Über universale Werte, die alle Menschen respektieren sollen: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“.

Das neue Buch des Philosophen Markus Gabriel
Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Warum ist ein philosophisches Buch, also ein Buch zum Philosophieren, wichtig und bedeutend? Wenn es die LeserInnen zum Nachdenken, Weiterdenken, Erstaunen, Kritisieren und schließlich auch zur Anerkennung überraschender Erkenntnisse führt … und dann eine Erschütterung hinterlässt, z.B.: Wie sehr man als LeserIn bisher hinter dem philosophisch klar bewiesenen Guten zurückgeblieben ist… und eigentlich zum neuen Handeln aufgerufen ist: Also der Erkenntnis folgend, man müsste Neues zu tun, auch in der eigenen Lebenspraxis, die ja nie nur privat, sondern immer auch politisch ist.
2.
Ich bin überzeugt, das neue Buch des inzwischen bekannten Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel erfüllt die oben genannten Kriterien. Schon der Titel weist in die politische Gegenwart: „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“, und dies ohne Fragezeichen. Dass die Zeiten dunkel sind, dürfte allgemeine Zustimmung finden. Erst der UNTER – Titel macht den philosophischen Ansatz dieser Gegenwartsphilosophie von vornherein brisant:„Universale Werte für das 21. Jahrhundert“. Eine provozierende Formulierung! Provozierend für alle, die noch in der postmodernen Beliebigkeit und dem totalen Relativismus befangen sind und nun zur Erkenntnis universaler Werte geführt werden sollen. Und diese universalen Werte werden nicht religiös begründet oder in den Rahmen einer politischen Ideologie gestellt: Sie werden aus der Vernunft, der allgemeinen, begründet. Markus Gabriel geht von der These aus: Die Menschen als von der Vernunft bestimmte Wesen haben eine gemeinsame, allgemeine Vernunft, aus der sich selbst bestimmte universale Werte ergeben. Damit wird eine elementare Einheit der in sich pluralen Menschheit anerkannt. Rassismus in welcher Form auch immer ist also definitiv als vernunftwidrig ausgeschlossen.
Problematisch mag der Anspruch des Autors erscheinen, wenn er pauschal vom „21. Jahrhundert“ spricht, wo doch dieses 21. Jahrhundert gerade mal erst mit allen Problemen begonnen hat und mancher befürchtet: Wenn alles politisch (populistisch, antidemokratisch), ökologisch und damit neoliberal so weitergeht wie bisher, ist es vielleicht das letzte Jahrhundert für einen Teil der Menschheit.
Die philosophischen Erkenntnisse Markus Gabriels sind zudem von Gewicht, weil sie auch deutlich auf die Corona – Pandemie bezogen sind. Diese hat einerseits Solidarität wachgerufen, andererseits schwierige ethische Fragen, wie die Triage aufgeworfen.
3.
Im Zentrum seiner Argumentation steht also der Hinweis auf „moralische Tatsachen“, die, wie Gabriel betont, „einzig in der universalen Menschenvernunft begründet werden können und müssen“ (343)..
Diese universal für alle Menschen geltenden moralischen, also das geistige Wesen des Menschen auszeichnenden, „Tatsachen“ sind für Gabriel identisch mit einigen universalen Werten. An diese zu erinnern und sie zu beleben ist der Zweck des Buches, das sich nicht zuletzt wegen der leichten „Lesbarkeit“ an weite Kreise richtet.
Es erstaunt dabei, dass Markus Gabriel mit aller Vehemenz auf den allgemein geltenden universalen Werten beharrt. Er sieht die ganze Menschheit unter die Aufforderung gestellt, universale Werte zu realisieren, also das jeweils gebotene Gute zu tun und das durch die Vernunft deutlich gewordene Böse zu unterlassen. Dass sich dabei das Gute bzw. das Böse jeweils inhaltlich auf konkrete Situationen bezogen bleibt, also alles andere als abstrakt bleibt, ist klar.
Wenn das Gute immer mehr realisiert wird, dann wird auch der moralische Fortschritt befördert, von dem Gabriel überzeugt ist. Moralischer Fortschritt ist eine eigene Realität, ist grundlegend, der allen selbständigen Fortschritt in Wissenschaften und Technik und Naturbeherrschung wie eine Art Leitplanke bestimmen sollte.
Aber dieser dringende moralische Fortschritt gelingt nur in der Kraft der Reflexion. „Gegen dunkle Zeiten hilft (philosophische) Aufklärung. Sie setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus…Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen“ (19).
4.
Moralische Tatsachen sind die Normen fürs Handeln der Menschen, sie zeigen differenziert, aber doch allgemein, „was erlaubt ist“ (12). Deutlich wird dabei das Gute und das Böse, aber auch der Bereich dazwischen, den Gabriel „das Neutrale“, das „Indifferente“, nennt (43, auch 103). Also jenen Bereich des alltäglichen Handelns, in dem wir uns oft routiniert bewegen und tun, was nicht moralisch von Bedeutung ist, etwa das Aufräumen oder das Säubern der Wohnung, wobei ein übermäßiger Wasserverbrauch wieder in den Bereich des moralisch Verwerflichen führen kann: man sieht, es gibt Übergänge auf der Skala „Gut-neutral-böse“…
5.
Es überrascht angesichts der Debatten über Relativismus und Postmoderne sicher, mit welcher Bravour Gabriel von den objektiv bestehenden moralischen Tatsachen spricht. “Es gibt moralische Tatsachen, die vorschreiben, was wir tun und was wir unterlassen sollen“ (39). Diese Tatsachen erkennt die Vernunft als solche mit absoluter Gewissheit: Etwa: „Keine Kinder quälen“ (40, noch einmal 91); „die Umwelt schützen“, alle Menschen möglichst gleich behandeln“, also allen die gleichen elementaren Lebensrechte zugestehen (40). Diese moralischen Tatsachen sind universal, gelten kulturübergreifend. Man möchte sagen, sie gelten ewig, wenn damit nicht ein Anklang an religiöse Maßstäbe wach würde, die Gabriel zurecht als Begründung ablehnt, weil sie eben einer bestimmten Tradition entstammen und nicht von der allgemeinen Vernunft erzeugt sind.
6.
Diese moralischen Tatsachen, diese Maßstäbe zur Beurteilung von gut und schlecht, nennt Gabriel WERTE“ (44).
Wie im einzelnen die universal geltenden Werte tatsächlich Schritt für Schritt aus der Vernunft entwickelt werden, zeigt Gabriel meines Erachtens nicht deutlich. Er setzt sie gleich am Anfang als gegeben voraus: „Die Geltung moralischer Aufforderungen liegt vielmehr in ihnen selbst begründet“ (92). Sie zeigen ihre Lebendigkeit und ihre Kraft im Gewissen. Erst später erinnert Gabriel an die Formen des „Kategorischen Imperativs“ von Kant als den Maßstab moralischer Orientierung (144 ff). Aber es hätte meines Erachtens noch deutlicher gezeigt werden können, dass aus dem kategorischen Imperativ die von Gabriel universal geltenden moralischen Tatsachen entwickelt werden können.
7.
Gabriel nennt praktische Forderungen, die sich aus seiner Erkenntnis ergeben: „Wir brauchen eine neue Aufklärung. Jeder Mensch muss ethisch ausgebildet werden, damit wir die gigantische Gefahrenlage erkennen, die darin liegt, dass wir moralisch verblendet fast ausschließlich Naturwissenschaft, Technik und der neoliberalen Marktlogik folgen“ (311).
