Gegen den Verschwörungswahn hilft Philosophie!

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Philosophieren, das lebendige Geschehen von Philosophie – wie Musizieren das lebendige Geschehen von Musik ist –, hat zweifelsfrei immer einen praktischen, auf die Lebensgestaltung bezogenen Sinn. Mag ja sein, dass „l art pour l art“ manchmal einen gewissen Überraschungseffekt hat(te). Für die Philosophie gibt es dieses „Philosophie um ihrer selbst willen“ nicht.
Darum ergeben sich aus dem Philosophieren auch unter den Bedingungen heutigen Lebens praktische Anregungen, man möchte sagen „Denk – Hilfen“ angesichts der vielen Krisen und Katastrophen der Gegenwart.
Ein Verbrechen an der geistigen Verfassung und Autonomie der Menschen begehen die Leute, die Verschwörungstheorien verbreiten. Sie spinnen sich aus politischen oder ökonomischen oder bloß privat-neurotischen Krankheiten Dinge zusammen. Sie verbreiten permanent Lügen, die auch viele, je länger sie diese Lügen hören, irgendwann dann doch glauben. Dies ist die Macht ideologischer Bombardements durch Lügen-Verbreiter. Das ist schon oft passiert, man denke nur an den skandalösen Lügenglauben im Umfeld des „berühmten“ Dreyfus-Prozesses.
Jetzt haben die aus den USA kommenden und dort sehr heftig rezipierten Verschwörungstheorien Hochjunktur. Sie sollen beitragen, dass Mister Trump noch weitere vier Jahre die USA mit seinen Lügen spalten und die Demokratie ruinieren kann. Ich erwähne hier nur die dort unter dem Titel „QAnon“ verbreiteten Wahnideen. Darüber wurde vieles geschrieben, siehe etwa im „Tagesspiegel“ am 6. September 2020 auf Seite 6, den „Report“ hat Sebastian Leber verfasst.
2.
Inwiefern kann in dieser Situation, in der die Lüge zur Gewohnheit, wenn nicht zur Normalität zu werden droht, Philosophie eine Hilfe sein? Für weite Kreise nachvollziehbar nur einige Hinweise.
Philosophieren ist bekanntlich das selbstkritische Nachdenken des einzelnen bzw. das Gespräch in kleinem Kreis. Philosophieren dient, wenn man das Wort verwenden will, der „Reinigung“, der kritischen Analyse des Geistes und innerhalb des umfassenden Geistes der begrifflichen Vernunft. Und diese ist eine Selbst-Reinigung des Geistes, also der lebendigen kritisch reflektierenden Vernunft. Die Vernunft erkennt selbst ihre Irrwege, ihre Sackgassen, ihre Widersprüche. Sie muss nur bereit sein, auf eigene Widersprüche in den eigenen philosophischen Entwürfen und selbst gebastelten Ideologien zu achten! Die Vernunft braucht also zur Klärung und Selbstkritik und „Reinigung“ ihrer selbst keine äußeren Autoritäten, keine Parteien, keine Politiker, keine Religionsführer, die autoritär mit ihren subjektiven Weisheiten und Sprüchen kommen, um andere, manchmal ganze Staaten und Gesellschaften ideologisch zu vergiften.
3.
In unserer aktuellen Situation kann Philosophie die Vernunft retten, die Wahrheit vor der zerstörerischen Macht der Lüge freilegen. Wer die Vernunft rettet, der rettet das vom Geist immer gesteuerte Überleben der Menschen. Das sind große Worte, gewiss, aber sie formulieren die Herausforderung der Gegenwart.
4.
Wenn wir wieder lernen, das SKEPTISCHE Philosophieren zu üben, ist der erste Schritt getan. Auch die populistischen Ideologen der Lügen und Wahnideen nennen sich oft Skeptiker. Aber ihre Skepsis ist nur ein in sich widersprüchliches Instrument, um die Geltung von Wahrheit zu vernichten oder um die Bedeutung der universal geltenden Menschenrechte zu vernichten. Skepsis ist für diese Ideologen ein Kampfbegriff und nicht die Beschreibung einer umfassenden Lebenshaltung, die auch skeptisch ist gegenüber der eigenen Person und ihren Vorlieben.
5.
Skepsis als Prinzip des Denkens und als Form der Lebensgestaltung ist innerhalb der Geschichte der Philosophie ein sehr vielfältiges Phänomen. Hier schlage ich vor, sich eher an den von Hume genannten „gesunden, mehr moderaten Skeptizismus“ zu halten, eine Haltung, die alles prüft, die also keine noch so populären Meinungen und Ideologien unbesehen annimmt. Diese Lebenshaltung schaut also genau hin, sie schaut um sich (dies ist eine Bedeutung des griechischen Verbs skeptein), und verlangt für eine Wahrheit oder Überzeugung nichts als Argumente, die nachvollziehbar-begründet sind und widerspruchsfrei erkannt werden und gelten. Also populistische, demagogische Behauptungen und willkürlich gewählte Sprüche wie „Alle Demokratien haben versagt“ oder „Dieser demokratische Politiker ist vom Teufel besessen“ oder „Es gibt keine Wahrheit“ haben in dieser skeptischen Haltung keinerlei Chance, überhaupt ernstgenommen zu werden.
Schnell können diese Propaganda-Sprüche von der Logik aus einander genommen und als unhaltbar dargestellt werden.
6.
Wenn dann Verfechter diese logischen Widersprüche ihrer eigenen Lebenshaltung einsehen und sogar sagen: „Ja, genau, wir halten trotzdem uns an diese widersprüchlichen Sprüche“, wird man ihnen sagen: Dann lebt ihr in einem geistigen Selbst-Widerspruch: Ihr wollt also als Personen zu einem Teil widersprüchlich, unlogisch, denken und leben. In dem übrigen Alltag, etwa beim Autofahren und Essen, verhaltet ihr euch noch logisch und dem Verstand entsprechend. Ihr esst zum Beispiel keinen Schmutz. Oder respektiert schon aus Selbstschutz die Verkehrsregeln. Aus welchen Gründen also seid ihr dann aber bewusst partiell unvernünftig? Um eurer Wut zur Zerstörung von Demokratie und Humanität und universal gültigen Menschenrechten einen ideologischen Ausdruck zu geben, in der Hoffnung, dass viele den Blödsinn glauben und mit diesem Wahn politisch Unheil anrichten.
7.
Diese hier nur kurz skizzierte Argumentation wird nur jene Verschwörungsideologen von ihrem Wahn abbringen, die es einfach nicht ertragen wollen, sozusagen schizophren zu leben. Die anderen nehmen es in Kauf schizophren zu leben… bis der Arzt dann eingreift oder die hoffentlich noch funktionierende Justiz.
8.
Was also ist eine skeptische Lebenshaltung? Es ist das Misstrauen gegenüber den vielen Sprüchen, die heute auf uns einhämmern.
Es ist das Misstrauen gegenüber Leuten, die uns einreden, hinter die Kulissen geschaut zu haben, die dafür aber nur abstruse Behauptungen und keine faktisch begründeten Argumente haben.
Wer in einer skeptischen Lebenshaltung lebt, betrachtet sich selbst skeptisch und weiß, dass Erkenntnis der Dinge stets einen Fortschritt macht. Hingegen gibt es sozusagen ewig gültige Maximen, wie „Die Goldene Regel“ oder die Prinzipien des Kategorischen Imperativs von Kant. Damit lässt sich schon elementar prüfen, ob die eigenen Maximen, als die eigene Lebenshaltung, ethisch vertretbar, also menschlich gütig ist oder nicht.
9.
Die klassische Skepsis in Griechenland hatte das Ziel, dass sich der skeptische Philosoph sich letztlich eines jeden Urteils enthält, weil er jedes Urteil in Frage stellt. Nur so glaubte der antike Skeptiker, seine Seelenruhe finden zu können.
10.
Darum geht es der hier beschriebenen, heutigen skeptischen Lebenshaltung nicht. Zwar ist für sie auch eine gewisse Form einer geistigen, vernünftigen Ruhe inmitten dieses permanenten Einprasselns von Halbwahrheiten und fake news und Verschwörungstheorien wichtig. Aber eine definitive Seelenruhe (atarexia) ist im menschlichen Leben nicht zu erreichen. Es geht nur darum, die inneren geistigen Reserven wachzurufen, um das ständige Hinschauen auf die Phänomene zu üben, die beständige Prüfung und Infragestellung. Dabei halten sich Skeptiker auch an unaufgebbare Erkenntnisse, wie die universal geltenden Menschenrechte. Diese werden zwar leider selten beachtet und realisiert. Sie sind aber trotz der Labilität demokratischer Politiker in dieser Frage unverzichtbar. Wer auf sie als Leihorizont verzichtet, versinkt im totalen Chaos.
Und der Skeptiker weiß zudem: Selbst wenn diese universal gültigen Menschenrechte in der westlichen Welt 1948 formuliert wurden, sind sie doch trotz einer regionalen Herkunft universal gültig. Wo kämen wir denn hin, wenn wir die universale Gültigkeit bestimmter Erkenntnisse aufgrund ihrer nun einmal regionalen Herkunft, die sich aber einer langen „multikulturellen“ Geschichte verdankt, beiseite setzen würden?
11.
Halten wir uns also um unserer eigenen geistigen Gesundheit und unserer Menschlichkeit willen z.B. an die vernünftigen Erkenntnisse der „Goldenen Regel“ und des Kategorischen Imperativs von Kant. Vor diesen Erkenntnissen haben Verschwörungstheorien keinen Bestand. Sie erscheinen nicht nur als lächerlich, sondern als verwerflich.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin