Die Macht des Aberglaubens im Katholizismus

Ein Hinweis von Christian Modehn am 27.11.2021.

Zur Einstimmung:

„Der Aberglaube hat die christliche Kirche von Anfang an verpestet. Die Kirche hat die Magie immer verdammt, aber immer an sie geglaubt“. (Voltaire, 1694 – 1776, „Philosophisches Wörterbuch“, Frankfurt am Main, 1985, S. 48.)

“Um den ersten Segen eines Neupriesters zu erlangen, sollte man sehr weit laufen, man sollte sich dabei sogar die Schuhsohlen kaputt laufen”. Vielfach geäußerte Lebensweisheit frommer Katholiken in Deutschland bis in die Jahre 1960.

In Loreto, in den Marken, Italien, befindet sich der “zweitwichtigste Wallfahrtsort Italiens”. Dort wird das Haus in Nazareth verehrt, in dem Maria, die Mutter Jesu, aufwuchs. Dieses Haus wurde, das ist die offizielle katholische Version,  “von Engeln nach Loreto gebracht”. (vgl. etwa wikipedia, Loreto). 4 Millionen Pilger besuchen dieses Haus Mariens.

„Es wird (in der Kirche) eine eigenwillige Frömmigkeit der Ignoranz rhetorisch stark gemacht, so, als ob Gott tatsächlich irgendwie unmittelbar in den Lauf der Dinge eingriffe… Auch der christliche Gottesbegriff weist Konstruktionsfehler auf“. (Oliver Wintzek, Kathol. Theologe und Privatdozent an der Uni Freiburg, Herder-Korrespondenz 2021, S. 47).

„So will Gott nicht trotz seiner Unbegreiflichkeit, sondern gerade in seiner Unbegreiflichkeit die Seligkeit des Menschen sein“. Karl Rahner SJ, „Über die Verborgenheit Gottes“, Gesammelte Schriften 1975, s. 300).

Siehe auch: “Der Aberglaube im Katholizismus kann tödlich sein”: LINK.

1.
Dieser Beitrag ist „pro-vozierend“, also „heraus-rufend, heraus-fordernd“. Befreiend von einem verfehlten christlichen Denken und Handeln. Der Beitrag will also stören, bei dem bedenkenlosen Gerede in der katholischen Kirche heute, dass Gott und die Heiligen überall je nach Laune wirken und walten, vor allem in der Hierarchie, die über die absolute Interpretationsgewalt zu Gottes Anwesenheit verfügt. Als These zusammengefasst: Der katholische Glaube und die katholische Kirchenpraxis sind auf weiten Gebieten auch heute noch Aberglaube. Und Aberglaube sollte eigentlich nicht das spirituelle Leben der Menschen bestimmen. Ob diese Erkenntnis bei den allseits bekannten katholischen Erstarrungen eine Chance hat, wirksam und verändernd zu sein?

Mit diesem Beitrag wird keineswegs geleugnet, dass der Aberglaube eine viel umfassendere und verheerende Bedeutung etwa in den Kulturen Koreas und Indiens hat. Nur: Leider ist der Aberglauben auch im Christentum immer noch eine Macht, auch im Katholizismus. Und von dem ist hier die Rede. Mag ja sein, dass im Mittelalter und in der frühen Neuzeit der Aberglaube im Katholizismus sehr umfassend und bestimmend war; aber Aberglaube ist in dieser Kirche heute immer nch Realität.

2.

Aberglaube wird hier in einem umfassenden Sinn verstanden. Gedacht ist natürlich nicht an populäre Meinungen und schlichte Irritationen etwa anlässlich des Auftretens schwarzer Katzen oder an das mehrfache Klopfen auf den Tisch, um Böses zu verhindern, vom „Freitag, den 13.“ ganz zu schweigen. Diese Verhalten können eine Art dumme Angewohnheit heute sein, aber sie werden oft wie magische Riten praktiziert. Dabei wissen die Menschen, dass sie sich selbst dabei etwas “vormachen”, dass sie lügen, sich selbst belügen, wenn sie an die Wirksamkeit dieser abergläubischen Praxis glauben. Lüge und Aberglaube sind eng verbunden, das zeigt sich auch in der Auseinandersetzung über Aberglauben im Katholizismus.

3..

Hier wird Aberglaube als weit verbreitete religiöse Haltung und Praxis vieler frommer Katholiken und ihrer Führer verstanden. Dieser Aberglaube wird als der grenzenlose Überschuss an Frömmigkeit und „Spiritualität“ gedeutet, mit dem Ziel, alles religiös, spirituell, „mystische und mythische Ahnbare“ mit dem christlichen Glauben zu verbinden. Etwa das Einsalben der Körper von Menschen und Tieren mit heiligen Ölen als Hilfe bei Krankheit, man denke an das St. Rita-Öl oder an das das heilige Wasser des Marienwallfahrtsortes Lourdes. Oder an die propagierten „Gebetsstürme“ der Fatima-Freunde einst, um im Gebet den Kommunismus zu besiegen. Er wurde ja besiegt, aber sicher nicht von Gebetsstürmen… Oder man denke an den Wahn, irgendwelche kleine Schnipsel des Kreuzes Jesu von Nazareth oder gar von Jesu Vorhaut als Objekte der Verehrung im Besitz einer Kirchengemeinde zu haben.

Die Praxis des Katholizismus war und ist durchsetzt von diesen wahnhaften Vorstellungen, die sich gegen jegliche, der allgemeinen Vernunft zugängliche Argumente sperren. Das Problematische ist, dass fromme Katholiken im Vollzug der genannten „volkstümlichen“ Praktiken meinen, wirklich mit Gott verbunden zu sein bzw. in dem Unendlichen/Ewigen geborgen zu sein. Das kann ja subjektiv so gefühlt werden, warum aber der schwierige Umweg über diese Praktiken, die an Magie erinnern und nichts mit einem reifen, kritisch reflektierten Glauben zu tun haben. Das bekannte Bonmot „Im Himmel ist Jahrmarkt“ passt gut in diesen Zusammenhang. Auf theologisch noch problematischere Formen des katholischen Aberglaubens wird später noch ausführlicher hingewiesen.

4.

Die Kleriker, vor allem die Glaubensbehörden im Vatikan, tun alles, damit diese phantasievollen und oft wahnhaften Überzeugungen und Praktiken beibehalten werden, etwa das Segnen von Autos und Tieren und Handys, schließlich profitieren sie als Kleriker finanziell von diesen Segnungshandlungen. Denn Segnen als feierlichen offiziellen Ritus darf bekanntlich nur der Kleriker…Auch die Überzeugung, dass Maria die Mutter Jesu, selbst unbefleckt empfangen wurde, könnte man in diesen der Vernunft nun schon nicht mehr vermittelbaren Aberglauben einordnen. Schließlich sind ja selbst die Eltern dieser Maria, also Anna und Joachim, erfundene, „mythische“ Gestalten, aber natürlich selbst als erfundene Heilige werden sie sehr verehrt! Die Überzeugung, dass es eine Hierarchie der Engel im Himmel gibt, Cherubim und Seraphim, dass es eine spezielle Vorhölle für ungetaufte Kinder gibt, dass der „liebe Gott“ durch den Mund Jesu den Zölibat der Priester (Männer!) persönlich wünscht. All das wird ein Mensch, der die kritisch reflektierte Vernunft als Maßstab der Lebensorientierung nimmt,  als Aberglauben bezeichnen.

5.

Manchmal wird dieser fromme Wahn des Aberglaubens selbst den Herren im Vatikan zu viel, wenn sie etwa die Idee zurückweisen, Maria die Mutter Jesu von Nazareth, sei durchaus als Mit-Erlöserin zu verehren. Das würde dann doch stark an eine „heidnische“ (?) Muttergottheit erinnern, aber zu viel Weiblichkeit wollen die zölibatären Kleriker ohnehin nicht.

6.

Deutlich ist jedenfalls geworden: Die Hierarchie lässt im großen und ganzen diesen wild wuchernden Glauben, den katholischen Aberglauben, zu, weil man die so genannten „einfachen Gläubigen“ in ihrer „Volksreligion“ nicht kritisch bilden will und kann. Sowie: Weil der Klerus davon auch finanziell  profitiert – siehe das Geschäft mit den und in den Wallfahrten, den „Wunderorten“!

Oder man denke daran, dass Katholiken immer noch und weltweit – auch in Deutschland – für 5 oder 10 Euro eine Messe beim Priester „bestellen“ können, der dann im Anliegen des Geldgebers die Messe feiert und speziell etwa für einen bestimmten Verstorbenen betet (dass dieser doch alsbald aus dem Fegefeuer entlassen wird…) Man nennt diesen Handel üblicherweise „Messstipendien“ für Priester. Die Gelder, die der Priester entgegennimmt, sollten in Deutschland der Gemeinde, nicht der Person des Priesters, zugutekommen. Das betont auch eine Information der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, der Abtei, in der der erfolgreiche Vielschreiber Pater Anselm Grün wirkt. LINK https://www.abtei-muensterschwarzach.de/beten/messstipendien

Die Benediktiner verlangen nur 5 Euro pro bestellte Messe. Die sehr wohlhabenden Ordensleute von den „Legionären Christi“ verlangen unbescheiden 10 Euro, so heißt es auf ihrer Website. Sie empfiehlt auch die „Gregorianische Messe“, diese wird von den „Legionären“ 10mal gelesen, kostet bei ihnen allerdings 350 Euro. (https://www.messintentionen.de/messe/unterstuetzen-sie-uns-mit-einem-mess-stipendium.html)

Aber abgesehen vom finanziellen Handel: Nicht nachvollziehbar ist die Vorstellung, dass ein Priester, der die Messe (Eucharistie) liest/feiert, mit diesem seinen Kultus Gott im Himmel bewegen könnte, doch etwas Besonderes für die Seele etwa des Herrn Fritz Schulz (im Fegefeuer) zu tun. Welches infantile Gottesbild wird da noch am Leben erhalten?

Man sieht: Wenn man einmal anfängt, sonderbare und heute schrullig wirkende, unvernünftige Überzeugungen und Praktiken im Katholizismus aufzulisten, kommt man mit diesen Formen eines katholischen Aberglaubens an kein Ende.

Es herrscht diese diffuse, schwammige Mischung auch im heutigen Katholizismus, diese Mischung von etwas Progressivem, von etwas religiös Seriösem, auch ursprünglich Jesuanischem, „Evangelischem“ UND eben diese Anwesenheit von vielem Abstrusen, Konstruiertem, Neurotischem, Krankhaften und Abergläubischen.

7.

In dieser Kritik am Aberglauben im Katholizismus hat man sogar ein wenig auch die offizielle Kirchenlehre auf seiner Seite. In einer allgemein gehaltenen Formulierung des offiziellen katholischen Katechismus (von 1993) lehren sogar die Herren im Vatikan: „Der Aberglaube ist gewissermaßen ein abartiges Zuviel an Religiosität“ (§ 2110).

8.

Dieses „Zuviel an katholischer Religiosität“ wird in diesem Beitrag nur in einigen Umrissen untersucht. Das Kriterium, das Aberglauben von einem reifen, kritischen religiösen Glauben unterscheidet, kann nicht aus den Glaubenslehren selbst stammen! Dies sind in sich zu verwirrend. Das Kriterium kann nur die allgemeine selbstkritische Vernunft sein und die von ihr als universal einsichtig formulierten Menschenrechte. Dabei spielt auch ein vernünftiger Bezug des Menschen zu einer transzendenten Wirklichkeit eine Rolle!

9.

Das Thema ist alles andere als eine intellektuelle Spielerei oder bloß eine Spezialfrage für Theologen oder Philosophen. Denn die Bedeutung des Aberglaubens für die seelische Gesundheit eines sich religiös nennenden Menschen ist offensichtlich. Wer in wichtigen Fragen seiner Lebensphilosophie (z.B. auch „Glauben“ genannt) beginnt, spinös zu werden, zerstört langfristig sein klares, argumentierendes, selbstkritisches Denken. Auch Demokratie kann nur (über)leben, wenn es möglichst wenig politischen-ideologischen-religiösen Aberglauben gibt, siehe jetzt den Wahn der Verschwörungstheoretiker angesichts der Corona-Epidemie oder den Reinkarnationsglauben etwa in Anthroposophen-Kreisen als Abwehr gegen die Corona-Impfung. Im katholischen Bereich denke man an die gewaltsamen Attacken von Marien-Fans gegen den Film „Je vous salue Marie“ in den Pariser Kinos oder die gewaltsamen Attacken derer, die PRO LIFE als Verbot jeglichen Schwangerschaftsabbruches verstehen und deswegen Abtreibungs-Klinken und Ärzte in den USA oder Polen schikanieren.

10..

Der Philosoph Voltaire hat in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ klar gesagt: „Der Abergläubische wird vom Fanatiker beherrscht und wird selbst zum Fanatiker. Kurz, je weniger Aberglaube, desto weniger Fanatismus, und je weniger Fanatismus, desto weniger Unheil“ (Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, Frankfurt am Main, 1985, S.48 und 51).  Es sind also bereits Fanatiker, auch religiöse Führer, Kleriker und fundamentalistische Katholiken, die ihren eigenen Aberglauben anderen aufdrängen, das sagt Voltaire! Im Zusammenhang des sexuellen Missbrauchs durch Priester wurde vielfach deren propagierte abergläubische Theologie freigelegt…Etwa so: Ein Engel soll es dem pädophilen Ordensgründer der Legionäre Christi, Marcial Maciel, befohlen haben, dass ein Knabe ihn sexuell im Kloster befriedigt, angeblich sollte so Maciels Krankheit geheilt werden…, das redete der Chef des Ordens der Legionäre Christi den Knaben, ein, die er nachts in sein Bett lockte…So berichten die Opfer… Zum sexuellen Missbrauch durch Priester: LINK

11.

Hier geht es um den Aberglauben in der katholischen Kirche heute. Und selbstverständlich müsste das Thema auch in den evangelikalen Kirchen und Pfingstgemeinden diskutiert werden, selbstverständlich auch in allen orthodoxen Kirchen oder auch in allen anderen Religionen und Ideologien und Weltanschauungen. Vor allem ist niemand und keine Organisation geschützt, in Aberglauben zu versinken. Und Psychologen müssten untersuchen, ob Aberglauben irgendwie zur strukturell bedingten seelischen Verführbarkeit „des“ Menschen gehört. Ein weites Feld…

12.

Um noch einmal auf den offiziellen katholischen Katechismus (1993 im Vatikan in sehr vielen Sprachen erschienen) zurückzukommen: Er spricht anlässlich der Bestimmungen zum „Ersten Gebot“ merkwürdigerweise nur sehr allgemein von „dem“ Aberglauben , und dieser wird in einem Atemzug mit dem „Unglauben“ bzw. dem Atheismus verbunden. „Das erste Gebot („Du sollst neben mir keine anderen Götter haben“) untersagt Aberglauben und Unglauben“… „Der Aberglaube ist gewissermaßen ein abartiges Zuviel an Religiosität“ (§ 2110).

Damit wird überraschend eine interessante Perspektive eröffnet. Denn von einem „Zuviel“ an Religiosität kann im Katholizismus damals wie heute die Rede sein. Man denke, wie schon angedeutet, an die Wallfahrten und Gelübde, den Kult mit den Heiligen; man denke an die besondere, oft neurotische Verehrung, („Hochwürden“, „Exzellenz“, „Heiliger Vater“…), die immer noch Priester und Ordensleute als „besondere Katholiken“ „genießen“; man denke die überschwänglichen und jeder Vernunft entbehrenden Lieder zu Ehren Marias der „Gottesmutter“, die offiziell üblichen Segnungen von Autos und Tieren und Handys (aber nicht von Homosexuellen) usw.

Aber dieser maßlose Überschwang, der zum Aberglauben führt, wird im Katechismus selbst nicht ausführlicher thematisiert. Kardinal Ratzinger, damals als Glaubens-Behörden-Chef oberster Verantwortlicher für dieses Buch, in der deutschen Ausgabe mit 816 Seiten, ahnte wohl, dass es diplomatisch klüger ist, nicht zu konkret die Irrwege des Aberglaubens im heutigen Katholizismus zu beschreiben. Immerhin: In § 2111 wird Aberglauben „als Entgleisung verstanden, als Entgleisung des religiösen Empfindens und der Handlungen. Aberglaube kann sich auch in die Verehrung einschleichen, die wir dem „wahren Gott“ erweisen. Im Katechismus heißt es weiter: „So wenn z.B. bestimmten, berechtigten oder notwendigen Handlungen eine magische Bedeutung beigemessen wird“. Auch das bloß äußerliche Verrichten von Gebeten ohne „innere Haltungen“ wird im Katechismus Aberglaube genannt. Aber wie gesagt, all dies wird nicht weiter vertieft und mit Beispielen belegt. Ob im Katechismus bei den „bei dem bloß äußerlichen Verrichten von Gebeten“ etwa auch an den beliebten „Rosenkranz“ gedacht ist, den man/frau bekanntlich wie im Dämmerzustand herunterplappern kann? Aber vielleicht ist gerade dieses Dämmern im Religiösen heilsam und genauso viel wert wie die „esoterische Musik zur Entspannung?

13.

Bei der Dokumentation des umfassend praktizierten Aberglaubens im Katholizismus sollt man selbstverständlich auch vom Ablass sprechen, den der Katechismus immer noch verteidigt (§ 1471)! Oder vom Bittgebet (§ 2629ff.). Aber beides wird leider im Katechismus nicht mit Aberglauben in Verbindung gebracht. Und das ist theologisch falsch!

14..

Eher zufällig ein Beispiel aus der Fülle der Möglichkeiten, um Aberglauben förmlich als universale Dimension im Katholizismus zu belegen: Da laden z.B. der evangelische und der katholische Bischof von Berlin zu einem ökumenischen Gottesdienst ein – anlässlich der konstituierenden Sitzung des Berliner Abgeordneten-Hauses am 4.November 2021: Sie sprechen dabei, wie selbstverständlich, als ob man vom Wetter redetet, von Gott, dem Herrn, und er wird ausdrücklich wie ein zuhörender Teilnehmer angesprochen und gebeten, den Abgeordneten beizustehen: „Schenke ihnen Kraft, Mut und gute Ideen für das Gemeinwohl, und stärke sie, sich für eine Kultur des Miteinanders einzusetzen.“

Man stelle sich das vor: Gott als Gott wird als ein personaler Himmelsherr gedacht, der – wie ein Übermensch – „Kraft, Mut und gute Ideen schenken“ kann. Dieser Gott wird von den Herren der Kirche gar nicht weiter erklärt, zumal in dieser Stadt Berlin, in der bekanntlich sehr viele säkulare Menschen (und sich säkular verstehende PolitikerInnen) leben. Dieser allzu menschlich erscheinende und aktuell verfügbare Gott soll also in seiner willkürlichen Freiheit in den Geist der Abgeordneten „Kraft, Mut und gute Ideen“ einfügen. Ein Geschehen, das an die klassischen Erklärungen der „unbefleckten Empfängnis“ Jesu erinnern. Der Heilige Geist soll nach alter Lehre durch ein Ohr (!) Mariens irgendwie mysteriös in Mariens Leib geraten sein. Man vergleiche dazu den Beitrag im katholischen Pressedienst CNA aus den USA am 25.3.2021: Quelle: https://de.catholicnewsagency.com/article/empfaengnis-durch-durch-das-ohr-1292

15.

Auch das populäre Bittgebet sollte viel ausführlicher als Form des Aberglaubens, im angedeuteten “weiten Sinne“, diskutiert werden. Wenn Christen glauben: Gott ist Person, mit leicht relativierenden Anführungszeichen oder auch nicht gemeint, dann betonen sie: Der Glaubende könne diese göttliche Person direkt ansprechen. Und viele meinen sogar, in einen Dialog mit Gott eintreten zu können und fürs eigene Wohlergehen um Gottes hilfreiches Eingreifen bitten. An den leidenden Nächsten wird dabei oft nicht gedacht, hier hat das Ego alle religiöse Bedeutung.

Ich weiß, die reflektierte und kritische Theologie in Europa hält inzwischen nicht mehr viel von dem fordernden Bittgebet der Frommen, die mit Gott wie mit einem Kumpel auf Du stehen. Tatsache aber ist, dass die populäre und manchmal gedankenlose Gebets-Praxis immer noch üblich ist. Zeigt sich darin etwa, dass „der“ Mensch unheilbar naiv-religiös ist?

16..

Ein weiteres, eher zufällig aus vielen anderen Beispielen gefundenes Exempel: Eine Äußerung von Pater Klaus Mertes SJ im Kölner DOM-Radio: „Ich nenne ein Beispiel: Eine Freundin, die nicht glaubt, ruft mich an und fragt mich: Kannst du bitte für mich beten? Ich bin an Krebs erkrankt, ich kann selbst nicht beten. Auf diese Frage kann ich ja nur mit “ja” antworten, wenn ich tatsächlich glaube, dass es so etwas wie eine Stellvertretung anderer vor Gott geben kann“ (Quelle:  Interview im Dom-Radio 26.10.21).

Was folgt daraus: Der Fromme kann also aufgrund seiner Qualität der Gottes-Verbundenheit seine Beziehungen mit Gott sozusagen spielen lassen und für eine offenbar atheistische Freundin eintreten: Das ist nur eine Art Rechnerei innerhalb der göttlichen Welt. Der “Stellvertreter“, der Fromme, wird’s schon richten… Wie weit dürfen theologische „Spekulationen“ eigentlich gehen, wäre die Frage.

17.

