Die Putin-Ideologie des Patriarchen Kyrill von Moskau zum Kriegsbeginn.

Wie das oberste “Oberhaupt” der russisch-orthodoxen Kirche den Krieg Putins gegen die Ukraine banalisiert.

Ein Hinweis von Christian Modehn.    Siehe auch “Homosexualität ist Schuld an der Krise” (Kyrill I.)

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Notiert am 5.3.2022:

Entscheidend ist: Putin und der Patriarch Kyrill I. von Moskau (und mit ihm die meisten seiner Bischöfe) sind sich einig in der leidenschaftlichen Verurteilung der so genannten “westlichen Ideen”, also der Philosophie der Aufklärung, der Demokratie, der Menschenrechte. 

Entscheidend ist zweitens: Die Jahrzehnte andauernde Mitgliedschaft der Russisch-orthodoxen Kirche in verschiedenen ökumenischen, also westlichen, d.h. protestantischen und auch katholischen Gremien und Konferenzen (wie dem “Weltrat der Kirchen” in Genf) hat für die Russisch-orthodoxe Kirche keinerlei Erkenntnisgewinn gebracht. Diese Kirche war offenbar nur des schönen Scheins wegen in den ökumenischen Gremien, um international mit Pomp und Weihrauch zu glänzen. Und die westlichen Kirchen fragten nie: Wie haltet ihr Russisch-Orthodoxen es mit den Menschenrechten in eurem Land? Seid Ihr als Kirche bereit, bei eurer Macht, auch politische Opposition zu sein?

Mit anderen Worten: Nicht nur westliche Politiker waren naiv im Umgang mit Putin, westliche Kirchenführer waren (und sind ?) genauso naiv im Umgang mit Kyrill I. und Co.

Es klingt geradezu lächerlich, wenn katholische Theologen, selbst die Päpste der letzten Jahre, sagen: Wir brauchen die (russisch ?) Orthodoxen als “unsere zweite Lunge”, so Papst Johannes Paul II. und ähnlich auch Benedikt XVI.

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Ein Hinweis  über die verheerende, d.h. Putin-stützende Bedeutung der (Führung der) Russisch-orthodoxen Kirche.

Dieser Patriarch Kyrill ist die beste ideologische Stütze Putins und durchaus ein Kriegstreiber: “Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, hat die Gegner der russischen Armee in der Ukraine als „Kräfte des Bösen“ bezeichnet. In seiner Sonntagspredigt warf der Patriarch den ukrainischen Soldaten vor, die historische Einheit zwischen den beiden Ländern brechen zu wollen. „Wir müssen alles tun, um den Frieden zwischen unseren Völkern zu bewahren und gleichzeitig unsere gemeinsame historische Heimat vor all den Aktionen von außen zu schützen, die diese Einheit zerstören können“, betonte Patriarch Kirill. (Quelle: Deutschlandfunk, 27.2.2022)

Dieser Hinweis umfasst vier Teile.
Erstens: Den Text, den Patriarch Kyrill am 24.2. 2022 zum Kriegsbeginn Russlands bzw. Putins gegen die Ukraine veröffentlichte.

Zweitens: Eine Interpretation dieses Textes.

Drittens: Eine christliche Kirche müsste eigentlich eine Opposition gegen das Regime sein…

Viertens: Nur ein Hinweis auf die praktischen Auswirkungen der ideologischen Macht der russisch-orthodoxen Kirche.

Erstens: 24 Februar 2022 – Aufruf von Patriarch Kirill an die Erzhirten, Hirten, den Klerus und das gläubige Volk der Russischen Orthodoxen Kirche:

Eure Seligkeit! Eure Eminenzen und Exzellenzen! Liebe Väter, Brüder und Schwestern!
Mit tiefem Herzenschmerz sehe ich das Leid der Menschen, das durch die derzeitigen Ereignisse verursacht wird.
Als Patriarch der ganzen Rus’ und Primas der Kirche, deren Herde sich in Russland, der Ukraine und anderen Ländern befindet, habe ich tiefes Mitgefühl mit all denen, die von dem Unglück getroffen sind.

Ich fordere alle Konfliktparteien auf, alles zu tun, um Opfer in der Zivilbevölkerung zu vermeiden.
Ich appelliere an die Erzhirten, Hirten, Mönche wie Nonnen und Laien, allen Leidenden, einschließlich der Flüchtlinge, der Menschen, die ohne Obdach und und ohne Lebensunterhalt geblieben sind, jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen.

Das russische und das ukrainische Volk haben eine gemeinsame jahrhundertealte Geschichte, die auf die Taufe der Rus’ durch den heiligen apostelgleichen Fürsten Vladimir zurückgeht. Ich glaube, dass diese von Gott geschenkte Gemeinschaft dabei helfen wird wird, die Spaltungen und Widersprüche zu überwinden, die zu dem gegenwärtigen Konflikt geführt haben.
Ich rufe die gesamte Fülle der Russischen Orthodoxen Kirche auf, inständig und inbrünstig für die baldige Wiederherstellung des Friedens zu beten.

Auf den Beistand unserer Allreinen Gebieterin, der Gottesgebärerin, und aller Heiligen möge der Allbarmherzige Herr das russische, das ukrainische und andere Völker, die unsere Kirche geistlich vereint, behüten!
KIRILL, PATRIARCH VON MOSKAU UND DER GANZEN RUS’
(Quelle: https://rokmp.de/de/aufruf-von-patriarch-kirill-von-moskau-und-der-ganzen-rus-an-die-erzhirten-hirten-den-klerus-und-das-glaubige-volk-der-russischen-orthodoxen-kirche/. Gelesen am 26.2.2022)

Zweitens: Hinweise zu einer Interpretation dieses Textes:

Der Patriarch spricht harmlos von „derzeitigen Ereignissen“, nicht vom Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Er sieht sich als orthodoxer Führer auch als religiöser Chef der Ukraine, so, wie Putin sich als Machthaber der Ukraine sieht. Bestes Einvernehmen mit dem Machthaber also.
Die „Ereignisse“ sind für Kyrill „Konflikte“ mit unterschiedlichen, gleichwertigen Konfliktparteien, so, als hätte die Ukraine nun Russland angegriffen.
Alle Leidenden sollen caritative Hilfe von der ohnehin Putin hörigen russischen Kirche erhalten. Die übliche Caritas, also als Einzelfallhilfe, nicht die öffentliche politische Kritik ist wichtig.

Der Patriarch erinnert an die uralte Geschichte der Gemeinschaft von Ukrainern und Russen. Er fragt natürlich nicht, warum denn diese Gemeinschaft nun von Putin und Co. zerstört wird. Brudervölker zerstören einander doch nicht, oder?

Kyrill I. tut so dumm, als seien es nur „Spannungen und Widersprüche“ gewesen, die zu dem „gegenwärtigen Konflikt“ geführt haben. Er nennt diese von Putin inszenierte nationalistisch-russische Vernichtung der Ukraine einen „gegenwärtigen Konflikt“.

Und dann folgt das übliche seit Jahrhunderten vertraute Bla Bla der so genanten Bittgebete: Dass doch die Gottesmutter und wer weiß sonst noch, also auch die Gottesgebärerin (!), alle Völker behüten möge.
Diese Floskeln und Formeln sind noch immer nicht so ausgeleiert, dass sie trotzdem noch in den meisten christlichen Kreisen verwendet werden. Der Patriarch und die Christen können also nur eine imaginäre „Gottesgebärerin“ bitten, sie möge doch vom Himmel oder von sonst wo aus für Frieden sorgen. Welch ein Wahn! Was für ein Opium, das da verbreitet wird.

Haben diese Patriarschen, diese Metropoliten und „eure Seligkeiten“ (siehe oben diesen verrückten Titel für einen orthodoxen Metropoliten) nichts anderes, nichts Vernünftiges, nichts Kritisches zu sagen? Ist dieser Kyrill I. (und mit ihm viele andere Bischöfe dieser Kirche) so abhängig von dem Führer Putin, dass er es sich erlaubt, im 21.Jahrhundert so viel theologischen Schwachsinn zu verbreiten?

Wie viel Geld erhält dieser Patriarch von Putin für diese nationalistischen Statements? Eine Frage, die auf die wir nie eine Antwort erhalten?

Und warum regt sich eigentlich kaum jemand auf über so viel offiziell verbreitetes Verständnis für Mord und Totschlag und Krieg aus einem so genannten christlichen, sogar orthodoxen Munde?
Warum wird nicht eine große Debatte in der weiten Christenheit geführt über den Unsinn dieser Bittgebete? Meine Antwort: Wenn man darüber kritisch nachdenken würde, dann müsste das traditionelle Gottesbild – endlich – aufgegeben werden. Aber dazu fehlt dem Patriarchen und dem Papst und den Landesbischöfen etc. der Mut. Dies wäre eine neue Reformation. Und die will „man“ nicht.

Drittens: Diese Staatskirche kann niemals Opposition gegen das Regime werden!

In dem autoritären Putin-Regime könnte die orthodoxe Kirche als die zahlenmäßig starke “Volkskirche” eine wichtige oppositionelle Kraft sein. Es gibt sonst offensichtlich keine starke Opposition in diesem kriegsbesessenen Regime Russlands (mehr).

Aber die russisch-orthodoxe Kirche und ihr Patriarch Kyrill sind nur eine ideologische – religiöse Bestätigung des Regimes. Das zeigt auch sein Text oben.Man möchte sagen: Insofern verrät diese Kirche die zentrale humane und Frieden stiftende Botschaft des Evangeliums. Aber diese Staatshörigkeit ist bekanntlich ein Merkmal orthodoxer Kirchen und ihrer Führer. Für die russisch-orthodoxe Kirche ist die eigene Nation und das Privilegiertwerden durch den Diktator  am wichtigsten. Diese Erkenntnis gibt zu denken, wenn man an die weltlweiten ökumenischen Kontakte (etwa in Genf) dieser Putin-Kirche denkt.

Es wird noch nicht einmal in Ansätzen darüber diskutiert, dass der “Ökumenische Weltrat der Kirchen” in Genf die Mitgliedschaft der Russisch-Orthodoxen Kirche, mit ihrem Chef, dem Patriarchen Kyrill, in diesem führenden ökumenischen Gremium sofort beendet. Es sei denn, diese Kirche gibt die ideologische Propaganda zugunsten des Kriegstreibers Putin sofort auf und wird wieder Kirche anstatt “Abteilung für Propaganda und Agitation” im Putin Regime zu bleiben.

Viertens: Einige “praktische Auswirkungen” der ideologischen Macht der Russisch-orthodoxen Kirche in Russland:

Die Autorin und Columnistin Liza Alexandrova-Zorina schreibt in einem längeren Beitrag für “Lettre International” (Winter 2019) S. 80ff., wie sich durch den Einfluss dieser Kirche die alten Familien-Traditionen nach dem Vorbild des 19. Jahrhunderts wieder durchsetzen. “Seit vielen Jahren versucht die Kirche, sittliche Grundlagen des Familienlebens, wie sie von einem Priester und einer Nonne in einem `Ratgeber` formuliert werden, als obligatorisches Schulfach durchzusetzen. Es versteht sich, dass gemäß dieses Buches die einzige Bestimmung der Frau darin besteht, so viele Kinder wie möglich zu gebären. Der Einfluss der Kirche ist immens…”(S. 80)…. “Kein Wunder, dass die Bewegung ME-TOO nur Ablehnung und Unverständnis hervorruft. Dass sexuelle Belästigung keine Norm ist, muss man bei uns den Frauen erklären…(S. 81) …” “Durch häusliche Gewalt kommen jährlich 14.000 Frauen in Russland ums Leben. Und eine Hoffnung auf Veränderung ist nicht in Sicht” (83).

Weitere Beispiele für die ideologische und politische Macht des Moskauer Patriarchats im Putin-Regime:

Die russisch-orthodoxe Kirche bekämpft mit allen Mitteln westliche, liberale, säkulare, menschrechtliche Ideen. Schon 2008 schrieb der russische Philosoph Michail Ryklin (er lebt in Berlin) in „Lettre international“, Frühjahr 2008, Seite 128: „Die Russisch-orthodoxe Kirche drängt den Staat auf einen gefährlichen Weg, indem sie ihm für all sein Tun automatisch Ablass erteilt und damit jegliche Reformen für unnötig erklärt“.

Michail Ryklin erinnerte schon in „Lettre Internationale“, Herbst 2005, S. 130, an die obskure „orthodoxe Hagiopolitik“, „bei der das Eingreifen von Heiligen und die Einwirkung geweihter Gegenstände anerkannt werden soll“, gegen die wissenschaftliche Annahme, dass der „Mensch den Geschichtsverlauf bestimmt“.

Bekannt sind die andauernden Eingriffe der Kirche in die Freiheit der Kunst: Dass Ausstellungen zur Gegenwartskunst als Irrwege des säkularen Bewusstseins durch die russisch-orthodoxe Kirche verboten wurden, ist ein Skandal: Wer das kritisiert, wird immer häufiger als Feind der Orthodoxie und gleichzeitig des russischen Volkes diffamiert“, so Ryklin ebd. Diese Repressionen seien um so interessanter, als „nur etwas vier Prozent der Bevölkerung regelmäßig ihre Kirche besucht“, so Ryklin, ebd.
In der Erinnerung ist die Zerstörung der Ausstellung „Achtung Religion“ im Sacharow-Zentrum von Moskau im Jahr 2003 besonders wichtig. Diese Ausstellung zeiget auch kritische Auseinandersetzung mit der Religion. Vier Tage nach Eröffnung der Ausstellung, Mitte Februar 20003, wird die Ausstellung z.T. zerstört und geschlossen, entgegen dem Wunsch der Künstler. Ich zitiere aus dem wikipedia Artikel: „Am 12. Februar 2003 forderte das russische Parlament (die Duma) die Generalstaatsanwaltschaft auf, gegen die Organisatoren der Ausstellung tätig zu werden.[2] Gegen die Duma-Resolution und die Anweisung des Strafverfahrens stimmten lediglich 2 der 267 anwesenden Abgeordneten. Einer von ihnen, Sergei Juschenkow, der am Rednerpult erklärt hatte, man erlebe soeben die Geburt des totalitären Staates unter der Führung der Orthodoxen Kirche, wurde einige Wochen später in Moskau ermordet.[3] Der Direktor des Sacharow-Zentrums und Hauptangeklagte, Juri Samodurow, sah davon ab, eine Zivilklage gegen die Eindringlinge wegen des Schadens anzustrengen, die dem Museum durch diese Tat entstanden war. Dies hatte zur Folge, dass die Anwälte des Museums den Gerichtssaal nicht betreten durften.[4] Die gesellschaftlichen Verteidiger der Angeklagten waren die bekannten Menschenrechtler Alexander Podrabinek, Lew Ponomarjow und Jewgeni Ichlow, ebenso Sergei Kowaljow.[5] Samodurow und die für Ausstellungen zuständige Mitarbeiterin des Sacharow-Zentrums, Ljudmila Wassilowskaja, wurden am 28. März 2005 zu einer Geldstrafe von je 100.000 Rubeln (ca. 2900 EUR) verurteilt.[6] (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Sacharow-Zentrum)

Ist Putin etwa ein frommer russisch – orthodoxer Christ? „Bei allem, was das Privatleben von Präsident Putin angeht, müssen wir mit Gerüchten vorlieb nehmen. Schenkt man Bischof Tichon Glauben, so ist er der Beichtvater des Präsidenten, also ein geistlicher, der dem Kreml besonders nahesteht“, so Ryklin in „Lettre International“, Frühjahr 2008, Seite 128, zu Tichon (geb.1958) siehe auch: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/putins-beichtvater-bischof-tichon-im-interview-15563372.html. Tichon ist ein Erzt-Reaktionärer Bischof.

Noch einmal: Die russisch-orthodoxe Kirche betrachtet nicht nur Russland, sondern auch Belarus und die Ukraine als „kanonisches russisch-orthodoxes Territorium“, „kanonisch“ meint: Im Sinne ihres Kirchen- und Staatsrechts. Sie folgt dabei dem Wahn Putins.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Die christlichen Kirchen können keinen Frieden stiften.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 24.2.2022: Putin beginnt seinen Krieg gegen die Ukraine.

Zur nationalistischen Russisch-orthodoxen Kirche von Moskau: https://religionsphilosophischer-salon.de/14618_putins-aggression-und-seine-wichtigste-stuetze-der-patrirach-von-moskau-und-seine-russisch-orthodoxe-kirche_befreiung

Man muss die Frage stellen: Warum haben sich die Kirchen und ihre Theologen so sehr auf den „inneren Frieden“, den Frieden der Seele, fixiert und Jesu Worte als Verheißung eines nicht-weltlichen, also eines nur innerlichen Friedens verstanden: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht einen Frieden wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch“. Dieses Zitat aus seinen „Jesu Abschiedsreden“, stammt aus dem Johannes Evangelium im Neuen Testament, Kap. 14, Vers 27. Die Kirchen haben aber oft nicht gesehen, dass vorher Jesus vom heiligen Geist spricht, „der wird euch lehren“… Vers 26: Aber wenn der heilige Geist auch Geist im Menschen ist, dann ist er doch auch Vernunft, und als Vernunft umfasst er auch politische Gestaltung der Welt als einer friedlichen Welt. Aber die Christen waren letztlich froh, sich nur um den inneren Frieden, den Seelenfrieden, kümmern zu müssen. Das ist bequemer.

Man muss die Frage stellen: Welche praktischen, sichtbaren Erfolge haben denn alle Gebete um Frieden gebracht, zu denen nun wieder von der Kirche aufgerufen wird. Gebet um Frieden mag als Form der psychischen Beruhigung in Krisenzeiten durchaus sinnvoll sein, genauso wie das stille Sitzen in der Meditation. Aber das meinen die Bischöfe und Päpste nicht, wenn sie zum Gebet um Frieden aufrufen: Sie wollen Gott im Himmel höchstpersönlich bewegen, den Frieden zu schaffen, den sie sich, die Menschen, wünschen. Im Augenblick beten wohl die Russen für ihren Frieden für ihr Russland, und die Ukrainer beten um Frieden für ihre Ukraine. Auf welche Nation soll Gott bloß hören? Soll er etwa dem Kriegsherrn Putin seinen Frieden bescheren, seinen Sieg? Oder sollen die Gebetswünsche der Ukraine Erfüllung finden? Man sieht, Beten um Frieden ist widersprüchlich, wenn nicht widersinnig, es sei denn man sagt: Das Gebet um Frieden soll nur die innere Stabilität in Kriegszeiten fördern. Und man will, wenn man schon glaubt, eben auch widersinnig glauben, gegen alle Vernunft sozusagen. Gott sei Dank wollen das nicht alle Menschen!

Man muss die Frage stellen: Glauben die um Frieden Betenden wirklich, dass Gott im Himmel als „Person“ das Bittgebet erhört? Welches Gottesbild steht hinter dem Bittgebet? Wird da Gott wie ein menschlicher machtvoller Kumpel vermenschlicht? Wird es nicht Zeit, sich von dem Bild Gott als Person zu verabschieden oder eher von einem tragenden Sinn-Grund der Existenz und der Welt zu sprechen?

Man muss die Frage stellen: Worin liegt eigentlich der größte Fehler, wenn die Kirchen und die Christen Jahrhunderte lang um Frieden beteten und beten, aber de facto kein Frieden entsteht oder entstanden ist? Im Gegenteil: In allen Jahrhunderten wurde eigentlich permanent Krieg geführt, Sklavenhandel betrieben, ganze Völker wurden „missioniert“ und dabei ausgerottet. Der Antisemitismus wurde wie ein permanenter Vernichtungskrieg gegen die Juden geführt. Wie lächerlich ist die Frage: Soll man für die Überwindung des Antisemitismus beten? Wer Antisemitismus besiegen will, möge bitte nicht beten, er soll bitte schön politisch wirksam handeln und z.B. rechtsradikale Täter tatsächlich verfolgen und bestrafen!

Man muss die Frage stellen: Welchen Sinn haben jetzt Friedensgebete und Friedensgottesdienste „Dona Nobis pacem“ ,zu denen die Kirchen im Krieg Russlands gegen die Ukraine auffordern? Sinnvoll ist nur, das tiefe innere Verbundensein mit den Menschen in dieser Region, ein inneres Mitgefühl mit den Leidenden, Sterbenden zu pflegen, um das eigene Denken zu weiten und das Herz in Verbindung mit diesen Menschen zu bringen. Das könnte in der Gemeinschaft eingeübt werden, wenn man auch Zeugnisse der Leiden, der Ukrainer oder der russischen Mütter hört, die von ihrem im Krieg umgekommenen Sohn erzählen.

Man muss die Frage stellen: Ist nicht die entscheidende Wurzel für alle Kriege die Bindung der Kirchen, aller Kirchen, aller Bischöfe, an ihre jeweilige Nation? Hat der Nationalismus unter den Kirchenführern und Christen nicht immer schon total den Geist vernebelt und den Krieg gefördert? Wurde Nationalismus nicht immer wichtiger als das vernünftige Nachdenken über die Menschheit und die Weltgemeinschaft? Hat der kleingeistige Nationalismus das Eintreten für die eine Menschheit, für die Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit aller, zerstört?

Man muss die Frage stellen: Ist der nationalistische Ungeist, der nachweislich die ideologisch verrannten und von Putin privilegierten Popen und Bischöfe der russisch-orthodoxen Kirche beherrschte und heute beherrscht, eine entscheidende Ursache für die Unterstützung im Krieg Putins gegen das so genannte „Brudervolk“. Wie maßgeblich war der Nationalismus der Bischöfe, als sie als Franzosen oder als Deutsche den 1. Weltkrieg leidenschaftlich unterstützten? Diese Herren waren mit Verlaub gesagt keine Christen, sondern kriegerische Nationalisten.

Man muss auch klar sagen: Ihr Christen, hört auf, in der altbekannten Form um Frieden zu beten. Wenn ihr zusammenkommt, sonntags, zu euren Gottesdiensten, lasst die uralten Riten und Lieder mal beiseite, strengt euren heiligen Geist an und fragt gemeinsam, wie können wir aktiv für den Frieden in der Welt, für den Frieden in Ukraine z.B. eintreten? Wie können wir uns umfassend informieren, um gar nicht mehr auf einen Typen wie Putin reinzufallen? Man muss sich also fragen: Wäre nicht politische Aufklärung eine genauso wichtige Aufgabe für die Kirchen, wenn sie sich dem Frieden widmen will? Dazu gehört die Analyse der eigenen westlichen Aggression, man denke an die Kriege, die die USA ohne Ergebnis führten: Vietnam, Libyen, Afghanistan usw., man denke an die Kriege im „Hinterhof der USA“, wie die US-Politiker sagen, in Lateinamerika…

Man muss sich fragen: Warum sind eigentlich nur einige wenige kleinere Kirchen (Quäker, Mennoniten usw.) explizit als Friedenskirchen tituliert? Warum nennen sich nicht alle großen Konfessionen, Katholiken, Protestanten, Orthodoxe ausdrücklich Friedenskirchen? Das wäre doch im Sinne Jesu Christi, den manche gern als Kirchengründer ansehen. Jesus Christus ist der Prophet und Meister auch des politischen Friedens. Wenn man das anerkennt: Dann wäre ein Christ nicht mehr römisch-katholisch, sondern friedenskirchlich-katholisch; man wäre friedenskirchlich evangelisch und vor allem auch dies: Man wäre friedenskirchlich-orthodox. Welch ein Signal wäre dies für die Welt.

Man muss sich fragen: Werden diese Vorschläge irgendeine Resonanz bei den großen Kirchen und ihren etablierten Theologen haben? Ich denke nein. Und diese bloß ganz allgemein um Frieden betenden Kirchenchristen werden auch dann, wenn die Ukraine in ein paar Monaten russisch ist oder die Mörderbanden in Syrien ihr Regime weiter aufbauen usw. Immer weiter um Frieden beten, singen und flehen: „Verleih uns Frieden gnädiglich“, adressiert an einen personalen Vater im Himmel, der aber doch nicht das Flehen seiner Kinder erhört…
Man wird also als Kirche weitermachen, wie bisher. Man wird ein paar kleine friedenspolitische Clubs in den Kirchen zulassen, wie Pax Christi bei den Katholiken oder Church and Peace bei den Protestanten, man wird weiterhin also beten und alte Lieder singen … und die Welt wird in Kriegen versinken.

Man muss sich fragen: Wann werden sich die Kirchen eingestehen: Eigentlich ist die auch empirisch spürbare Bilanz des Christentums, die Bilanz der Wirkungsgeschichte der Lehre Jesu, weitgehend eine Katastrophe. Oder mindestens ein Misserfolg oder eine Illusion. Und trotzdem werden Theologen naiv weiterhin von Erlösung schwadronieren, etwa zu Weihnachten beim Lied „Stille Nacht, alles schläft, aber auch alle schlafen“…Und das Arbeiten am Friedensreich Gottes, diese zentrale, auch politische Idee Gottes von dieser Welt, wird ebenfalls eingeschlafen sein.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Putins Aggression, seine wichtigste Stütze: Der Patriarch von Moskau und die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Wie eine Kirche zu einer nationalistischen Ideologie entartet.
Ein Hinweis von Christian Modehn am 23.2.2022

Dies ist ein Hinweis auf eine christliche Kirche, die russisch-orthodoxe Kirche und ihren Patriarchen von Moskau. Diese Kirche versteht Frieden und Humanität nur als Nutzen für die eigene russische Nation.  Kann eine solche Kirche noch Kirche sein und Mitglied im Ökumenischen Weltrat der Kirchen (Genf) bleiben? Warum wird über diese Straf”maßnahme” nicht diskutiert? Dass dies geboten ist, zeigt der folgende Beitrag von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt in aktuell gebotener Kürze:

1. In der westlichen, vor allem westeuropäischen Öffentlichkeit wurde und wird kaum wahrgenommen, welche ideologische Macht die Russisch-orthodoxe Kirche als Stütze Putins hatte und hat, auch im Blick auf Putins Aggressionen gegen die Ukraine und letztlich gegen Europa. Dieser Hinweis bietet einige wichtige Details, die vor allem auf kirchenunabhängigen Forschungen in Frankreich basieren. Die Quellenangaben befinden sich am Ende dieses Beitrags.

2. Die Russisch-orthodoxe Kirche mit dem mächtigen Patriarchen und Putin-Vertrauten Kyrill I. in Moskau ist eine typische orthodoxe „Nationalkirche“. Die Führungen dieser National – Kirchen stellen das Interesse ihrer Nation über die Weisungen des Evangeliums, so auch in der Russisch-orthodoxen Kirche.
In Deutschland und anderen Ländern ist das Phänomen der Nationalkirchen (also der von politischen Herrschern bestimmten Kirchen) nicht unbekannt, man denke an die evangelischen Landeskirchen in Deutschland, die den Kaiser als Kirchenchef hatten oder an die Staatskirche in Schweden oder an die spanische katholische Kirche zur Zeit des Franco-Regimes. Dass katholische Bischöfe in Frankreich und in Deutschland begeisterte Propagandisten zugunsten des 1. Weltkrieges waren, ist eine Tatsache.

Die Abhängigkeit der Kirchen von staatlichen Herrschern zieht sich wie ein schwarzer dreckiger Strom durch die ganze Geschichte, man denke an Frankreich im ancien régime, an die Zeiten des Kolonialismus, der Sklaven“haltung“ usw…Aber bei diesem Hinweis geht es aus aktuellem Anlass nur um Russland und die Ukraine.

3. Politologen, Soziologen, Journalisten usw. haben sich in den letzten Jahren sehr viel mit den Verirrungen und Abartigkeiten von Religionen befasst, dabei aber – zurecht – vor allem den Islamismus studiert. Es wird aber Zeit, sich mit dem düsteren theologischen wie politischen Kapitel der christlichen Orthodoxie zu befassen und dringend davor zu warnen, mit diesen Kirchen enge ökumenische Einheit aufzubauen, wie es die Päpste seit Johannes Paul II. betonen. In seinem antiprotesantischen Geist wagte es Papst Johannes Paul II. sogar zu sagen, die katholische Kirche brauche als ihre „zweite Lunge“ die Orthodoxie. Nein, diese braucht die römische Kirche NICHT, sie braucht die Vernunft und die Akzeptanz der Menschenrechte. Aber das ist ein anderes Thema…

Die Russisch – orthodoxe Kirche als Putin-Ideologie. Einige Details.

4. In seiner ausführlichen Fernsehansprache am 21.2.2022 hat Putin auch kirchliche, religiöse Motive genannt für die Anerkennung der „Republiken“ im Osten der Ukraine. Er wolle den dort lebenden russisch – orthodoxen Christen zu Hilfe kommen und sie schützen. Putin sagte: „Kiew fährt fort, eine Repression gegen die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats vorzubereiten“. (Mehr dazu Nr. 10 und 11). Dass Putin dabei die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats falsch einschätzte, wurde ein paar Tage später deutlich: Diese Kirche (bzw. die meisten Bischöfe) hat sich im Krieg Putins gegen die Ukraine auf die Seite der anderen Kirchen in der Ukraine gestellt. (La Croix, 25.2.2022, Interview mit Prof. Pavlo Smytsnyk, vom Ökumene-Institut von Lviv).

5. Putin zeigt sich bei hohen orthodoxen Feiertagen gern in Moskauer Kathedralen, immer zusammen mit seinem Freund Patriarch Kyrill I., Putin küßt gern dort öffentlich Ikonen, er will als frommer Orthodoxer gelten.

6. In einer Ansprache in der „Christus-Erlöser“ Kathedrale sagte Putin im Februar 2013: „Die russisch-orthodoxe Kirche war bei ihrem Volk in der langen Geschichte. Wir hoffen, diese positive und mehrfach wertvolle Partnerschaft mit der russisch – orthodoxen Kirche vorzusetzen. Wir müssen unsere Zusammenarbeit und unsere gemeinsame Arbeit fortführen, um die Harmonie in unserer Gesellschaft zu stärken, und zwar mit hohen moralischen Werten“ (Zitat bei Dolya).

Damit wiederholt Putin seine alten Thesen, die er etwa 2013 in Valdai formulierte: “Wir (Russen) haben dieselbe Tradition, die sekbe Mentalität, dieselbe Geschichte, die selbe Kultur wie die Ukrainer. Wir haben sehr nahe verwandte Spraxchen. In diesem Sinne , ich wünsche noch einmal zu wiederholen: Wir Russen und und die Ukrainer sind ein und dasselbe Volk” (zit. bei Kathy Rousselet, L église orthodoxe et la question des frontières, 2017)

7. Diese Zusammenarbeit Putins mit der Russisch-orthodoxen Kirche und dem Patriarchen Kyrill I. hat die Basis in der Ideologie des „Russkiy mir“, der „russischen Welt“: Diese Ideologie – 2007 von Putin als eine Art Stiftung institutionalisiert – sieht die russische Welt nicht nur in den Grenzen Russlands von heute repräsentiert. Auch Belarus sowie ausdrücklich die Ukraine gehören für Putin, schon seit vielen Jahren nachweislich, zur Vorstellung des großen, wahren Russlands! Aber diese russische Welt muss sich noch ausdehnen auf „Eurasien“ hin, also Richtung Ost-Europa vor allem. Das eurasische Projekt wird vor allem von dem Rechtsextremen Alexander Dugin vertreten, „Die Welt“ nannte ihn am 16.6.2014 einen „Einflüstere Putins“.
Die Pariser Historikerin und Politologin Anna Dolya schreibt: „Tatsächlich unterstützt der Kreml die Vorstellung einer nationalen russischen Idee auf dem Territorium der Ukraine, besonders auf der Krim und im Osten der Ukraine. Russland insistiert darauf, dass die Menschen dort zur „Russkiy mir“ gehören“. Das schrieb Anna Dolya schon im Jahr 2015! Warum würde das von Politikern nicht wahrgenommen?
Über Anna Dolya: „Ukrainienne, résidant en France. Titulaire d’une Licence en Lettres modernes et d’un Master en Affaires européennes de la Sorbonne. Chargée de mission pour différentes entreprises“.

8. Das ist heute ganz wichtig:
Im Jahr 1992 trennte sich ein Teil der in der Ukraine lebenden Orthodoxen von der bis zu diesem Zeitpunkt für sie allein zuständigen Kirche des Moskauer Patriarchats. Sie gründeten die „Ukrainisch – orthodoxe Kirche des Patriarchats von Kiew“. Da nicht alle orthodoxen Ukrainer sich dieser ihrer ukrainischen Kirche anschlossen, besteht der Einfluß des Moskauer Patriarchen in der Ukraine noch weiter!
Initiator der Ukrainisch Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats ist Metropolit Philaret, der in Zeiten der Sowjetunion eng mit pro-kommunistischen Friedenskreisen, wie der Christlichen Friedenskonferenz CFK, zusammenarbeitete. Theologisch ist er – wie Kyrill I. in Moskau konservativ bis reaktionär.
Philarets Nachfolger in Kiew ist der Metropolit Epiphanius, er ist jetzt das Oberhaupt der „Ukrainisch-orthodoxen Kirche“.  Er genießt in der Ukraine hohes Ansehen, zum Kriegsbeginn am 24.2. sagte er: “Wir glauben, dass die Gewalt und die Waffen, die heute rechtswidrig gegen uns gerichtet werden, sich in Gottes Zorn und Schwert gegen den Angreifer verwandeln werden”, so Epipanius. Man müsse den Feind abwehren und die Ukraine vor der Tyrannei schützen, die der Angreifer bringen wolle. (Quelle: Dom Radio, 24.2.2022). Auch Bischof Onufri, der Metropolit der mit Moskau verbundenen orthodoxen Kirche in der Ukraine sagte am 24.2. in Richtung Putin und Co.: “Stoppt den Bruderkrieg”.

9. Diese Ukrainisch-orthodoxe Kirche hat 2019 die höchste Aufwertung des Ehren-Primas der ganzen orthodoxen Welt, des Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomäus, erhalten. Er hatte diese Kirche als „vollständig orthodoxe und vollständig ukrainisch“ anerkannt, mit dem Titel eines Patriarchen von Kiew. Diese Entscheidung war für die russisch – orthodoxe Kirche ein extremer Schock und ein Machtverlust. Das Moskauer Patriarchat dachte sogar daran, die Gemeinschaft mit dem Ehren-Vorsitzenden, dem Patriarchen Bartholomäus in Konstantinopel, abzubrechen. Der für die Auslandsbeziehungen zuständige russische Bischof Hilarion (er hält sich oft bei Papst Franziskus auf) warnte schon damals: Die Schismatriker, also die Ukrainisch-Orthodoxen, könnten sich der hoch verehrten traditionellen heiligen Stätten in der Ukraine bemächtigen. „Die dem Moskauer Patriarchen treuen ukrainischen Orthodoxen würden diese heiligen Stätten verteidigen. „Also können wir ein Blutbad deswegen erwarten“. Auch die Kosaken-Truppen in Donbass erklärten sich bereit, die heiligen Stätten der Ukraine gegen die abtrünnigen Orthodoxen zu verteidigen, im Sinne Moskaus natürlich. (Siehe Denis Jacqmin)
Somit hat die russisch-orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen von Moskau die Allmacht über die Ukraine verloren. 58 % der sich orthodox nennenden Ukrainer sind mit der neuen ukrainisch-orthodoxen Kirche verbunden (La Croix, 22.2.2022).

10. Wenn es jetzt zum Krieg in weiten Teilen der Ukraine durch die Aggressionen Putins kommen sollte, ist die orthodoxe Kirche der Ukraine, und damit das sich mehrheitlich orthodox fühlende Volk, gespalten. „Es kann sein, dass die Moskau-treuen orthodoxen Ukrainer sich patriotisch für Moskau zeigen“, sagte (bzw. drohte) der mit dem Moskauer Patriarchen verbundene Bischof Victor Kotsaba, er sagte weiter: „Unsere Kirche ist bereit im Falle eines totalen Krieges die Leute zu segnen für die Verteidigung ihres Vaterlandes. („La Croix, 22.2.2022)

11. Wenn es also zum Krieg in weiten Gebieten der Ukraine kommen sollte, wäre dies auch ein Krieg zwischen verfeindeten orthodoxen Christen der Ukraine, die einen pro Moskau, die anderen pro Kiew. Ein Religionskrieg unter Christen?
Daran denkt auch das Oberhaupt der selbständigen, also der nicht vom Moskauer Patriarchen abhängigen Ukrainisch-orthodoxen Kirche, Metropolit Epiphanias: „Der Kreml weitet seine Aggression aus, indem er die Rhetorik der Verteidigung der Orthodoxie gebraucht. Ich wende mich an die orthodoxen Christen hier, die dem Moskauer Patriarchen unterstehen: Warten Sie nicht, bis ihre Führer (Bischöfe) es wagen ihr Schweigen zu brechen und endlich etwas sagen, um den Frieden zu verteidigen, um die Ukraine zu verteidigen. Beginnt damit persönlich! Der Aggressor muss sehen, dass ihr orthodoxen Christen des Moskauer Patriarchats kein Bedarf habt an seinen Truppen und seiner Macht. Das ist die Bürgerpflicht und die Pflicht des Christen“. Bisher hat Patriarch Kyrill I. von Moskau zu den neuesten “Aktionen” (.d.h. dem Krieg) Putins gegen die Ukraine geschwiegen. (Siehe dazu ein Zitat von Regina Elsner, Wiss. Mitarbeiuterin im Zentrum für Osteuropoa in Berlin, im DOM-Radio Köln gesendet am 23.2. 2022, siehe Fussnote 1)

12. Metropolit Epiphanias von der Ukrainisch-orthodoxen Kirche wandte sich dann an alle Ukrainer: Unsere Kirche appelliert daran, der Gewalt vorzubeugen, die sich gegen die Güter der Gemeinden des Moskauer Patriarchats richten. Der Feind sucht nur einen Grund, um im Falle von Gewalt seine eigene Aggression zu rechtfertigen. Unsere gemeinsame Aufgabe ist die es, die Pläne des Feindes zu zerstören“ (Zitate in: La Croix, Paris, 22.2.2022, Beitrag von Marguerite de Lasa).

13. Es ist wichtig zu wissen, dass der Moskauer Patriarch Kyrill I. offiziell Putin unterstützt hat bei der Annexion der Krim und der Gebiete im Osten der Ukraine. Diese Unterstützung Kyrills für Putin hat, so Anna Dolya, viele Orthodoxe mit Bindungen ans Moskauer Patriarchat dann doch zur Ukrainisch – orthodoxen Kirche geführt.

14. Die ukrainische – orthodoxe Kirche mit dem Patriarchat in Kiew hat während der Proteste auf dem Maidan Ende 2013 Partei zugunsten der Demonstranten ergriffen und z.B. das Kloster St. Michael als ein Krankenhaus für die Verletzten umgebaut. Die orthodoxen Christen, die sich als Ukrainer dem Moskauer Patriarchat verpflichtet fühlen, haben zum Teil heftig gegen die Maidan-Demonstranten agiert. Popen in der Ostukraine haben sich auch geweigert, gefallene ukrainische Soldaten zu bestatten, Bischöfe wie Thykon oder der Erzpriester Vsevolod Chaplin haben groß und breit die „zivilisatorische Mission der russischen Soldaten in der Ukraine” gelobt (so Denis Jacqmin).

15. Was ich schon in früheren Beiträgen auf der website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin betont habe: Die orthodoxe Kirche in Russland kann unter den jetzigen Bedingungen kein Ort gesellschaftlicher Kritik am Staat sein. Sie ist viel zu eng mit dem Staat, mit Putin, verbunden, als dass sie als Opposition überhaupt in Frage käme.
Es wäre ja denkbar, dass angesichts der Unterdrückung jeglicher politischer Opposition die Kirche die Rolle der Opposition übernehmen könnte, wie etwa die Evangelische Kirche in der DDR vor der und während der „Wende“.
Aber damit ist nicht zu rechnen, zumal auch die finanzielle Bereicherung der orthodoxen Kirchenführer „vom System“ so groß ist, dass kein Weg dahin führen könnte, dass diese Organisation von prächtiger Liturgie in uralter Sprache jemals wieder authentische Kirchen werden, die den Namen christliche Gemeinschaft im Sinne Jesu von Nazareth verdienen. Man denke daran, dass der große Dichter Leo Tolstoi einer der heftigsten Kritiker dieser Staats-Kirche damals schon war! Er wurde – natürlich wie üblich im Umgang mit Andersdenkenden – exkommuniziert.

Siehe auch die früheren Hinweise zur Russisch-orthodoxen Kirche auf dieser website des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin, LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/14346_eine-putin-kirche-zur-russisch-orthodoxen-kirche-30-jahre-nach-dem-ende-der-sowjetunion_aktuelle-buchhinweise

Fussnote 1:

Zum Schweigen des Moskauer Patriarchen Kyrill I. zu Putins Kriegserkläerung vom 21.2.2022 sagt die Osteuropa-Expertin Regina Elsner am 23.2.2022: “Bis jetzt schweigt der Patriarch tatsächlich komplett zu dieser ganzen Situation. Es gibt keine einzige Äußerung von ihm. Und das liegt vermutlich genau an diesen Faktoren. Zum einen ist er in die Enge getrieben, einfach auch durch seine jahrelange Unterstützung der russischen Politik. Wenn Putin kirchliche Argumente nutzt, dann ist es für ihn natürlich unmöglich, hier zu widersprechen. Nachdem man seit Jahren genau diese Erzählung mit gefördert hat. Und zum anderen hat er natürlich die große Gefahr vor Augen, dass er die Gläubigen in der Ukraine endgültig verliert, sobald er sich auf die Seite der russischen Argumentation stellt. Das ist die gleiche Situation, wie mit der Annexion der Krim. Auch in diesem Fall gibt es, glaube ich, bis heute keine offizielle Äußerung der “Russischen Orthodoxen Kirche”. Das erklärt sein Schweigen bis jetzt. Und ich bin gespannt, oder ich erwarte ehrlich gesagt nicht, dass es da irgendeine kritische oder in irgendeiner Hinsicht distanzierte Äußerung vom Patriarchen geben wird.

(Das Interview für DOM Radio Köln führte Renardo Schlegelmilch.

Quellen:
Dolya: Anna Doly, L Eglise orthodoxe russe au Service du Kremlin. Dans: Revue Défense Nationale, Paris, 2015/5, pages 74-78.

Denis Jacqmin, Tremblement de terre dans l église orthodoxe, Forschungszentrum GRIP, Bruxelles, 14. Dez. 2018, (https://grip.org/wp-content/uploads/2018/12/EC_2018-12-14_FR_D-JACQMIN.pdf)

La Croix, Comment Poutine instrumentalise la rivalité entre les église orthodoxes en Ukraine, von Marguerite de Lasa, La Croix, Paris, 22.2.2022

Putin kaputt? Von Mischa Gabowitsch, Edition Suhrkamp, 2013, zur orthodoxen Kirche S. 205 – 223.

Kathy Rousselet, “l Eglise orthodoxe russe et le territorie canonique”, in: “Les Etudes du CERI”, Nr. 228-229, Fevrier 2017.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn am 22.2.2022.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK:

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nicht nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Eine total katholische Welt… in Pfarrgemeinden in West-Berlin

Gegen das Vergessen: Ein Zeitzeuge aus den Jahren 1958-1965 erinnert sich.

Ein Hinweis von Christian Modehn, veröffentlicht am 14.2.2022

Dieser Hinweis ist ein theologisch – historischer Forschungsbeitrag. Das heißt: Er wird durch weitere Erkenntnisse und Erinnerungen regelmäßig ergänzt, und in einer noch unsystematischen Form werden diese neuen Erkenntnisse etc. erst einmal gesammelt und vor dem Vergessen bewahrt. C.M. am 13.1.2025.

BEISPIEL 1:  Die reduzierte Sprache in katholischen Familien war damals üblich. Hier wird nicht an das absolute Schweigen über Sexualität und Erotik erinnert. Hier geht es um anderes: C. fragt die Mutter am Sonntagsmorgen: “War meine Schwester M. schon”? Damit ist in in eingeweihten katholischen Kreisen nicht etwa der übliche Gang zur Toilette gemeint. Sondern: “War M. schon in der Sonntagsmesse?” Und die Mutter antwortet: “Nein, sie geht abends.” Das heißt: “Sie geht zur Abendmesse.” Und dann noch diese Formel: “Aber Vater musste schon um 7.” Soll heißen: Er musste schon zur Frühmesse gehen um 7 Uhr aus beruflichen Gründen.

Beispiel 2: Als ich längst aus der katholischen Kirche ausgetreten war (dies tat ich im Jahr 2010),  traf ich eines Tages den von früheren Interviews mir bekannten Franziskanerpater Josef in einem Buchladen in Berlin – Schöneberg. Er sah mich und ihm fiel als erstes ein, mich zu fragen: “Na, wo gehören Sie denn jetzt hin?” Er wusste von meinem Umzug aus “seinem Gemeindebezirk”. Und er meinte: Zu welcher katholischen Pfarrei ich denn nun “gehöre”. Welch ein administratives Denken… An meine Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, am liebsten hätte ich gesagt: Ich gehöre zu meinem Partner, aber das wäre wohl eine Überforderung für den Pater gewesen.

Beispiel 3: Wenn sich zwischen 1955 und 1975 Katholiken in  Berlin trafen, kam sehr schnell die Frage auf. “Na, wo gehören Sie denn hin?”,  gemeint war: Zu welcher katholischen Gemeinde man “gehört”. Offenbar erlebten diese Katholiken die Gemeinde/Pfarrei noch als Ort der Zugehörigkeit, wenn nicht der “Heimat”. Tante Lieschen antwortetet gern treuherzig: “Ich gehöre zwar zu Josef, gehe aber nach Herz Jesu”… (So die Titel der Kirchen)…Eine ferne Welt. Von diesem Gefühl der Beheimtung lebten die Pfarreien damals mit ihren Pfarrern und Kaplänen, denen Katholiken treu ergeben waren und denen man damals nur Bestes unterstellte. Sie waren ja die “Hochwürden”. Sexueller Missbrauch oder finanzielle Gier galten als Einzelfälle, oft von den Feinden der Kirche verbreitet. Mein Vater sagte dann gern: “Es menschelt bis zu Gott”, also bis in die höchsten Höhen der an Gott reichenden Klerus – Pyramide.

Beispiel 4: Die Verbundenheit der Katholiken in der einen überschaubaren Gemeinde war wohl für viele “Praktizierende” der wichtigste Grund, an den Gottesdiensten etc. teilzunehmen: Die Menschen suchten das Gespräch nach den Gottesdiensten, versprachen, einander zu besuchen, sich um einander zu kümmern… trotz aller immer halblaut vorgebrachten Kritik am Klerus (“an den unverständlichen Predigten zumal”, unverständlich nicht nur wegen der dogmatischen und moralischen Belehrungen, auch wegen der akustisch nicht verständlichen Sprache plötzlich eingesetzter etwa japanischer Priester, die einfach erst mal die deutsche Sprache hätten lernen sollen etc..).

Beispiel 5: Der Verlust der Gemeinde – (Bindung) ist nicht nur ein internes theologisches Problem. Soziologen erforschen längst, was der seit mindestens 50 Jahren anhaltende Verlust der Bindungen an Gemeinschaften, Gruppen, Vereine, “intermediäre Assoziationen” etc. für den einzelnen bedeutet. Es ist der (neoliberale, kpitalistische) Markt, der als Referenzgröße für alle Lebensbereiche jetzt gilt: Der vereinzelte, sich allein fühlende, “individualisierte” Mensch zählt nur noch als “Verbraucher”, “Konsument”, als “Nummer auf dem Arbeitsmarkt”: Der neoliberalen Marktideologie entsprechend zählt nur die marktkonforme Individualität. Siehe dazu etwa den Aufsatz von Oliver Nachtwey: “Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen der westlichen Gesellschaften”, in: “Die grosse Regression”, Suhrkamp, 2017, dort S. 215 ff.

…………Der Beitrag von 2022: ………..

1.
Gegen das Vergessen: Das gilt auch für die „katholische Welt“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts in West-Berlin. Wie diese Welt aussah, wie sie die Katholiken bestimmte und prägte, ist heute, zumal für die Jüngeren, nahezu unbekannt. Viele kennen heute bestenfalls den etwas „reformierten“ Katholizismus seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965). Diese alte katholische Welt in den Pfarrgemeinden hatte für die intensiver Beteiligten und „Engagierten“ (Laien) durchaus etwas Totales, Abgeschottetes, Rund-um Betreutes…
Aus anderen Regionen Deutschlands, die zudem katholischer geprägt waren als die Diaspora-Situation in West-Berlin, könnten zweifellos viele Ergänzungen genannt werden.

Aber diese hier dokumentierte, umfassend prägende, also durchaus totale katholische Welt der  Jahre 1958 -1968, ist letztlich gescheitert, sofern man unter Scheitern die Nicht – Akzeptanz dieser religiösen Welt durch die betroffenen Katholiken (Laien) versteht. Diese Akzeptanz schwindet immer mehr, jetzt zumal, wegen der (sehr zögerlich) freigelegten “Fälle” von sexuellem Missbrauch durch Priester. Also von “Geistlichen”, “Hochwürden”, “Monsignores”, “Exzellenzen” (Bischöfe), “Patres” (also “Väter”) usw…

Diese totale katholische Welt aus der Mitte des 20. Jahrhunderts verschwindet also in Europa, um das Verschwinden zu verstehen, sollte man sich an diese “Welt” erinnern.

