegen Realität könnte man diese Konzeption nennen. Diese Praxis – Vorstellung herrscht immer noch vor. Sie ist falsch.

Alles menschliche Leben ist immer schon Tat. Darauf hat Heidegger in „Sein und Zeit“ hingewiesen: Er beginnt seine Analysen mit dem In-der-Welt-Sein des Menschen.

Wir sind jeweils als ein sich wissendes Ich entstanden aus einer ursprünglichen Tathandlung, darauf hat der Philosoph Fichte schon in seiner Wissenschaftslehre von 1794 hingewiesen. Ihm geht es um die Erkenntnis der innersten geistigen Struktur, wie der Geist erwacht, mein Geist, und wie er sich in der Gleichzeitigkeit als Ich weiß und als Ich bejaht, „setzt“, sagt Fichte. Der Mensch als jeweiliges Ich ist also Ergebnis eines Tuns. Geist und Tun sind also identisch.

FICHTE zeigt den Primat der Praxis vor der Theorie und spricht „von einer Subordination, Unterordnung, der Theorie unter das Praktische“.

„Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind (also immer schon handeln müssen, CM). Die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft“ (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1794).

Der Mensch setzt sich selbst als vernünftiger Mensch, das Tun des Setzens ist mit dem Produkt, dem sich gesetzten Menschen, identisch: “Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Sein, vermöge seines bloßen Seins“ . Das Ich ist also zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Tätige, und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und Tat sind Eins und ebendasselbe; und daher ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung“. (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Hamburg, Meiner, 1997, S. 16). Ich bin also im tiefsten und wesentlichen immer tätig. Ich bin immer tätig, auch wenn ich nur nachdenke.

Wir müssen ein neues Verständnis fürs Reflektieren als Tun gewinnen: Dieses Reflektieren ist ein Präsentsein in der Gegenwart, es ist das Beobachten der Wirklichkeit, das lebendige und kritische Dasein in der Gegenwart. Denken ist Tun.

Erst, wenn es Handlungsmöglichkeiten gibt, das Bessere zu tun, sollten wir eingreifen. Es ist dies der Kairos, der richtige Augenblick, den es manchmal abzuwarten gibt. Ein Kairos mag später noch einmal wieder kommen, aber dann unter erschwerten Bedingungen für eine bessere Zukunft. Man denke etwa an die Abweisung der Klimaverträge durch die Trump – Regierung. Den verpassten Kairos zu reparieren ist mühevoll, manchmal unmöglich.

Auf dieses INNERE TUN gilt es zu achten:

In jedem Denken als Tun spielt auch eine Entscheidung hinein: Also die Reflexion ist dabei: Was will ich jetzt als im Augenblick Wichtiges tun? Erlebe in mir eine Art Aufruf: Was ist jetzt wichtig für mich? Ich stehe in einer Situation der Entscheidung. Und folge dann dem Üblichen, dem Eingespielten, dem Ritus, oder entscheide mich neu für was anderes.

Dieses innere Erleben und innere Reflektieren der Entscheidungssituation ist der Ursprung der Handlung und der Tat: Ich bin stets inmitten von Entscheidungen, die meisten alltäglichen aber „laufen“ förmlich nach Gewohnheit ab. Ich tue also immer etwas, und die Frage ist nur: Was ist das richtige Tun für mich und was ist in diesem Tun auch für die anderen, die Gesellschaft hilfreich und gut?

Dies ist die Frage, die im Übergang, im Zwischenraum der Entscheidung fürs Tun, für neues Tun, gestellt wird. Dies ist aber entschieden eine Frage, die auch nach einem Sollen fragt, was denn sein soll zumindest für eine Gruppe, im Grunde aber für die Welt der Menschen im ganzen. Denn alle Menschen sind als Menschen bekanntlich gleichberechtigt. Das Tun des Guten, vermittelt durch den kategorischen Imperativ oder durch eine abwägende Ethik, ist nötig. Aber es muss eben das Tun des Guten sein. Etwa die Entscheidung, viel weniger Fleisch zu essen, vegetarisch zu leben, dann gerate ich in ein neues Lebensmodell: Ich bin aus der Welt der Fleischkonsumenten in die Welt der Vegetarier eingetreten. Ich bin sozusagen ein Konvertit. Der Dialog ist die Mitte fürs Denken als Tun: Das Sich Aussprechen mit anderen, die Korrekturen, die gemeinsamen Verabredungen fürs Tun in der Gesellschaft sind Mittelpunkt des Tuns als Reflexion.

Wer meint, politisch absolut nichts zu tun und nicht einmal wählen geht, stärkt mit seinem Nichtstun die Rechten und Rechtsextremen. Denn diese militanten Leute gehen eben unbedingt zur Wahl und machen ihre Partei gegenüber demokratischen Parteien stark. Die Demokratie kann an der Faulheit der Demokraten zugrunde gehen.

Was also leistet das Philosophieren?

Es ist die Denkpraxis der Analyse, der Kritik, der Selbstkritik, es ist das Abstandnehmen von Selbstverständlichkeiten, es ist der Mut, Neues im Denken zu entdecken und diese Entdeckung nicht bloß als Theorie abzutun, sondern als Beginn einer Handlung und Tat, weil das Denken selbst schon Tat ist. Die konkrete Arbeit, etwa in der Kritik der Ökonomie, etwa gegen Steuertricks vorgehen im Rahmen von ATTAC: EU muss gegen Steuertricks von Facebook, Apple, Amazon und Co. vorgehen. Die philosophische Analyse öffnet Wege ins Tun, in andere Wissenschaften, in politische Praxis, wobei die Philosophie immer das Kriterium vorlegt: Ist das ethisch gut, was ich da tue. Das heißt: Das philosophische Denken verlässt niemals das geistvolle Leben.

2. Die antike und mittelalterliche Philosophie hat streng getrennt zwischen Theoría und Praxis. Theoria also als Kontemplation verstanden, die mit dem politischen Tun des Bürgers, und dies war damals Praxis, nichts zu tun hatte. Mit dem Göttlichen wird der Mensch vereint in der Theoria, der Kontemplation, nicht in der Praxis: Man bedenke den radikalen Unterschied etwa zur Weisheitslehre Jesu: Da wird von Jesus das Tun des Guten (Helfen, Speise geben, Kranke Besuchen, Nackte bekleiden usw.) als Praxis beschrieben, die mit Gott verbindet. Praxis also ist Gottesdienst. Heute bedeutet religiöse Praxis, sonntags zur Kirche zu gehen und zu beten, das heißt dann Gottesdienst, welch ein Unterschied zu Jesu Weisheit. Da wäre über jüdisches Denken und griechisches Denken, also über die Rolle der Theoria jeweils.

Wegen der Bindung an griechische Philosophie (und der Distanz von jüdischem Denken) hat sich die spätere Kirche von Jesu Weisheit distanziert und das kontemplative beschauliche Dasein der Mönche lange Zeit als den besseren Weg zu Gott gehalten, besser und gottgefälliger als den Weg der Laien, die in der Welt zu tun hatten. In der Reformation wurde diese Sicht aufgegeben.  In der Philosophie Geschichte hat Kant förmlich auch einen philosophischen Trost zu bieten für Menschen, die handeln, aber im Handeln zur Resignation, zur Hoffnungslosigkeit neigen, „weil mein kleines Handeln ja nichts nützt“, sagen viele.

Diese Frage im Hintergrund, beantwortet Kant in mehreren seiner Hauptschriften. Zusammengefasst:

Bei KANT wird dann Praxis als Tätigkeit verstanden, die eine Anwendung von Begriffen und Prinzipien bedeutet. Und diese Tätigkeit bezieht sich auf die sinnlich vermittelte Erfahrung, also auf die Außenwelt der Dinge und der Natur um uns herum.

Dieses Tun hat als Voraussetzung den freien Willen. Der Wille reagiert nicht passiv auf etwas, sondern er entscheidet sich frei etwas zu tun.

Aber dieses Tun ist geleitet von den allgemeinen moralischen Prinzipien. Ein Beispiel: Ich will jetzt Gutes tun, mich für eine Klinik der Armen engagieren z.B. Ich erkenne das in meinem moralischen Bewusstsein, dass ich das unbedingt tun soll, weil die Not um mich herum oder in der Ferne so groß ist.

Da ist es interessant, dass Kant dieses – selbstverständlich im Umfang immer begrenzte – Tun des Guten vor der Verzweiflung bewahrt, zu der einzelne, wenn er etwas Gutes tut, oft neigt: Es gibt Rückschläge, Widerwärtigkeiten, Erfolglosigkeiten usw…

Kant will gegen den sich einstellenden Defätismus vorgehen. Er will gegen die Verzweiflung vorgehen, die sich in der Praxis ergibt.

Er sieht durchaus, dass die christliche Religion da Hilfen bietet, indem sie sagt: Dein Tun wird gottwohlgefällig sein und letztlich dem Aufbau des Reiches Gottes beitragen. Dieser Gedanke, dass nichts gut Getanes vergeblich ist, tröstet religiöse Menschen.

Kant will aber die religiösen Inhalte in eine rationale Argumentation für alle (!), auch für Nicht – Christen, überführen, darum sagt er: Das Tun des Guten, das Entsprechen also dem moralischen Sittengesetz also, befördert „das höchste Gut“ der Menschheit, das ist sozusagen ein säkularisierter Begriff des christlichen Reiches Gottes. Habermas spricht davon, dass Kant, Hegel und Marx dabei noch den „Stachel des religiösen Erbes“ spüren lassen.

3.  Was führt uns ins TUN und was führt uns im Tun?

Da muss über den MUT gesprochen werden. Dabei ist zu erkennen, dass Mut eine zwiespältige Praxis ist. Mut kann Tugend und Untugend sein: Wer sein eigenes Leben gefährdet und einen Ertrinkenden rettet, ist mutig. Wer voller Stolz eine Bombe an seinen Körper legt und diese zündet und sich und andere tötet, ist zwar nach außen hin mutig, de facto aber ein Verbrecher. Tugendhaft mutig sind diejenigen, die immer noch Flüchtlinge auf Schlauchbooten im Mittelmeer retten, eher feige und einfallslos sind diejenigen Politiker, die ihre Nationen einmauern, die die verbrecherischen libyischen Machthaber um Hilfe bitten, doch die Flüchtlinge von unseren Wohlstandsinseln fernzuhalten.

Mut als Tugend hat also immer mit dem Schutz des Lebens und der Förderung anderer zu tun. Martin Seel sagt in seinem empfehlenswerten Buch „111 Tugenden, 111 Laster“, S. 178: „Mut ist eine Tugend von irritierender ethischer Neutralität“. (siehe das Beispiel des mutigen Verbrechers). „Mutig sind Personen, die bereit sind, unter bestimmten Umständen ihr eigenes Wohl aufs Spiel zu setzen oder zu gefährden… „Nur wer Angst verspürt, kann Angst überwinden“, also dann doch mutig eingreifen.

Mut ist auch die Tugend, etwas (neu) zu beginnen. Und die Tugend, das richtig Begonnene weiter zuführen. Mut ist die Tugend, sozusagen im Gegenwärtigen transzendierend auf das Bessere zu hoffen. Man muss kämpfen, weil alles andere unwürdig ist. Feiglinge sind meist unangenehme Typen.

Dem Mut gegenüber steht vor allem die Willensschwäche: Thomas von Aquin sagt, der Willensschwache halte sich nicht an seine eigene Erkenntnis, „er geht nachlässig mit den eigenen Erkenntnissen um“ (Seel, S 54). „Die Willensschwachen verlieren die Selbstbeherrschung, indem sie einer Verlockung nachgeben, die ihren eigenen generellen Vorsätzen direkt widerspricht“ (ebd.) Gute Vorsätze haben mit der Zukunft zu tun, aber die jetzige Gegenwart steht uns näher: Wer da in der Gegenwart genießt, vergisst die bessere Zukunft. „Ein bisschen Regression darf sein“, denken wir dann falsch und handeln falsch

Der Mut als Tugend als Engagement für das bessere Leben der andern und deswegen auch meines Lebens ist eine Art Dynamis, eine Art innerer Schwung, der das Leben begleitet. Mut ist die geistige Triebkraft im Handeln, also im Leben.

Was bedeutet das heute? Wo können wir noch mutig sein?

Mut die richtige Sprache sprechen. Nicht nachplappern. Die richtigen Analysen machen, die der Selbstkritik standhalten. Selbst reflektierend sprechen. Fakten als Fakten anerkennen. Mutig ist, wer als Abweichler auffallen. Mut ist, nicht allen Blödsinn etwa der Parteien als Parteimitglied noch mitzumachen, sondern eben auszusteigen. Das gilt selbstverständlich auch für religiöse hierarchische Machtorganisationen.

Mut ist als politische Tugend die Haltung des reflektierten Ungehorsams.

Was tun, wenn ich nichts mehr machen kann in offenbar ausweglosen Situationen? Eine schwere Frage religionsphilosophische und theologische Frage, die jeder und jede aufgrund seiner je eigenen Spiritualität beantworten kann.

Da gibt es etwa den in der Türkei gefangenen, aus Berlin stammenden Journalisten und Menschenrechts- Aktivisten Peter Steudtner. Er ist mit der evangelischen Gethsemane Gemeinde in Mitte verbunden.

Was können seine Freunde tun in dieser Situation der Gefangenschaft? Natürlich kann jeder individuell an ihn denken und versuchen, diese Gedanken ihm im Gefängnis irgendwie zu übermitteln.

Etwas anderes ist möglich im gemeinsamen Tun:

In der Gethsemanekirche wird regelmäßig Peter Steudtner in öffentlichen Gottesdiensten gebetet.

Was heißt da Beten und Bitten? Gott soll Peter Steudtner aus dem Gefängnis holen? Dies kann nicht das Ziel des Gebetes sein. was wäre dies für ein unvernünftiges Gottesbild. Wer an Gott glaubt, will doch nicht an einen unvernünftigen Gott glauben: Etwa: Gott soll Peter Steudtner retten, nicht aber die andere in der Türkei gefangene Menschenrechtsaktivisten, für die vielleicht niemand betet usw…

Das Gebet gilt den Betenden, den Versammelten: Sie wollen sich in der Gemeinschaft in einem Raum besonderer Art, einer Kirche, sammeln und sich stärken, Peter Steudtner niemals zu vergessen. Nicht das Elend in der Türkei zu vergessen, nicht das – geistige, politische – Elend der Welt zu vergessen. Die stärkende Kraft des Ritus ist nicht zu unterschätzen: Kerzen anzünden. Sprechen, Stammeln, Singen, einander die Hand reichen… und wissen, dass andere da sind, die die eigene Lebensauffassung teilen. Glauben diese Menschen, dass sich ihre geistige Energie, nennen wir dies Gebet, sich förmlich bündelt? Sich überträgt, dass sogar die betreffende Person diese Energie spürt? Davon sind manche überzeugt, auch wenn es dafür selbstverständlich keine Beweise gibt. Ich erinnere nur an die Widerstandskämpfer in der Nazizeit: Wenn diese Männer dann Briefe von ihren Frauen im Gefängnis erhielten, die versicherten: Ich denke an dich, war dies eine unglaubliche Stärkung, den eigenen Weg, wie auch immer, möglicherweise bis zur Hinrichtung, zu gehen, weil sie sich nicht nur in der Welt der Familie geborgen wussten, sondern in einem letzten Sinngrund, der größer ist als alle Gewalt und Politik.

Dass es sinnvoll ist, in solchen Situationen weiterzuhandeln, hat ja Kant gezeigt: Wir können in unserem Handeln, das sich immer in komplexen Zusammenhängen gestaltet, niemals alle einzelnen Wirkungen unseres so begrenzten Tuns voraussehen. Wir wissen nur, dass es Wirkungen gibt in jeglicher Aktivität, in jeglichem Sprechen… sicher auch in unserem philosophischen Salon….

Es gibt aber durchaus Situationen der Aussichtslosigkeit, wo sich der einzelne nur noch in seiner persönlichen Poesie, seinem Gebet, dem jeweiligen persönlichen Gott anvertrauen kann. Um aus dieser poetischen Praxis Energie für sein und unser Leben, auch für den Ungehorsam, den Widerstand, zu finden…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Literaturtipps zum Salon am 15.9.2017

Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht. (Für eine neue Aufklärung unter den Prämissen des 21-. Jahrhunderts). Hanser Verlag 2017, 223 Seiten, 20 Euro.

Hilal Sezgin, Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs. Dumont Verlag, 2017, 159 Seiten, 14 Euro.

Martin ROTH: WIDERREDE. 2017, 96 Seiten, 9,95 Euro. Edition Evangelisches Gemeindeblatt: Auf der Spiegel Bestseller Liste! Mit großer Sorge beobachtete Martin Roth – bis Herbst 2016 Direktor des Victoria and Albert Museums in London – die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa. Entsetzt über den Brexit verließ er seine Position als Museumsdirektor in Großbritannien und kehrte nach Deutschland zurück. Roth sah die politische Kultur und die Idee Europas in großer Gefahr – nicht nur, weil Politiker in seinen Augen die Politik allzu oft als bloße Machterhaltungsmaschinerie begriffen, sondern auch, weil die Bevölkerung den Politikern zu viel überließ… Martin Roth ist am 6.8. 2017 plötzlich gestorben…

Zur Philosophie über die Tugend des Mutes:

Sehr inspirierend ist das Buch über Tugenden und Werte des von mir schon oft empfohlenen französischen Philosophen André Comte – Sponville. „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“, RoRoRo, meine Ausgabe von 2001 kostete damals nur 8, 90 Euro. Zum Mut dort S. 59 bis 75.

Nach wie vor empfehlenswert das Buch des Frankfurter Philosophen Martin Seel, „111 Tugenden, 111 Laster“. S. Fischer Verlag, 2011, zum MUT S. 178 ff.

Zur Tugend des Ungehorsams: immer noch grundlegend:

Das Buch des Freundes von Montaigne, also von Etienne de La Boétie: Von der freiwilligen Knechtschaft, mehrere Ausgaben, etwa auch: Europäische Verlagsanstalt.

Henry David Thoreau, Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Viele Ausgaben.

 

Beten und bitten: Poesie im Angesicht des Unendlichen. Im Kulturradio des RBB

“Gott und die Welt” im RBB Kulturradio am Sonntag, 23.09.2012

Worte in Gottes Ohr

Über das Bittgebet

Von Christian Modehn

Das Thema “Beten und besonders Bittgebete sprechen” berührt auch philosophische Fragen, etwa nach der Verbundenheit mi Gott und der Beziehung des Menschen zum Göttlichen, der Transzendenz. Deswegen könnte diese Ra­dio­sen­dung auch für philosophisch Interessierte inspirierend sein.

„Bittet, so wird euch gegeben“, forderte Jesus seine Jünger auf. Darauf vertrauen auch gläubige Menschen, wenn sie sich mit ihren Sorgen an Gott wenden. Doch welchen Sinn hat es, um göttlichen Rat und Beistand zu bitten? „Wer betet, Gottes Reich des Friedens möge kommen, weckt in sich die Sehnsucht nach Frieden“, schreibt der Kirchenvater Augustinus. Heutige Theologen sind überzeugt: Im Beten und Bitten erkennt der Mensch, wer er ist und welche Ziele ihm wichtig sind. Bittgebete können zur spirituellen Poesie werden. Sie wecken  die Achtsamkeit. „Das Gebet ändert nicht Gott, aber es verändert den Betenden“,  sagt der protestantische Philosoph Sören Kierkegaard. Bittende und Betende hoffen, trotz aller Tiefen von einem göttlichen Grund getragen zu sein.