Es wird also zu Beginn des 21. Jahrhundert  noch eine katholische Religion praktiziert, die niemals auf Wunder verzichten kann und Unmögliches für möglich hält und dieses dann als Religion verkauft! Wer sich etwa mit dem weltbekannten Marienwallfahrtsort Lourdes in Frankreich befasst, wird dort im Jahr 1858 mit dem angeblichen Auftreten Marias, der Mutter Jesu von Nazareth, konfrontiert. Sie ist vom 11. 2. bis zum 16. 7.1858 in dem französischen Dorf höchstpersönlich in Gestalt einer weiß gekleideten Frau 18mal „erschienen“ und hat dem Kinde, dem „Seher-Kind“, der 14 Jahre jungen Bernadette Soubirous, (1844-1879), auf Französisch gesagt: „Ich bin die Unbefleckte Empfängnis“. Maria selbst also befahl nicht in ihrer Muttersprache Aramäisch, sondern auf Französisch, Buße zu tun, eine Kapelle am Ort ihres Auftretens zu errichten (mit Blick auf späteren Wallfahrer-Tourismus) und „dass man in Prozessionen hierher kommen solle“. Und diesem „Ereignis“ als Wunder gedeutet, glauben viele Millionen Menschen bis heute: Es ist eine mysteriöse Traumwelt, die da mit dem Glauben an eine göttliche Wirklichkeit  verwechselt wird. Ähnliches spielte sich in Fatima (Portugal) oder La Salette (Frankreich) und an vielen Orten ab. Und viele sind bis heute entzückt. Sie lieben die „Romantik“ solcher Orte, lieben die Anwesenheit des Wunderbaren, des mysteriös Überweltlichen. Mag ja sein, dass dieser Marien-Glaube als ein erfreulicher, heilsamer Zustand wahrgenommen wird! Aber: Ist er nicht eher das Opium des Volkes? Das „Rauschmittel“, das auch Papst Franziskus gern verabreicht, wenn er selbst besonders „Maria als Knotenlöserin“ verehrt, ein Marienbild, das er einst aus Augsburg in seine argentinischen Heimat erfolgreich „importierte“.

Noch ein Detail zu Lourdes: Maria also erscheint persönlich, spricht Französisch und zeigt sich als himmlische Unterstützerin des gerade ganz frisch verkündeten Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Maris, das Papst Pius IX, am 8. Dezember 1854 verordnete. Welch ein göttlicher Zufall!. Himmlische Unterstützung für ein umstrittenes Dogma! In jedem Fall hat Maria persönlich dem bescheidenen Dorf Lourdes eine große religiös-touristische Karriere bereitet.  Zum Marien/Mutter-Gottes-Kult in den absonderlichen Marienliedern siehe diesen LINK

Man denke an viele weitere Beispiele etwa der Heiligenverehrung, etwa an die absurde, aber auch von Papst Franziskus direkt unterstützte Verehrung des heiliggesprochenen angeblich stigmatisierten Kapuziner- Paters Pio, den viele Kenner für einen Scharlatan halten, zum Pater PIO Kult siehe: LINK.

Man denke darn, dass die wie eine Heilige verehrte Stigmatisierte, in Frankreich äußerst populäre Marthe Robin mit ihren “Foyers de Charite”, 2019 von einem Mystik-Forscher als Betrügerin entlart wurde: LINK.

18.

Es muss mit allem Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass 500 Jahre nach Luthers Kritik der Ablass in der katholischen Kirche offiziell noch praktiziert und auch Papst Franziskus empfohlen wird. Er spricht häufig von der Wirkkraft des Teufels. Und es ist bekannt, dass in Italien, Frankreich, Spanien usw. selbstverständlich die Exorzisten-Priester alle Hände voll zu tun haben. Der Exorzist ist ein offiziell angestellter Spezialist in vielen Bistümern, Exorzisten werden ausdrücklich in offiziellen Publikationen mit Telefon Nr. etc. erwähnt. Der Glaube an den Teufel ist also nicht „totzukriegen“, und er scheint akzeptiert zu sein von den offiziellen Herren der Kirche. Papst Franziskus spricht oft von der Macht des Teufels!  Fortbildungen der Exorzisten veranstaltet regelmäßig ausgerechnet die Universität der „Legionäre Christi“ in Rom, vielleicht wollen diese Herren sich dadurch auch vom Ungeist ihres verbrecherischen Ordens-Gründers Pater Marcial Maciel befreien. Nur ein Beispielfür die Aktivitäten von Exorzisten, etwa in der Erzdiozese Paris, über die website gut erreichbar:https://www.paris.catholique.fr/service-de-l-exorcisme.html. In Italien gibt es einen wahren “Boom” an Exorzisten: “Die vom Vatikan anerkannte Internatioanle Vereinigung der Exorzisten schätzt, dass allein in Italien die Dienstleistungen dieser speziell ausgebildeten Priester – der Exorzisten – rund eine halbe Million po Jahr in Anspruch genommen werden, die Tendenz ist seit Jahren steigend” so Dominik Straub, Der Tagesspiegel, 10.12. 2021, Seite 36.

19.

Eine absolut geltende zentrale Gottesvorstellung des Katholizismus hat sich spätestens seit dem 3. Jahrhundert durchgesetzt. Diese Gottesvorstellung ist religionsphilosophisch und kritisch theologisch naiv bzw. abergläubisch zu bewerten. Sie ist eine Ursache, dass immer mehr Christen die Kommunikationsgemeinschaft einer Gemeinde verlassen. Sie wollen spirituell leben und glauben, ohne dabei auf die kritische Vernunft zu verzichten. Was ist diese uralte, für heilig und unantastbar gehaltene offizielle Gottesvorstellung der Kirche? Der Gott der Christen wird oft wie eine menschliche Person gedacht und verkündet und in Gebeten und Liedern auch wie eine greifbare und verfügbare Person verehrt. Göttliche Person besonderer Art wird in der alten Glaubenslehre Jesus von Nazareth genannt, der als wahrer Gott und wahrer Mensch verehrt werden soll. Jesus von Nazareth „ist“ also auch „wahrer Gott“…Ein religionsphilosophisch und kritisch-theologische nicht akzeptabler Gedanke. Die Alten mussten bekanntlich bei ihren theologischen Prämissen Jesus von Nazareth zum Gott erklären, um ihre eigene verschrobene Erlösungslehre plausibel machen zu können: „Nur ein Gott zugleich als Mensch kann die von Erbsünde zerstörte Menschheit retten…“ Diese „Theologie“ kann man getrost beiseite lassen, sie sollte als Aberglaube bewertet werden, der nicht ohne die Konstruktion einer Erbsünde auskommt….Jesus ist im Bild, als Metapher gesprochen, „Gottes Sohn“, aber nur, so wie alle anderen (!) Menschen ebenfalls sich als Söhne und Töchter Gottes betrachten können.

Bekanntlich wird in der göttlichen Trinität sehr missverständlich von drei Personen gesprochen. Dieser Gott als Person gedacht und verehrt kann also je nach persönlicher Laune ins Weltgeschehen eingreifen, ER kann z.B. den Seuchen ein Ende setzen oder den Feind („die anderen“) im Krieg besiegen. Wenn ER dies nicht wunschgemäß tut, sind die Menschen böse und verzweifelt. Trotzdem glaubt man: ER wirkt Wunder, wann und wo immer Er es will.  Die Frommen flehen ihn an, ER erhört sie oder auch nicht, ER fördert in seinen angeblich heiligen Texten die Angst vor dem Weltenende usw. „Es ist der launische Fatalismus der antiken Gottheiten“, der sich da noch am Leben erhält“, schreibt der Historiker Vito Fumagalli („Wenn der Himmel sich verdunkelt“, Berlin, 1988, S. 16).

20.

Unser Thema „Aberglauben in der katholischen Kirche“ berührt also das Zentrum biblischer Gottesvorstellungen und Gottesbilder: Im Mittelpunkt steht dabei, tausendmal in der Bibel beschrieben, die Vorstellung: Gott schließt einen Bund mit den Menschen, ER wird also in diesem Bund persönlich präsent als greifbarer Bundespartner; er tritt nahe, erhält individuelle Züge, ER spricht und flucht und straft, ER lässt verlauten und offenbart sich verbal. Die Zurückhaltung Gottes in den uralten Geschichten und Erzählungen gegenüber seinem “Profil“ ist bekannt: Etwa Gottes Selbstbezeichnung: „Ich bin der ich bin“. Aber die Frommen konnten sich damit nicht begnügen und hängten Gott alle möglichen „persönlichen“ Eigenschaften an.

Das also ist die Herausforderung: An dieser Gottesvorstellung des allzu menschlichen und bildreichen BUNDES-Gottes muss Kritik geübt werden, um eines reflektierten Glaubens willen…Und um die Menschen vor Verirrungen und Wahnvorstellungen zu bewahren. Die Befreiung von einem allzu menschlichen Gottesbild ist freilich für viele noch ein Skandal, die in Gebeten und Liedern und Kult-Bildern (Ikonen) den greifbaren Gott, „ihren“ zurechtgemachten Gott über alles lieben. Da blüht die Phantasie, die romantische Vorstellung, so bezaubernd in dieser Zeit der rationalen Kühle und menschlichen Kälte. Ist dann dieses Opium „Aberglaube“ eine beruhigende Wohltat, wenigstens für die kurze Zeit religiöser Verzückungen?

21.

Worauf läuft dieser religionskritische Hinweis hinaus?

Das Bild des irgendwie willkürlich und launisch handelnden und immer ansprechbaren Gottes sollte einem reifen, reflektierten Gottesbild Platz machen, das sich der Mystik und Philosophie verdankt.   Nur so kann der Aberglaube überwunden werden, falls die Frommen und die Hierarchie dies überhaupt wünschen!

Ein interessantes historisches Beispiel: Ende des 18. Jahrhunderts war es dem Klerus in Tarbes, Südfrankreich, sogar gelungen, die Gläubigen von einem Aberglauben zu befreien: Bei Gewitter verlangten sie, dass der Pfarrer die Glocken läute: „Das Volk erwartete vom Ritual des Läutens als einer Beschwörung eine unmittelbare Wirkung…Bei einem Misserfolg (also Blitzeinschlag und Hagel) nimmt die Gemeinde gegen ihren Pfarrer  eine aggressive Haltung ein, weil er kein Hagelvertreiber ist“. (zit. in „Der Mensch der Aufklärung“, Beitrag „Der Priester“, Fischer Taschenbuch 1998, S. 316f.) Der Priester führte dann den Blitzableiter ein, den Benjamin Franklin erfunden hatte …und das Glockenläuten bei Gewitter erschien eher albern und überflüssig. Wer baut weitere „Blitzableiter“ gegen den herrschenden Aberglauben?

22.

Gott oder das Göttliche wahrnehmen als den tragenden, freundlichen Sinn des Lebens und der Welt: Das ist religiös gesehen eigentlich alles, was geübt, gelehrt, besprochen, gefeiert werde sollte. Diesen Gott bzw. Göttlichen können Menschen nicht manipulieren, sie können ihn NUR berühren, ihn also NICHT und niemals umgreifen und definieren. Die ganze Last der Theologie, die sich dreht und windet hinsichtlich der Frage, wo und wie und warum handelt Gott, entfällt also. Eine Ernüchterung wird geltend, eine Befreiung von der Lst der Dogmen, die der Klerus im Laufe der Jahrhunderte aufgehäuft hat – als Last für die Glaubenden.

Christlich (auch katholisch) Glauben heißt dann: Inmitten eines erhofften und gelegentlich erlebten Sinn-Grundes als Menschen einfach „da sein“ zu dürfen mit anderen, die auch nichts anderes verlangen als das, was man selbst auch für zentral hält: Die Nächsten – und Selbst-Liebe, Gerechtigkeit und Friede. Daraus folgen politische, ökonomische und ökologische Forderungen, nach Gerechtigkeit und Frieden. Glauben wird in dem Sinne einfach, im guten Sinn reduziert auf einige elementare Erkenntnisse und Imperative.

23.

Noch einmal: Der authentische christliche Glaube sollte sich auf die einfache Lehre Jesu von Nazareth beziehen UND genauso deutlich auf die Verwirklichung der Menschenrechte: Also Gottesliebe und Nächsten/Fernsten-Liebe sowie die Selbstliebe sind im Sinne des Propheten Jesus als Einheit zu verstehen. Dabei muss zur Vertiefung von der Religions-Philosophie und der Mystik gesprochen werden, etwa von Meister Eckart oder Johannes vom Kreuz, die wissen: Gott ist unergründliches, aber vom Menschen kaum berührbares Geheimnis. Der große katholische Theologe Karl Rahner hat in dem eingangs genannten Aufsatz „Über die Verborgenheit Gottes“ geschrieben: „Da ursprüngliche Erkennen Gottes ist das Angerufensein von dem, was keinen Namen mehr hat; das Sich-Einlassen auf, was nicht bewältigt wird; das Sagen des Namenlosen, über das sich nicht klar reden lässt, der letzte Augenblick vor dem Verstummen, der notwendig ist, um das Schweigen zu hören und Gott liebend anzubeten“ (S. 297). Dieses Geborgensein in einem tragenden Lebenssinn braucht keine Wunder, keine besonderen göttlichen Eingriffe, keine egoistischen Wünsche zur Gebetserhörung: Der Mensch ist in einer im Göttlichem gründenden Welt, dem unfassbaren SINN, geborgen, von einem Gott, der ewiger schöpferischer Geist ist. Wer inhaltlich mehr behauptet und entwickelt, gelangt wieder schnell … in den Aberglauben.

24.

Ausblick

Hier konnten nur einige Lehren und Praktiken der katholischen Kirche als Aberglauben genannt werden, sozusagen als Impuls für eine Fortsetzung der religionskritischen Forschung, weiter zu fragen: Etwa: Inwiefern ist die Institutionalisierung des katholischen Glaubens als einer hierarchischen Männer- Kirche und deren Eingliederung in die politischen Systeme der Herrschaft seit dem 4. Jahrhundert verantwortlich für die Ausbildung des christlichen Glaubens zu einem zum Teil abergläubischen Dogmen-System? Dies geschah sicher auch mit Rücksichtnahme auf vorhandenen volkstümlichen Überzeugungen, derer, die da bekehrt werden mussten.

Weitere Strukturen der dogmatischen Lehre des Katholizismus müssten untersucht werden:

Das ungebrochene Festhalten der heutigen Hierarchie an einer fundamentalistischer Bibeldeutung: Dies betrifft die skandalöse Abwehr von Frauen im Priesteramt.

Dies betrifft vor allem das Papsttum selbst, verbunden mit der Arroganz der jeweils herrschenden Päpste, selbst die miserabelsten Verbrecher auf dem Papst-Thron (mit den vielen Gegenpäpsten etc.) noch als Teilhaber an der „apostolische Sukzession“ zu verstehen. Man lese dazu die Studie des katholischen Theologen Hermann Baum, „Die Verfremdung Jesu“, Patmos Verlag Düsseldorf, 2006, etwa das Kapitel „Die Kirche der Kaiser“, S. 130 ff.  Auch Papst Franziskus reiht sich ein – offenbar ohne Probleme – in diese große Gruppe „apostolischer“, aber verbrecherischer Päpste…Man muss dabei nicht nur an Papst Alexander VI. denken oder Leo X., sondern etwa ans 10. Jahrhundert, wie Hermann Baum schreibt: “Intrigen (unter den Päpsten und den Adelsfamilien) enden mit Totschlag und Mord. Und in diese Gräuel und Untaten sind die Päpste engstens verwickelt, als Opfer und Täter“, S. 135.

Diese ganze ,immer auch politische – ökonomische Papst-Geschichte beruht einzig auf einem fundamentalistischen, also wort-wörtlichem Verstehen eines erst viele Jahre nach Jesu Tod konstruierten Wortes Jesu von Nazareth an einen Fischer und Apostel namens Petrus:  „Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“. (Matthäus, 16. Kap., Vers 18)

Dabei wissen kritische Exegeten heute, dass Jesus von Nazareth – zu Lebzeiten, wann denn sonst?  – nicht im entferntesten an eine Kirchengründung dachte. Jesus war absolut eingestimmt auf ein baldiges Ende der Welt. Es war die frühe Gemeinde der Petrus-Freunde, die Jesus dieses Wort an den Fischer Petrus in den Mund legte. Aber diese Erkenntnis wird von den sich zu Herren der Kirche erklärenden Klerikern ignoriert, schließlich wollen nur sie allein authentisch die Bibel deuten. Und diesen Machtanspruch halten allerdings jetzt einige Katholiken für erlogen und konstruiert.

Auch der Anspruch der Päpste, Nachfolger des armen Fischers Petrus zu sein, ist schlicht und einfach Aberglaube. Peinlich ist der offizielle Hymnus, der in Mexiko 2012 allerorten gesungen wurde, als Papst Benedikt XVI. das Land besuchte. Man weiß nicht. Wird da Christus als Heilsbringer gerühmt oder der Papst? LINK.

Weiter wäre zu sprechen von der Lüge der „Konstantinischen Schenkung“: Gemeint ist die von Päpsten seit dem 8. Jahrhundert verbreitete Behauptung, Kaiser Konstantin hätte den Päpsten weltliche Macht übergeben und ihnen auch den so genannten Kirchenstatt geschenkt. Diesen Wahn der Päpste, einen eigenen Staat beanspruchen zu dürfen, hat der Philosoph Lorenzo Valla schon im Jahr 1440 wissenschaftlich korrekt beschrieben und als LÜGE der Päpste dargestellt. (siehe etwa in kurzer Form: Thomas Sören Hoffmann, Philosophie in Italien, dort das Kapitel über Lorenzo Valla, bes. S. 219). Selbstverständlich wurde gegen Lorenzo Valla ein Inquisitionsprozess eingeleitet. Auch durch Vermittlung des Kardinals Nikolaus von Kues konnte Valla die Inquisition überleben, er ist 1457 eines natürlichen Todes gestorben. Aber an das Recht, einen eigenen, wenn auch jetzt winzigen, aber einflussreichen Staat haben zu dürfen, glauben die Päpste und mit ihnen die Katholiken bis heute.

Nur aufgrund der Lüge der Konstantinischen Schenkung, also wegen des Vatikanstaates, ist der Nachfolger des Fischers Petrus bis heute sowohl Staatschef UND spiritueller Führer. Ein Staatschef freilich, dessen Regime Politologen übereinstimmend als eine „absolute Monarchie“ bezeichnen. Und die Päpste sind stolz darauf, KEINE demokratische Kirche zu leiten und NICHT die „UN-Menschenrechts-Charta“ unterzeichnet zu haben. Der Grund: „Der Vatikan-Staat ist kein normaler Staat und auch nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Und er bezieht sich auf eine grundsätzlich andere, von Gott her definierte Rechtsgrundlage. So gelten im kleinen vatikanischem Staatsgebiet bis heute auch weder die Religionsfreiheit noch die Rechte-Gleichheit von Mann und Frau“. (Das schreibt unverblümt eine offizielle katholische Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/19912-warum-die-kirche-gegen-die-menschenrechtserklaerung-war), gelesen am 28.11.2021.

Das ist nun ein Beweis für den herrschenden Aberglauben im Katholizismus: Die Herren der Kirche behaupten explizit: Gott selbst habe die Rechtsgrundlage für diese Kirche geschaffen…Bei einem solchen Denken steht die Kirche den religiösen Fundamentalisten im Islam, Judentum, Hinduismus usw. sehr nahe.

Zur Formel “Hokus Pokus” siehe: LINK

 Vorläufiges Schlusswort: „Der Schlaf der Vernunft zeugt Ungeheuer“ (Francisco Goya, 1797).

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

Neues Denken könnte die Welt noch retten. Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2021!

Die Rede von Tsitsi Dangarembga anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels am 24.10.2021 in Frankfurt/Main.

Die Autorin, Schriftstellerin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe hat am 24.10.2021 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten!

Dazu möchten die Initiatoren und Leiter des Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin ihren herzlichen Glückwunsch aussprechen und ihre Hochschätzung betonen: Denn Tsitsi Dangarembga ist nicht nur eine wichtige Autorin wegweisender kritischer Romane, sie hat sich in ihrer Rede in Frankfurt erneut explizit als Kritikerin des globalen kapitalistischen und imperialen Weltsystems gezeigt. Darüber hinaus hat Tsitsi Dangarembga in ihrer Rede eine philosophische Kritik vorgestellt, die an die Wurzeln neuzeitlichen europäischen Denkens geht. Die Autorin zeigt, dass das viel besprochene Wort des Philosophen Descartes – fast wie eine Floskel verbreitet : „Ich denke also bin ich“ tatsächlich, ursprünglich viel komplexer verstanden, bedeutet: „Ich zweifele, also bin ich! Gerade weil ich am Zweifeln selbst noch einmal zweifeln kann, ist der Zweifel als Denkform also die „Grundmelodie“ des reflektierenden Daseins“. Aber: Für die westliche Welt des Imperiums war Zweifeln  niemals eine Tugend des Imperiums.

Die ganze Rede von Tsitsi Dangarembga können Sie hier nachlesen: LINK.

Hier einige Hinweise und zentrale Zitate aus der Rede:

Tsitsi Dangarembga spricht zu Beginn von der vielfachen Gewalt des Imperiums, die sich auch in Simbabwe als physische, psychische und metaphysische (also religiöse) Gewalt zeigte und zeigt:

„Diese Arten der Gewalt sind in die Strukturen der globalen Ordnung, in der wir leben, integriert und wurzeln in den Strukturen des westlichen Imperiums, dessen Anfänge sich vor über einem halben Jahrtausend bildeten. Das heißt, dass der Westen mit all seiner Technologie, seinen Überzeugungen und seiner Praxis auf vielfachen weiterhin praktizierten Formen der Gewalt aufgebaut ist, die er in den Rest der Welt exportiert hat und die jetzt in postkolonialen Staaten so eifrig praktiziert werden wie zuvor in imperialen und kolonialen Staaten.“

Etwas später betont die Autorin:

„Ein System, das auf Profit basiert, darauf, mehr zu erhalten, als man gibt, ist ein System der Ausbeutung. Ein System, das einerseits Konzentration und andererseits ein Defizit erzeugt, ist ein System des Ungleichgewichts. So ein System ist notwendigerweise instabil und deshalb auch nicht nachhaltig. Wie ist es möglich, dass wir in ein instabiles, nicht nachhaltiges System investieren, das uns zwangsläufig in den Untergang führt?“

Eine Veränderung dieser imperialen Gewaltstrukturen wäre möglich, durch die Entscheidung, neu zu denken:

„Hier ist eine Antwort, und ich glaube, dass die Antwort einfacher ist, als wir denken. Die gewaltsame Weltordnung, in der wir heute leben, wurde von gewissen hierarchischen Denkweisen etabliert. Die Lösung ist, ethnisch determinierte und andere hierarchische Denkweisen abzuschaffen, die auf demografischen Merkmalen wie sozialem und biologischem Geschlecht, Religion, Nationalität, Klassenzugehörigkeit und jedweden anderen Merkmalen beruhen, die in der gesamten Geschichte und überall auf der Welt die Bausteine des Imperiums waren und noch immer sind.“

Die Ego-Fixierung der typisch europäischen Maxime „Ich denke also bin ich“ haben schon europäische Philosophen zu überwinden versucht, wie Martin Buber oder Emmanuel Lévinas. Der andere Mensch muss von vornherein einbezogen werden, wenn das Ich zu denken beginnt. Tsitsi Dangarembga betont:

Da jemand, der »Ich denke, also bin ich« denkt, sich selbst als Mensch betrachtet, wird jemand anders, der anders denkt, als nicht wie ich oder nicht als Mensch wahrgenommen. Wie wir wissen, hat die Aberkennung des menschlichen Werts anderer Menschen den Effekt, den menschlichen Wert zu erhöhen, den wir uns selbst zuschreiben; und wir wissen auch, dass dieser Mechanismus der differenziellen Zuschreibung von Menschlichkeit für einen Großteil der Gewalt verantwortlich ist, mit der die Menschen einander heimsuchen.“

Es muss ein Paradigmen-Wechsel des Denkens stattfinden, wenn die Welt sich von Umweltkatastrophen, zunehmender Verarmung, zunehmender Etablierung von Unrechtsstrukturen und Ausbeutung befreien will. Tsitsi Dangarembga geht deswegen soweit, eine neue Aufklärung zu fordern, also eine neue Epoche neuen, aufgeklärten Denkens.

Über das »Ich« hinauszuschauen zum »Wir« könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen führen, zum Beispiel zu »Wir denken, also sind wir« oder sogar zu »Wir sind, also denken wir« und mit letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen »denken« zum empirischen »sein« verschieben….Unsere Entscheidung, was und wie wir denken, ist letztlich eine Entscheidung zwischen Gewalt oder Frieden fördernden Inhalten und Narrativen. Das gilt, ob wir diese Inhalte und Narrative in Gedanken nur für uns selbst formulieren oder ob wir sie anderen um uns herum mitteilen. Beides ist fruchtbar.“

Für die Hinweise und die Zusammenstellung verantwortlich: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Nichts tun: Ein neues Buch und eine alte chinesische TAO -Weisheit (Zhunangzi).

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Philosophieren ist nicht an Institutionen oder „Fachleute“ gebunden, die sich explizit philosophisch nennen. Dies ist eine alte Erkenntnis.  Mit anderen Worten: Jeder Mensch philosophiert „immer schon“, selbst wenn er sein Nachdenken nicht als Philosophie bezeichnet…

2. Zweifelsfrei ist deswegen auch, dass Romane und Gedichte, Gemälde und Musik, Architektur sowie selbstverständlich die Natur (bzw. die von Menschen noch nicht ganz zerstörte Natur) oder die Welt der Götter PHILOSOPHISCH zu denken geben, also philosophische Impulse freisetzen. In zahleichen Hinweisen dieser Website wurde das dokumentiert und kommentiert.

3. Der Philosoph und Journalist Gert Scobel erinnert im „Philosophie-Magazin“ (Heft 4/2021) ebenfalls an diesen „weiten Philosophiebegriff“: „Gegenwärtig scheint ein neuer Typ des philosophischen Buches zu entstehen. Es gedeiht zwischen den Genres…“ Und damit bezieht sich Scobel auf ein Buch der US-amerikanischen Künstlerin und Autorin Jenny Odell (Kalifornien). Und Scobel empfiehlt das Buch sehr! Nennt es sogar „brillant“.

4. Der Titel weckt also große Erwartungen: „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“. Erschienen 2021 im C.H.Beck Verlag. In den USA ist das Buch „How to do nothing“ seit 2019 ein Bestseller, schließlich hat Barack Obama dieses Werk als eines der wichtigsten Bücher empfohlen. (Quelle: https://www.nytimes.com/2020/01/16/books/review/inside-the-list-jenny-odell.html). In einem Interview mit der New York Times verriet die Autorin: “Ich bin aufrichtig erstaunt darüber, dass irgendjemand die Geduld hatte, dieses gelegentlich beschränkte, oftmals seltsame Buch durchzuackern.”  (Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/nichtstun-jenny-odell-meditation-analog-fomo-rezension/seite-2).

5. Wer also dieses „seltsame und gelegentlich beschränkte“, aber als „brillant“ bewertete Buch liest, muss feststellen:

Die Autorin plädiert für eine grundlegende Neuorientierung des heutigen Lebens der westlichen Menschen bzw. der nicht ganz Armen in den armen Ländern: Die meisten Menschen heute sind fixiert, so die zentrale Analyse, durch eine falsche „Aufmerksamkeitsökonomie“, wie sie sagt. Das heißt, sie betrachten sehr aufmerksam stundenlang ihre Smartphones und Computer, sind mit Facebook und Instagram rund um die Uhr beschäftigt. Die Autorin denkt an eine Alternative: „Für mich bedeutet nichts zu tun, mich von einem Bezugssystem (die Aufmerksamkeitsökonomie) zu lösen. Nicht nur, damit ich Zeit habe nachzudenken, sondern auch um etwas Neues in einem anderen Rahmen zu tun“. (S. 242).

Ob es nun wirklich Menschen gibt, die bei der Computernutzung oder beim Smartphone-Betrieb NICHT nachdenken, sei dahingestellt. Die Autorin ist aber der begründeten Überzeugung: Wir müssen die Unterbrechung im routinierten und oft suchthaften Verhalten beim Gebrauch der sogenannten „sozialen Medien“ einüben. Die nun einmal kapitalistisch beherrschte Ökonomie der sozialen Medien verhindert eher vielfältiges Leben, etwa das Naturerleben, die Kunsterfahrung, die Pflege von Freundschaften etc. Unter Nichtstun versteht Jenny Odell also nicht etwa das lange dauernde Dösen oder das Eremitendasein. Den gelegentlichen Rückzug aus dieser von Ökonomie-Gesetzen beherrschten Welt, das unterstützt sie. Aber im ganzen geht es darum, wieder zur Fülle des menschlichen Erlebens zu finden, mit nur sehr gelegentlichem sinnvollen Gebrauch der Smartphones und Co. Die Autorin empfiehlt die „kleinen Schritte“ zu einem lebendigeren Leben durch die Einübung von meditativer Wahrnehmung oder durch einen noch so bescheidenen Einsatz zugunsten der bedrohten Natur.

6. Derartige Kulturkritik hat man schon oft in den letzten Jahren gelesen und gehört, man denke an Hartmut Rosa. Bernard Stiegler oder Jaron Lanier („Gadget“) usw.

7. Jenny Odell sagt offenbar für die USA Neues, man glaubt das kaum, aber Barack Obama hat das Buch so hoch gelobt! Die Autorin ist eine junge „multidisziplinäre“ Künstlerin und Dozentin für Internetkunst etc.. In ihrem Buch überwiegt meiner Meinung nach die  Beschreibung sehr vieler persönlicher Erlebnisse in ihrer schönen und teuren Heimat, der Bay Area rund um San Francisco. Die weitausschweifenden Schilderungen ihrer alltäglichen Erlebnisse (Kino-Besuche, Spaziergänge etc.) lenken eher ab vom Zentrum ihrer Aussagen: Sie will aber doch, so schreibt sie im Vorwort (S. 9), zu „politischem Widerstand gegen die Aufmerksamkeitsökonomie anleiten“. Aber das Profil dieses von ihr genannten „antikapitalistischen  Widerstandes“ bleibt auf bescheidenem Niveau. Ihre  politischen Hinweise zugunsten  eines „anderen  Lebens des „Nicht-Tuns“  fallen dürftig aus, so lobenswert auch etwa die Erörterungen zum „Bioregionalismus“ auch sein mögen (S.211).

Sie selbst nennt ihr Buch „einen offenen und ausgedehnten Essay“, und auch treffend: „keine abgeschlossene Informationsübermittlung“ (S. 21). Dabei hätte schon der Begriff „Aufmerksamkeitsökonomie“ für viele LeserInnen näher definiert werden müssen.

Das Buch ist im ganzen viel zu sehr auf kalifornische bzw. US-amerikanische LeserInnen bezogen, die den ausführlichen regionalen Orts-, Park- und Wald-Beschreibungen folgen wollen oder sich in die weiterführenden Verweise auf die fast ausschließlich US-amerikanische Literatur vertiefen wollen.

8. Interessant ist für den „Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phi­sch­en Salon Berlin“, dass am Rande auch der Kirchenvater Athanasius und der Eremit Antonius, der aus der ägyptischen Wüste, erwähnt werden. Etwas ausführlicher wird auf den in den USA immer noch sehr bekannten politischen Aktivisten und Mystiker, den Trappistenmönch Thomas Merton (S. 92), hingewiesen. Ansonsten sind spirituelle/religiöse Hinweise bei dem Thema eigentlich nahe liegend, doch sehr spärlich. Für die Autorin ist ihre Liebe zur Natur, besonders zu den Vögeln, offenbar ihre persönliche Spiritualität.

9. Meine Meinung: Hätte sich die Autorin ausführlich argumentierend auf ihr Thema „Nichts tun“ begrenzt ohne weitausgreifende subjektive Erlebnisse zu schildern, hätte sie einen hübschen Aufsatz von 20 Seiten publizieren können. Aber: Vielleicht kam das Buch mit diesem Titel (!) zur richtigen Zeit, als ab Frühjahr 2020 sehr viele Menschen wegen Corona tatsächlich zum Nichts-Tun gezwungen waren.

10. Immerhin beweist diese Publikation, dass moralische Maximen und sanft formulierte ethische Standpunkte heute doch noch respektiert werden. Würden die Kirchen solche Selbstverständlichkeiten wie die in dem Buch verbreiten, würde kaum jemand hinhören…

11. Ich hätte das Buch nie gekauft und nie gelesen (wie gesagt, das Thema ist gar nicht neu), wenn nicht der Philosoph Gert Scobel dieses Opus über alles gelobt und es sogar „brillant“ genannt hätte. Man folge also nur sehr skeptisch “Autoritäten”.

Ich bin also leider der Empfehlung Scobels gefolgt, habe das Buch gekauft und einmal mehr gelernt: Vertraue nicht zu sehr noch so klugen Rezensenten. Das Buch kostet 24 Euro und hat 296 Seiten.

12. Das Buch endet wie üblich mit einer ausführlichen Danksagung. Der letzte Satz dieses Dankes (S. 276) heißt:“ Zu guter Letzt möchte ich Krähe und Krähensohn dafür danken, dass sie weiterhin, Morgen für Morgen, meinen Balkon besuchen und jenem vergleichsweise plumpen Homo sapiens ihre fremdartige Aufmerksamkeit schenken. Mögen wir alle das Glück haben, unsere Musen in unserer eigenen Umgebung zu finden“. Schade, dass nicht noch ein AMEN folgt.

13. Auf einen anderen Autor muss in dem Zusammenhang hingewiesen werden: Jenny Odell nennt ihn kurz selbst – bei ihrem Thema  fast ein „Pflichtprogramm“: Es ist der chinesische Weise und Philosoph Zhuangzi. Zhuangzi (eigentlich Zhuang Zhon) lebte von 365 -290 v.Chr.), er ist an der Seite des bekannteren Laotzi der wichtigste Denker des Taoismus.

Von Zhuangzi wird ein umfassendes Buch, vor allem ein Werk seiner Schüler, verbreitet, es trägt ebenfalls  den Titel „Zhuangi“.

14. Das Buch Zhuangzi ist jetzt in einer kleinen Auswahl durch Viktor Kalinke im Reclam Verlag, 2021, erschienen. Während von Laotse kurze Sprüche und Poesie verbreitet wurden, haben die Schüler Zhuangzis längere Prosastücke gesammelt. Das „Nichts-Tun“ ist die grundlegende Haltung des Abstandnehmens inmitten der Konflikte und endlosen Theorie-Debatten. Und welcher Weg führt daraus? Die Sinologin Anne Cheng spricht in ihrer großen Studie „Historie de la pensée chinoise“ (Paris 1997) von einer „harmonischen Musik“, die im Alltagsleben trotz aller Belastungen vernehmbar wird: Das Dao. Bekanntlich ist das umfassende gründende Dao kaum eindeutig  übersetzbar. Aber interessant ist, dass Zhunagzi die Wahrnehmung einer Art inneren Musik für entscheidend hält, die auch erlebbar wird im Rückzug aus der Welt. Daran lag Zhuangzi über alles. Von dieser inneren sanften und leichten, von der Welt distanzierenden Musik spricht Anne Cheng auf S. 102 und 106.

Zum Rückzug aus der Welt und dem entsprechenden Nichts-Tun gehört für Zhunagzi auch die Kritik an der angeblichen Klarheit der (Alltags)Sprache, die behauptet, alles genau zu wissen und zu definieren. Auszug aus der Welt heißt also auch Auszug aus den Üblichkeiten der Sprache und ihrer fixierenden Logik. Also: Abschied von der Welt des angeblich Eindeutigen.

Bei Laotse erscheint dann das Nichts-tun (=wuwei) sehr häufig in seinem Text „Daodejing“. An Laotse erinnern diese Worte Zhunagzis: “Wer viel weiß, hat Schwierigkeiten; wer wenig weiß, hat Muße. Wer viel redet, entfacht Feuer, wer wenig spricht, hat etwas zu sagen“ (S. 12 im zit. Reclam Band). Interessant die Aussage Zhuangzis: „Des Menschen Leben, es schwankt wie ein Grashalm“ (S. 13), eine fast gleichlautende Formulierung findet sich in der hebräischen Bibel, im Pslam 103, Vers. 15…

Geradezu politisch-kritisch äußert sich Zhuangzi: „Menschen, denen keine Menschlichkeit eigen ist, krempeln die lebendige Natur um in ihrer Gier nach Reichtum und Ruhm … Wer sich für Besitz und Wohlstand aufopfert, der gilt gewöhnlich als Kleinbürger“ ( S.26 /27).

15. Eine intensive Beschäftigung mit Zhunagzi und dem Daoismus hätte der Autorin Jenny Odell sehr gutgetan. Aber das kommt vielleicht noch, denn nach den Gesetzen des ganz auf Profit setzenden Buchmarktes wird sie nach ihrem „Bestseller“ „Nicht tun“ sicher sehr bald das zweite und dritte Buch vorlegen. Vielleicht diesmal mit einer Empfehlung von Jo Biden…

16. Das „Nichts Tun“ bleibt eine große philosophische Herausforderung, ein zentrales Thema philosophischer Lebensgestaltung. Nichts Tun meint eher das Abstandnehmen von dem üblichen,eingefahrenen und nur von der herrschenden (Un)Kultur bestimmten Tun. Zu unterscheiden wäre also wieder Tun und Handeln, diese klassische Unterscheidung verdient heute mehr Beachtung. Und Tun ist auf im weitesten Sinn auf Technik bezogen, Handeln auf das ethisch verantwortliche, auch politische lebendige Agieren.

Heute bestimmen die Maximen des technischen Tuns (Kalkül, materieller Profit, Taktik im Verhalten usw.) das politische Handeln. Korruption hat dort ihren Ursprung. Das Handeln in Deutlichkeit der Abgrenzung vom Tun wieder zu entdecken, auch mit dem immer gelegentlich erforderlichen Nichts-Tun (etwa in der Meditation), bleibt die dringende Aufgabe!

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin Berlin

 

Marx, Wagner, Nietzsche!

Über ein neues Buch von Herfried Münkler

Ein Hinweis von Christian Modehn

Herfried Münkler, Professor em. für Politikwissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin, legt ein gleichermaßen umfangreiches wie originelles Buch vor: Die drei „Denker“, um diesen etwas pathetischen Oberbegriff für Marx, Wagner und Nietzsche zu gebrauchen, haben mit ihren Werken auf je unterschiedliche Weise den globalen Umbruch im 19. Jahrhundert und darüber hinaus mit-bestimmt. Ihr politischer, künstlerischer und kultureller Einfluss ist bis heute evident, nicht nur in Europa. Die Werke der drei Deutschen sind keineswegs „ausstudiert“. Man hätte sich wohl auch drei maßgebliche europäische, nicht-deutsche „Denker“ aus dem 19. Jahrhundert vorstellen können. Aber die Bedeutung der drei Deutschen ist unumstritten, und dies zu sagen, hat nichts mit Nationalismus zu tun..

1. Herfried Münkler bietet einen interessanten neuen Ansatz: Er präsentiert und diskutiert Marx, Wagner und Nietzsche NICHT jeweils für sich getrennt, sondern zeigt in allen Kapiteln seines 620 Text-Seiten umfassenden Buches Querverbindungen, Gemeinsamkeiten, Widersprüche. Das macht die Lektüre spannend, aber manchmal auch anstrengend, weil eben von dem einen zum anderen gesprungen wird. Münkler „bringt die Drei miteinander ins Gespräch“, selbst wenn sie, historisch gesehen, kaum Kenntnis voneinander hatten, sieht man einmal von den Beziehungen zwischen dem jungen Nietzsche und Wagner ab. Die drei können sogar, meint Münkler, Begleiter sein im 21. Jahrhundert, aber, und das ist wichtig, „wobei diese Begleitung eher eine der kritischen Infragestellung als eine der selbstsicheren Wegweisung ist“ (616).

Um das besondere Profil jedes der drei im Sinne Münkles anzudeuten: Marx „als Ökonom und Soziologe setzt auf die Revolution der sozioökonomischen Verhältnisse, Wagner auf die kulturelle Regeneration und Nietzsche auf die Schaffung eines neuen Menschen“ (ebd.)

2. Münkler berichtet, dass er sich als Politologe selbstverständlich seit langem mit Marx auseinandergesetzt hat. Neu dürfte für manche die jahrelange Beschäftigung Münklers mit Richard Wagner sein, er kommt lang und breit in dem Buch zu Wort. Nietzsche hingegen ist wohl erst anlässlich der Studien zu diesem Buch für Münkler wichtig geworden (vgl. S. 715).

3. Unter den neun Kapiteln des Buches, die sich auf gemeinsame Sachthemen der drei beziehen, möchte ich vor allem auf das 5. Kapitel „Zwischen Religionskritik und Religionsstiftung“ hinweisen (S. 209 – 289). Das 19. Jahrhundert war nach der Französischen Revolution einerseits vor allem von einer Krise des Katholizismus bestimmt mit den ersten großen Umbrüchen in Richtung Säkularisierung des religiösen Bewusstseins. Andererseits war es aber auch das Jahrhundert vieler Religionsgründungen und Abspaltungen von den großen Konfessionen im Sinne von „Sekten“-Gründungen: Um nur einige zu nennen: Man denke an die Religion des Positivismus gegründet von A. Comte oder an den Altkatholizismus, an neue religiöse Gemeinschaften in den USA, wie die Christian Science oder die Mormonen oder an sehr beliebte esoterische Bewegungen damals wie den Spiritismus. Ich finde es schade, dass Herfried Münkler in seinem Religionskapitel dieses breite und durchaus diffuse religiöse „Aufblühen“ im 19. Jahrhundert in seiner Darstellung der „drei“ nicht berücksichtigt.

4. Marx, Wagner und Nietzsche haben je verschiedene, ganz ungewöhnliche Verbindungen zum Religiösen bzw. konkret zum Christlichen/Kirchlichen. Bei Marx werden die religiösen, d.h. christlichen und jüdischen Lehren „ins Diesseits verlagert“ (211). Im 20. Jahrhundert wird dann „der Kapitalismus als Religion“ thematisiert. Vom Kommunismus als Religion, etwa mit dem Stalin-Kult, spricht Münkler nicht, weil er als Historiker meint, Karl Marx habe mit dem Staats-Kommunismus in der UDSSR nichts direkt zu tun.

Richard Wagner ist bekanntlich als Antisemit auch ein Religionsgründer, er will mit seinen Festspielen eine Art neuer Kunst-Religion etablieren. „Erst in der 1950er Jahren kam ein Prozess der Desakralisierung (von Wagners Opern) in Gang“ (214). Nietzsche benannte und verkündete in seinen Aphorismen und in seinem „Zarathustra“ das faktische geistige und spirituelle Ende des Christentums. Aber Nietzsche hat mit seiner Lehre vom Übermenschen und der Ewigen Wiederkehr des Gleichen neue religiöse Dimensionen für die „wenigen“ „freien Geister“ erschließen wollen.

In dem Religionskapitel zeigt sich Münkler besonders als Kenner der künstlerischen Welt Wagners. Auf vielen Seiten werden die Inhalte des „Ring“ dargestellt… Dabei zeigt sich „Wagners Sorge um die Zukunft der Religion in einer arelgiösen Welt“ (S. 246). „Was Wagners religiöse Vorstellungswelt durchgängig prägt, ist sein Distanz gegenüber allen Formen der Institutionalisierung des Religiösen, also gegenüber der Kirche und einer dogmatischen Theologie“ (279).

Das ist, möchte man meinen, auch ein ganz aktuelles, “heutiges“ Thema im 21. Jahrhundert, wenn Münkler Wagners Lehre referiert: „Der Theologe als Hüter des religiösen wird durch den Künstler ersetzt“. Heute gibt es neben den Künstlern und Musikern viele “Hüter” des Religiösen, nicht des explizit Christlichen, bis hin in die eher profane Welt der “heiligen” richtigen Ernährung und der “absoluten” Gesundheitspflege als Ideal der Reichen in der reichen Welt…

5. Ich möchte das Thema des Buches etwas erweitern: Was bieten die drei Religionsgründer heute an gemeinsamen Impulsen? Zu dieser Frage führt ja die Lektüre dieses Kapitels…

Die Leidenschaft und geistige Energie von Karl Marx zugunsten einer umfassenden Gerechtigkeit auch für Ausgegrenzten und Armgemachten lebt jetzt in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und den Basisgemeinden weiter. Es gibt also heute ein emanzipatorisches Christentum, das vielleicht Marx erfreuen würde. Weil die dogmatische Hierarchie in Rom spürt, dass in dieser Theologie „etwas Marx“ vorhanden ist, hat der Vatikan diese Theologie auch systematisch zu zerstören versucht, etwa im Bündnis von Papst Johannes Paul II. mit Reagan und dem CIA.

Die Vorstellung, Kunst könnte Religion sein, (siehe Wagner), findet sich fragmentarisch in den letzten Aktualisierungen einer „liberalen Theologie“, die sehr treffend und richtig jedem Menschen eine eigene religiöse Kreativität zutraut. Und religiöse Erfahrungen gerade durch und mit Kunst/Musik etc. für möglich hält und dazu die Chance bietet in den Räumen christlicher Kirchengebäude.

Und Nietzsche? Er ist überzeugend, dass „die Kirche zum Grab Gottes“ geworden ist (in der „Fröhlichen Wissenschaft“, bei Münkler S. 220). Das heißt: Die starren Lehren einer letztlich unwandelbaren und damit vor allem nicht mehr lebendigen Kirche wird für viele, die darin noch verweilen, zum Grab Gottes: Sie werden wegen und durch die Kirchen förmlich zu Atheisten… In dogmatisch erstarrten Kirchen und Sekten wird der Glaube an Gott vertrieben…(Siehe etwa die Studien „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, etwa Erwin Ringel und andere)

6. Das neue Buch von Herfried Münkler bietet überraschende Perspektiven, es ist gut geeignet für Menschen, die ihre Kenntnisse von Marx, Wagner und Nietzsche vertiefen wollen. Münkler zeigt, wie unterschiedlich diese drei Denker des 19. Jahrhunderts auf die globale, politische, ökonomische und kulturelle Krise reagieren.

Man hätte sich gewünscht, in welcher gebrochenen Form die Werke dieser drei je unterschiedlich dann im 20. und nun schon im 21. Jahrhundert rezipiert werden. Dass Marx als Sozialkritiker und Ökonom auch jetzt wieder viel gelesen und debattiert wird, deutet Münkler an. Aber es gibt heute wieder explizite Marxisten und Kommunisten, etwa unter Frankreichs Philosophen (Badiou usw.)…

Dass sich Nietzsches Nihilismus und sein Plädoyer fürs Herrenmenschentum im Bewusstsein und der sozialen/politischen Praxis der Reichen in den reichen Ländern durchgesetzt hat, steht außer Frage. Egismus ist die wichtigste Untugend der Gegenwart. Und Wagners Opern stehen unerschüttert auf den Spielplänen der Opernhäuser, Bayreuth bleibt doch ein säkularer Pilgerort, bei dem die Reichen und Schönen und Spitzenpolitiker sich gern zeigen. Ob sie wirklich von diesen germanischen Mythen innerlich bewegt sind, ist hoffentlich eine offene Frage. Das Hören der Bergpredigt in einem christlichen Gottesdienst kann einige Menschen vielleicht noch verändern, auch politisch zu mehr Solidarität bewegen. Ob dies mit den germanischen Mythen (auch à la Wagner) gelingt, wage ich sehr zu bezweifeln. Es gibt selbstverständlich auch hierzulande einen bisher kaum diskutierten Kultur-“Genuss“ aus purer Langeweile („Ich hörte nun zum 5. Mal Lohengrin“  etc.) oder aus politisch gebotener Repräsentationspflicht (Kanzlerin Merkel in Bayreuth etc).

Herfried Münkler,“ Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt-Verlag Berlin, 2021, 718 Seiten, 34 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Mystiker, Journalist, Aufklärer, Theologe, Romantiker, aber immer: ein „Reisender“: Karl Philipp Moritz.

Über Karl Philipp Moritz, anlässlich seines Geburtstages am 15.9.1756

Hinweise von Christian Modehn.

Ein Motto:

„Moritz ist ein wahres Genie, ein wahrer Sonderling“ (Alexander von Humboldt).

1.

Muss man heute an Karl Philipp Moritz erinnern?

Einige Stichworte zu seinem kurzen Leben,  aber sehr umfangreichen vielfältigen Werk: Aus bescheidenen, aber extrem  frommen pietistischen Verhältnissen stammend, vielseitig begabt; Journalist; Theologiestudent und Prediger; als Reisender rastlos unterwegs, Autor des hoch geschätzten Romans (als Autobiografie) „Anton Reiser“; ein Pädagoge der ungewöhnlichen Art („Phantasie ist wichtiger als Wissen“); ein Freund Goethes, beliebt in den Berliner Salons; Autor und Gründer der ersten Zeitschrift mit „psychoanalytischem Interesse“ (das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“); schließlich Professor an der Akademie der Wissenschaften…

„Ein Aufstieg, der in der deutschen Geistesgeschichte ohne weiteres Beispiel ist“ (Willi Winkler, „Karl Philipp Moritz“, Rowohlt Monographie“, S.115). Aber doch mit der Einschränkung: „Man wusste nicht recht, wo man ihn einordnen könnte“ (Horst Günther im Nachwort zu „Anton Reiser, Insel-Taschenbuch, 2013, S. 529).

Muss man Menschen „einordnen“? Natürlich NICHT! Trotzdem: Moritz war nicht Philosoph im „klassischen“ Sinn, schon gar nicht Psychoanalytiker `avant la lettre`, er war auch kein Philologe alter Sprachen trotz seiner Studien zur antiken Mythologie… Aber: „Vielleicht liegt im Scheitern an den üblichen Gattungen seine Modernität“ (Horst Günther, ebd.)

2.

Über die Stationen und Daten seines kurzen Lebens kann man sich etwa bei wikipedia oder in der schönen Rowohlt-Monographie von Willi Winkler informieren. Geboren wurde Moritz am 15. 9.1756 in Hameln; gestorben ist er im Alter von knapp 37 Jahren am 26.6.1793 in Berlin.

3.

„Alles, was Moritz je geschrieben hat, gehört zueinander. Und alles ist angelegt in seiner Kindheit und Jugend“, betont Horst Günther (ebd., S. 530). Wenn das so ist, dann müsste die Prägung durch den extrem konfusen und unterdrückerischen Pietismus zuhause wie während seiner Ausbildung im Mittelpunkt der Forschung stehen. Die These sollte sein: Moritz, ein Mann, der durch frommen, sich mystisch nennenden Wahn verdorben wurde. Solches gibt es bis heute, nicht nur im Christentum…

Karl Philipp Moritz wird zu Hause nicht geliebt, aber mit der Ideologie einer christlichen Mystik abstruser Art konfrontiert, was ihn auch zur Selbstverachtung führt… Auch wenn Moritz später die Philosophie der Aufklärung schätzt: Die innere Bindung an Mystik und Quietismus (und damit verbunden auch an Aberglauben) wurde er nicht los. „Ganz kann sich Moritz nie von der Mystik befreien, die ihn von der Wiege auf unterdrückt hat“ (Willi Winkler, a.a.O., S. 120).

4.

Erstaunlich ist, dass in den protestantischen Kreisen von Hameln (wo er geboren wurde) sowie in Hannover und Braunschweig, wo er als 12-Jähriger bei einem von Mystik verwirrten Hutmacher lebte, die Lehren der französischen katholischen Mystikerin Madame de Guyon (1648-1717) (präziser: Jeanne-Marie Bouvier de La Motte Guyon)

verbreitet waren. Diese seltsame katholisch-protestantische Ökumene seit dem 18. Jahrhundert sollte weiter untersucht werden. Die einflussreichen Pietisten damals, wie August Hermann Francke, Gerhard Tersteegen, Zinzendorf usw. waren von den Ideen und Visionen Madame de Guyons geprägt… Diese fromme Adlige wurde wegen ihrer extremen spirituellen Lehren aber sogar von der offiziellen katholischen Kirche verfolgt, von anderen Katholiken wiederum wurde sie wie eine Heilige geschätzt: Sie glaubte z.B., mit Jesus verheiratet zu sein. Das Ziel ihrer mystischen Bemühungen war die Auflösung des menschlichen Selbst in Gott hinein, es ging tatsächlich um Vernichtung des Selbst. Das vernichtete Selbst wird dann in eine Art geistige Wüste und der Dürre geführt, wo „sich auch kein Fünklein der Selbstliebe mehr mischen darf“. Wie gesagt, diese abstrusen Wahngebilde fanden Zuspruch im protestantischen Deutschland, manche ließen sich wohl von ihrer „tiefgründigen“ Sprache verführen, wie das Umfeld des jungen Karl Philipp Moritz. Er  spricht noch von ihr in seinem autobiographischen Roman „Anton Reiser“, er zeigt, wie sich der junge Reiser (Moritz) sogar noch tröstete in den eleganten verworrenen Worten der Madame… Aber insgesamt hat diese eher menschenverachtende Mystik der Madame de Guyon dem jungen Moritz das Leben verdorben. Später distanzierte er sich ironisch-witzig von dieser Person, die die Trockenheit des Geistes lobte: “Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet“ (zit. in Willi Winkler, a.a.O. S. 17). Willi Winkler versucht eine Gesamteinschätzung: „Ob Moritz die Schwärmerei, den religiösen Aberglauben, den die Aufklärung so heftig bekämpfte, selber überwunden hat, ist zumindest zweifelhaft“. (Rowohlts Monographien, S.78).

5.

Als Journalist wagt sich Moritz auf ein ganz neues Feld der Forschung: Es geht um die Erkundung der Tiefen der Seele. Moritz geht in der von ihm begründeten und herausgegebenen Zeitschrift (1783-1793) von den konkreten Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen aus, auch von den eigenen. „In einer Fülle von Fallgeschichten berichtete diese als Viermonatsschrift konzipierte Zeitschrift über Mörder und Selbstmörder, religiöse Schwärmer und Hypochonder. Versuche mit Taubstummen und Charakteranalysen von Adoleszenten wurden neben Fällen von Kleptomanie und sexuellem Missbrauch mitgeteilt. Ein anhaltendes, fast schon systematisches Interesse richtete sich auf die Form und den Inhalt frühester Kindheitserinnerungen, und die Vielzahl eingesandter Traumerfahrungen forderte Moritz und seine beiden ihn zeitweise vertretenden Mitherausgeber Carl Friedrich Pockels (1757-1814) und Salomon Maimon (1753-1800) zu ersten Ansätzen einer »Theorie der Träume« heraus“…. „Mit der Darstellung von Zwangshandlungen, Traumphänomenen und Kindheitserinnerungen, mit Mendelssohns Erörterung eines topischen Modells der Seele und den wegweisenden sprachpsychologischen Überlegungen von Moritz zu den unpersönlichen Zeitwörtern (»es donnert«), stand es am Beginn einer Entwicklung, die bis hin zu Sigmund Freud führen sollte, der dieselben rätselhaften psychologischen Phänomene mit einer neuen systematischen Theorie erschliessen konnte.

(siehe: http://telota.bbaw.de/mze/)

6..

Moritz interessiert sich für die philosophische Aufklärung. Auch den Kindern will er die Idee der Gleichheit erklären: in seinem „A.B.C.Buch“ von 1790. Die Menschen sind nicht ungleich, betont er: »Die armen und niedrigen Menschen sind ebenso gebildet [geschaffen] wie die Reichen und Vornehmen. Ein jeder Mensch ist der Hilfe bedürftig. Wenn die armen und niedrigen Menschen schwach und krank sind, so bedürfen sie der Hilfe. Und wenn die Reichen und Vornehmen schwach und krank sind, so bedürfen sie auch der Hilfe. Kein Mensch muss den andern gering schätzen. Denn es ist die höchste Würde, ein Mensch zu sein.«  (ZEIT 7. 9. 2006, Benedikt Erens).

