Was ist die Zeit – in unterschiedlichen Kulturen

Was ist die Zeit?
Andere Länder, andere Zeiten
Zwischen Zukunftsstress und ewiger Gegenwart
Von Christian Modehn

„Wenn es jemand eilig hat, zeigt er nur, dass er keinen Anstand besitzt und von teuflischem Streben besessen ist“, sagen Menschen aus dem Volk der Kabylen in Algerien, „und Uhren sind deswegen die Mühlen des Teufels“. Ein paar tausend Kilometer weiter, in indischen Kleinstädten, können sich Freunde verabreden, um stundenlang zusammen zu sitzen, ohne dass jemand ein Wort sagt: Das gemeinsame Schweigen wird wie ein Stillstehen der Zeit erlebt und hoch geschätzt, es ist alles andere als peinlich. Nur die Gegenwart zählt! Darüber könnte einer der Gründerväter der USA nur lachen: Benjamin Franklin hat schon im 18. Jahrhundert eingeschärft: „Zeit ist Geld“! Die zur Verfügung stehenden Stunden, Wochen und Jahre muss jeder Menschen so produktiv wie möglich nutzen. Es ist normal, dass der Terminkalender zum Kompass des Lebens wird. Die katastrophale Gier nach Geld ist die Konsequenz des Mottos von Benjamin Franklin.
Touristen aus Deutschland nehmen kulturelle Unterschiede wahr, wenn sie z.B. in den kleinen Städten Spaniens oder Lateinamerikas mit „Einheimischen“ sprechen: „Manana“, „morgen“, heißt die gängige Entschuldigung, die oft auch ein Übermorgen meint, wenn das Auto eben nicht sofort repariert wird oder eine nötige Bescheinigung nicht sogleich zu haben ist. Menschen unterschiedlicher Kulturen haben unterschiedliche Bewertungen der Zeit. Aber Europäer und Nordamerikaner sind überheblich, wenn sie meinen: So wie wir die Zeit erleben und gestalten, sollten es alle Menschen überall und immer tun.
Seit einigen Jahren wird viel über die „Geographie des Zeitbewusstseins“ diskutiert. Der us – amerikanische Psychologe Robert Levine spricht von einer „Landkarte der Zeit“. Bei jedem Staat und darin noch einmal zu jeder dort lebendigen Kultur lässt sich genau beschreiben, wie die Menschen dort ihre Lebenszeit deuten und gestalten. Zwar sind alle Menschen grundsätzlich und unaufhebbar in das Fließen der Zeit hineingestellt. Sie entkommen nicht dem unaufhaltsamen Verschwinden und Werden der Wochen und Monate. Nirgendwo wird so deutlich erfahren, wie fremdbestimmt, d. h. wie wenig autonom wir gerade in dieser „Verkettung an die Zeit“  sind. Aber jede Kultur reagiert darauf mit einem spezifischen Verhalten.
Japan hat heute „den schnellsten Lebenstakt“, hat Robert Levine in seinen Forschungen festgestellt. Zukunft wird als bevorstehende Arbeit erlebt, Vergangenheit ist getane Arbeit. Selbst wenn Angestellte nicht unter Zeitdruck stehen, so erledigen sie auch dann alle Tätigkeiten so schnell wie möglich, hat Robert Levines beobachtet. Natürlich müssen bei derartigen „Kulturvergleichen“ Klischees vermieden werden. Andererseits betonen auch zahlreiche Kulturanthropologen und Ethnologen, dass es zahllose Deutungsmöglichkeiten der Zeit in den Ländern dieser Erde gibt. In Japan arbeiten die meisten Menschen deswegen so schnell und ausdauernd und verzichten gern auf gesetzlich garantierten Urlaub, weil sie sich den ungeschriebenen Normen ihrer Gruppe einfügen wollen. Zum hochgeschätzten Kollektiv zählt auch die Firma, mit der man sich möglichst ein Leben lang identifiziert. Ihr opfert man auch die Freizeit, man schläft wenig, gönnt sich keine Pause: Gegen die immer größere Gefahr, durch Überarbeitung, „Karoshi“, zu sterben, werden Hotlines eingerichtet. Wer sich Zukunft nur als die ewig wiederkehrende Geschäftigkeit vorstellen kann, neigt zum Suizid: Japan hat eine der höchsten Selbstmordraten der Welt.
Aber direkt neben den stressbestimmten Mega – Cities Asiens gibt es die buddhistischen Traditionen, etwa die Zen – Meditation, das stille Sitzen: Es ist das Eintauchen in eine umfassende Ruhe, die Konzentration auf die Gegenwart, den jeweiligen Atemzug. Man weilt ganz in der Gegenwart. „Diese gelassene Gegenwart ist nicht ins Vorher und Nachher zerstreut“, betont der koreanische Philosoph Byung-Chul Han. „Und virulent ist im buddhistisch motivierten Denken nur die Frage nach dem Jenseits der Zeit“, schreibt der Japanologe Peter Pörtner, „gut ist nur das Ende der Zeit, das Höchste Gut ist das Nirvana“.
Es ist offensichtlich, dass Menschen mit meditativer religiöser Praxis zu einem tiefen Erlebnis der Gegenwart gelangen. Gegenwart ist für den völlig an der Arbeitszukunft orientierten Menschen nur eine ewig wieder verschwindende Sekunde auf dem Zifferblatt der Uhr. Die arbeitsbesessenen Manager sollten sich z.B. nach Cusco, Peru, begeben und dort bei den indianischen Völkern erfahren, was ein ruhiges, gesammeltes Erleben der Gegenwart bedeutet. Die Quetschuas und Aymaras sind nicht so schnell aus der Balance ihres Lebens zu bringen, selbst wenn für sie aufgrund der ökonomischen Unterrückung ständig unvorhergesehene Schwierigkeiten eintreten. Der Philosoph Josef Estermann hat die Philosophie der autochthonen Bewohner des Andengebietes in Peru und Bolivien untersucht. Diese Menschen leben stark in ihrer religiösen Gewissheit, dass die Zeit des Heils und der Erlösung sich bereits in der Vergangenheit ereignet hat, also vor der Ankunft der Kolonisten und Missionare. Nicht auf eine neue, bessere Zukunft hoffen sie, sondern auf die Wiederherstellung der Heilszeit von einst. Nur weil sie sich mit dieser vergangenen Heilszeit auch im Ritus verbunden fühlen, können sie die Mühen und Leiden der Gegenwart annehmen: Eines Tages wird noch einmal das einst verlorene Paradies machtvoll wiederkehren.
Ob es an der „indianischen“ Prägung der Mentalität vieler Mexikaner liegt, dass dieses Land in der Tabelle Robert Levines zum „Lebenstempo in 31 Ländern“ an letzter Stelle steht? Das gemessene Tempo der Menschen beim Gehen ist in Mexiko noch betulicher als in Syrien, Brasilien oder Indonesien. Solche Erkenntnisse können fürs interkulturelle Leben wichtig sein: In einem Land, das wie Brasilien „jeden Anspruch auf Orientierung an der Uhr aufgegeben hat“ (so meint Levine), ist es nicht nur unfein, sondern geradewegs sinnlos, zu Einladungen pünktlich zu erscheinen. Wenn alle unpünktlich sind, muss sich der fremde Gast anpassen…Am schnellsten laufen die Menschen in der reichen Welt Europas und Nordamerikas: Am schnellsten gehen, so Levine, die Schweizer, gefolgt von den Iren, den Deutschen und den Japanern. Es besteht ganz offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Lebenstempo und ökonomischem Wohlstand. So laufen denn auch in einem armen Land wie Papua – Neuguinea die Leute in der Hauptstadt Port Moresby schneller als in den kleinen Städten und Dörfern. Im ostafrikanischen Burundi kommen viele Bauern ganz ohne Uhren aus: Sie treffen ihre Verabredungen nach dem Rhythmus der Natur: „Man verabredet sich z.B.: „Wenn die Kühe draußen auf der Wiese zum Trinken sind, sehen wir uns“, berichtet Robert Levine, also irgendwann (!) vormittags. Man erwartet einander und hat Zeit füreinander.
Wie lange wird das noch so funktionieren? Die Uhr zwingt global alle Menschen, die offene Zukunft zu „bewältigen“, d.h. effektiv und produktiv zu auszufüllen. Signale, die unser Körper aussendet,  dass wir ruhen oder nachdenken sollten, müssen beim Diktat der Uhr und der Terminkalender überhört werden. Ob wir in 20 Jahren noch eine vielschichtige und bunte „Landkarte der Zeit“ haben, ist die Frage.

Dieser Beitrag erschien in Publik Forum.
Literaturhinweis:
-Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit. 320 Seiten, 13. Auflage 2007, Piper Verlag, München, Zürich.
-Josef Estermann, Andine Philosophie. Eine interkulturelle Studie zur autochthonen andinen Weisheit. 353 Seiten, IKO- Verlag, 1999.
-Byung – Chul Han, Philosophie de Zen-Buddhismus. 135 Seiten, Reclam Verlag Stuttgart, 2002
-Peter Pörtner, Aspekte der Zeiterfahrung in Ostasien. In: Die Zeit im Wandel der Zeit. Intervalle,  Heft 6, dort S 77-97. kassel university press, 2002.