Von der Notwendigkeit der Muße

Von der Notwendigkeit der Muße
Vom zweckfreien Genießen des Daseins
Von Christian Modehn
(Diese “philosophische Meditation” geht auf eine Ra­dio­sen­dung im NDR Juli 2011 zurück)

Eine meiner Freundinnen beschäftigt sich mit der europäischen Malerei des 19. Jahrhunderts. Sie ist davon so begeistert, dass sie mich gelegentlich zu privaten Führungen in Museen einlädt. Vor einigen Wochen traf ich Karla in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel. „Heute habe ich eine Überraschung für dich“, sagte sie. Und wir gingen gleich los, vorbei an den Arbeiten von Menzel, Feuerbach und den Meistern des Impressionismus. „Jetzt sind wir am Ziel“, sagte sie und wies auf das Gemälde „Der Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich. „Du hast es sicher schon mehrfach in Büchern gesehen“, flüsterte sie mir zu. „Aber jetzt schalte mal ab und schau das Gemälde an“.

Überrascht von ihren pädagogischen Anweisungen setzte ich mich brav auf eine Bank direkt dem Bild gegenüber. Je länger ich mich auf das Gemälde konzentrierte und das Spiel der Farben betrachtete, um so mehr glaubte ich, in die Welt des Bildes einzutreten. War ich mit ihr eins geworden? War ich aus der Zeit ausgestiegen? Später, in der Cafeteria, merkten wir, dass wir eine gute halbe Stunde mit dem Gemälde „Der Mönch am Meer“ verbracht hatten. „Ich wollte, dass du dir mal einen Museumsbesuch in Ruhe und Beschaulichkeit gönnst“, sagte Karla. „Das oberflächliche Rennen von Bild zu Bild ist doch ein Graus. Es bringt keine neuen Erkenntnisse“.

Wir tauschten unsere Eindrücke aus, wie z.B. die Mitte des Bildes von dem bedrohlichen Meer mit dem schwarzen Wolkenhimmel erfüllt ist. „Aber das Dunkel wird vom Licht begrenzt“, meinte Karla, „das ist mir so wichtig. Diese Helligkeit lebt! Sie entsteht, geht auf … und trotzt der Finsternis“. „Und der Mönch?“, fragte ich. „Er ist wie alle Menschen im Ganzen des Kosmos nur eine winzige Gestalt“, sagte sie. Der Mönch stehe zwar aufrecht, sei aber doch leicht gekrümmt. Er wirkt zerbrechlich inmitten einer bedrohlichen Welt.

An diese Unterbrechung des Alltags denke ich noch oft. Es war eine Zeit, ausgefüllt mit stillem Sitzen, Nichtstun und Warten. Ob mir eine kluge Inspiration kommt oder nicht, war mir wohl in dem Augenblick egal. Im Verweilen vor dem Gemälde sammelte sich der Geist, konzentriert einen Punkt hin. Das habe ich selten erlebt. Diese halbe Stunde der Muße war ein Geschenk, alles andere als vergeudete Zeit.

Seit dem Zeit schaue ich die Menschen um mich herum aus einer anderen Perspektive an als zuvor: Die Leute auf der Straße hetzen aneinander vorbei, sie haben offenbar nur eins im Sinn: Bloß keine Zeit zu verlieren! Pünktlich zu sein, damit ihr so genanntes Zeitmanagement nicht durcheinander gerät. Denn „Zeit ist Geld“. Dieser Spruch wurde von dem amerikanischen Politiker und Naturwissenschaftler Benjamin Franklin vor 250 Jahren formuliert; seine Maxime gilt seitdem als Inbegriff der Weisheit für die moderne Gesellschaft.

Auf den 100 Dollar Scheinen ist Franklin, einer der Gründervater der Vereinigten Staaten, abgebildet. So werden die Menschen ständig daran erinnert, die ihnen geschenkte Lebenszeit effektiv zu nutzen, und das heißt: in Geld zu verwandeln. Wie oft hört man im Elternhaus und in der Schule: Trödle nicht herum! Hör auf zu dösen, lass das Träumen am helllichten Tag. Mein Vater forderte: Mach was aus deiner Zeit: Lese, übe Klavier. Meine Tage und Stunden waren schon in der Jugend voll gestopft von Terminen. Nichtstun, Ruhigwerden, Muße, dies waren Fremd -Worte, die nur für Einsiedler und Mönche Gültigkeit hatten. Heute weiß ich: Manchmal dauert es Jahre, ehe man sich aus dieser von Hektik und Stress geprägten Welt befreit. Du musst immer schnell sein, effektiv und erfolgreich. Dieses Dogma gilt heute unerschütterlich weltweit.

Der amerikanische Psychologe Robert Levine hat eine „Landkarte der Zeit“ veröffentlicht; ein Buch, das inzwischen als Standartwerk gilt. Es untersucht die Frage: Wie gestalten Menschen in unterschiedlichen Staaten die eigene Lebenszeit. Am schnellsten, so Robert Levine, laufen die Menschen in West – Europa, Nordamerika und Ostasien. Spitzenleistungen im hastigen Gehen vollbringen Schweizer, Iren und Deutschen, vor allem aber Japaner.

Wenn diese vom Dauerstress geplagten Menschen gefragt werden, wie denn ihre Zukunft aussieht, denken sie an die bevorstehende Arbeit, hat Levine beobachtet. Und Vergangenheit ist für sie vor allem Erinnerung an erledigte Arbeit und erfolgreiche Leistung. Diese Menschen antworten auf die Frage, ob sie Mittwoch in zwei Wochen eine Einladung annehmen können, mit den Worten: „Das klappt, da habe ich noch nichts“. Sie sind glücklich, wenn ein leerer Fleck auf dem Terminkalender gefüllt wird. Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa von der Universität Jena hat beobachtet, dass immer mehr Menschen wie in einem sich ständig drehenden Hamsterrad lebten: Das läuft und läuft und erzeugt nur Leerlauf, keiner weiß eigentlich, warum sie das Rad ständig drehen.

Handys und Blackberrys verführen zu permanenter Ruhelosigkeit. Die Journalistin Elisabeth von Thurn und Taxis, 29 Jahre alt, hat kürzlich im „Zeitmagazin“in aller Offenheit ein Bekenntnis abgelegt:

„Nur in einigen wenigen Momenten, im Urlaub, gelingt es mir, das Handy für ein paar Tage auszuschalten. Ich bin eine von diesen Blackberry – Abhängigen. Wenn ich es mal schaffe, in einer freien Minute nicht auf meinen Blackberry zu starren, vermerke ich das als gelungene Meditation“.

Ob ein paar freie Minuten ausreichen, zu einem anderen Lebensstil zu finden, der nicht von permanenter Hektik geprägt ist? Können wir es noch lernen, uns über Zeiträume zu freuen, die nicht gefüllt sind mit Arbeiten und Beschäftigungen oder Freizeitaktivitäten? Mit einem guten Bekannten, der eine philosophische Praxis der Lebensorientierung leitet, habe ich kürzlich über diese Frage gesprochen. Er meinte zu meiner Überraschung: „Das liegt daran, dass wir Langeweile nicht ertragen können“.

Aber Langeweile… ist das nicht ein trauriger Zustand, fragte ich. Da sitzt man zum Beispiel auf dem Bahnhof und muss zwei Stunden auf den nächsten Zug warten. Man läuft hin und her, schaut zwanzig mal auf den Fahrplan, versucht dann sogar den architektonischen Charme der schlichten Wartehalle zu entdecken, trinkt einen Tee nach dem anderen im stickigen Bistro, blättert in Illustrierten, schaut immer wieder erwartungsvoll auf den Bahnsteig: Diese zwei Stunden können zur Qual werden, wenn man sich vorstellt, was man alles verpasst: Termine müssen abgesagt, interessante Gespräche verschoben werden. Ist Langeweile nicht immer eine sinnlose Zeit?

„Das muss nicht sein“, meinte der Philosoph. „Wenn wir einmal freie Zeit haben, wenn uns also leere Stunden bevorstehen, wie ich gern sage, dann sollten wir sie zulassen und nicht aus Angst vor dem Untätigsein wieder mit Aktivitäten voll stopfen. Die Langeweile kann wirklich zu einer angenehm langen Weile werden, zu einer ausgedehnten freien Zeit, über die man sich freuen kann. Du hast doch jetzt noch über eine Stunde frei, sagte sie dann unvermittelt. Lies mal nicht, telefoniere mal nicht, mach gar nichts. Genieße diese bevorstehende lange Weile. Geh also in den Park, da ist es ziemlich ruhig. Setz dich auf eine Bank und tu nichts“.

Schon wieder bin ich an einen „Pädagogen“ geraten, dachte ich. Dabei fiel mir aber ein, wie gut mir der Museumsbesuch mit meiner energischen Kunst – Freundin getan hatte. Und so setzte ich mich auf eine Parkbank, umgeben von Rhododendron Sträuchern; eine leicht geschwungene Holzbrücke vor Augen. In dem kleinen See sah ich zwei Entenpärchen schwimmen, und, auch dies, ein paar Amseln piepsten. Und ich erinnere mich an den Gedanken: Jetzt bloß nicht sentimental werden. Darum schloss ich lieber die Augen und saß einfach nur da, still meinem Atmen folgend. Irgendwelche belanglosen Gedanken gingen mir zuerst noch durch den Kopf, doch dann wurde ich ganz ruhig. Ich dachte an nichts mehr. Und, so erinnerte ich mich später, die Zeit insgesamt war für mich stehen geblieben. Ich erlebte reine Gegenwart. Meine Verbindung mit der Zukunft wie auch mit der Vergangenheit war unterbrochen. Ich lebte ganz im Jetzt, in einer langen Weile, die nur Gegenwart bedeutete. Und diese stille Gegenwart war für mich nichts als wirkliches Lebendigsein.

Ich weiß noch, wie ich die Augen öffnete, und ich ein Gefühl der Dankbarkeit spürte, in diesem schönen Park einfach nur da zu sein, leben zu dürfen. Kann man das Leben selbst schmecken? Die Frage hätte ich früher albern gefunden, jetzt konnte ich sie bejahen. Später musste ich an den Philosophen Michael Theunissen denken, er hatte die Erfahrung der Muße und des kreativen Nichtstuns ein Verweilen genannt. Er dachte dabei an unsere Offenheit für das, was unser Leben trägt. Sinngemäß hatte er einmal geschrieben:

Das Verweilen ist der Versuch, ganz präsent, ganz gegenwärtig zu sein. Wenn wir uns auf diese Gegenwart hin sammeln, erleben wir eine Art Glückserfahrung, das Gefühl, aufgehoben, geborgen zu sein. Der Philosoph meinte sogar: Ewiges werde dann sichtbar.

Ich ging zurück zu meinem philosophischen Lehrmeister, um von meinen Eindrücken zu berichten. Er wollte aber gleich noch Grundsätzliches mitteilen: „Wir Menschen brauchen Auszeiten, wie wir heute etwas salopp sagen, also Stunden oder Tage, in denen wir aus der Zeit heraustreten und gewissermaßen außerhalb der Zeit sind“, sagte sie in leidenschaftlichem Ton. Nur so kann sich unser Geist regenerieren und unser Körper neue Vitalität entwickeln“.

Mein Philosoph kam dann fast ins Schwärmen, als er dann von ihrem letzten Urlaub berichtete: „Morgens überlegte ich nur, wohin ich so ungefähr wandern will“, erzählte sie, „aber da gab es auch keinen Druck, keine Pflicht. Manchmal ging ich nur ein paar hundert Meter, weil mich eine Landschaft so begeisterte, dass ich einfach sitzen blieb und nur schaute. Dann war der halbe Tag vorbei. Ich hatte in diesen Stunden das Gefühl, lebendig zu sein. Muße gelingt nur in der Langsamkeit, im eher zögernden als zielstrebigen Gehen, im Innehalten und Verweilen.

Die freie Zeit wie ein Geschenk annehmen. Das gelingt nicht von selbst; offenbar muss man den Umgang mit diesem Geschenk lernen. Muße ist ja nicht nur das stille Sitzen im Museum oder im Park, Muße ist auch das ruhige Gespräch, der Dialog, wo man einander zuhört, wo man sich Pausen gönnt, Zeichen dafür, dass man nachdenkt und gemeinsam eine bessere Erkenntnis sucht. Einfach um zu provozieren, hatte ich kürzlich einen Kollegen gefragt: „Na, hattest du denn heute schon etwas Muße?“ Er schaute mich groß an, dann sagte er. „Heute nicht. Aber gestern, da habe ich ehrenamtlich, wie man so sagt, in einem Hospiz zwei Stunden verbracht. Und bei einer Schwer – Kranken gesessen; still, ohne viele Worte, gelegentlich berührte ich Ihre Hand, manchmal befeuchtete ich ihre Lippen. Das ist für mich Muße! Übrigens, eine wunderbare Zeit auch für mich, eine Zeit zum Nachdenken, eine gute Möglichkeit, sich dem eigenen Tod zu stellen“.

Es gibt viele Möglichkeiten, sich aus dem System der Hektik, der Schnelligkeit, der Atemlosigkeit zu befreien. Aber, so bemerkt der Soziologe Hartmut Rosa, dies gelingt nur mit einer gewissen Anstrengung. Er empfiehlt die so genannte Odysseus Strategie: Wie der Held der griechischen Sage muss man sich in gewisser Weise selbst fesseln, um den unendlichen Möglichkeiten des Freizeit Betriebes und der Unterhaltungsindustrie nicht zu verfallen. Odysseus musste sich vor den verführerischen Fabelwesen, den Sirenen schützen, sie waren seine tödliche Bedrohung. Heute bedrohen uns die vielen Angebote der Unterhaltungsindustrie seelisch, sie lassen uns nicht zum Nachdenken kommen, verhindern jegliche Form der Selbstwahrnehmung, sie beeinträchtigen unsere Lebensqualität erheblich.

Wenn Menschen offenbar freie, leere Zeiten so schwer ertragen können: Sollten sie sich dann vielleicht an verhaltenstherapeutische Übungen gewöhnen? Diese Überzeugung hatte kein geringerer als der vielseitig begabte französische Philosoph Blaise Pascal. In seinen Pensées, Gedanken, notierte er im Jahr 1660:

„Als ich es unternommen habe, die ruhelose Geschäftigkeit zu betrachten, denen sich die Menschen zu Hofe und bei Kriege aussetzen, woraus so viele Streitigkeiten, Leidenschaften erwachsen, hab ich mir gesagt: Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand her, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“.

Also schließ dich ruhig einmal in deinem Zimmer ein, meide die Welt der Vergnügungen und Unterhaltungen und denke über deine Lebenszeit nach. Ob diese eher rabiate Therapie, wie sie Blaise Pascal vorschlägt, hilfreich ist, um die Muße zu lieben zu lernen, ist fraglich. Der Philosoph Martin Heidegger setzte auf die Kraft der Erkenntnis: Und die beginnt mit dem Satz:

„Die dir gegebene Zeit ist dein Leben. Denn das menschliche Dasein ist zeitlich geprägt, mehr noch: Das Dasein ist selbst Zeit. Deswegen gilt: Sinnlos verbrachte Zeit ist sinnlos verbrachtes Leben“.

Kürzlich sah ich mich genötigt, diese Erkenntnis ein paar Jugendlichen verständlich zu machen. Ich hatte mich erneut auf meine meditative Parkbank an der hübschen Holzbrücke gesetzt und einfach nur die Natur betrachtet. Da kamen drei Jungs, vielleicht 16 Jahre alt, vorbei und grölten: O, da langweilt sich aber einer. Ich rief ihnen zu: Was ist denn für euch Langeweile? Da meinte einer: Wenn uns langweilig ist, gehen wir raus, machen irgendetwas Spontanes, wir müssen ja die Zeit irgendwie totschlagen.

Ich war darüber erst einmal tief bestürzt. Dann sagte ich: Wenn ihr eure Zeit totschlagt, dann schlagt ihr euch irgendwie auch selber tot, den die Zeit ist doch euer Leben. Die drei Jungs starrten mich einige Augenblicke an. Ob sie mich verstanden hatten? Ich will es hoffen. Sie zogen dann kleinlaut weiter.

Darin sind sich Pädagogen einig: Kinder sollten schon früh mit dem Gedanken vertraut gemacht werden: Langeweile muss man nicht vertreiben. Wenn das eine Spiel beendet ist, kommen Kinder oft laut schreiend zu den Eltern oder den Geschwistern und sagen: Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Da sollte man bloß nicht den Kindern das nächste Spiel zeigen oder gar zu, Zeitvertreib an den Computer schicken. Langeweile können auch Kinder schon aushalten. Sie kommen dann selbst auf neue Ideen, wollen ein Bild malen, ein paar Zeilen krakeln oder einfach nur auf dem Teppich liegen und träumen.

Oder sind diese Überlegungen schon längst überholt, gar naiv und idyllisch? Darüber sprach ich kürzlich mit dem türkischen Psychologen Kazim Erdogan im Berliner Bezirk Neukölln. „Langeweile voller Phantasie gestalten, genau darauf kommt es an, auch hier bei den türkischen und arabischen Jugendlichen“, meinte er. „Nicht die Mädchen, die Jungen müssen lernen, ruhig zu werden; sie müssen lernen, in kleinen Gruppen zu plaudern, zu musizieren, Sport zu treiben, sonst rennen sie bloß auf der Straße rum und dann machen sie irgendwelchen Unsinn“.

Lass die Langeweile zu, fliehe nicht vor ihr, hab keine Angst vor der leeren Zeit. Mit dieser Überzeugung begeleitet die Psychotherapeutin Verena Kast aus Zürich ihre Patienten, die „ausgebrannt sind“, unter burn out leiden und am Dasein zweifeln und verzweifeln, weil sie sich aus dem von Stress geprägten Arbeitsleben nicht befreien können. Der therapeutische Ansatz heißt dann: Hab Mut zur Langeweile. Verena Kast schreibt:

Um mit Langeweile umgehen zu können, müssen wir sie akzeptieren als ein sinnvolles Gefühl, als Übergang, zu neuen Interessen. Wenn es uns gelingt, uns mal darauf zu konzentrieren, dass uns jetzt gar nichts anspricht, dann kann eine neue Idee auftauchen. Dann merken wir plötzlich, wo eigentlich unsere Interessen wären, was uns von Innen her wirklich ansprechen würde. Aber dazu braucht es eben einen Mut zur Langeweile. Das wissen Menschen verhältnismäßig gut, die kreativ sind; die haben etwas gemacht, die haben eine Idee ausgearbeitet. Und dann fällt ihnen zunächst mal nichts ein. Und dann langweilen sie sich. Und sie wissen aber aus Erfahrung: Wenn ich mich auf diese Langeweile konzentriere, dann wird wieder etwas Neues. Darum nutze die Muße, die du jetzt empfindest, lass diese Unterbrechung deines Lebensrhythmus zu, halte jegliche Aktivität fern. Dann lebst du auf.

Die Einsichten von Therapeuten, Philosophen und Soziologen lassen sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Ohne Muße ist das Leben nicht lebendig. Ohne das Verweilen hat alles Tun keinen Sinn. Deswegen hat die radikale Forderung „Muße muss sein“ auch ihre Berechtigung. Natürlich ist es problematisch, in Fragen praktischer Lebensgestaltung, also auf dem weiten Feld der Ethik, das Wort Müssen zu verwenden. Nur in Freiheit und ohne Zwang können Menschen ein gutes Leben führen und wahrhaftig werden.

Aber heute haben wir eine extrem belastende Situation: Der Mangel an Muße, an Verweilen, an zweckfreiem Ruhen, führt zu schweren Erkrankungen, vor allem zum so genannten „Seeleninfarkt“. Davon spricht zum Beispiel der Psychotherapeut Joachim Galuska; er hat in Kliniken für psychosomatische Medizin aufgebaut. Mit anderen Therapeuten weist er darauf hin: Auch die Seele braucht intensive Pflege, sie braucht Ruhe, Stärkung; und die beste Medizin, die schon präventiv wirkt, ist die Muße. Ein Infarkt der Seele äußert sich in Depression, Angststörung, Schlaflosigkeit, Sucht. Um diese Seeleninfarkte zu behandeln mussten zum Beispiel im Jahr 2008 fast 29 Milliarden Euro ausgegeben werden.

Aber die Muße als Lebenshaltung wird natürlich nicht empfohlen, um die Krankenkassen zu entlasten. Muße muss sein, weil nur sie das Leben in seiner ganzen Fülle erlebbar macht, weil sie erfahrbar macht: Wir Menschen sind weder perfekt funktionierende Robotter noch Arbeitstiere.

„Ora et labora“, bete und arbeite, hieß das Lebensprinzip der Mönche im Mittelalter. Man könnte es modern formulieren: Genieße deine Muße und verweile in der Gegenwart. Und Arbeiten bleibt eine Not – Wendigkeit; aber pflege das zweckfreie Nichtstun. Nur so findest du deine Balance.
Copyright: christian modehn.

Was ist die Zeit – in unterschiedlichen Kulturen

Was ist die Zeit?
Andere Länder, andere Zeiten
Zwischen Zukunftsstress und ewiger Gegenwart
Von Christian Modehn

„Wenn es jemand eilig hat, zeigt er nur, dass er keinen Anstand besitzt und von teuflischem Streben besessen ist“, sagen Menschen aus dem Volk der Kabylen in Algerien, „und Uhren sind deswegen die Mühlen des Teufels“. Ein paar tausend Kilometer weiter, in indischen Kleinstädten, können sich Freunde verabreden, um stundenlang zusammen zu sitzen, ohne dass jemand ein Wort sagt: Das gemeinsame Schweigen wird wie ein Stillstehen der Zeit erlebt und hoch geschätzt, es ist alles andere als peinlich. Nur die Gegenwart zählt! Darüber könnte einer der Gründerväter der USA nur lachen: Benjamin Franklin hat schon im 18. Jahrhundert eingeschärft: „Zeit ist Geld“! Die zur Verfügung stehenden Stunden, Wochen und Jahre muss jeder Menschen so produktiv wie möglich nutzen. Es ist normal, dass der Terminkalender zum Kompass des Lebens wird. Die katastrophale Gier nach Geld ist die Konsequenz des Mottos von Benjamin Franklin.
Touristen aus Deutschland nehmen kulturelle Unterschiede wahr, wenn sie z.B. in den kleinen Städten Spaniens oder Lateinamerikas mit „Einheimischen“ sprechen: „Manana“, „morgen“, heißt die gängige Entschuldigung, die oft auch ein Übermorgen meint, wenn das Auto eben nicht sofort repariert wird oder eine nötige Bescheinigung nicht sogleich zu haben ist. Menschen unterschiedlicher Kulturen haben unterschiedliche Bewertungen der Zeit. Aber Europäer und Nordamerikaner sind überheblich, wenn sie meinen: So wie wir die Zeit erleben und gestalten, sollten es alle Menschen überall und immer tun.
Seit einigen Jahren wird viel über die „Geographie des Zeitbewusstseins“ diskutiert. Der us – amerikanische Psychologe Robert Levine spricht von einer „Landkarte der Zeit“. Bei jedem Staat und darin noch einmal zu jeder dort lebendigen Kultur lässt sich genau beschreiben, wie die Menschen dort ihre Lebenszeit deuten und gestalten. Zwar sind alle Menschen grundsätzlich und unaufhebbar in das Fließen der Zeit hineingestellt. Sie entkommen nicht dem unaufhaltsamen Verschwinden und Werden der Wochen und Monate. Nirgendwo wird so deutlich erfahren, wie fremdbestimmt, d. h. wie wenig autonom wir gerade in dieser „Verkettung an die Zeit“  sind. Aber jede Kultur reagiert darauf mit einem spezifischen Verhalten.
Japan hat heute „den schnellsten Lebenstakt“, hat Robert Levine in seinen Forschungen festgestellt. Zukunft wird als bevorstehende Arbeit erlebt, Vergangenheit ist getane Arbeit. Selbst wenn Angestellte nicht unter Zeitdruck stehen, so erledigen sie auch dann alle Tätigkeiten so schnell wie möglich, hat Robert Levines beobachtet. Natürlich müssen bei derartigen „Kulturvergleichen“ Klischees vermieden werden. Andererseits betonen auch zahlreiche Kulturanthropologen und Ethnologen, dass es zahllose Deutungsmöglichkeiten der Zeit in den Ländern dieser Erde gibt. In Japan arbeiten die meisten Menschen deswegen so schnell und ausdauernd und verzichten gern auf gesetzlich garantierten Urlaub, weil sie sich den ungeschriebenen Normen ihrer Gruppe einfügen wollen. Zum hochgeschätzten Kollektiv zählt auch die Firma, mit der man sich möglichst ein Leben lang identifiziert. Ihr opfert man auch die Freizeit, man schläft wenig, gönnt sich keine Pause: Gegen die immer größere Gefahr, durch Überarbeitung, „Karoshi“, zu sterben, werden Hotlines eingerichtet. Wer sich Zukunft nur als die ewig wiederkehrende Geschäftigkeit vorstellen kann, neigt zum Suizid: Japan hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt.
Aber direkt neben den stressbestimmten Mega – Cities Asiens gibt es die buddhistischen Traditionen, etwa die Zen – Meditation, das stille Sitzen: Es ist das Eintauchen in eine umfassende Ruhe, die Konzentration auf die Gegenwart, den jeweiligen Atemzug. Man weilt ganz in der Gegenwart. „Diese gelassene Gegenwart ist nicht ins Vorher und Nachher zerstreut“, betont der koreanische Philosoph Byung-Chul Han. „Und virulent ist im buddhistisch motivierten Denken nur die Frage nach dem Jenseits der Zeit“, schreibt der Japanologe Peter Pörtner, „gut ist nur das Ende der Zeit, das Höchste Gut ist das Nirvana“.