Gabriel nennt es einen Skandal, dass die Mehrheit der Deutschen ethische Analphabeten sind (339). Es gilt also, die „rationale Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen des menschlichen Lebens zu lernen“ (342)
Gabriels Kritik richtet sich gegen Darwin ( „seine Schriften sind gelinde gesagt, keine besonders geeignete Quelle moralischer Einsicht“ (317) oder gegen Peter Singer (322): Gabriel betont gegen Singer: „Der Mensch ist mehr als ein wenn auch komplexer Zellhaufen“ (322)
Politisch deutlich und sehr treffend ist Gabriel, wenn er über neoliberale Weltordnung schreibt: „Sie beruht auf asymmetrischer Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen“ (333), sie „versetzt letztlich sehr viele Menschen in extreme Armut. Und dieser elende Zustand so vieler widerspricht den obersten Werten, die nur „eigentlich“ (also bloß in Sonntagsreden etc.) anerkannt werden…
8.
Gabriel argumentiert durchaus kosmopolitisch:
„Es kann prinzipiell keine Ethik geben, die sich exklusiv damit befasst, was Einwohner eines einzigen Nationalstaates tun bzw. unterlassen sollen“ (335).
9.
Ich finde es bedauerlich, dass sich Gabriel in seiner Ethik ausschließlich auf den Begriff der Werte bzw. der moralischen Tatsachen bezieht und dabei die Fragen und Ansätze einer Tugendethik außer acht lässt, die ja viel älter ist als die „Wertethik“. Und eine etwas breite kritische Debatte über die Werte-Philosophie, prominent vertreten etwa durch Max Scheler, fehlt ohnehin in dem Buch. Aber Gabriels Leistung ist es in diesem Buch, Pflichtethik mit einer bestimmten Wert-Ethik zu verbinden.
10.
Das Problem philosophischer Erkenntnisse in ihrer Beziehung auf die Lebenspraxis ist natürlich auch Markus Gabriel nicht verborgen. Bezeichnend sind deswegen die letzten Worte seiner Studie: „Hören wir den (also Gabriels, CM) Weckruf? Oder fallen wir bald wieder übereinander her wie raffgierige Raubtiere? Es liegt an uns. Der Mensch ist frei“ (344).
Der Philosoph kann also offenbar nur appellieren, kann nur einen „Weckruf“ loslassen, an die unabweisbare Tatsache erinnern, dass wir Menschen eben im allgemeinen frei sind, das Gute zu tun. Also etwa den im Buch beschriebenen Werten in der eigenen Lebenspraxis zu folgen.
Natürlich hängt alles Handeln von der Freiheit des Menschen ab. Aber bei Gabriel werden philosophische Erkenntnisse (Werte, moralische Tatsachen) wieder einmal, so mein Eindruck, als zunächst dem Menschen bloß gegenüberstehend und damit fremd und befremdlich entwickelt. Es ist dies die Position der puren „Sollens-Forderung“. Anders gesagt: Es könnt doch auch alternativ gezeigt werden: Indem man zuerst eine Lebenspraxis beschreibt, in der „immer schon“ Werte jeweilig gelebt werden, vielleicht unthematisch und fragmentarisch…um aber dann von diesem Immer-Schon-Gelebten zu einer vertieften Erkenntnis zu gelangen, auch zur umfassenden Erkenntnis der immer schon (etwas) gelebten Werte. Mit allen den möglichen Korrekturen, um sich von Un-Werten zu lösen und sich den wahren Werten zuzuwenden. So wäre der Übergang zu einer „umfassenderen Werteerkenntnisse“ harmonischer und „vermittelter“, würde Hegel sagen. Von einem solchen Ansatz bei den de facto immer schon gelebten Werten verspreche ich mir eine größere praktische Wirksamkeit. Theorie und Praxis werden und sind eins.
11.
Nebenbei: Über die Kritik einer nur auf Werte fixierten Lebenshaltung – also ohne Einbezug der Pflichtethik im Sinne Kants – hat bekanntlich der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich das hoch interessante Buch „Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur“ (Wagenbach Verlag) geschrieben.
12.
Im ganzen möchte ich aber das Buch von Markus Gabriel empfehlen, auch als Grundlage für philosophische Gesprächskreise.

Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Ullstein Verlag, 3. Auflage 2020, 368 Seiten, 22 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin