Verbot und Verzicht. Die „Politik des Unterlassens“ muss beendet werden: Ein Plädoyer des Politologen Prof. Philipp Lepenies.

Eine Buchempfehlung von Christian Modehn am 19.6.2022.

1.
Verbot und Verzicht: Zwei Horrorbegriffe für sehr viele Menschen in Deutschland, vor allem in Kreisen der oft rechtsextremen Impfgegner und gleichzeitig aber auch, etwa beim Thema Tempolimit oder dem verpflichteten Tragen von Masken zum Schutz vor Corona, in Kreisen der
Liberalen und Neoliberalen, etwa in der FDP. Ein merkwürdiges Zusammentreffen? Der ideologische Hintergrund für diese leidenschaftliche Abwehr, über den hilfreichen Sinn von Verbot und Verzicht angesichts der Öko – und Klimakatastrophen und dem Hungersterben von Millionen nachzudenken, ist: Der Glaube an die absolute Freiheit des einzelnen Individuums, das ohne Rücksicht auf andere ökonomisch tun und lassen darf, was es als einzelnes Individuum will. Für diese weiten Kreise gibt es nichts Schlimmeres, als in einer Gesellschaft zu leben, die Verbieten und Verzichten nicht nur als Tugenden, sondern als notwendige politische Haltungen einfordert, nicht aus Gründen einer Staatsallmacht, sondern weil es um nichts Geringeres geht als das Überleben der Menschheit. Die Gegner einer ernsthaften Debatte über Verbot und Verzicht und der dann folgenden Gesetzgebung sprechen mit aller medialen Gewalt von „Bevormundungen“ und „Ökodiktatur pur“ (S. 11) oder gar von „absurder Spinnerei“ (etwa „Die Welt“ bzw. die „FAZ“).
2.
In dieser Situation der neoliberal propagierten totalen Abwehr von Verbot und Verzicht ist das Buch des Berliner Politologen Prof. Philipp Lepenies (F.U.) von großem Wert, die Lektüre wird dringend empfohlen. Lepenies dokumentiert das Thema sehr ausführlich auch historisch. Er zeigt die Wirkungsgeschichte der neoliberalen Ideen der „Masters of the Universe“ (S. 22), also von Friedrich August Hayek und Milton Friedmann, sehr deutlich bei Reagan oder bei Madame Thatcher. Hayek und Friedman und deren gut vernetzten Freunde (zu denen auch der Philosoph Popper gehörte) haben sich für die absolute freiheitliche Souveränität des Konsumenten eingesetzt und damit die Werte der „alten Handels-Welt“ mit ihren Werten des Konsumverzichts ins Abseits geschoben.
3.
Die sogenannten Ideale des Neoliberalismus,Propaganda der totalen Freiheit des eigentlich nur für sich lebenden (wohlhabenden) Individuums, haben sich „in den Köpfen festgesetzt“, so Philipp Leonies, (S. 19), „der „Neoliberalismus durchdringt unsere Art zu denken„ (S. 20). Philipp Lepenies geht so weit, „vom individuellen Tyrannen“ zu sprechen, „der jeden Eingriff in seine Konsumentscheidungen vehement ablehnt“ (S. 23). Der Autor erinnert auch an die hierzulande eher noch unbekannte, von Nietzsche inspirierte Schriftstellerin Ayn Rand, die aus St. Petersburg (Russland) in die USA emigrierte. Sie hat in ihren sehr viel gelesenen Schriften „einen antistaatlichen Extrem-Individualismus“ (S. 96) verfochten.
Viele Details sind spannend zu lesen, etwa die Vernetzungen der Neoliberalen in der „Mont Pèlerin Society“, die sich 1947 am Genfer See formierte. Sieben Mitglieder dieses elitären neoliberalen Zirkels wurden ausgerechnet mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, neben Hayek und Friedman auch George Stiegler, James Buchanan usw. (S.136). Lepenies weist darauf hin, dass die Vergabe-Praxis dieses Nobelpreises auch ideologisch gefärbt war…
4.
Ziel der Neoliberalen damals und heute ist: Staatliche Aktivitäten sollen auf ein Mindestmaß reduziert werden, der Staat solle nur Wettbewerb und Märkte uneingeschränkt fördern. (S. 110).
Mit einem gewissen Erstaunen, aber durchaus bei dieser politisch-ökonomischen Option verständlich, ist die Nähe etwa des Neoliberalen Meister Friedman zum Pinochet Regime in Chile (S. 139).
5.
Am wichtigsten schon wegen der aktuellen Dimensionen sind die zusammenfassenden Schlusskapitel des Buches, wenn Lepenies etwa an den großen Soziologen Zygmunt Bauman erinnert (S. 234): „Das Individuum befriedigt seine Konsumwünsche, die von der Produzentenseite bei ihm geweckt werden (S. 234).
6.
Wer bei der aktuellen Debatte einsteigen will, sollte also zuerst das Schlusskapitel lesen: „Politik im Geist des Unterlassens“ (S. 251 – 266). Darin plädiert Lepenies mit allem Nachdruck dafür, dass allein demokratische Verbote und Verzichtleistungen der Bürger (der Armen milder als der Millionäre) die tiefe Öko -, Klima – und Gerechtigkeits-Krise der gegenwärtigen Welt lindern könnten. Voraussetzung dazu wäre: Den Staat nicht, wie bei allen Neoliberalen in ihrer dogmatischen Befangenheit üblich, als Feind des Individuums zu betrachten. Denn für die Demokratie gilt: „Die Bürger SIND der Staat, sie SIND der Souverän“ (S. 255). Nur wenn dieses Feinbild Staat bei Neoliberalen überwunden wird, kann das grundlegend Menschliche wieder entdeckt werden, nämlich: „Die Gemeinschaft und die Zusammengehörigkeit“ (S,256). Solange Hayek und seine Freunde das internationale politische und wirtschaftliche Leben bestimmen, „wird die staatliche Untätigkeit angesichts der Klimakrise legitimiert“. (S. 257). Nur bei Überwindung der neoliberalen ideologischen Übermacht kann wieder ein Sinn für die richtige und berechtigte humane Moral IN der Politik entstehen (S. 258). Aber das wird angesichts der finanziellen Übermacht und medialen Bedeutung dieser Kreise schwer sein, denn diese Ideologen sind, wie Philipp Lepenies schreibt, „mit religionsähnlichem Eifer“ (s. 263) allüberall tätig. Sie glauben nicht an die universalen humanen Werte, schon gar nicht an den biblischen Gott der Gerechtigkeit, sie glauben an den für sie heiligen Markt, der alles zum Besten wendet. Aber dieser Glaube, so Lepenies“, ist „illusorisch“ (S. 264). Also ein Aberglaube. Und ein sehr mächtiger Aberglaube, leider. Nebenbei: Die Kirchen in Deutschland, den eigenen Worten nach Glaubende an den Gott der universalen Gerechtigkeit, können und wollen diesen Aberglauben nicht bekämpfen. Sie sind selbst viel zu sehr neoliberal verstrickt und entsprechend verdorben.

Über die kirchlich, katholisch zumal motivierten irrigen Ermahnungen zum Verzichten (besonders der “kleinen Leuten”) müsste weiter nachgedacht werden, ohne Verzicht-Propaganda (auf Luxus, Konsum, Sex (Zölibat) ist die alte katholische Welt kaum zu verstehen. Verzichten mussten immer die Armen, die Laien, nicht die Päpste, nicht der Klerus (er dufte nur offiziell keinen Sex haben!) , nicht die Fürsten, die Könige…Verzichten passte gut in die Klassengesellschaft damals und heute. Der Verzicht diente dem Erhalt der Klassengesellschaft, er hatte keine progressive Bedeutung wie heute.

Philipp Lepenies, „Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geist des Unterlassens“, Edition Suhrkamp Berlin, 2022, 266 Seiten, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Wenn auch die EU Krieg führt … gegen Flüchtende.

Ein Hinweis auf ein neues, wichtiges Buch von Christian Modehn (2022):  “Grenzenlose Gewalt” .

Ergänzt am 10.7.2022: Lesen Sie zuvor einen Bericht über die Massaker in Melilla (Spanien) am 24. Juni 2022: LINK

100 Millionen Menschen sind jetzt auf der Flucht. Diese Informationen veröffentlichte “Die ZEIT” vom 23. Juni 2022, Seite 52. Von diesen 100 Millionen sind 1,3 Millionen in Deutschland gestrandet, aufgenommen. 1,5 Millionen Flüchtende hat das sehr arme Land Uganda aufgenommen. 1,5 Millionen Pakistan. 1,8 Millionen Flüchtende aus Venezuela nahm Kolumbien auf, 8,2 Millionen Menschen sind in Kolumbien innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht vor Gewalt und Vertreibung.

23,7 Millionen Menschen waren auf der Flucht wegen Klimakrisen und Umweltkatastrophe in ihrer Heimat.

1.
Der Titel dieser Studie “Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” könnte zunächst verstörend sein: Was denn, die EU führt Krieg gegen Flüchtende, wie das Buch „Grenzenlose Gewalt“  (Verlag Association A, Berlin 2022,) nahelegt? Sind jetzt nicht so viele Staaten der EU menschenfreundlich und hilfsbereit in der Aufnahme und Unterstützung von Flüchtenden aus der Ukraine, sie fliehen vor der tötenden Kriegsgewalt Putins.

2.
Die Flüchtenden aus der Ukraine sind mit dem neuen Buch „Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende” nicht gemeint. Diese sind sozusagen die „anderen“ Flüchtlinge, in der Sicht der meisten Polen und Deutschen möchte man etwas polemisch sagen, sie sind die „besseren Flüchtlinge“: Denn es sind Kinder und Frauen aus der Ukraine, und sie sind nicht schwarz, sie sind also nicht „völlig fremd“; und vor allem: Sie sind nicht muslimischen Glaubens, sondern meist Christen. Diese „besseren“ Flüchtlinge aus der Ukraine“ sind vor allem keine jungen Männer aus Nahost, Syrien, Iran usw., denen man in konservativen Kreisen im üblichen, tief sitzenden Vorurteil eine gewisse Gewaltbereitschaft unterstellt. Und die Flüchtlinge aus der Ukraine fliehen vor dem gemeinsamen europäischen Feind, sie fliehen vor Putin und seinem Regime. Und auch damit trösten sich viele hilfsbereite Westeuropäer: Viele ukrainische Flüchtlinge wollen wieder in ihre ukrainische Heimat zurückkehren. Sie sind also anders als die Menschen, von denen das wichtige und sehr instruktive Buch „Grenzenlose Gewalt“ handelt.