Es ist offensichtlich, dass Menschen mit meditativer religiöser Praxis zu einem tiefen Erlebnis der Gegenwart gelangen. Gegenwart ist für den völlig an der Arbeitszukunft orientierten Menschen nur eine ewig wieder verschwindende Sekunde auf dem Zifferblatt der Uhr. Die arbeitsbesessenen Manager sollten sich z.B. nach Cusco, Peru, begeben und dort bei den indianischen Völkern erfahren, was ein ruhiges, gesammeltes Erleben der Gegenwart bedeutet. Die Quetschuas und Aymaras sind nicht so schnell aus der Balance ihres Lebens zu bringen, selbst wenn für sie aufgrund der ökonomischen Unterrückung ständig unvorhergesehene Schwierigkeiten eintreten. Der Philosoph Josef Estermann hat die Philosophie der autochthonen Bewohner des Andengebietes in Peru und Bolivien untersucht. Diese Menschen leben stark in ihrer religiösen Gewissheit, dass die Zeit des Heils und der Erlösung sich bereits in der Vergangenheit ereignet hat, also vor der Ankunft der Kolonisten und Missionare. Nicht auf eine neue, bessere Zukunft hoffen sie, sondern auf die Wiederherstellung der Heilszeit von einst. Nur weil sie sich mit dieser vergangenen Heilszeit auch im Ritus verbunden fühlen, können sie die Mühen und Leiden der Gegenwart annehmen: Eines Tages wird noch einmal das einst verlorene Paradies machtvoll wiederkehren.
Ob es an der „indianischen“ Prägung der Mentalität vieler Mexikaner liegt, dass dieses Land in der Tabelle Robert Levines zum „Lebenstempo in 31 Ländern“ an letzter Stelle steht? Das gemessene Tempo der Menschen beim Gehen ist in Mexiko noch betulicher als in Syrien, Brasilien oder Indonesien. Solche Erkenntnisse können fürs interkulturelle Leben wichtig sein: In einem Land, das wie Brasilien „jeden Anspruch auf Orientierung an der Uhr aufgegeben hat“ (so meint Levine), ist es nicht nur unfein, sondern geradewegs sinnlos, zu Einladungen pünktlich zu erscheinen. Wenn alle unpünktlich sind, muss sich der fremde Gast anpassen…Am schnellsten laufen die Menschen in der reichen Welt Europas und Nordamerikas: Am schnellsten gehen, so Levine, die Schweizer, gefolgt von den Iren, den Deutschen und den Japanern. Es besteht ganz offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Lebenstempo und ökonomischem Wohlstand. So laufen denn auch in einem armen Land wie Papua – Neuguinea die Leute in der Hauptstadt Port Moresby schneller als in den kleinen Städten und Dörfern. Im ostafrikanischen Burundi kommen viele Bauern ganz ohne Uhren aus: Sie treffen ihre Verabredungen nach dem Rhythmus der Natur: „Man verabredet sich z.B.: „Wenn die Kühe draußen auf der Wiese zum Trinken sind, sehen wir uns“, berichtet Robert Levine, also irgendwann (!) vormittags. Man erwartet einander und hat Zeit füreinander.
Wie lange wird das noch so funktionieren? Die Uhr zwingt global alle Menschen, die offene Zukunft zu „bewältigen“, d.h. effektiv und produktiv zu auszufüllen. Signale, die unser Körper aussendet,  dass wir ruhen oder nachdenken sollten, müssen beim Diktat der Uhr und der Terminkalender überhört werden. Ob wir in 20 Jahren noch eine vielschichtige und bunte „Landkarte der Zeit“ haben, ist die Frage.

Dieser Beitrag erschien in Publik Forum.
Literaturhinweis:
-Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit. 320 Seiten, 13. Auflage 2007, Piper Verlag, München, Zürich.
-Josef Estermann, Andine Philosophie. Eine interkulturelle Studie zur autochthonen andinen Weisheit. 353 Seiten, IKO- Verlag, 1999.
-Byung – Chul Han, Philosophie de Zen-Buddhismus. 135 Seiten, Reclam Verlag Stuttgart, 2002
-Peter Pörtner, Aspekte der Zeiterfahrung in Ostasien. In: Die Zeit im Wandel der Zeit. Intervalle,  Heft 6, dort S 77-97. kassel university press, 2002.