2.
Die folgende Liste katholischen Lebens in den Jahren 1958 bis 1968 bezieht sich auf die West – Berliner Gemeinden St. Carl Borromäus, Grunewald, und St. Ansgar, Tiergarten, vor allem.
Die meisten der hier genannten religiösen katholischen Veranstaltungen kenne ich aus eigenem Erleben, geboren wurde ich 1948 in Berlin (Ost) -Friedrichshagen. Als Kind lernte ich dort die St. Martins -Pfarrei in Berlin – Karlsdorf kennen.
Viele Informationen wurden aus familiärem Umfeld, etwa der Eltern, mitgeteilt.

Dabei wäre es noch ein eigenes Thema, an die Erfahrungen der katholischen Eltern in Berlin zu erinnern, da drehte sich auch die gesamte Freizeit (etwa in den Jahren 1920-1933) um die Teilnahme in der Gemeinde (etwa St. Sebastian, Berlin – Gesundbrunnen.)

3.
Es steht zudem fest, dass die hier mitgeteilten Informationen noch weitere inhaltliche Vertiefungen brauchen. Dies wäre eigentlich ein weites Feld für interessante kirchenhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Forschungen.

4.
Aber die LeserInnen im Jahr 2022 bemerken schon bei dieser ziemlich umfangreichen Liste, dass diese katholische Welt bis vor kurzem noch die Katholiken bestimmen, prägen, wenn nicht beherrschen wollte. Die Betroffenen (Laien) merkten oft gar nicht, wie ihnen dadurch viel Lebenszeit, viel Lebensfreude, viel Interesse an weltlicher, politischer Kultur geraubt wurde, wie ein mögliches Engagement für politische und soziale Projekte dadurch zweitrangig wurde.

5.
Ob die Katholiken, die Laien wie die vielen Priester, die es damals noch gab, durch diese unglaubliche Fülle von religiösen Angeboten damals wirklich zu einer reifen Spiritualität fanden, ist eine offene Frage. Ich würde sie eher mit Nein beantworten. Spiritualität war nur Kirchenbindung, “Liebe zur Kirche“, wie heute noch manche ungeniert sagen. Wie kann man „die“ Kirche lieben? Christen sollen zuerst Gott lieben UND den Nächsten und sich selbst.

6.
Die folgenden Beispiele sind bewusst nicht systematisch sortiert, dadurch wird die bunte Fülle dieser katholischen Welt deutlich.

Gottesdienste und Gebetsstunden, also Veranstaltungen in der Kirche (hier vor allem die St. Ansgar Gemeinde im Bezirk Berlin – Tiergarten):

Frühmessen, bis ca. 1968 war es üblich, in vielen Berliner Kirchen sonntags die erste Messe schon um 6 Uhr anzubieten, werktags ebenso. Ich war als Ministrant oft sogar vor Schulbeginn in der Messe um 6.45 Uhr in St. Ansgar engagiert. Man stelle sich vor: Ein verschlafener Junge, 15 Jahre alt, auch die Mutter musste um 6 Uhr aufstehen, muss lateinische Verse mit dem Priester beten: Etwa: “Ad Deum qui laetificat juventum meam”, “Zu Gott (gehe ich), der meine Jugend erfreut”. Nach 20 Minuten war der Zauber vorbei: Während des 2. Vatikanischen Konzils musste ich die Lesungen auf deutach mit müder Stimme der Gemeinde vortragen, (nicht die Evangelientexte der Messe, das war Sache des Priesters). Dann das  “Ite Missa est”… 5 Personen feierten die Messe mit, manchmal 6…Und ich eilte zur Schule, fuhr mit der U Bahn mit Menschen aus einer anderen Welt…

Stille Messen, vor dem 2. Vatikanischen Konzil üblich; sie wurden in lateinischer Sprache vom Priester am Altar in ca. 20 Minuten „absolviert“. Die Messdiener mussten auf Latein den Gebeten des Pfarrers antworten, Wein und Wasser reichen für ein „Lavabo“ etc. Mit dem 2. Vatikanischen Konzil wurden diese „stillen“ , d.h. leise „brubbelnd gesprochenen oder gehauchten“ lateinischen Messen abgeschafft, die Traditionalisten (die Freunde Bischof Lefèbvres) pflegen sie bis heute.

Die Sonntagspflicht: Jeder Katholik ist laut Kirchenrecht verpflichtet, „Sonntags die Messe mit Andacht zu hören“, wie es offiziell heißt. Die Sonntagspflicht wird im offiziellen Katechismus aus dem Vatikan bis heute vorgeschrieben (§ 2180).

Die Osterbeichte, vor Ostern muss ein Katholik zur Beichte gehen. Als Beleg erhält er vom Pfarrer ein Bildchen, das die Teilnahme bestätigt. Auch die Teilnahme an der Kommunion zu Ostern wird durch ein Heiligen-Bildchen bestätigt.

Nüchternheitsgebote als Bedingung zur Teilnahme an der Kommunion in der Messe. Bis zu zwei Stunden vor Beginn der Messe hat der Priester und der Laie, der an der Kommunion teilnehmen will, nüchtern zu sein: Also keine Nahrung zu sich nehmen, nur etwas Wasser war erlaubt. Warum bloß? Der Leib Christi, in der Hostie, sollte offenbar auf einen „makellosen“ Magen stoßen…Das galt auch für Erstkommunion-Kinder bis etwa 1962, viele dieser „nüchternen“ Kinder (auch die Messdiener) wurden dann mangels Nahrung während der Messe ohnmächtig.

Heilige Stunde, eine Andachtsform, oft mit Anbetung der Hostie. Immer am Donnerstagabend vor dem Herz-Jesu-Freitag.

Herz Jesu Freitag, dies ist der 1. Freitag eines jeden Monats, mit einer besonders feierlichen Messe und der Zusage eines guten Todes bei regelmäßigem Besuch dieser Messe, meist am Abend gelesen. Nach dem Bau der Mauer durch die DDR wurde freitags in West-Berliner Kirchen die “Bistumsmesse” gefeiert, so sollte im Gebet die Einheit des Bistums Berlin real werden, sagten die Priester.

Complet, Abendgebet, oft von der „Pfarrjugend“ am Samstag-Abend gestaltet, meist sogar in lateinischer Sprache, mit werkwürdigen Bitten auf Lateinisch: Dass man gut schlafe und, so wörtlich,„nec polluantur corpora“. Diese Gebets-Bitte haben die wenigsten Jugendlichen beim Gesang verstanden: „Dass die Körper nicht durch nächtliche Pollution (Samenerguss) befleckt werden“ (war offenbar auch ein Anliegen der täglich diese Komplet singenden Mönche in den Klöstern, auch in Frauenklöstern? Das weiß ich nicht).

Novene, Gebete an neun aufeinanderfolgenden Tagen, um besondere Gnadengaben zu erbitten.

Ewiges Gebet, ein Tages – oder Wochen-Programm, rund um die Uhr sollte mindestens eine Person in der Kirche anwesend sein, um vor der Monstranz still zu beten.

Ablass Erwerben (etwa am 2.November für die Verstorbenen), trotz Luthers Kritik bis heute völlig eine selbstverständliche, auch von Papst Franziskus empfohlene Praxis in der katholischen Kirche.

Ein Triduum, drei Tage der Vorbereitung auf ein Hochfest, wie Pfingsten. Aber auch drei Tage „besondere Predigten.“ Ein Pflichtprogramm für „gute Katholiken“. „Gute Katholiken“ waren praktizierende Katholiken. Und praktizieren hieß in einem sehr begrenzten Verständnis von Praxis: An den Messen regelmäßig teilnehmen, zur Beichte gehen etc…

Volksmission „Motto: „Rette deine Seele“, Ordenspriester besuchen die Pfarrgemeinde zwei Wochen lang und predigen täglich mehrfach, meist getrennt für Männer, Frauen, Jugendliche. Dringendste Aufforderung zur Beichte (bei dem Volksmissionar).

Beichten beim fremden Beichtvater, wenn man nicht bei dem bekannten Gemeindepfarrer beichten will, der alles Private von der Familie kennt, kommt gelegentlich ein unbekannter fremder Beichtvater. An dessen „Beichtstuhl“ bilden sich dann lange Warteschlangen…Unvorstellbar, heute 2022, solche Bilder von vielen reumütigen Sündern in Deutschland noch in den Kirchen zu erleben.

Levitenamt mit feierlichem Einzug, Pfarrer, Diakon und Subdiakon zelebrieren gemeinsam das Hochamt, die wichtigste Messe am Sonntag.

Diese Levitenämter wurden oft beendet mit dem – in überfüllter Kirche – laut geschmetterten Bekenner – Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ (gemeint ist die römische Kirche). In der 6.Strophe dieses Liedes, in der alten Fassung bis 1975 gesungen, heißt es: „Viel tausend schon vergossen mit Heilger Lust ihr Blut, die Reihen stehen fest geschlossen in hohem Glaubensmut…“ Dieser Text stammt von einem J. Mohr 1877, in dem Gesangbuch für das Bistum Berlin „Ehre sei Gott“, die Nr.197. ” Die Reihen fest geschlossen“ …diesen Vers haben dann auch Nazis gegrölt.

Diese genannte 6. Strophe ist in dem neuen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ von 1975 (dort Nr. 639) nicht mehr enthalten, wie überhaupt der Text des Herrn Mohr revidiert wurde

Katholische Identität:

Das Lied „Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land“ möchte ich als katholisches „Kampflied“ bezeichnen, der Text definiert die Liebe zur Kirche als dem Haus voller Glorie. Es wurde bewusst eingesetzt gegen das protestantische „Kampflied“ „Ein feste Burg ist unser Gott“. Man beachte nur den Unterschied. In dem protestantischen Lied geht es im Text um Gottes Macht; im katholischen Lied um die römisch-katholische Kirche. Es ist diese totale Kirchenfixierung, die den Katholizismus bestimmt(e) und ihn oft in die Nähe zu einer umfassenden Ideologie rückt: Zuerst die Kirche, dann der liebe Gott.

Segensandachten, oft sonntags am Nachmittag oder am Abend gefeiert. Beten nach den Vorlagen des Gebetbuches und singen, gelegentlich werden vom Pfarrer auch fromme Texte verlesen: Das ist dann die „Christenlehre am Sonntagabend“. In jedem Fall sind Ministranten anwesend, die große Freude haben, Weihrauch zu schwenken und davon mit Freude viel zu verbrauchen.

Kreuzweg-Andachten, in den 6 Wochen vor Ostern, Betrachten der Kreuzwegbilder in der Kirche mit entsprechenden Gebeten, geleitet vom Pfarrer.

Ölbergstunden, das stille Beten am Gründonnerstag vom ca. 20 Uhr bis Mitternacht.

Rosenkranzandachten, immer möglichst täglich im Oktober, am Abend; aber auch während des Jahres oft einmal wöchentlich. Bei den stillen Messen (s.oben) beteten die TeilnehmerInnen der Messe gern den Rosenkranz, weil sie das leise gesprochene Lateinische, also die Messe selbst, nicht verstanden.

Maiandachten, Marien-Andachten oft täglich im Monat Mai, mit den merkwürdigsten und theologisch hochproblematischen Marien-Liedern. Man denke an das Lied „Maria Maienkönigin, dich will der Mai begrüßen“. Oder „Die Schönste von allen, von fürstlichem Stand“ oder „Mein Zuflucht alleine, Maria die reine, zu beten an“ (sic), „Über die Berge schallt s , lieblich durch Flur und Wald, Glöckchen dein Klang….“ (Siehe auch: „Mythos Maria“, von Hermann Kurze, München, 2014).

Müttermessen“, spezielle Werktagsmessen für Frauen und Mütter, selbst zu Wort gekommen sind sie in der Müttermesse natürlich nicht, sie waren passive ZuhörerINNEN.

Fastenpredigten, in den Wochen vor Ostern, der Fastenzeit, kamen mehr oder weniger begabte „auswärtige“ Prediger (oft Ordenspriester) in die Pfarreien und predigten intensiver und länger als gewöhnlich. Fragte ich die Leute, was denn der Inhalt der Predigt war, die Antwort: “War doch großartig.

Primizsegen, der frisch geweihte Neupriester segnet die einzelnen Gläubigen, weil ihm offenbar ganz „besondere geistliche Macht oder frische Segnungs-Energie“ zugetraut wird. Katholiken sagten mir: Für einen Primizsegen laufe ich mir die Schuhe kaputt”. Offenbar glaubte man, ein frischer Segen eines jungen Priesters sei wirkungsvoller… Katholischer Aberglaube halt.

Priestersamstag, an dem Tag werden Messen gehalten, um für Priesterberufe zu beten. Diese Gebete wurden vom lieben Gott seit ca. 1970 nicht mehr erhört: Kein junger Berliner wollte noch Priester werden, heute stammen sehr viele Priester in Berlin aus Polen, Spanien, Afrika, Indien, den Philippinen usw. Wenn von dort in absehbarer Zeit auch kein Priester mehr „aushilft“, kann „man den Laden (Katholizismus in Berlin) zumachen“, wie ein Pfarrer mir kürzlich (2021) sagte.

Nachtanbetung für Männer, sie trafen sich in Kirchen und Kapellen West-Berlin, um in der Fastenzeit von Freitagabend 22 Uhr bis Samstag 6 Uhr zu beten, zu beichten, Predigten zu hören.

Roratemessen, in der Adventszeit frühmorgens um 5 Uhr gelesene Messen, oft speziell für Jugendliche, die danach gemeinsam frühstückten bevor sie zur Schule usw. gingen.

Versehgänge: Der Priester bringt, oft begleitet von einem Ministranten, die Kommunion einem Schwerkranken und Sterbenden, der Priester „versieht“ ihn mit der Kommunion. Wer auf der Straße einen solchen Priester bei seinem „Versehgang“ traf, durfte ihn nicht ansprechen: „Er hatte den lieben Gott bei sich“, hießt die populäre Erklärung. In manchen bayerischen Kirchen war der Altar mit einem Tuch geschmückt, darauf stand: „Stille, hier wohnt Gott“. In Katholischen Kirchen dürfen die Gläubigen untereinander nur leise flüstern.

Gebotene Fast – und Abstinenztage: Ein Tag vor kirchlichen Hochfesten sollte der Katholik fasten und keinen Alkohol trinken, zu den Hochfesten zählte auch der 8. Dezember, das fest Martens Unbefleckte Empfängnis, also war der 7. Dezember einer der Fast – und Abstinenz Tage.

Der Kirchenchor: Er hält seine Proben einmal wöchentlich, in St. Ansgar wurden viele schlesische Lieder und schlichteste Messen (von Max Filke aus Schlesien) geprobt und aufgeführt an hohen Festtagen.

Der Organist (in St. Ansgar) zieht bei der Begleitung der Lieder oft alle Register, er erschlägt beinahe den Gesang der Gemeinde. Orgel als Herrschafts-Instrument. In evangelischen Kirchen versteht man trotz Orgelbegleitung meist noch den Gesang der Gemeinde.

Aushilfen durch Priester: Es gab bis ca. 1968 sehr viele Priester in Berlin, zum Teil pensioniert, zum Teil früh-pensioniert aus welchen ungenannten Gründen auch immer.Diese Priester wollten gern mal in einer Gemeinde die Messe lesen und predigen. Die Gemeindepfarrer waren also „entlastet“. In der Verwaltungszentrale, dem Ordinariat, war für jedes „Ressort“ selbstverständlich ein Priester, meist ein „Monsignore“ oder „Geistlicher Rat“ tätig. Sie wohnten oft in dem – von Laien – so genannten „Priesterpalais“, einer riesigen Villa in der Winklerstr. im eleganten Stadtteil Grunewald.Es gab in West-Berlin auch viele Ordenshäuser, das Dominikanerkloster St.Paulus in Berlin-Moabit war zeitweise geradezu überfüllt, auch mit jungen Priestern, die dann in St. Ansgar zur Messfeuer auftauchten und nach einigen Wochen wieder verschwanden (wegen eigener Eheschließungen etc.).

Veranstaltungen in den Gemeinderäumen

Beichtunterricht, Kommunionunterricht, Firm-Unterricht: Diese Unterrichtsstunden waren verpflichtend für alle, die an der Ersten Beichte mit ca. 8 Jahren, der Erstkommunion mit ca. 10 Jahren und mit ca. 12 Jahren an der Firmung durch den Bischof teilnehmen wollten. Ich erlebte diese Stunden, die sich oft über mehrere Wochen hinzogen, als Form der Indoktrination. Meine einzige als Achtjähriger: Was soll ich denn bloß dem Pfarrer im dunklen Beichtstuhl sagen? Da gab es Vorlagen, welche Sünden man denn begangen haben könnte… Man wählte aus.

Kirchenvorstand, Laien werden vom Pfarrer berufen, nach dem Konzil gewählt, um über die finanzielle Situation der Gemeinde zu wachen.

Pfarrgemeinderat, nach dem 2. Vatikanischen Konzil eingerichtetes Beratungsgremium von Laien, darunter auch Jugendlichen, die Mitglieder werden von anderen Gottesdienstteilnehmern gewählt. Erster Vorsitzender ist der Pfarrer, ohne seine Zustimmung geht gar nichts, es sei denn der Pfarrgemeinderat beschließt, eher gelbe Tulpen als roter Tulpen für den Altar zu verwenden…

Ministrantenrunde, damals nur männliche Minstranten, einmal wöchentlich eine Stunde mit dem Pfarrer, Festlegung der Ministranten-Einsätze, Liedersingen etwa: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht“, Quiz. Für jedes Ministrieren erhielt der Ministrant 10 Pfennig, wurde durch eine Strichliste dokumentiert. Solange noch lateinische Messen gefeiert wurden, mussten die 10-12 Jährigen die vielen lateinischen Gebete auswendig lernen, dies wurde geübt etwa aus dem „Stufengebet“: „Ad deum, qui laetificat iuventutem meam“. Der Pfarrer brüllte dann in der Ministrantenstunde, wenn ein Junge versehentlich iuventutum sagte statt iuventutem… Welch eine eingepaukte Gebets-Entfremdung für Kinder, die in fremder Sprache des römischen Altertums beten sollten.

Katholische Pfarrbibliothek: Jede Gemeinde hatte eine eigene kleine, so genannte öffentliche Bibliothek, sie war aber nur sonntags nach den Messen geöffnet. In St. Ansgar gab es ihn der Pfarrbibliothek etwa 300 Bücher, vor allem Romane und katholische Jugendliteratur, ich konnte als einer der wenigen Leser Vorschläge zur Anschaffung von Neuerscheinungen machen.

Seelsorgestunde, zusätzlich zum Religionsunterricht in der Schule, katholische Unterweisungen imm Gemeindehaus am Nachmittag. Die Trinität würde erklärt oder die Jungfrau Maria beschworen. Über Sexualität würde kein Wort gesprochen. Auch nicht darüber, wie man sich als Kind/Jugendlicher bei Auseinandersetzungen mit den Eltern oder den Lehrern verhalten sollte.

Diese Gemeinden waren – im Rückblick – keine angenehmen „Orte“ des Lebens, des lebendigen Lebens. Manchmal dachte ich als 16 Jähriger, diese Gemeinden sind eigentlich Partei-Büros einer bestimmten Partei, Ost-Berlin war nahe für uns im Westen Berlins…

Männer – und Frauenrunde, einmal monatlich, oft Vorträge des Pfarrers zu theologischen/ideologischen Fragen.

Kolpingfamilie, Treffen für Ehepaare, die „Kolpingsfamilie“ hatte eine eigene Flagge, die etwa bei Prozessionen außen vorgeführt wurde. Gemütlichkeit war das Motto. Es gab auch katholische Arbeiutervereine, oder Katholisch-kaufmännische Vereine oder eine katholische Ärzte Gilde selbst für die katholischen Philatelisten gab es eine Gruppe in West-Berlin.

Vinzenz – und Elisabeth-Konferenz: Männer und Frauen treffen sich regelmäßig, um zu planen, welche Bedürftigen besucht und finanziell unterstützt werden sollen. Dabei handelte es sich um fast immer um „arme Katholiken“. Dies war eine Form des sozialen Engagements.

Bewegung für eine bessere Welt (gegründet von P.Lombardi SJ), Diskutieren über den Zustand der Welt. Ich erinnere mich: Eine Frau stpürzt ins Gemeindehaus von St. Ansgar, fragt: Ist hier die bessere Welt? Nein, sagt der Pfarrer, die ist in St. Canisius, bei den Jesuiten.

Weltmissionssonntag: Immer Ende Oktober gedachten die Gemeinden der katholischen Weltmission. Ich fand diesen Tag wegen des „internationalen Geistes“ als Schüler immer besonders wichtig!

Action Pater Leppich, Kreis von Aktivisten, die überall katholische Schaukästen aufstellen wollten.

Tanztee für katholische Jugendliche, damit die Jugendlichen nicht in säkulare Discos „abdriften“, sie sollen katholische PartnerInnen kennenlernen. Haben sie dann auch, manchmal schnell wieder geschieden…Aber der Pfarrer, Bernhard Schwerdtfeger, saß hinten im Raum und “passte auf”.  Um 22 Uhr war Schluss

Kreuzweg in der Stadt, katholische Männer ziehen mit einem Kreuz durch die Stadt. Vor Ostern, an einem Samstagnachmittag.

Fronleichnams Prozessionen, intensiv vorbereitet, mit Altären in den Straßen, Plätzen auch im Bezirk Tiergarten.

Autosegnungen, in Berlin, in der St. Christophorus Kirche, Neukölln. (Nebenbei: heute werden auch Handys etc. gesegnet, der Segen für homosexuelle Paare ist vom Vatikan verboten).

Die katholische Welt: Katholische Friedhöfe, katholische Krankenhäuser, katholische Schulen, katholische Gymnasien, katholische Kindergärten, katholische Buchhandlungen (Morus-Buchhandlungen in vielen Stadtteilen Berlins), katholische Ärzte für Katholiken, katholische Briefmarkengilde…: Die Totalität wird sichtbar. Es war schwer, sich dem nicht zu entziehen…

Caritas-Sammlungen: Ich beteiligte mich als Jugendlicher an der so genannten Straßensammlung, zog als den ganzen Samstag nachmittag und Abend mit einer Sammelbüchse aus Metall auch über den Ku-Damm und bettelte alle mir entgegen kommenden Passanten an. Ich war stolz, wenn dann am Sonntag aus der Büchse etwa 150 D Mark in Münzen hervorkamen.

Nicht erwähnt sind: Der “Bund Neudeutschland” (ND), die “katholischen Pfadfinder St. Georg”, der “Katholiscche Frauenbund”, der Dritte Orden des heiligen Dominikus, der Verein vom heiligen Land, der Fatima-Sühnekreuzzug, der Bund des deutschen katholischen Jugend BDKJ, das Kindermissionswerk, die Sternsinger, die Sommerausflüge der Gemeinde, der Gemeinde (Tanz) -Abend im Herbst (in der “Kongreßhalle” in Tiergarten, die “Informationsabende” über die Weltmission,  die Gespräche mit dem Pfarrer vor der krichlichen Trauung, “dem Ehesakrament”, und so weiter…

Es gab keine speziellen Bibelstunden, also keine Kreise, die sich nur mit der Lektüre und der Interpretation der Bibel befassten! Dazu waren die katholischen Pfarrer oft gar nicht in der Lage, schließlich war die historisch-kritische Bibelforschung bis ca. 1960 verboten bzw. Übel angesehen. In West – Berlin gab es EINEN speziell für Bibelfragen und das „Bibel-Werk“ zuständigen Pfarrer.

Es gab in den Jahren keine offiziellen ökumenischen Begegnungen mit den evangelischen Gemeinden in der Nachbarschaft.

Sonntags um 9.50 läuteten die Glocken der St. Ansgar Kirche und die Glocken der ca 100 Meter entfernten Evangelischen Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche gleichzeitig für die Gottesdienste um 10 Uhr. Und kein Christ kam auf die Idee, einfach mal den Gottesdienst der anderen Konfession zu besuchen.

Am Schriftenstand am Eingang der Kirche: Unglaubliche Presseerzeugnisse:
Broschüren, zum Beispiel: „Katholik, das musst du wissen“, vom Johannes
-Bund Leutesdorf. Zeitschriften: „Maria siegt“. „Hoffnung“, „Der Feuerreiter“, „Mann in der Zeit“, „Echo der Zeit“, „Petrusblatt“, „Der Jesusknabe“, „Stadt Gottes“ und so weiter

Die Anreden: Hochwürden, Herr Pfarrer XY, Herr Kaplan, Eminenz, Seine Durchlaucht (für den Vorsitzenden des ZK der Katholiken), Monsignore, Domherr, Domvikar, Geistlicher Rat, Erzpriester, Defensor Vinculi, Frauenseelsorger, Männerseelsorger.
Die Nonnen wurden als „ehrwürdige Schwestern“ genannt oder „Mutter Oberin“.

Wenn ein Kaplan sein Priesteramt aufgab und meistens dann heiratete, nannte man ihn im katholischen Milieu „einen Abgesprungenen“ oder „Abgefallenen“. Diese Abgesprungenen mussten das alte Wohngebiet verlassen, sie sollten kein „Ärgernis“ geben. Wer sich als Priester verliebt, erregt für Katholiken ein „Ärgernis“…

Ansätze zu einer Bewertung
Bis ça. 1968 nahmen von den 1.600 Mitgliedern der St. Ansgar Gemeinde in Berlin-Tiergarten ca. 500 Menschen an der Sonntagsmesse teil, dreimal wurde sonntags die Messe gefeiert. Diese Teilnahme entsprach auch kirchlichem Druck: der Sonntagspflicht!
Aber die Gemeinde bot auch Raum für allgemein menschliche, oft freundschaftliche Kommunikation. Manche nahmen wohl den Messbesuch bloß „in Kauf“, um danach noch lange Zeit mit anderen plaudern zu können, sich zu verabreden etc..

Diese starke Kirchenbindung damals hat sicher auch kulturell-soziale Gründe: Man denke an das Freizeit Verhalten damals; Gemeinde war auch ein Ort von kontrollierter, behüteter Freizeit, allerdings nicht immer, wenn man an die vielen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester denkt. Darüber sprach damals niemand, auch wenn in der „weltlichen“ Presse, wie dem Tagesspiegel, gelegentlich Notizen des Missbrauchs veröffentlicht wurden. Ich erinnere mich an entsprechende kurze Meldungen aus dem Don-Bosco-Jugendheim in Berlin Wannsee (Leitung: der Salesianer-Orden, SDB), Pater von …XY wurde um 1965 aus dem Don-Bosco-Heim „versetzt wegen Unregelmäßigkeiten“, hieß es dann knapp im Tagesspiegel. Die katholische Kirchenzeitung berichtete selbstverständlich NICHT darüber…„Na ja, es menschelt halt bis zu Gott“, war die Standard – Antwort vieler Katholiken, und keiner wagte nachzufragen. Erst 2010 wurde aus diesem Don – Bosco – Jugendheim sexueller Missbrauch durch die dortigen Patres gemeldet: https://www.morgenpost.de/berlin/article103989118/Patres-sollen-Jungen-vergewaltigt-haben.html

Das Zweite Vatikanische Konzil gab den Katholiken endlich und zurecht ein Gefühl von individueller Freiheit und religiöser Wahl: Warum muss ich mich jeden Sonntag in die Kirche zur Messe setzen mit immer denselben Riten und fast schon zu Floskeln gewordenen Gebeten und den schlechten Predigten? Diese Frage stellten sich viele und entschieden sich individuell.

Heute hat die Kirche auch in Berlin die meisten Katholiken, als aktive Mitglieder, „verloren“. Die Gemeinden schrumpfen, sie werden „zusammengelegt“, kaum noch ein Pfarrer ist erreichbar, es werden Messen gelesen von den wenigen gestressten Priestern und alle wissen: In zehn Jahren bricht auch dieses System der Versorgung zusammen: Die Kirchenführer und die Laien sprechen öffentlich nicht differenziert und mit allem Wissen darüber, weil momentan der sexuelle Missbrauch durch Priester alle Debatten und Reflexionen beherrscht.

Das heutige Sterben der katholischen Gemeinden ist vor allem als ein Verlust an menschlicher Kommunikation zu beklagen. Und die Bischöfe lassen das alles zu, ohne endlich das totale Klerus-System zu beenden: Das da heißt: Nur ein Priester kann Messe feiern. Nur die Messe ist der Höhepunkt des Gemeindelebens. Solange die Kirche an diesen vom Evangelium unbegründeten Überzeugungen festhält, kann man alle Hoffnung für die katholische Kirche in Deutschland z.B. fahren lassen. Viele katholische Kirchen wurden in den letzten Jahren geschlossen, abgerissen, verkauft. Warum? Weil die Priester als “Gemeindelieter” fehlten! Oder weil die Priester zuvor nichts Vernünftiges, d.h Menschliches, Freundliches,  für die Gemeinde taten. So dass die Mitglieder halt “austraten”.  Das Ende der Kirchen – auch in Berlin – ist vor allem bedingt durch den Klerikalismus oder: protestantisch: durch den Bürokratismus. “Die Kirchen stehen die ganze Woche über leer und sind selbstverständlich bverschlossene. “Die verschlossene Kirche” wäre ein hübsches Thema für kritische Journalisten.

Die Zahl der LaientheologInnen in Berlin, die keine Arbeit in dieser Kirche fanden oder finden wollten, ist groß. Warum hätten sie nicht auch katholische Gemeinden „leiten“ können? Weil der allherrschende Klerus das nicht wollte und auch heute nicht will. Der Klerus will herrschen, allein und immer. Da hilft nur eine weitere Reformation, also NICHT etwa eine „Reform“ oder ein „Reförmchen“.

Am 2.9.2024: Ich lese, in er kathol.Zeitung “Tag des Herren” vom 1.9.2024 , dass der Erfurter katholische Bischof einem kathol.Diakon die Gemeindeleitung anvertraut hat, aber: Er darf nicht die Messe feiern! Und: Keinem Kranken das Krankensakrament reichen. usw. Das darf nur ein Priester, der aus Indien extra nach Erfurt eingeflogen wurde. Welche ein Wahn, darf man wohl sagen, oder genauso deutlich: Wie lächerlich diese Haltung.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

 

 

Die notwendige Verweltlichung des Christentums.

Eine aktuelle Erkenntnis des Philosophen G. W. F. Hegel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Das Christentum nur als spirituelle Religion, unter Führung des Klerus, zu verstehen und zu gestalten, ist für Hegel nur das „halbe Christentum“. Für ihn steht fest: Die zentrale der Idee der universalen christlichen Freiheit (modern: der Menschenrechte) muss sich in Staat und Gesellschaft realisieren, dies ist genauso wichtig wie alles Innerliche, Spirituelle, Kirchliche.
Die drängende Frage ist: Hat das Christentum Frieden und Gerechtigkeit gebracht in seiner 2000 Jahre dauernden Geschichte? Global beantwortet: Eher nicht. Denn das Christentum ist meist eine Ansammlung spiritueller, dogmatischer, moralischer Gemeinden geblieben. Die Idee der universalen Freiheit und Gerechtigkeit hat sich nicht durchgesetzt. Um so dringender, an einen Vorschlag Hegels zu erinnern. Es geht ihm um die notwendigen„Verweltlichung des Christentums“.

Dazu einige Vorbemerkungen:

1. Zunächst eine Erinnerung an die gegenwärtige Krise des Katholizismus in Europa, den USA und Lateinamerika. Die Statistiken der Religionssoziologen sind eindeutig: Der dortige Katholizismus wird alsbald nur noch als ein institutionell bestehendes Gerüst, man könnte sagen, Skelett vorhanden sein, wenn auch finanziell noch sehr gut ausgestattet. Der tausendfache und noch längst nicht umfassend erforschte sexuelle Missbrauch durch Priester, Ordensleute und verantwortliche Laien erdrückt wie eine riesige Lawine das Leben und Überleben dieser Kirche. Auch deswegen steigt die Zahl der „Unkirchlichen“ und „aus der Kirche Ausgetretenen“ kontinuierlich. Diese „ehemaligen“ (?) Katholiken verstehen sich wahrscheinlich nicht immer als Atheisten. Sie wurden vielmehr von der Kirchenleitung aus der Kirche vertrieben. Manche sagen, sie sind religiös heimatlos geworden. Gibt es neue Möglichkeiten eines spirituellen, eines umfassend christlichen Engagements? Hegels Antwort: Es ist die Teilnahme an der „Einfügung“ der Idee universaler Freiheit in die Welt…

2. Zu diesem Niedergang des Katholizismus gehört, dass in einigen Ländern noch so genannte „synodale Wege oder synodale Prozessen“ unternommen wurden, um Reformen in der Lehre und den Kirchengesetzen einzuklagen, im Vatikan, beim Papst natürlich, also oft bei Kleriker-Bürokraten, die sich traditionell gegen Reformvorschläge einer Kirche eines Landes wehren. Dass diese so genannten „Synoden“ (sie beraten nur, dürfen aber nichts entscheiden!) in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie Holland, der Schweiz, der Bundesrepublik, also seit 1967, nichts an tiefgreifenden Reformen für die Kirche dieser Länder bewirkt haben, ist eine Tatsache. Insofern sind die heutigen Sitzungen und Debatten in synodalen Prozessen wie damals schon eher eine Art Freizeitbeschäftigung oder auch Beschäftigungstherapie für frustrierte Laien und Priester der Basis. Und Rom freut sich, dass noch Leben da ist…

3. Wie kann in der Situation noch das Wesentliche des Christentums im Rahmen der katholischen Kirche gerettet werden? Mit dieser Frage sind wir genau bei Hegel, dessen gesamte Philosophie vom religionsphilosophischen Thema geprägt ist. Darin stimmen wesentliche Hegel-Forscher überein, wie Michael Theunissen oder Walter Jaeschke. Hegel wollte zu seiner Zeit begrifflich klare Aussagen zu dem Thema machen, weil ein Christentum bloß des Gefühls sich im Protestantismus breit machte und im Katholizismus eine Ende der autoritären Klerus-Herrschaft nicht absehbar war. Hegel zeigt in seinem Werk, dass er als Philosoph das Christentum sehr gut verstanden hatte: Seine Erkenntnisse entwickelt er ausführlich in seinen vier, unterschiedlich akzentuierten Berliner „Vorlesungen über die „Philosophie der Religion“ (1821, wichtig dann: 1824, 1827 und 1831).

4. Zum Wesen des Christentums gehört für Hegel: Gott ist Geist. Und der Mensch ist Teilhaber dieses einen göttlichen Geistes, er bezieht sich auf Gott in einem Verhältnis der Freiheit, d.h. der Mensch ist in der Beziehung zu Gott auch bei sich selbst! Und diese Überwindung des „Fremden“ und Entfremdenden auch Gott gegenüber ist wesentlich Freiheit.
Diese Erkenntnis von der Freiheit ist die Grundlehre des Christentums, sie muss um der Freiheit der Menschen will auch als gesetzlich gefasste Freiheit in Gesellschaft und Staat greifbar werden.

5. Diese Freiheit ist Zentrum der Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes: Und es ist der Philosoph Hegel, der diese zentrale Botschaft der Religion in die Begriffe der Philosophie, also ins Denken, überführt, Hegel sagt „aufhebt“.
Das Reich Gottes wird repräsentiert in der Gestalt Jesu Christi, dessen zentrale Lehre sich in den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit zusammenfassen lässt. Und Hegel zeigt in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen: „In der Religion des Christentums an sich ist das (nur) Herz versöhnt“, (S. 330 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band II, Suhrkamp 1969). Es gibt also, in der Geschichte Jesu Christi sichtbar, bereits eine spirituelle, geistige Versöhnung von Gott und Welt/Mensch, also die spirituelle „Erlösung“. Sie ist „an sich“ schon Gegenwart, sie muss nur noch gestaltet, „hineingebildet werden in die Welt“, wie Hegel sagt.
Diese Erlösung ist dann die Gegenwart des Reiches Gottes in Staat und Gesellschaft, eigentlich haben dafür die Gemeinde, die Kirchen, einzutreten. Aber aufgrund der Begrenztheit ihrer Theologien können Kirchen diese Vermittlung nicht leisten, also die „Hineinbildung“ der Ideen des Reiches Gottes in die Welt. Die Gemeinde/Kirche würde zudem der Versuchung unterliegen, sich gegenüber Staat und Gesellschaft als „Herrscherin“ zu etablieren, wie einst im Mittelalter. Weil die Kirchengemeinde in der Begrenztheit theologischer Begriffe lebt, wird die Philosophie wichtig: Sie kann als Philosophie, die die Wirklichkeit in allgemeine und für alle nachvollziehbare Begriffe fasst, auch diese Lehren vom Reich Gottes der Welt vermitteln. Sie kann in weltlicher Sprache helfen, diese Lehren sozusagen zu säkularisieren und in Gesetze zu überführen.
Anders gesagt: Die politische Wirklichkeit in Staaten und Gesellschaft muss von den sich stets weiter entwickelnden Weisungen der universalen Menschenrechte bestimmt sein, und dabei ist die an keine Konfession gebundene Philosophie behilflich, wenn sie säkular die Lehre der christlichen Freiheit darstellt.

6. Das Reich Gottes muss also aus dem Herzen in die Gesellschaft/den Staat treten und dessen Struktur und Gesetze bestimmen. Die Gemeinde als Ort der Frömmigkeit und der Gottesdienste (Kultus sagt Hegel) bleibt aber bestehen. Die Kirche muss aber anerkennen: Das aktive Gestalten der Freiheit in der Welt in Staat und Gesellschaft, ist genauso wie das Spirituelle der zentraler Auftrag der Kirche. Mit der Verwirklichung der Grundideen des Reiches Gottes als humaner Freiheit, kann man auch von einem Ende der (alten, bloß innerlich-frommen) Religion des Christentums sprechen.
(Siehe auch in Fußnote 1 eine etwas ausführlichere Vertiefung).

7. Hegel kann also von einem Ende der bloß spirituellen christlichen Religion sprechen, weil seine Philosophie in der Lage ist, die wesentlichen Inhalte dieser Religion begrifflich für alle Menschen nachvollziehbar zu bewahren und denken.
Der in der Philosophie bewahrte, „aufgehobene“ Geist des Christentums darf sich für Hegel nicht in der Philosophie „verstecken“. Er muss sich äußern, d.h.für Hegel: Ent-äußern in die Welt. Der Hegel-Spezialist Prof. Walter Jaeschke schreibt in seinem empfehlenswerten „Hegel Handbuch“ (Metzler-Verlag, 2016, S. 436): In Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen in Berlin „tritt seit dem zweiten Kolleg der Entwurf einer progressiven Realisierung des geistigen Gehalts der Religion, also seiner Ein-Bildung (d.i. Verwirklichung, CM) in die Weltlichkeit“.
Der geistige „Gehalt“, die „Substanz“ des Christentums, muss in die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft hineingestaltet, Hegel sagt „eingebildet“, werden. Hegels Schüler C.L. Michelet übersetzt diesen Begriff der „Einbildung“ treffend mit „Verweltlichung“, also als Welt – Werdung des Christentums. Und der Hegelianer R.Rothe nennt dann 1837 diese Verweltlichung im Sinne von Welt-Werdung die „Säkularisierung“ des Christentums. „Säkularisierung ist allerdings hier nicht als Entfremdung oder als Entwendung religiöser Substanz gedacht, sondern als ihr Eingehen in die Weltlichkeit und ihr Aufgehen in dieser Weltlichkeit“( Jaeschke, a.a.O, S. 437).

8. Folgt man diesen Erkenntnissen Hegels, dann bleibt für die Kirchen heute auch der wichtigste Auftrag, die Idee der universalen Freiheit und damit die Idee der Menschenrechte in der Welt, der Gesellschaft, dem Staat zu fördern. Das allein ist der zentrale Auftrag der Kirche in der Moderne: Die Menschenrechte in der Welt, in den Gesellschaften, den Staaten, zu pflegen, zu fördern, zum Ausdruck zu bringen. Auf die aktuelle Situation 2022 bezogen: Vielleicht könnten sich in diesem Projekt auch Menschen wiederfinden, die aus der Kirche ausgetreten sind, um sozusagen eine weite säkulare Ökumene zu bilden. Dies ist schon ein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Erkenntnisse Hegels.

9. Der Impuls, die universale Freiheit, die Geltung der Menschenrechte, in der Welt durchzusetzen, hat leider keinen Vorrang unter den religiösen und kirchlichen Aktivitäten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesem „Politischwerden“ des Christentums entsprechen wollen, sie wurde aber weitgehend von konservativen Kirchenführern unterdrückt, gerade weil die Befreiungstheologie angeblich nicht dogmatisch korrekt und fromm genug sei…Dabei ist allen kritisch gebildeten Theologen klar: Wer nach dem Kern des Evangeliums fragt, lese in dem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu oder seine „Endzeitreden“. Mit anderen Worten: Schon Jesus von Nazareth war ein heftiger Kritiker der Religion, wenn sie nur den Kultus liebt, aber nicht die Humanität an die erste Stelle stellt. Feierliche Gottesdienste, Kultus usw., klerikale Gesetze haben im Sinne Jesu von Nazareth nur Sinn in ihrer Hinordnung auf das auch politisch zu verstehende Reich Gottes.

10. Verweltlichung des Christentums und Bonhoeffer.
In seinen Briefen aus dem Gefängnis Tegel (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ post mortem veröffentlicht) hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (geboren am 4.2.1906 in Breslau, als expliziter Feind der Nazis hingerichtet im KZ Flossenbürg am 9.4.1945) einige Einsichten mitgeteilt zur Zukunft des Christentums. Ich sehe darin gewisse Verbindungen zu Hegels Einsicht von der Verweltlichung des Christentums.
Dietrich Bonhoeffer sah schon um 1943 deutlich, wie die alte, vertraute dogmatisch geprägte Gestalt der Kirche in Europa zusammenbricht, verschwindet, weil sie in ihrer Sprache und frommen Praxis die Menschen nicht (mehr) bewegt. Bonhoeffer sprach deswegen davon, ein religionsloses Christentum zu denken und zu entwerfen. Und dieses Projekt berührt die Erkenntnis Hegels zur „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ des Christentums.
Bonhoeffer schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ („Widerstand und Ergebung“, DBW8, Gütersloh 1998, 558). „Worauf es im letzten ankommt: Es ist das Beten und TUN DES GERECHTEN“ (WE 157). Noch einmal: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Bonhoeffer lobt die Weisheit des Alten Testaments „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem ? (WE 144).
Mit dem „Tun des Gerechten“ ist genau die Forderung Hegels gemeint: Die universale Freiheit und die Menschenrechte in der Welt durchzusetzen. Und was könnte man als Hegelianer unter Beten verstehen? Dieses ist ein Geschehen der inneren geistigen Verbindung mit der Weisheit der Bibel.

11. Franz Rosenzweig und das Ende der Religion.
„Religionsloses Christentum“: Mit dieser These nähert sich Bonhoeffer auch einem Gedanken des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (…) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154).

12.
Das Christentum und die Kirchen können in Europa überleben…… wenn sie religionslos werden.
Das ist Hegels Überzeugung: Wenn das Christentum also das klare begriffliche Verstehen (und nicht nur die Liturgien, Gebete etc.) pflegt und Philosophie respektiert, um die gesellschaftliche Freiheits-Praxis zu fördern, hat es noch eine Chance, auch heute inspirierend zu sein. Dann könnten viele Energien frei gesetzt werden, um Krieg und Nationalismus zu überwinden und das Hungersterben von Millionen Mitmenschen weltweit zu beenden…

Fussnote 1:
Hegels Rede vom „Ende der Religion“ ist eingebunden in seine Philosophie. Und diese ist bestimmt von der dialektischen Entwicklung des absoluten Geistes, also dessen, was Hegel der christlichen Tradition folgend, Gott nennt, Und dieser eine Geist (in Gott wie auf eigene Weise in den Menschen) drückt sich in Hegels Philosophie aus: Der absolute Geist wird erkennbar, besser „erkennt sich selbst“ in der Kunst, dann in der Religion und als Höhepunkt am deutlichsten und begrifflich im Denken der Philosophie. Sie ist die „Spitze“ in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Rede vom Ende der Religion ist also darauf bezogen, dass die Religion, sozusagen als noch unreife Stufe des absoluten Geistes, selbst nicht zu den klaren Begriffen findet, die in der Philosophie (Hegels) erreicht werden. Das bedeutet für Hegel aber nicht, dass Kunst und Religion faktisch nicht mehr weiter bestehen. Sie leben weiter, auch im Umgang der Menschen mit den Künsten und Religionen. Aber, und dieses Aber ist entscheidend: Die Religion bzw. das Christentum, also die Kirchen in Europa, sind nicht auf der Höhe der Entwicklung des sich selbst verstehenden absoluten Geistes, wenn sie die kritische Philosophie scheuen oder verachten (wie Muther). Denn Gott wird für Hegel treffend und “adäquat“ nur in der Philosophie, (seiner) Philosophie, begrifflich im Denken erschlossen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Houellebecqs Roman „Vernichten“: Von katholischem Erzbischof gelobt.

Pascal Wintzer (Poitiers) als Literaturkritiker
Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.2.2022; siehe auch den ausführlicheren Hinweis LINK.

1.
Es geschieht nicht gerade häufig, dass ein katholischer Bischof sich über einen neu erschienenen Roman eines umstrittenen Autors ausdrücklich „freut“: Erzbischof Pascal Wintzer (Poitiers) hat am 3.2.2022 in der Tageszeitung „La Croix“ (Paris) wie auch auf der Website des Erzbistums Poitiers (LINK: https://www.poitiers.catholique.fr/michel-houellebecq-aneantir/ ) eine ausführliche Leseempfehlung publiziert: Sie gilt dem kurz zuvor erschienen Roman „Anéantir“ („Vernichten“) von Michel Houellebecq. Das Buch hat eine Startauflage von 300.000 Exemplaren in Frankreich. Das Interesse ist enorm! Und Bischof Wintzer hat schon recht, wenn er Houellebecq „einen der ersten französischen Autoren von heute“ nennt, es gibt längst eine breite Houellebecq-Forschung in Frankreich.

2.
Bischof Wintzer sagt ausdrücklich, dass „man“ auch in dem neuen Roman das wiederfindet, was „man“ (also auch Wintzer) an Houellebecq schätzt: Der Autor „stellt uns vor die großen Verstörungen („dysfonctionnements) der Gegenwart“: Etwa die schlimmen Verhältnissen in den Pflegeheimen für alte und behinderte Menschen. Aber er zeigt in dem Roman auch die Kraft der familiären Bindungen, betont der Bischof. „Wie üblich, ist dies ein Roman einer inkarnierten, fleischlichen Menschlichkeit. Die Körper haben in dem Roman ihren Platz, auch das Vergnügen, der Schmerz und das Leiden…Houellebecq plädiert für das, was einzig den Menschen ehrt, die Beziehung“. Soweit der Bischof, der sogar noch schreibt: „Es ist wahrscheinlich übertrieben, Houellebecq einen Propheten zu nennen, die Zeitung Charlie Hebdo qualifizierte Houellebecq als einen Magier“. Und dann auch dieses persönliche Bekenntnis: „Warum liebt man es, Michel Houellebecq zu lesen, oder auch seinen Auftritten im Fernsehen zu folgen? Weil er Vergnügen bereitet. Zuerst das Vergnügen der Lektüre – und das ist ja auch das, was einen Geschmack am Leben schenkt, aber auch das Vergnügen an seinem schlauen und spöttischen Blick auf die Gesellschaft und auf den Leser selbst. Der Roman Anéantir (Vernichten) erfüllt diese Erwartungen!“

3.
Und am Ende seines lobenden Beitrags zu Houellebecq neuem Roman muss der Erzbischof doch noch einmal seiner Freude Ausdruck geben, den dieser wichtige Autor schreibe doch auch vieles über Religion bzw. die katholische Kirche. Und der Erzbischof zitiert aus einem gerade erschienen Sammelband über den Glauben im Werk Houellebecq, darin definiert er sein Katholischsein: „Ich bin Katholik in dem Sinne, dass ich das Entsetzen über eine Welt ohne Gott ausdrücke … aber einzig in diesem Sinne bin ich katholisch.“

4.
Erstaunlich bleibt, dass ein Erzbischof eine gewisse Berufung als Literaturkritiker entdeckt. Und dann noch seine Begeisterung über einen ja auch politisch zweifelsfrei umstrittenen Autor ausdrückt. Und dabei sogar übersieht, dass Houellebecq in einem Interview mit „Le Monde“ seine geistige Nähe und Verbundenheit mit theologisch – traditionalistischen und politisch reaktionären Kreisen offen bekannte. Dass diese Zusammenhänge Pascal Wintzer übersah, finde ich erstaunlich. Und genauso, mit welcher Leichtigkeit er als Bischof einer nicht gerade erotisch/sexuell-freizügigen Kirche dann doch die „fleischliche Lust“ einiger der Roman-Protagonisten offenbar richtig findet. Dies ist immerhin eine erfreuliche Einschätzung eines katholischen Bischofs.

5.
Bischof Pascal Wintzer wurde am 18. Dez. 1959 geboren, seit Januar 2012 ist er Erzbischof von Poitiers.

6.
Der genante Sammelband mit Studien zu Houellebecq: Misère de l’homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi. Champs, Essais, Flammarion, 2022, das Zitat ist auf S. 366.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.