3.
Der Untertitel bringt den Inhalt des Buches von 311 Seiten (davon auf 30 Seiten 746 Fußnoten und wissenschaftliche Nachweise) auf den Punkt: „Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende“. Die EU führt, so die gut belegte und gut begründete Studie, ihrerseits selbst Krieg, ohne diesen Krieg formal und feierlich „erklärt“ zu haben. Das Besondere ist: Dieser Krieg kennt nur eine starke, herrschende, sogar allmächtige Seite, diese ist die EU, ist Europa. Und die andere Seite in diesem Krieg sind Menschen, die aus dem unerträglichen Hunger, der Verfolgung, der ökologischen Katastrophe fliehen. Vor allem: Sie haben keine Waffen. Sie sind der anderen Seite (der EU) förmlich ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Es ist also der Krieg gegen Flüchtende aus Afrika, Asien und Nahost. Nebenbei: Auch in Zentralamerika flüchten Tausende in die USA, und die meisten scheitern vor allem an unüberwindlichen Mauern und Stacheldrahtzäunen, errichtet durch die US Regierung. Aber das ist ein anderes Thema.

4.
In diesem Krieg gibt es seit Jahren schon viele Tote: Tote allerdings nur auf der einen Seite: Viele tausend Flüchtlinge aus Afrika sind im Mittelmeer ertrunken, nicht nur der miserablen Qualität der Boote wegen, sondern auch, weil sie nicht gerettet wurden von Europäern (Stichwort: Frontex). Viele sind in der Sahara verdurstet, weil die EU die bewährten Wege durch die Wüste von Niger umgeleitet hat. Viele sind in LKWs auf der Flucht erstickt, oder sie sind im Wald, etwa an der Grenze Belarus und Polen, erfroren. LINK.
Die finanzielle Förderung von FRONTEX, der europäischen „Agentur für die Grenz- und Küstenwache des Schengen-Raumes“, wurde auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr angehoben und damit die fortschreitende Militarisierung der europäischen Grenzen für die Zukunft festgelegt“ (S. 37). Dazu eine ergänzende Info des SWR: „2019 und 2020 hat die Grundrechtebeauftragte bei dem Frontex Direktor Fabrice Leggeri beantragt, den Frontex- Einsatz in Griechenland zu beenden. Bisher ist er dem nicht nachgekommen. Dabei gibt es Hinweise auf Menschen­rechts­ver­letz­ungen vor der griechischen Küste. Recherchen internationaler Medien (darunter „Report Mainz“ des SWR) legen nahe, dass Frontex-Beamte in mindestens vier Fällen an illegalen Pushbacks beteiligt waren. Ein Video zeigt zum Beispiel, wie sich ein rumänisches Schiff mit der Beteiligung von Frontex vor ein überfülltes Schlauchboot mit Flüchtlingen nahe der Insel Lesbos schiebt. Anschließend fährt das Schiff mit hoher Geschwindigkeit nah am Schlauchboot vorbei und erzeugt so Wellen, die das Boot in Richtung Türkei bewegen sollen“ (Quelle: LINK)
Das Autorenkollektiv von „Grenzenlose Gewalt“ schreibt: „Die Festung Europa lässt nicht nur Menschen im Elend sitzen und sie an ihren Mauern abprallen, die Festung Europa tötet. Die dabei alltäglichen Menschenrechtsverstöße sind mitnichten Versehen oder unglückliche Unfälle, sie sind systemisch und systematisch und sie nehmen Tote billigend in Kauf“ (S. 41).
„Frontex kann nach eigenem Dünken schalten und walten, während sich die EU ihrer Verantwortlichkeit entledigt“ (S. 262).

5.
Dieser Krieg ist also ein besonderer, dessen Charakter das Buch ausführlich dokumentiert.. In Kürze nur diese Hinweise:
Diesen Krieg führt die EU als Trägerin des Friedensnobelpreises (2012). Die EU wurde dann offiziell von EU Beamten als „größter Friedensstifter der Geschichte“ gepriesen, etwa von Beate Gminder. Einige Jahre später wurde Frau Gminder zur „Erfinderin des Closed Controller Access Center of Samos“, einer „Käfighaltung von flüchtenden Menschen“ auf Samos, ein Urteil nicht nur des AutorInnenKollektivs des Buches „Grenzenlose Gewalt“, sondern auch vieler anderer Beobachter und Journalisten, die sich einen Sinn für Menschenwürde bewahrt haben. EU Chefin Ursula von der Leyen hat dieses inhumane Projekt zur Internierung von Tausenden von Menschen mit einer Viertelmilliarde Euro gefördert (S. 10): Pfarrer Hans Mörtter (Köln) hat dieses Lager besucht: „Die Menschen im Lager sollen die Botschaft nach Hause schicken: Hier ist die Hölle, kommt bloß nicht her, aber das funktioniert nicht, denn zu Hause ist die Hölle noch größer“, sagt Mörtter (S. 10)

6.
Diese Käfighaltung von Menschen auf Samos, diese ebenso widerlichen Zustände in den Lagern auf Lesbos, dieses dauernde Zulassen von Ertrinken von Flüchtenden im Mittelmeer durch europäische „Sicherheitskräfte“ sind Formen des Krieges der Friedensnobelpreisträgerin EU gegen hilflose Menschen, gegen Flüchtende. Dieser Krieg ist wirklich etwas Besonderes: Er wurde nicht formal erklärt, er wird von der den Krieg inszenierenden Partei, der EU, als „Schutz – Maßnahme“ hingestellt, die offenbar kein Ende kennt. Gerald Knaus, ständiger Gast im Fernsehen, vor allem in Talkshows, gilt als Spezialist für Kriegsfragen und Flüchtlingsfragen. Knaus hatte sich, so die AutorInnen, das bekannte und umstrittene EU-Türkei-Abkommen erdacht (S. 11), das den Türken Erdogan als Türsteher für die EU anheuerte. Später schickte Erdogan Flüchtlinge nach Griechenland, um mit diesen Menschen eine Art Deal zu betreiben…
Bisher hat die EU 6 Milliarden Euro Herrn Erdogan für die Abwehr und Zurückhaltung von Flüchtlingen gezahlt, dabei ist es ziemlich egal, welche kriegerischen Aktivitäten Herr Erdogan gegen Kurden und in Syrien realisiert.

7.
Aber: Diese totale Abwehr von Flüchtenden, dieses Sich-Einmauern Europas, dieses Stacheldraht-Bauen usw. wird nicht die Menschen hindern, aus den Kriegen ihrer Herkunftsländer, der Verfolgung durch dortige Diktatoren nach Europa zu kommen, in den christlichen Kontinent, der so gern von universal geltenden Menschenrechten schwadroniert.

8.
In 6 Hauptkapiteln wird akribische Recherche dokumentiert, die jeder und jede lesen sollte, die hier also nicht zusammengefasst werden kann.

– Wie man eine Festung baut.
– Europas Außengrenzen: Systematische Abschottung und Gewalt.
– Kriminalisierung von Flüchtenden.
– Behinderung von Fluchthilfe.
– Asylverfahren in der EU.
– Gute Aussichten? Panorama der Gewalt.

9.
Instruktiv sind die Erkenntnisse zu der schon üblich gewordenen (durch rechte und rechtsextreme Propaganda verstärkten) Kriminalisierung der Migration (S. 209): Es wird selbstverständlich und pauschal von „Illegaler Migration gesprochen. „Wir leben in einer Zeit, in der es normal ist, dass Menschen inhaftiert werden , nur weil sie migrieren…“ (S. 210). Auch das Thema „Schleusen“ und Schleuser“ wird dokumentiert. Der EU geht es nicht darum, wie Schleuser Flüchtende schleusen, auch nicht darum, wie viel Geld diese Schleuser für ihre Dienste nehmen, es geht der EU nur darum, „DASS sie schleusen“ (S. 214), also dass sie überhaupt auf den Gedanken kommen, Flüchtende nach Europa zu „geleiten“. Schleuser sind deswegen in EU Sicht Kriminelle, weil sie Flüchtenden helfen. Deswegen werden Schleuser als Kriminelle behandelt, viele sind wohl kriminell etwa hinsichtlich extrem hoher „Honorar“ – Forderungen. Aber Flüchtende sagen auch: „Es gibt ja sonst keinen legalen Weg, Europa zu erreichen“ (S. 216, Refugee Protest Movement, Vienna).

10.
Ganz übel ist die öffentlich schon selbstverständliche gewordene Diskreditierung derer, die zivile Seenotrettung leisten. Amnesty International spricht sogar von „einer Diffamierungskampagne“ (S. 221):

11.
Zum Schluss bietet das Buch einen Epilog, einen kurzer Essay, der italienischen Philosophin Prof. Donatella Di Cesare (Rom). Sie ist Spezialistin für eine „Philosophie der Flüchtlinge“. Sie weist u.a darauf hin, dass Europa einige sehr billige Arbeitskräfte aus den Kreisen der Flüchtenden braucht, also darf die EU nicht alle Flüchtenden im Meer ersaufen lassen und wieder nach Libyen, in die dortigen Lager, KZ ähnlich, zurückschicken. Billige und weithin rechtlose Arbeitskräfte werden etwa auf den Obstplantagen in Spanien gebraucht. Das Obst und Gemüse von dort ist sehr wahrscheinlich von unterbezahlten und miserable untergebrachten Flüchtlingen geerntet worden.
Aber dem von vielen Medien verbreiteten und von vielen geglaubten totalen Negativbild der Flüchtlinge, auch der so genannten bedrohlichen Flüchtlingsströme, wurde und wird „nichts entgegengesetzt“, meint Di Cesare. Den rechtsextremen Parteien gelingt es, ihr ideologisches Gift „tröpfchenweise in den alltäglichen Sprachgebrauch einzuspeisen und den Einwanderer zum Sündenbock für alle Missstände, zum Feind Nummer eins, zu machen“(S. 275). Ist es bereits eine faschistische Haltung, wenn viele Europäer den Wert der sozialen Gerechtigkeit nur noch auf die Innenräume ihrer eigenen Nationen gelten lassen wollen?

12.
Diese akribische wissenschaftliche Dokumentation „Grenzenlose Gewalt“, wird als Vorlage dienen für ein internationales Tribunal, das auch der bekannte ANTI-Mafia-Kämpfer, der Bürgermeister von Palermo Leoluca Orlando, angeregt hatte beim Festival „Lesen ohne Atomstrom“ (Hamburg). Dort sagte er im Jahr 2021: „Die Kriminellen (hinsichtlich des Krieges gegen Flüchtende) sind die Staaten, die heutigen Staatsführer“ (S. 14).

13.
Die Studien dieses Buches offenbaren die tiefe politische und geistige Krise der EU, die sich auf Demokratie und Menschenrecht so oft beruft und diese auch manchmal realisiert,. Aber die EU und Europa mauert sich in einer nationalistischen und feindlichen Abwehrhaltung gegenüber Flüchtenden aus Afrika und Asien ein. Es ist die Angst vor den Fremden, die das Denken und Handeln der meisten Europäer bestimmt, und die Unfähigkeit der reichen Welt, also auch Europa, dem zunehmenden Elend, dem Verhungern von Millionen arm gemachter Menschen im Süden dieser Welt, konsequent durch eine gerechte Politik und Wirtschaftspolitik Einhalt zu gebieten. Diese reiche Welt hat sich daran gewöhnt, dass sie täglich in den seriösen TV Programmen für einige Minuten Bilder krepierender Menschen etwa in Afrika sieht und danach stundenlang Krimis und Fussball schauen muss. Sie hat sich daran gewöhnt, dass in den meisten afrikanischen und arabischen Staaten Diktatoren die Menschenrechte missachten … und ihre Bewohner in die Flucht treiben. Die Fluchtbewegungen aus dem Süden sind auch von Europa, auch von der EU, gemacht, mitverursacht, zugelassen und manchmal wohl auch – zur „Lieferung“ billiger Arbeitskräfte – sogar gewollt.

Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende. Von dem AutorInnenkollektiv mEUterei. Lesen ohne Atomstrom. Verlag Association A, Berlin, 2022, 18 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Buddhismus und Christentum: Was beide Religionen miteinander verbindet. Ein neues Buch von Perry Schmidt-Leukel.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Bestimmte populäre Klischeevorstellungen (auch „Generalisierungen“ genannt) über das angebliche „Wesen“ „der“ Religionen haben sich leider durchgesetzt: Zum Beispiel: „Der“ Buddhismus sei eigentliche eine atheistische Weltanschauung, die „Erlösung des Menschen“ werde für Buddhisten in einem „Nichts“ enden. Hingegen sei das Christentum gebunden an den „personalen“ Gott, der als Heil und Erlösung ein Leben im Himmel verspricht.

2.
Gegen diese Klischee-Vorstellungen hat der Religionswissenschaftler Prof. Perry Schmidt-Leukel (Universität Münster) vielfach schon wichtige Publikationen vorgelegt. Sein neues Buch hat den Titel „Das himmlische Geflecht“, ein vielleicht auch leicht ironisch zu verstehender Titel, der andeuten soll: Wenn man den Blick in die himmlische, göttliche und alles gründende Sphäre lenkt, dann sind die verschiedenen Religionen viel stärker miteinander verbunden, als man populär annimmt. Darum der Untertitel: „Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. In dem Buch geht es um überraschende, durchaus der Sache angemessen anspruchsvolle Überlegungen, die vom Leser hohe Konzentration erfordern.

3.
„Anders“ ist dieser Religionsvergleich, weil er die innere Pluralität der jeweiligen Religionen stark herausstellt. Und dabei entdeckt: Zwischen einzelnen Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und einzelnen Lehren bestimmter christlicher Traditionen besteht (trotz der kulturell und sprachlich bedingten Distanz) doch eine Nähe, eine überraschende Verbundenheit, wenn nicht Gleichheit der Überzeugungen! Dabei ist dem Autor klar: Traditionell bestimmte und begrenzte Interpretationen der jeweiligen Religion können auch zur Einsicht „unversöhnlicher Gegensätze“ führen. Aber Schmidt-Leukel ist es wichtiger, Komplementaritäten in den lehrmäßigen Überzeugungen beider Religionen herauszuarbeiten!

4.
Das neue Buch Schmidt-Leukels ist also ein neuer Vergleich zwischen Christentum und Buddhismus, der sich allerdings auf die objektiv greifbare Ebene der Lehren und Schriften begrenzt. Und da präsentiert der Autor eine große Fülle und Vielfalt. Es geht ihm also nicht um den von konkreten Menschen gelebten Glauben, der sich als je eigener Glaube oft als eine sehr persönliche „Synthese“ von Christentum und Buddhismus versteht. Also etwa: „Ich bin katholisch und gleichzeitig Zen-Buddhist“. Diese religiöse bzw. spirituelle „Doppel-Identität“ (ein „persönliches Oszillieren zwischen den Unterschieden“, S. 355) ist eines der seit langem schon diskutierten Themen Schmidt-Leukels.

5.
Das Buch zeigt also ausführlich: „Es steckt immer irgendein Stück Christentum im Buddhismus und irgendein Stück Buddhismus im Christentum“ (S. 350).

6.
Diese Forschungslinie nennt Schmidt-Leukel mit einem eher ungewöhnlichen, schwierigen, aus der Mathematik stammenden Begriff „fraktal“. Aber die mit diesem schwierigen Begriff gemeinte Sache erschließt sich auch, wenn man sich nicht auf den Begriff fixiert und die einführenden, sehr anspruchsvollen methodischen oder „Meta“-Überlegungen (S. 18-89) den Spezialisten erst mal überlässt.

7.
Es bleibt also interessant, wie diese Linie (siehe Nr. 5) an sechs zentralen Lehren beider Religionen konkretisiert wird, also: „Weltflucht oder Weltzuwendung?“, „Impersonales Absolutem oder personaler Gott?“, „Verblendung oder Sünde?“, „Erwachter Lehrer oder inkarnierter Gottessohn?“, Selbsterlösung oder Fremderlösung?, „Glückseliges Entwerden oder glückselige Gemeinschaft?“.

8.
Nur auf eines dieser Kapitel soll hier etwas ausführlicher hingewiesen werden: Gibt es Gemeinsamkeiten in der buddhistischen Lehre von Buddha als dem erwachten Lehrer und der christlichen Überzeugung von Jesus als dem inkarnierten Gottessohn?
Schmidt-Leukel weiß: Bisher wurde zwischen dieser genannten populären Deutung Buddhas und Jesus Christus „ein Gegensatz“ (S. 225) gesehen. Der manchmal noch gelesene katholische Theologe Romano Guardini habe in seinem Werk „Der Herr“ (veröffentlicht in der Nazi-Zeit 1937) ein gewisses Verständnis für Buddha gehabt, erläutert Schmidt-Leukel. Aber, so Guardini, Buddhas „Wert“ stehe doch hinter Christus zurück. Buddha sei bestenfalls wie Johannes der Täufer als ein Vorläufer Christi zu verstehen (S. 227). Schmidt-Leukel zeigt hingegen, dass Gautama (der Buddha) häufig als Lehrer, großer Lehrer bezeichnet wird und dabei eine „autoritative Verkündigung der Wahrheit“ (S. 237) gelebt hat, wie in einem Akt der Offenbarung“ (ebd.). Jesus wird in den vier Evangelien „41 mal Lehrer genannt wird, kein anderer Titel wird ihm häufiger beigelegt, Jesus ist der Lehrer der Wahrheit (S. 235). Wenn beide, der Buddha und Jesus, also Lehrer sind und als Lehrer verehrt werden, ist Jesus Christus dann noch einmalig, wie Christen oft behaupten? Man muss wohl die sehr deutliche Aussage des großen Zen-Meisters Thich Nat Hanh respektieren: Er sagte: „Natürlich ist Christus einmalig, aber wer ist nicht einmalig? Sokrates, Mohammed, der Buddha, Sie und ich, wir alle sind einmalig“ (S. 245)

9.
Das neue Buch Schmidt-Leukels „Das himmlische Geflecht“ bietet ausführlich neue Erkenntnisse für ein neues Verständnis des Miteinanders von Buddhismus und Christentum. Schmidt-Leukel befreit also von dem Eindruck, beide Religionen würden sich fremd oder gar feindlich oder als Konkurrenten gegenüberstehen.
Beide Religionen stehen einander nahe, sie sind viel ähnlicher als oft angenommen, sie haben eine interne Vielfalt, bei der sich gerade die beiden Religionen gemeinsamen Lehren zeigen. Eine solche Religions-Theologie kann auch politische Wirkungen haben und eher das friedliche Miteinander fördern.

10.
Die Verbundenheit von Lehren bestimmter buddhistischer Traditionen und bestimmter christlicher Traditionen ließe sich auch auf andere Religionen ausweiten, etwa auf den Islam oder bestimmte Formen des Hinduismus. Und wie sieht es im Verhältnis der vielen christlichen Kirchen untereinander aus? Da ist es längst erwiesen, dass ein so genannter Reform-Katholik (des „synodalen Weges“) einem progressiven Lutheraner oder Reformierten näher steht als etwa einem Katholiken des Opus Dei oder der Legionäre Christi. Und ein liberal-theologischer Remonstrant kann einem Humanisten oder einem Unitarier (Anti-Trinitarier) näher stehen als einem „rechtgläubigen“ Calvinisten.
Aber da spielen dann doch normative Kategorien eine Rolle: Bisher ist offensichtlich niemand auf den Gedanken kommen, etwa gemeinsame Glaubensinhalte etwa zwischen den Zeugen Jehovas und den Pfingstgemeinden oder dem Katholizismus herauszuarbeiten? Oder gemeinsame Glaubensinhalte von Mormonen und Anglikanern? Offenbar haben im allgemeinen religionswissenschaftlichen und theologischen Bewusstsein etwa die „Zeugen Jehovas“ oder die „Mormonen“ a priori gar nicht den „Wert“, in einen interreligiösen Vergleich gezogen zu werden. Ist dieses Urteil gerecht, spielen da die Definitionen von „Sekte“ eine Rolle? Aber können nicht auch Teile, oft maßgebliche Teile einer Großkirche eine „Sekte“ sein? Ist etwa das Selbstverständnis des Papstes und des vatikanischen Klerus (auch in der totalen Ablehnung des Priestertums für Frauen) nicht auch Ausdruck einer Sekten-Mentalität? Aber dieses Faktum wird im Interreligiöser Disput nicht benannt. Warum? Weil eben die Institution römische Kirche oder auch orthodoxe Kirche so alt ist und als so „ehrwürdig“ propagiert wird. Da kann nichts von einer Sekte sein…

11.
Noch einmal zu den Unterschieden und den Gemeinsamkeiten im Buddhismus und Christentum. Man müsste philosophisch nach dem einen gemeinsamen Geist der Menschen fragen, der über alle verschiedenen Kulturen und Sprachen hinaus sich im Laufe der Geschichte Ausdruck schafft in verschiedenen Religionen und religiösen Lehren. Wenn das so ist: Dann stehen die sich aufgrund des „letztlich“ einen schöpferischen Geistes sehr nahe, trotz aller sprachlichen Differenzen und zeitlichen „Abstände“.

12.
Die vielen Religionen als Ausdruck des EINEN, allen Menschen gemeinsamen Geistes zu verstehen, war die Leistung Hegels. An ihn wäre in dem Zusammenhang zu erinnern. Und Hegels Thema, dass es einen gedanklichen Fortschritt in der Geschichte der (Lehren der) Religionen gibt, wäre neu zu stellen. Fortschritt war ja für Hegel immer ein Fortschritt im Bewusstsein (!), also im Wissen, der Freiheit. Er meinte, es gebe auch in der Religionsgeschichte (des einen Geistes) einen Fortschritt hinsichtlich des Erkennens und Wissens der göttlichen Wirklichkeit.
Kriterium war für ihn: Stiftet und fördert eine Religion die Freiheit und Würde des religiösen Menschen? Ich halte dieses Kriterium der Unterscheidung in der pluralen religiösen Welt für sehr wichtig. Falls nicht, dann möchte man auf jede Religionskritik verzichten. Das aber wäre eine Form einer post-modernen Religionstheorie, einer Theorie, für die alle Religionen gleich gut, gleich hübsch, gleich human sind. Dass dies faktisch nicht der Fall ist, dürfte klar sein. Wer also faktische Religionen kritisiert, verurteilt sie nicht, will sie nicht bekämpfen. Er will nur für ein differenziertes Denken sorgen. Und hoffentlich für die ständige Reform, „Weiter-Entwiocklung“ dieser Religionen.
Dies sind Fragen, die sich mir nach der Lektüre des sehr empfehlenswerten, höchst anspruchsvollen Buches von Perry Schmidt-Leukel ergeben.

Perry Schmidt-Leukel, „Das himmlische Geflecht. Buddhismus und Christentum – ein anderer Vergleich“. Gütersloher Verlagshaus, 2022, 415 Seiten, viele Literaturangaben auch zu vielen lesenswerten Arbeiten des Autors, ein Personenregister, 26 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Warum noch Mitglied der römisch-katholischen Kirche in Deutschland bleiben?

Hinweis auf eine „ewige“ Diskussion.
Von Christian Modehn.

1.
Über diese Frage wird auch außerhalb der Kirche heftig diskutiert: Warum noch als Katholik(in) in Deutschland Mitglied der römisch-katholischen Kirche bleiben? Und diese Frage ist hoch aktuell: Es geht darum zu erkennen, was eine sich fest strukturiert gebende globale Welt – Instuitution, die Römisch-katholische Kirche, noch im 21. Jahrhundert sein kann. Denn in vielerlei Hinsicht wird jetzt deutlich, dass kulturelle, also auch religiöse Gemeinschaften,  lebendig bleiben, wenn sie regional auf ihre eigene Art leben. Aber doch mit vielen anderen, ebenfalls regional je verschieden agierenden Organsiationen, Kirche etc., verbunden sind.

2.
Die Antworten, zumal der Hierarchen, der Bischöfe und Erzbischöfe, bedienen sich immer derselben Sprüche: Man sollte Mitglied der römischen Kirche bleiben, weil diese doch so beeindruckend universal sei mit ihren 1,2 Milliarden Mitgliedern. Vor allem wird der Begriff Einheit beschworen: Diese 1,2 Milliarden Katholiken seien unter dem Papst „EINS“. Was für eine gewagte Behauptung! Wer hat überprüft, ob der katholische Bewohner amazonischer Wälder in identischer Weise wie der katholische Börsenspekulant in New York oder der Schwule in Frankfurt an den Gott der Trinität glaubt oder an Jesu „Erlösung für uns durch seinen Kreuzestod“?
Die Erkenntnis also lautet: Diese These von der Einheit der römischen Kirche ist eine Ideologie, die den theologischen Status Quo Alas Herrschaft des Klerus stützen soll.

3.
Seit dem Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils (das war 1965, also vor 57 Jahren) werden von „Reformkatholiken“ immer in allen denkbaren Variationen dieselben Argumente vorgebracht: Gegen den Zölibat, für mehr Toleranz und Pluralität, für mehr Gleichberechtigung von Frauen und Schwulen, mehr ökumenische Zusammenarbeit und so weiter und so weiter. Alle diese Forderungen blieben bislang erfolglos. Aber das macht den „Reformkatholiken“ nichts aus, sie haben ewige Ausdauer und pflegen ihre ekklesiale Leidensbereitschaft, populär Masochismus genannt.
Das beste und in gewisser Weise (karrieremäßig, finanziell etc.) erfolgreichste Beispiel ist Hans Küng, der als von Rom diskreditierter katholischer Theologie-Professor nach dem „Rauswurf“ (1979) aus der katholisch-theologischen Fakultät der Uni Tübingen mit Trotz stets fürs Verbleiben in der römischen Kirche plädiert hat. Und stets (illusorische) Hoffnung auf Reformen an der katholischen Basis weckte. Und dabei wurde Küng sehr bekannt …

4.
Pater Klaus Mertes SJ wird anläßlich des Stuttgarter Katholikentages in einem längeren Interview mit der TAZ vom 25./26.Mai 2022 S. 4 f. gefragt, ob die katholische Kirche (in Deutschland, aber auch weltweit) vor einer neuen Reformation stehe. Mertes antwortet: „Wir befinden uns in der Tat in einer Zeit, die mit der Reformation vergleichbar ist. Wenn Rom sich in all diesen Sachen (gemeint sind also die Reformvorschläge des „Synodalen Weges“ etc. CM) nicht bewegt, dann wird es explodieren“.

5.
Ein erstaunliches Wort: „Dann wird es explodieren“. Wer oder was explodiert denn, es wird leider voin den Journalisten der TAZ nicht nachgefragt! Offenbar ist die katholische Kirche als Institution gemeint, vor allem der Vatikan, den Mertes vorher „hermetische Loyalitätskartelle“ nennt (S. 5). Er meint also die Allmacht des Klerus. Und dann wird „es“ „explodieren“. Was meint das Wort explodieren? Offenbar eine Reformation, die den Namen verdient, keine Reförmchen, sondern eine Reformation, die bekanntlich als Reformationsbewegung seit dem 13. Jahrhundert (Petrus Waldes, Hus, Luther, Calvin, Arminius etc.) immer eine Abspaltung von der römisch-katholischen Institution war. Nur Franz von Assisi hat sich dem Papst gebeugt! Also, dies sagt der Jesuitenpater Mertes, eine Explosion könne bevorstehen.

6.
Aber dann folgt nach dieser objektiv treffenden und richtigen Analyse: Die angstvolle Einschränkung und die Zurücknahme der „Explosion/Reformation“ durch Mertes. Er sagt: „Die Einheit der Kirche auch in ihrer institutionellen Form ist ein hohes Gut, weil die katholische Kirche nur so eine globale wirkende Institution ist, die wie kaum eine andere wirklich fähig ist, globale Themen zu setzen“ (S.5).
Kurzum: Man sollte, bitte schön, Katholik in Deutschland bleiben und bitte weiterhin leiden an der Kirche, aus dem einen Grund: Damit die universale Organisation römische Kirche weiterhin wirksam bleiben könne.

7.
In dieser Aussage ist einiges problematisch: Warum sollen Katholiken in Deutschland, wenn sie seit Jahrzehnten zutiefst unzufrieden sind mit der Kirche, nicht von ihrem Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit Gebrauch machen? Also auch von ihrer demokratischen Freiheit, aus dieser Kirche auszutreten und möglicherweise einer anderen, etwa einer protestantischen Kirche beizutreten? Und eine „Freie katholische Kirche in Deutschland“ (FKD) aufbauen?

8.
Es wirkt schon sehr ideologisch gefärbt, zu empfehlen: Unzufriedene Katholiken sollten in dieser Kirche ausharren, bloß damit die global wirkende Institution als solche im Glanz der 1,2 Milliarden Mitglieder erhalten bleibt, natürlich auch mit dem stets reich fließenden Geld aus Deutschland.

9.
Die entscheidende Frage lautet: Wo hat denn der Vatikan globale Themen gesetzt, wie Pater Mertes behauptet? Waren die Reden der Päpste bei der UNO oder die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag so fantastisch, so politisch wirksam? Doch wohl nicht. Ist die aktuelle Russland Politik von Papst Franziskus etwa ein Glanzstück, der sich viele Wochen lang als Putin – Versteher zeigte, offenbar um so die katholische Kirche in Russland zu schützen. Genannt wird von Pater Mertes die Enzyklika „Laudatio si“ von Papst Franziskus SJ, mit der sich, so Mertes, angeblich 1,2 Milliarden Katholiken auseinandersetzen. Woher weiß das der Pater? Wie viele Kirchengemeinden haben denn, bitte nachweislich, im Sinne des Papstes Ökologie oder Friedenserziehung zum Schwerpunkt gemacht … anstelle den Römsichen Katechismus zu studieren (wie etwa die neokatechumenal geprägte Gemeinde St. Matthias in Berlin-Schöneberg)?

Mir ist bekannt, dass diese Enzyklika “Laudato si” von vielen Kennern heftig kritisiert wurde. Wo sind denn diese Ideen dieser Enzyklika von katholischen Politikern etwa in Lateinamerika real „umgesetzt“ worden, etwa von Bolsonaro oder katholischen Gewaltherrschern in Afrika oder auf den Philippinen? Ich habe den Eindruck, man erzählt ideologisch Gemachtes, um die Katholiken „bei der Stange zu halten“. Denn auch das ist Tatsache: „Global agieren“ können immer katholische Hilfswerke oder katholische Ordensgemeinschaften (etwa der wichtige „Jesuiten Flüchtlingsdienst“). Diese katholischen NGOs werden vielleicht sogar finanzielle (und personelle) Unterstützung von EX-Katholiken erhalten, weil deren humane Arbeit als wertvoll und hilfreich erlebt wird.

10.
Was wäre also so furchtbar, wenn sich wirklich eine Reformation (eine EXPLOSION, wie Mertes sgat) ereignete? Wenn sich also eine „Freie katholische Kirche in Deutschland“ (FKD) bilden würde, bestimmt von den bekannten und tausendmal besprochenen Impulsen der katholischen Reformation? Wie viele römisch-katholische Bischöfe würden auf ihre bisherigen Privilegien verzichten und sich der FKD anschließen?

Die Mitglieder hätten jedenfalls alle Freiheit, ihren Glauben auf ihre Weise nun endlich einmal frei und demokratisch zu leben. Sie hätten mehr Zeit für reife menschliche Gemeinschaft, für Spiritualität, sie könnten sich von dem ewigen katholischen Dauerthema: „Das masochistische Leiden der Katholiken wegen der Hierarchen“ befreien.
„Katholisch sein“ wäre dann etwas anderes als das ewige römisch-katholische „Sich ärgern und zornig werden über die Zustände dieser klerikalen Kirche“. Das könnte römische Katholiken weltweit inspirieren als Vorbild!

11.
Wie viele KatholikInnen in Deutschland denn tatsächlich dieser reformierten, der Freien  katholischen Kirche in Deutschland beitreten würden, ist natürlich unklar. Ich vermute, es würden nicht gerade viele Millionen sein! Denn die Angst vor einem Bruch mit der lange internalisierten „Mutter Kirche“ ist zu groß. Manche sagen doich immer noch allen Ernstes: Ich liebe diese Kirche! Man soll Gott und den Nächsten lieben, nicht aber eine weltliche Institution, eine Kirche. Solange die römisch – katholische Kirche sich immer noch als Gründung des lieben Gottes versteht, ist “nichts Vernünfrtiges zu machen”, um es mal populär auszudrücken.

Und die Festangestellten bleiben sowieso lieber an den immer noch voll gefüllten „Fleischtöpfen Ägyptens“ hängen (wegen der Kirchensteuer) als sich auf Neues einzulassen. Weil man Katholischsein mit Jammern identifiziert hat, fühlt man sich halt beim Jammern ad aeternum recht wohl. Eine Jammer-Gemeinschaft also wird wohl fortbestehen….
Noch einmal: Die Idee der behaupteten dogmatischen Einheit der Kirche unter der Herrschaft des Klerus und des Papstes ist durch diese Jahrhunderte alte Indoktrination ein so absolut hohes Gut, dass nur wenige Katholiken diese Einheitsideologie überwinden können. Pluralität wird immer als Zerstrittenheit, nicht als Chance gesehen. Man spricht in Rom und anderswo von Protestantisierung … als Schimpfwort….

12.
Dieser Beitrag ist bewusst etwas zugespitzt. Er hat nicht zum Thema gemacht, dass der Hauptgrund für die ständig zunehmende Distanz so vieler tausend gebildeter Katholiken von der römischen Kirche in Westeuropa einen theologischen Grund hat: Es ist die, pauschal gesagt, völlig veraltete fixierte Dogmatik (aus dem 4. Jahrhundert, Schwerpunkt Trinität, Erbsünde, Hierarchie) und die Fixierung auf neo-platonische – bzw. kleinbürgerliche Moral. Auch die antiquierte Sprache der ewig in gleicher Form zelebrierten Messfeier ist – schon aus sprachlichen Gründen – ein Skandal. Die Messfeier gilt für die Hierarchen nur deswegen als der „absolute“ Höhepunkt des Glaubens, weil eben nur die zölibatären Priester diese Messe feiern dürfen! Man ahnt, wie aus Theologie eine Ideologie des Machterhalts der Hierarchie wurde. Aber wird dieses Thema besprochen von den Theologen an den theologischen Fakultäten? Nein, davor hat man Angst! Denn letztlich sind katholische Theologen ,selbst an staatlichen theologischen Fakultäten, noch immer von den Herren Bischöfen (und via Nuntius auch von Rom) abhängig! Wer nicht spurt, bekommt Probleme, wird entlassen…

13.

Das Thema dieses Hinweises ist hoch aktuell: Es geht darum zu erkennen, was eine sich fest-strukturiert gebende globale Welt-Instuitution, die Römisch-katholische Kirche, noch im 21. Jahrhundert sein kann. Denn in vielerlei Hinsicht wird jetzt deutlich, dass kulturelle, also auch religiöse Gemeinschaften, nur dann lebendig und kreativ bleiben, wenn sie regional auf ihre eigene Art leben können. Aber doch mit vielen anderen, ebenfalls regional je verschieden agierenden Organsiationen, Kirchen etc., verbunden sind.

Eine Glaubensgemeinschaft, die universal für alle Menschen dieses Globus den einen und selben dogmatischen Glauben und die dogmatische Ethik, sprachlich fixiert, in Begriffen des 4. Jahrhunderts oder des Mittelalters vorschreibt, kann faktisch keine Zukunft haben.

Ein solches Weltkonstrukt mit einem jetzt 86 Jahre alten Chef (Papst genannt) für 1,2 Milliarden Katholiken, kann nicht mehr gut leben. Und es hat wohl nie konstruktiv – hilfreich funktioniert. Die Inquisition ist nur eines von vielen Beispielen für das frühe Scheitern dieses Herrschaftssystems. Eine Kirche mit einer Regierung, ausschließlich von (alten) Männern, und dann noch absolut zentriert in einer europäischen Stadt (Rom), hat keine Zukunft. Zumal es sich um eine Autokratie oder “Monarchie” (Papst als Staatschef) handelt,  die die nicht die geringsten Spuren von Demokratie aufweist.

Diese Kirche fordert von allen anderen Organisationen den Respekt der Menschenrechte, also der Werte der Demokratie, aber sie selbst als Kirche lebt diese Menschenrechte NICHT in ihrem eigenen “Innenbereich”. Das versteht kein vernünftiger Mensch mehr, zumal keine Frau. Nur wenn man als Papst sagt, das eigene kirchliche Verhalten und die kirchliche Gesetzgebung sei von Gott höchstpersönlich so gewollt, hat diese Kirche in gewissen Kreisen vielleicht noch Rückhalt. Aber je gebildeter die Menschen (auch die Katholiken) werden, um so mehr wird die Bindung an diese Kirche nachlassen. Und die Sturheit der Hierarchen fördert diesen Prozess!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Frieden schaffen: Ein kategorisch geltender Imperativ. Kant als Philosoph des Friedens!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7. Mai 2022

„Ein bloßer Waffenstillstand, also ein Aufschub der Feindseligkeiten, ist nicht FRIEDE, der das Ende aller Feindschaft bedeutet“.

Zur Einstimmung sagt Immanuel Kant:

„Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören“.

„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen States gewalttätig einmischen“.

„Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: Als da sind: Anstellung der Meuchelmörder, Giftmischer, Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“.

„Ein Ausrottungskrieg (Vertilgung beider Seiten) würde den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhof der Menschengattung stattfinden lassen können“.

Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) hat diese Sätze geschrieben. Erstaunliche Erkenntnisse auch heute, sozusagen Negationen, die als Bedingungen für einen dauerhaften Frieden formuliert sind. Kant nennt sechs solcher „Präliminarartikel“, Hinweise also, die als Bedingungen einen dauerhaften Frieden ermöglichen.

1.
Seine außergewöhnliche und hervorragende Leistung im Denken hat Kant auch in seiner Publikation „Zum ewigen Frieden“ im Jahr 1795 einmal mehr bewiesen. Diese Schrift hat gleich nach der Veröffentlichung eine ungewöhnlich große öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, trotz aller Einschränkungen, die die Zensurbehörden androhten. Der eher knappe „Entwurf“ Kants zeigt: Wie weit reichend er als kritischer Philosoph zu Zeiten üblicher Kriege klar Bedingungen nennen kann für einen dauerhaften Frieden. Diese Erkenntnisse waren damals und sind heute sicher provozierend, d.h aus Üblichkeiten der Denkzwänge heraus-rufend.
2.
Wenn Kant seinen Text „Entwurf“ nennt, meint er damit das „Erdenken“ der Wirklichkeit, die den Namen Frieden verdient. Kant entwickelt seinen „Entwurf“ aus den ihm eigenen philosophischen Prinzipien. Sie sollen aus dem Begriff der allen Menschen gemeinsamen Vernunft entwickelt werden, also, wie Kant sagt, „transzendental a priori“, also universal, gelten.
Wenn Kant seinenText mit dem Begriff „ewig“ aufwertet, dann will er damit nicht die himmlischen oder die göttlichen Sphären miteinbeziehen, er „meint vielmehr damit einen Frieden ohne jeden Vorbehalt, den Frieden schlechthin“ (Otfried Höffe).
3.
Kant hatte Ende des 18.Jahrhunderts für die Publikation „Zum ewigen Frieden“ wohl auch den Krieg zwischen Frankreich und Preußen vor Augen, einen Krieg, in dem auch Österreich und England involviert waren. Kant nahm dieses Geschehen zum äußeren Anlass, Prinzipien für den Frieden zu entwickeln, er äußert nicht eine politische Meinung, sondern formuliert philosophisch sich zeigende Notwendigkeiten, die Frieden ermöglichen. Es ist dieser universale Anspruch Kants, der auch heute inspirieren kann.
Kants Erkenntnisse sind zwar zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur formuliert wurde, aber trotz der regionalen Herkunft beanspruchen sie als Vernunftargumente universale Gültigkeit. Einige von Kants Überlegungen können auch im Zusammenhang des von Russland inszenierten Vernichtungskrieges gegen die Ukraine relevant sein.
4.
Dies gilt um so mehr, wenn man auch den längeren „zweiten Abschnitt“ des Textes „Zum ewigen Frieden“ berücksichtigen. Er enthält die drei „Definitiv-Artikel“, also solche Hinweise, die eine Friedensordnung bestimmen sollten. Kant zeigt sich als Meister, der auf Fakten hinweist, die oft im politischen „Alltagsgeschäft“ übersehen werden. Er
macht auf etwas aufmerksam, was oft im Eifer der Debatten übersehen wird: Es gibt nämlich, wie er sagt, durchaus eine Art Huldigung eines jeden Staates dem Begriff des Rechts gegenüber. Diese Akzeptanz bzw. Hochschätzung des Rechts leiste jeder Staat „wenigstens dem Worte nach“. Aber dieses Faktum„beweist doch“, schreibt Kant weiter, „dass eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei“. Das ist entscheidend: Es muss darauf gehofft werden, dass selbst im übelsten Kriegsherren noch ein Rest der allgemein menschlichen Anlage vorhanden ist. Nur unter den Bedingungen kann überhaupt ein Dialog stattfinden. Darauf weist Kant hin: Dass also das Böse im Feind nicht total ist, sondern dass das Gute, also durch die jedem Menschen gegebene moralische Anlage, auch im Feind weiter wirkt, „denn sonst würde das Wort RECHT den Staaten, die einander befehden wollen, nie in den Mund kommen“. Aber dann fügt Kant einschränkend hinzu: „Es sei denn, bloß um seinen Spott damit zu treiben“. (zit. Immanuel Kant, Zu ewigen Frieden, Fischer Taschenbuch Verlag 2008, S. 166). Eine ambivalente Situation also, die auch im „Fall Putin“ zutrifft.
5.
Frieden kann es „auf immer“ geben, betont Kant schon 1795, wenn die Menschheit im Rahmen des Völkerrechts – über alle einzelnen Friedensverträge hinaus, zum „Friedensbund“ kommt, „der alle Kriege auf immer endigen“ sollte (a.a.O., S 167).
6.
Frieden zu schaffen, dauerhaften, ewigen, ist für Kant nicht eine Art Hobby, dem sich einige Menschen widmen können, während andere eben etwas anderes tun. Frieden zu stiften (mehr als Waffenstillstand auszuhandeln) ist eine kategorische Pflicht eines jeden Menschen.
„Die Friedensstiftung hat für Kant den Rang einer rechtsmoralischen Pflicht. Es liegt jener kategorische Rechtsimperativ vor, den man den kategorischen Friedens-Imperativ nennen kann“ (Otfried Höffe, a.a.O., S. 19). Wenn „Frieden schaffen“ für jeden kategorisch gilt, dann führt die Erkenntnis dieser ethischen Pflicht auch in eine Dimension, die Kant göttlich nennt. Er schreibt: „Religion ist die Erkenntnis all unserer ethischen Pflichten als göttlicher Gebote“ (Kant in seiner „Religionsschrift, B 230). Mit anderen Worten: In den ethischen Pflichten wird die Idee Gottes also vernehmbar… „Nur ein Mensch, der sich bemüht, ethisch gut zu sein, kann hoffen, Gott wohlgefällig zu sein“. Frieden schaffen ist insofern eine göttliche Pflicht für die Vernunftreligion.
7.
Kants Schrift ist knapp und vielschichtig, sie steht im Horizont des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das noch stark von den Ereignissen und Folgen der Französischen Revolution bestimmt ist. Etliche der von Kant angesprochenen Themen bewegen „uns“ im 21. Jahrhundert nicht mehr, aber, wie gesagt, die Schrift „Zum ewigen Frieden“ bietet Erkenntnisse, die auch heute zu denken geben. Die Schrift enthält auch einen Anhang, in dem auch heute Wichtiges gezeigt wird: Politik und Staatslehre, und damit auch Friedenspolitik, sollen Anwendung und Praxis der Vernunft-Moral sein. Politik und Moral gehören also zusammen! Die Vernunft – Moral (verstanden als selbstverständliche Bindung auch der Politiker an den Kategorischen Imperativ) darf der Politik nicht untergeordnet werden. Nur eine Rechtsordnung kann Freiheit für alle schaffen, der ewige Friede als Ideal und Ziel kann niemals ohne eine umfassende Rechtsordnung erreicht werden. Schon 1784 hat sich Kant in seinem Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht“ für einen „Völkerbund“ eingesetzt. Im zweiten Definitiv-Artikel der Schrift „Zum ewigen Frieden“ spricht dann Kant vom „Friedensbund“ (S. 166 f.). Er sucht zu zeigen, „alle Krieg auf immer zu endigen“. Ein „Völkerrecht“, das als „Recht zum Kriege“ konzipiert ist, „lässt sich eigentlich gar nicht denken“, dies ist wichtig für Kant. Wenn sich zu einem Thema gar nichts Vernünftiges denken lässt, dann ist das Thema selbst als solches unvernünftig. D.h.: Ein „Recht zum Kriege“ ist also eine Wahnvorstellung. Wenn Staaten Frieden wollen, müssen sie ihre gesetzlose wilde, wie Kant sagt, also egoistische Freiheit aufgeben. Sie müssen sich zu öffentlichen Gesetzen „bequemen“, wie Kant sagt, und diese Gesetze, die zu einem Völkerbund führen, wie eine Art Zwang zur Überwindung ihrer eigenen kriegerischen Gesinnung anerkennen. (S. 168).

PS.: Wenn hier betont wird, Moral soll das politische Handeln bestimmen, so ist hier selbstverständlich immer die Vernunft – Moral im Sinne Kants gemeint, nicht die von Kirchengeboten bestimmte konfessionelle Moral der etablierten Religionen! Diese religiösen Moralvorstellungen dürfen niemals unvermittelt einen dmokratischen Staat bestimmen!
8.
Diese Erkenntnis Kants hat sich keineswegs durchgesetzt, auch nicht unter Philosophen und Literaten.
Nur zwei Beispiele, hier nur kurz angedeutet: .
Hegel schreibt schon in seinem Naturrechtsaufsatz von 1802, dass nicht nur der Frieden, sondern auch der Krieg absolut notwendig sei.
In seiner „Rechtsphilosophie“ (§324) wiederholt Hegel diese These. „Hegel kennt kein kategorisches Gebot der Vernunft, es soll kein Krieg sein“, so Walter Jaeschke, Hegel Handbuch, Metzler Verlag, S. 367. Selbst wenn Hegel die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges nicht kannte und auch nicht die totale Zerstörungskraft der Atombomben: Es ist schon erstaunlich, dass sich Hegel auch am Beispiel des Krieges in seiner „Rechtsphilosophie“ von 1821 zu der Aussage versteigt: Durch einen Krieg „werde die sittliche Gesundheit der Völker erhalten“. Und dann folgt zur Illustration dieser ungeheuerlichen abstrakten Aussage ein Bild aus der Natur, was für Hegel ungewöhnlich ist, der sonst die geistige Welt, also auch die politische Welt eines Krieges ,nur mit Begriffen des Geistes beschreibt. Nun also hier, im genannten §324, der Vergleich mit der Natur: Wie die Natur die See (das Meer) „durch die Bewegung der Winde vor der Fäulnis“ bewahrt, so könne es auch unter den Menschen und Staaten Fäulnis geben als Form „dauernder Ruhe“, eben in der Form „eines dauernden oder gar ewigen Friedens“. Frieden kann Hegel, der zwanghafte Dialektiker, nur als Stillstand denken, Lebendigkeit, so darf man schließen, gibt es für ihn nur als Dialektik, und die Dialektik ist eben auch der Krieg, der vor „Fäulnis schützt“. Ein abstoßend zwanghafter Gedanke, der Kants Erkenntnisse ablehnt.
9.
Nur ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert: Ernst Jünger ist ein auch von CDU Politikern, wie Helmut Kohl, hoch geschätzter Literat, der zugleich einer der leidenschaftlichsten Verteidiger des „Wertes des Krieges“ war. In seinem grundlegenden Buch „Der Arbeiter“ (1932) zeigt Ernst Jünger, dass der (Erste) Weltkrieg eine Art positives Schlüsselerlebnis für ihn wurde, der Krieg befördert den Untergang der alten bürgerlichen Welt. „Im Akt der Zerstörung (als Krieg) findet Jünger die, so wörtlich, feurige Quelle eines neuen Lebensgefühls… und es gehört zu den hohen und grausamste Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein, soweit das Zitat aus Ernst Jüngers Buch „Der Arbeiter“. Das Zitat wurde dem Buch „Die Apokalypse in Deutschland“ von Klaus Vondung entnommen, DTV 1988, S. 385.
Diese Vernichtung also begrüßt Jünger, das Sich-Opfern im Krieg sieht er als Form der Erlösung. Der Mensch muss zum Blutopfer bereit sein. Helmut Kiesel schreibt in seinem Aufsatz über die Publikation „Stahlgewitter“ von Ernst Jünger: „Tatsächlich hat Jünger den Krieg als einen naturgegebenen Modus des menschlichen Zusammenlebens und der geschichtlichen Entwicklung betrachtet und zeitweilig sogar bejaht. Erst in den dreißiger Jahren wurde ihm der Glaube an die vermeintlich konstruktiven Seiten des Krieges fragwürdig“ (Quelle: https://literaturkritik.de/id/18872).
10.
Über die Wirkungsgeschichten der von Hegel eher nur am Rande propagierten Ideologie des Krieges wie vor allem der den Krieg preisenden Werke Ernst Jüngers müßte weiter geforscht werden.
In jedem Fall ist es philosophisch und auch ethisch und politisch um des Überlebens der Menschheit willen geboten, wenn man denn schon Philosophen zum Thema Krieg und Frieden bemüht, sich vor allem an einige der genannten grundlegenden Aussagen Kants zu halten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Fromme Worte und Floskeln zum Ukraine – Krieg. Die Osteransprache von Papst Franziskus am 17.4.2022.

Ein Hinweis von Christian Modehn am 17.4.2022.

Siehe auch diesen Hinweis “Die Osteransprache des Papstes, die nicht gesprochen wurde: LINK:

Es ist die Mühe wert, die Osteransprache von Papst Franziskus am 19.4.2022 genauer anzuschauen.

Vorweg zur Einstimmung diese Frage:

Warum um Himmels willen sagt der Papst in seiner Ostersprache nicht diese wenigen Worte: “Präsident Putin, beenden Sie sofort diesen Krieg!”

Dies ist der Traum: Der Papst wiederholt dann immer wieder diese Worte in allen ihm zur Verfügung stehenden Sprachen, sogar auf Russisch sagt er sie,  selbst die alten Kardinäle an seiner Seite sprechen dann mit, solange, bis die ganze Menge auf dem Petersplatz ebenfalls brüllt und schreit und weint: “Putin, beenden Sie dieses Ihr Morden, beenden Sie sofort diesen Ihren Krieg”. Und dieses Brüllen und Schreien zusammen mit dem Papst wird zu einem großen Spektakel in ganz Rom, nun wirklich “urbi et orbi”. Auf dem Petersplatz dauert es eine ganze halbe Stunde lange, pünktlich bis 12.20 Uhr am Ostersonntag, ein Spektakel, das in die ganze Welt übertragen wird und die Welt erschüttert…Und sehr viele sagen auf einmal: Dieses Spektakel ist doch wirksamer als diese ewig selben frommen Worte und Floskeln und spirituellen Vertröstungen der üblichen Osteransprachen….Aber leider ist dies nur ein Traum!   (Siehe auch eine Kuzfassung dieser nicht gesprochenen Osteransprache des Papstes: LINK).

1.
Der Papst betont zu Beginn im Blick auf den Krieg in der Ukraine: „Wir haben zu viel Blutvergießen, zu viel Gewalt gesehen.“
Wer ist “wir“? Der Papst meint offensichtlich auch sich selbst. Denn es folgt die erstaunliche, nur angedeutete theologische Erkenntnis: „Es fällt uns (deswegen) schwer zu glauben, dass Jesus wirklich auferstanden ist, dass er den Tod wirklich besiegt hat. Ist es vielleicht eine Illusion? Das Ergebnis unserer Einbildungskraft?“
Diese bewegende und für einen Papst außergewöhnliche Frage wird von Franziskus nicht weiter vertieft. Sonst käme er zu der Erkenntnis, dass wahrscheinlich die Gottesfrage der Christen und die Deutung der „Auferstehung Jesu von Nazareth“ ganz anders als bisher dogmatisch üblich besprochen werden sollte.
2.
Davor aber schrickt der Papst zurück. Er beantwortet unmittelbar danach seine provozierende Frage in der Weise der alten, traditionellen Bibeldeutung (im Sinne der ziemlich gedankenlosen, aber so einfachen Wiederholung der biblischen Sprüche) und sagt rigoros und unvermittelt: „Nein, es ist keine Illusion! Heute erklingt mehr denn je die Osterbotschaft, die dem christlichen Osten so teuer ist: Christus ist auferstanden! Er ist wahrhaftig auferstanden!“
Schon zuvor hatte der Papst nach alter Art betont: “Jesus zeigt den Jüngern die Wunden an seinen Händen und Füßen, die Wunde an seiner Seite: Es ist kein Gespenst, es ist er, derselbe Jesus, der am Kreuz starb und im Grab war. Unter den ungläubigen Blicken der Jünger wiederholt er: „Friede sei mit euch!“ (Joh 20,V. 21). Wie bitte? Jesus am Kreuz ist derselbe wie der Auferstandene? Bei der Frage sind die Evangelisten ganz anderer Meinung, fundamentalistisch verstanden wandelt da der Auferstandene durch die Türen, kommt und verschwindet wie ein Geist, wann er sich der Gemeinde zeigen will. Hat der Papst Exegese studiert?
3.
Nach dieser traditionellen Predigt findet der Papst den Bogen zum Krieg in der Ukraine. Dabei fällt auf, dass er den Verursacher des Krieges, und das ist absolut eindeutig und von allen Demokraten geteilt, der russische Staatschef Wladimir Putin, mit keinem Wort erwähnt. Sondern der Papst gleitet in der Reflexion der Schuldfrage in die uralten biblischen Mythen ab und beginnt unvermittelt auch noch von Kain und Abel zu sprechen: Wir, sagt der Papst, „tragen den Geist Kains in uns, der Abel nicht als Bruder, sondern als Rivalen ansieht und darüber nachsinnt, wie er ihn beseitigen kann.“ Schwadronieren über Kain und Abel also, kein Wort zu Putin als Putin!
4.
Wer ist das „Wir“? Auch der „heilige Vater“ ? Oder bloß die auf dem Petersplatz versammelte Gemeinde, oder sogar die Welt der Menschen und damit, ungenannt, eben auch Putin?

Das „Wir“ bleibt aber unklar, eine typische nebulöse Floskel könnte man meinen. Natürlich haben alle Menschen als endliche Menschen Böses getan. Aber hier geht es um Kain, den Brudermörder, und der ist angesichts des Krieges Russland in der Ukraine klar mit einem Namen zu benennen. Davor hat der Diplomat Papst Franziskus noch Angst…
Der Papst weicht wieder ins unverbindliche Spirituelle aus, wenn er fortfährt: „Wir brauchen den auferstandenen Gekreuzigten, um an den Sieg der Liebe zu glauben, um auf Versöhnung zu hoffen. Heute brauchen wir ihn mehr denn je, der zu uns kommt und uns erneut sagt: „Friede sei mit euch!“
5.
Wieder das Übliche, Erwartbare, was schon 10 Päpste vor ihm auch hätten genauso sagen können: Jesus stiftet Frieden, er führt zum Sieg der Liebe etc.. Wie diese himmlische Hilfe Jesu im Verbund mit den Menschen hier geschehen kann, wird noch nicht einmal angedeutet. Und dann folgen sehr merkwürdige Überlegungen: Dass die Wunden Jesu eigentlich unsere (?) Wunden seien. Daraus zieht der Papst einen Schluss, der nicht anders als esoterisch genannt werden kann: „Die Wunden am Leib des auferstandenen Jesus sind das Zeichen des Kampfes, den er für uns mit den Waffen der Liebe geführt und gewonnen hat, auf dass wir Frieden haben, in Frieden sein und in Frieden leben können.“
Also müsste eigentlich angesichts der überwundenen Wunden Jesu allüberall Frieden herrschen … oder was?
6.
Nun wendet sich der Papst wieder der „leidgeprüften“ (wie sanft formuliert, CM) Ukraine zu und sagt: „Gehe bald eine neue Morgendämmerung der Hoffnung über dieser schrecklichen Nacht des Leidens und des Todes auf! Möge man sich für den Frieden entscheiden“.
Anstelle vom Kriegsverbrecher Putin spricht der Papst nur von einem neutralen MAN, das (der) sich zum Frieden bekehre. Noch einmal: Wer ist dieses Man? Doch wohl im demokratischen Verständnis eindeutig Putin und seine Kriegstreiber, wie auch der ehemalige KGB Agent Patriarch Kyrill I.von Moskau. In seiner anonymen Rede von einem „Man“ fährt Papst Franziskus er fort: „Möge man sich für den Frieden entscheiden. Man höre auf, die Muskeln spielen zu lassen, während die Menschen leiden“.
Was soll das denn nun? Wer spielt denn da mit den Muskeln, Krieg als Muskelspiel, welch ein Wahn!
7.
Zum Schluss seiner offenbar von diplomatischen Erwägungen bestimmtenRede (im Hintergrund das Übliche:. „Der Papst muss die katholische Kirche in Russland schützen“) folgt wie erwartbar die spirituelle Zusage, dass der Papst „in seinem Herzen“ (so wörtlich) all die vielen ukrainischen Opfer und die Millionen Flüchtlinge in seinem Herzen trägt… Die Ansprache endet: „Brüder und Schwestern, lassen wir uns vom Frieden Christi überwältigen! Der Frieden ist möglich, der Frieden ist eine Pflicht, der Frieden ist die vorrangige Verantwortung aller!
8.
Der Friede ist also die vorrangige Verantwortung aller, also auch der Kirchen, auch des Papstes. Das klingt gut, ist aber zu allgemein und unverbindlich. Danach hätte es interessant werden können, welchen konkreten politischen Friedensbeitrag denn der Papst, zugleich Chef des Staates Vatikanstadt, denn aktuell zu tun gedenkt. Oder auch: Wie er Friedenserziehung nicht als Blabla einer Spiritualität des Blutes Christi, sondern als politische- ethische Ausbildung aller Katholiken in den Mittelpunkt zu stellen gedenkt. Nichts davon.
9.
Es folgt zum Ende dieser vielleicht weltweit beachteten Rede die übliche Zusage des Ablasses durch einen Kardinal auf der Loggia und dann der übliche Segen des Papstes „Urbi et Orbi“. Wie oft haben Päpste die Stadt und den Erdkreis gesegnet … wurde durch den päpstlichen Segen die Stadt und der Erdkreis (urbi et orbi) nachweislich, empirisch spürbar, friedlicher, berechter? Ich fürchte nein. Diese Segen waren nur etwas sehr Spirituelles“….

10.
Die entscheidende Frage ist noch einmal formuliert:
Warum sagt der Papst nicht in seiner Oster-Ansprache vom 17.4. 2022? Hat er denn keinen politischen Mut mehr? Er hätte doch laut und deutlich sagen können:

“Lieber Patriarch Kyrill, auch du darfst dich, wie ich auch, „Heiligkeit“ nennen.
Sage doch als „Heiligkeit“ bitte deinem angeblich rechtgläubigen, orthodoxen, Weihrauchschwaden und Kerzen liebenden Mitchristen Wladimir Putin: Er solle in Gottes Namen SOFORT diesen Krieg beenden. Wenn nicht, wird er immer mehr zum Völkermörder. Zum Nihilisten, zum Zerstörer. Er stellt sich außerhalb der Humanität.

Und falls du, Kyrill, du Heiligkeit, das nicht willst, weil du aus KGB- Zeiten mit Putin bekanntlich eng verbunden bist:

Dann wende ich mich jetzt eben direkt an den rechtgläubigen Christen, Präsident Wladimir Putin: „Herr Putin, beenden Sie diesen von Ihnen inszenierten Krieg gegen die Ukraine und gegen die Demokratie SOFORT. Beenden Sie in Gottes Namen diesen Krieg!
Wir Katholiken beten ab jetzt nicht nur für den Frieden. Sondern auch: Immer wenn wir einander sehen und begegnen, rufen wir uns zu: „Putin ist ein Kriegsverbrecher. Putin, beende den Krieg.“

Quelle: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2022-04/vatikan-wortlaut-segen-ostern-papst-franziskus.html
Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

“Willkommenskulturen. Beispiel POLEN“. Ein Gastbeitrag von Kerem Schamberger , MEDICO – International:

Für philosophische Reflexionen ist es selbstverständlich, umfassend nach den Dimensionen der Hilfsbereitschaft jetzt im Krieg gegen die Ukraine zu fragen: Wer ist der andere, die andere? Gibt es Hierarchien im Umgang mit den anderen hinsichtlich der Solidarität des Westens, etwa Polens? Dringende Fragen, zu denen der Autor Kerem Schamberger von MEDICO-International Stellung nimmt. Der Religionsphilosophische Salon Berlin dankt für die Möglichkeit, diesen wichtigen Beitrag auch hier zu publizieren. Und dadurch für eine umfassendere Aufklärung beitzutragen. Christian Modehn.

1.

In Warschau packt die ukrainische Künstlerin Yulia Krivich in einem Nebengebäude des Museum of Modern Art zusammen mit anderen Freiwilligen Lunchpakete für die Ankommenden. Sie erzählt uns von ihrer Mutter, die in der Zentralukraine lebt. Seit Russland 2014 die Krim annektierte, habe diese einen Koffer mit dem Nötigsten in der Ecke stehen, um im Zweifel schnell fliehen zu können. Ob sie das nun getan habe? Nein, schüttelt Yulia Krivich den Kopf, noch nicht. Dann widmet sie sich wieder den Lunchpaketen. Schließlich sind Millionen von Ukrainer:innen auf der Flucht Richtung Westen.
Eine Woche lang waren wir – meine medico-Kollegin Karoline Schaefer und ich – in Polen unterwegs. Zuerst in Warschau, dann an der polnisch-belarussischen Grenze und weiter im Süden an der ukrainischen Grenze. Auf mehr als 1.500 Kilometern konnten wir uns einen Einblick verschaffen, wie die polnische Gesellschaft ihre Türen geöffnet hat. Bisher sind mehr als zwei Millionen Kriegsflüchtlinge ins Land gekommen. Das Gros der Hilfe leisten Organisationen und Aktivist:innen der polnischen Zivilgesellschaft. Sie werden von Frei[1]willigen und Organisationen aus anderen Ländern unterstützt. Der Staat ist hingegen kaum präsent, auch nicht am Warschauer Hauptbahnhof. Tausende kommen hier täglich an. Im ersten Stock wurden Bettenlager errichtet, in denen Menschen oft tagelang verharren, weil sie nicht wissen, wohin. Freiwillige organisieren die Verteilung des Allernötigsten: Essen, Hygieneartikel, Powerbanks.

2. Die Regierung benutzt die Hilfe

Momentan geht eine Welle der Solidarität durch die polnische Gesellschaft. Sie schließt an den vergangenen Herbst an, als viele polnische Aktivist:innen in der Grenzregion zu Belarus Hilfe für die in den Wäldern umherirrenden Geflüchteten leisteten – gegen den Willen des polnischen Grenzschutzes und trotz der Kriminalisierungsversuche durch die rechte PiS-Regierung. Oft sind es dieselben Gruppen und Organisationen, die nun die Erstversorgung für die Flüchtenden aus der Ukraine organisieren. Viele von ihnen sind sauer: „Die Regierung benutzt die breite gesellschaftliche Solidarität für ihre eigene Agenda, für den Stolz auf die ‚polnische Nation‘. Es ist viel Propaganda“, sagt jemand. Das gehe so weit, dass die PiS nun Druck auf die EU ausübe, die gegen Polen verhängten Strafgelder aufzuheben, weil sie sich so vorbildlich um die Flüchtlinge kümmerten. Wie absurd das werden kann, erzählen uns Aktivist:innen in der Stadt Lublin im Osten des Landes. Dort unterhält die polnische Organisation Homo Faber eine Notfallhotline für Flüchtlinge aus der Ukraine. Mehr als 1.000 Anrufe täglich nehmen sie entgegen, rund um die Uhr. Die Regierung hat die Nummer ohne vorherige Rücksprache auf ihre eigenen Webseiten gestellt und nicht mal angegeben, dass Homo Faber sie zusammen mit ukrainischen Freiwilligen betreibt. „Wir sind es leid, von der Regierung benutzt zu werden“, sagt eine Mitarbeiterin. Es sei unklar, wie lange sie die enorme Arbeitsbelastung durchhalten können. Alle seien am Ende ihrer Kräfte.
Richtige und falsche Geflüchtete
Besonders sichtbar wird die humanitäre Krise in den Vereinsräumen von Ukrainski Dom, einer Organisation, die schon vor Jahren von in Polen lebenden Ukrainer:innen gegründet wurde. Vor dem kleinen Haus im Zentrum von Warschau stehen Dutzende geflohene Ukrainer:innen Schlange, um eine SIM-Karte zum Telefonieren zu erhalten oder – noch wichtiger – eine Unterkunft vermittelt zu bekommen. Das ist gerade die Hauptaufgabe des Vereins, berichten uns zwei Mitarbeiter:innen. Seit Kriegsbeginn hätten sie nur wenig geschlafen, auch aus Sorge um ihre Verwandten in der Ukraine. Und sie erzählen von Unterschieden in der Hilfsbereitschaft. Unterkünfte gebe es vor allem für ukrainische Frauen und Kinder, aber nicht für andere Gruppen von Flüchtlingen. Auch andere Aktivist:innen, mit denen wir sprechen, kritisieren, dass der Solidaritätsbegriff in der polnischen Mehrheitsbevölkerung etwa Rom:nja-Familien, Schwarze und andere People of Colour oft ausklammert. Der Fokus von LAMBDA, einer traditionsreichen queeren Organisation in Warschau, ist es deswegen, in dieser Krisensituation den „Ausgeschlossenen unter den Ausgeschlossenen“ zu helfen: Die Aktivist:innen vermitteln Wohnungen, geben Gutscheine für Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs aus und bieten kostenlosen Sprachunterricht für die Geflüchteten an – explizit für alle.

3. Wie extrem die faktische Ungleichbehandlung von Geflüchteten ist, wird im Białowieża-Wald im polnisch-belarussischen Grenzgebiet deutlich.

Dort versuchten Ende letzten Jahres mehrere Tausend Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa zu gelangen und noch immer halten sich dort Menschen auf der Flucht versteckt. Hier ist der Staat sehr wohl präsent. Aber nicht, um zu helfen, im Gegenteil. Auf dem Weg zur Grenze passieren wir zwei Polizeikontrollen, die schauen, was oder vielmehr wen wir im Wagen haben. Am Ziel treffen wir eine Aktivistin der von medico unterstützten Grupa Granica, einer sozialen Bewegung, die Menschen­rechts­ver­letz­ungen dokumentiert und sich für Flüchtlinge einsetzt, die es auf polnischen Boden geschafft haben. Die Frau erzählt uns, dass die Notrufe von Geflüchteten aus dem Grenzwald aktuell wieder mehr werden. Auf der belarussischen Seite warten nach wie vor Hunderte Menschen. Deren Situation verschlechtert sich zusehends.
Diejenigen, die es über die Grenze geschafft haben und die Grupa Granica kontaktieren, sind total erschöpft und benötigen oftmals medizinische Versorgung. Viele kommen aus afrikanischen Ländern, einige haben zuvor in Russland oder Belarus studiert. „Es ist absurd, man wacht auf, und auf einmal sieht man zwei Menschen aus Ruanda im Wald“, sagt die Aktivistin. Wenn der Grenzschutz sie aufgreift, werden sie in eines von derzeit sieben geschlossenen Auffanglagern in ganz Polen gebracht. Die Grupa Granica nennt diese „Detention Center“, die Bedingungen seien allerdings noch schlechter als in polnischen Gefängnissen. Etwa 2.000 Menschen sitzen dort derzeit ein. Nur Psycholog:innen und Anwält:innen können die Insassen besuchen. Und davon gibt es viel zu wenige. Für die Aktivistin ist die Ungleichbehandlung von Ukrainer:innen einerseits und Menschen aus dem Nahen Osten und afrikanischen Ländern andererseits kaum auszuhalten. „Das ist purer Rassismus“, sagt sie.

4.

Fluchthilfe als Spektakel
Szenenwechsel. Der Kontrast von der Situation in den abgeriegelten Wäldern zu der Atmosphäre am Grenzübergang in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze könnte kaum größer sein. Zehntausende Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, passieren hier täglich den Schlagbaum. Fast alle sind erschöpft, tagelange Flucht liegt hinter ihnen. Was sie auf polnischer Seite erwartet, gleicht einem Jahrmarkt. Bunte Zelte, blinkende Girlanden, ein Pianist, der auf seinem Klavier „New York, New York“ spielt und an jeder Ecke Kamerateams aus der ganzen Welt. Daneben Hunderte NGO-Mitarbeiter:innen und Ehrenamtliche, die sich mit ihren Hilfsangeboten gegenseitig überbieten. Unter ihnen sind auch religiöse Sekten, Prediger:innen, messianische Christ:innen, die „den Juden dabei helfen wollen nach Israel zu kommen“, Selbstdarsteller:innen und mit Marsz Niepodległości sogar eine rechtsextreme polnische Organisation. Im vergangenen Jahr ist sie noch mit „Polen den Polen“-Transparenten aufmarschiert, die „richtigen“ Flüchtlinge aber heißt sie hier willkommen. Und dann ist da noch der polnische Grenzschutz. Anders als an der belarussischen Grenze hilft er hier den Geflüchteten beim Tragen der Koffer.
Zwei Animateure im Mickey-Maus- und Leoparden-Kostüm kommen uns entgegen. Als wir sie fotografieren, bitten sie uns, sie auf Facebook zu markieren, damit man sieht, wo sie sind. Es ist bezeichnend, dass sich am Grenzübergang Medyka als Hotspot der Medienaufmerksamkeit auch die meisten NGOs konzentrieren. Wo weniger Kameras präsent sind, sei es in Chelm oder Hrebenne, wird die Hilfe weitgehend allein von der lokalen Bevölkerung getragen. Dass es auch anders gehen kann, zeigt der Grenzübergang Budomierz. Dort arbeiten Aktivist:innen, NGOs und die örtliche Stadtverwaltung in enger Absprache zusammen. Der Bürgermeister, sein Stellvertreter und die örtlichen Stadträte kommen jeden Tag mehrmals vorbei und helfen mit. Und zwar nicht nur, wenn Fotograf:innen und Kamerateams dabei sind. Das könnte die Basis einer Hilfs- und Aufnahmeinfrastruktur sein, die auch bei andauerndem Krieg und fortgesetzter Flucht trägt und willkommen heißt.

5.

Die von medico seit Ende 2021 in Polen geförderte Grupa Granica kümmert sich seit Kriegsbeginn zusätzlich um Geflüchtete aus der Ukraine. Dabei konzentrieren sich die Aktivist:innen auf Rom:nja, Schwarze und andere People of Color ohne ukrainischen Pass, die ansonsten kaum Schutz erhalten. Gleichzeitig arbeitet die Gruppe weiter daran, die nach wie vor dramatische Situation der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten an der polnisch-belarussischen Grenze und in den geschlossenen Camps zu verbessern. Daneben unterstützt medico den Verein Asmaras World, der benachteiligten Geflüchteten ohne ukrainischen Pass sichere Transportmittel für die Weiterreise zur Verfügung stellt und ihnen in Deutschland beim Zugang zu Versorgung, bei der Suche nach Unterkünften und in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen hilft.
Spendenstichwort: Flucht und Migration

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schickt Ihnen MEDIO INTERNATIONAL gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren! Dort veröffentlicht am 05. April 2022

Kerem Schamberger:
Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international für den Bereich Flucht und Migration zuständig.
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