7.

Karl Philipp Moritz ist und bleibt der bis heute hoch geschätzte Dichter seines autobiographischen Romans Anton Reiser (1790), inzwischen wurde diese „Bekenntnisschrift“ in viele Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte eines Versuchs, sich selbst mit vielen Mühen aus der Unmündigkeit zu befreien. Den Pietismus des Elternhauses verlässt Reiser, aber eine geistige, spirituelle Heimat findet er nicht. In dieser Wahrhaftigkeit stellt sich Reiser/Moritz dar. Reiser erhöht sich und degradiert sich, leidet unter Ängsten und hat doch den Willen, dem Leben einen höheren Sinn abzugewinnen, auch wenn es schwerfällt. Aber der Eindruck bleibt: Der Mensch wird im Laufe seines jungen Lebens zerstückelt. Der Schriftsteller Arno Schmidt sagt: „Anton Reiser, ein Buch wie es kein anderes Volk der Erde besitzt“ (zit. in Willi Winkler,a.a.O., S. 144).

8.

Die Macht der seelischen Zerstörung durch frommen Wahn (Madame Guyon usw.) war also alles andere als total. Moritz, der so oft gelitten hat, konnte seinen Schmerz sinnvoll in seinen vielfältigen Werken überwinden. Seine Homosexualität konnte er nicht in Freiheit leben und gestalten, so sehr er auch in seinen Freund Karl Friedrich Klischnig (1788 – 1811) verliebt war…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

Atheismus im Christentum: Das heißt: Atheismus inmitten des Glaubens.

Wer ist ein religiöser Mensch? Jemand, der auch Atheist ist.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Das Buch „Atheismus im Christentum“ von Ernst Bloch, 1968 veröffentlicht, sollten religiöse Menschen, Christen, Muslime, Juden wie auch Atheisten neu entdecken, auch Atheisten, die bekanntlich auch „nur“ glauben können, nämlich: Dass es Gott nicht gibt.

1.

Der Titel des Buches ist Programm. Man könnte ihn verwandeln in „Atheismus im persönlichen Glauben“. Oder: „Atheismus in meiner, in unserer Spiritualität“. Impulse werden freigesetzt für einen Glauben, der heutige Lebenserfahrungen respektiert, also auch den Inhalt des Glaubens neu gestaltet. Denn bekanntlich ist religiöser Glaube etwas Lebendiges, d.h. Wandelbares, und entgegen vielerlei rigider Praxis der Kirchen und Religionen nichts Versteinertes, nicht auf ewig Dogmatisches.

2.

Ernst Bloch will ein Gottesbild überwinden, um jetzt nur beim Christentum, den Kirchen zu bleiben, das dort bestimmend wurde: Gott wird als Himmels-Herrscher verehrt oder als „Rachegott“ gefürchtet. Dieser Gott bremst die Freiheit aktiver Lebensgestaltung, behindert den Elan, für die universale Gerechtigkeit unter den Menschen auf dieser Erde einzutreten. Bloch wehrt sich aber auch gegen eine andere Gestalt banalen Glaubens, den banalen Atheismus, etwa in „Gespräche mit Ernst Bloch“, 1975, Seite 170. Dieser Atheismus begrenzt sich schlicht darauf, die Materie für „alles“ zu halten und diese zu verehren und … Gott zu bekämpfen. „Mir geht es hingegen um revolutionären Atheismus in Religionen selber, insbesondere dem Christentum, wie man weiß“ (S. 170).

3.

Bloch zeigt, dass Menschen wesentlich von der geistigen Kraft des Transzendierens bestimmt sind. Das heißt: Sie haben die innere, die geistige Energie, über jeden vorfindlichen Zustand hinauszustreben, das erinnert deutlich an Hegel. Bloch denkt entschieden an politische und ökonomische Verhältnisse, die die Menschenwürde aller bekämpfen und ausschließen. Diese Energie für ein „Transzendierens nach vorne, in die bessere Zukunft der Menschheit und der Welt zu entwickeln, ist die wahre spirituelle Leistung der Menschen, vor allem derer, die sich Christen nennen.

4.

Damit wird die Dimension des „Atheismus in meinem, in unserem Glauben“, erreicht:

Wer den Herrscher – Gott im Himmel, den Rächer und wundertätigen Willkürgott, der mal hier, mal dort Wunder für diesen oder mal für jenen tut, wer also diesen Willkür-Gott ablehnt und vernünftig und emotional überwindet, gerät in eine Art Zwischenraum, in eine Leere. Die ist bestimmt von der Erfahrung des Verlustes des alten Gottes UND dem Nicht-Dasein einer neuen zentralen Lebensmitte, sagen wir eines „neuen Göttlichen“, das man in Erwartungshaltung vielleicht den neuen gründenden Sinn, das Heilige, nennen könnte. Aber eben nicht mehr den angelernten Gott aus Kindeszeiten.

Im leeren Zwischenraum ist die Stimmung des Abschieds bestimmend, auch der Angst, etwas Wesentliches und Altvertrautes verloren oder aufgegeben zu haben. Aber doch setzt sich die Einsicht und die Gewissheit durch: Das „alte, überkommene, angelernte, Gottesbild“ stört unsere gegenwärtige Lebenserfahrung und die vernünftige Einsicht. Denn das überwundene, alte Gottesbild ruhte also wie ein „erratischer Block“ in unserem Leben. Damit deutet sich schon an, dass die Leere, der Zwischenraum, um der geistigen Gesundheit willen verlassen werden sollte. Eine neue, humanere Vorstellung von dem Göttlichen oder dem Sinn-Gründenden deutet sich an.

5.

Man könnte bei Bloch also lernen: Wer als Christ diese Situation der Leere, des Übergangs, erfährt und begrifflich denkt, erlebt für sich selbst und in sich selbst den „Atheismus im Christentum“: Der religiöse Mensch, der Christ, ist also Gott „los“ geworden, d.h. gottlos geworden, befreit von einem Gott, der das Leben behindert und die Unreife der Menschen fördert. Bloch weist sehr treffend darauf hin, dass der Philosoph und Mystiker Meister Eckart im 14. Jahrhundert seinen dringenden Wunsch formulierte, er möge „Gottes quitt“ sein, also gott-los werden. Dies sagte er nicht aus einer unreflektierten Zustimmung zu einem vulgären Atheismus. Vielmehr wusste er: Das dingliche und greifbare und verfügbare allgemeine christliche Gottesbild verfälscht den „göttlichen Gott“. Und die Bindung an ihn macht den Menschen unfrei, kettet ihn an Phantome, die Angst erzeugen und verwirren.

6.

Bloch hat also einen Vorschlag, diese Phasen der Leere und des Atheismus als Phasen der Gesundung, der Reifung, des geistigen und politischen Wachstums zu verstehen. So können diese Momente und Zeiten des Übergangs, der Leere, des Atheismus, gelebt werden. Sie sind immer wieder neu sich einstellende Momente einer spirituellen Lebendigkeit. Man könnte also sagen: Wer als Christ nicht oft auch Atheist gewesen ist, hat nicht in einem lebendigen Leben, in einer lebendigen Spiritualität, gelebt. Und diese Lebendigkeit ist wesentlich das dauernde Transzendieren als das Überwinden jeglicher Fixierung. Und gerade dieses dauernde Transzendieren ist das eigentlich Feste und Bleibende im Leben.

7.

Darauf kommt es entschieden an: Religiöse Menschen, also noch einmal Christen, Juden, Muslime, Atheisten sollten diese ihre geistige Struktur, das Transzendieren, als ihren religiösen Mittelpunkt erkennen. Transzendieren ist im Sinne Blochs das  sehr weltliche und politische Transzendieren in eine bessere Zukunft für die Menschheit! Das Ziel des Transzendierens ist für Bloch nicht der vertikal zu denkende göttliche Herr des Himmels und der himmlischen Heere, sondern das umfassend humane Reich der Zukunft. Bloch sprich in dem Zusammenhang von „Transzendieren ohne Transzendenz“, also ohne göttlichen „Himmel“. Es wäre jedoch zu fragen, ob dieses Transzendieren in eine umfassend humane Zukunft („vorwärts“, wie Bloch sagt) nicht bereits schon das Göttliche im Menschen ist. Ich würde den Gedanken unterstützen. Bloch lehnt ihn ab, weil er mit der Voraussetzung einer mit der „Schöpfung“ gegebenen, sozusagen an gelegten geistigen Kraft des Transzendierens rechnet.

8.

Der Atheismus Blochs ist etwas sehr Spezielles. Für Bloch ist die Gestalt Jesu von Nazareth zentral, den er – wie viele andere auch – als „Menschensohn“ versteht, im Anschluss an das Neue Testament. Jesus als der „Menschensohn“ ist die herausragende Gestalt unter den Menschen mit einer radikalen humanen Botschaft. Bloch schreibt: „Jesu Wort: Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan ist entscheidend: Plötzlich erscheint keine Obrigkeit mehr…hier also ist der Gott, der von oben herrscht, vollkommen weg. Und eine Rückwendung auf den Menschen ist da, und zwar zu den Armen, Erniedrigten…Man kann das schon Atheismus nennen, da der theos, der Gott (in seiner Macht) gestürzt wird“ („Gespräche mit Ernst Bloch, S. 171). Jesus wird also gerade als Zeuge einer Humanität zugunsten der Armen und Ausgegrenzten zu einer Art erlösendem, befreienden Vorbild.

9.

Wer sich von den Einsichten Blochs anregen lässt, wird auf eine philosophische und theologische Entdeckungsfahrt geschickt: Ohne Atheismus als Erfahrung inmitten des Lebens gibt es keine Spiritualität. Diese Aussage steht etwa gegen die Kirchen, die immer als Ideal predigen, nur den reinen Glauben allzeit zu leben sei Ausdruck der Heiligkeit und Vollkommenheit. Nur das Gute, nur das Fromme allein zu leben ist in der Sicht Blochs naiv: Glauben ohne in atheistische Phasen zu gelangen, ist etwas Stagnierendes. Der reflektierte Atheismus findet immer wieder zu einer neuen Glaubenshaltung. So entsteht eine geistvolle Dialektik inmitten des Lebens.

10.

Noch einmal: Auch der Atheist ist von einer Glaubenshaltung bestimmt , von der Überzeugung, dass kein Gott ist. Atheisten als Glaubende: Das wäre auch ein Aspekt, der sich aus Blochs „Atheismus im Christentum“ ergeben könnte. „Atheismus ist auch Glauben“ wäre dann der weiterführende Titel. Dieser Atheist kann sich aber von „christlichen Atheisten“ belehren lassen: „Den Gott, den ihr Atheisten ablehnt, den lehne ich als Glaubender genauso ab. Insofern sind wir, Atheisten wie Glaubende, in der Dialektik des Lebens immer in ganz neuer Weise Atheisten. Wir beide, Christen und Atheisten, sind gottlos, nämlich in unserer Ablehnung des banalen Gottesbildes.

11.

Das Nachdenken müsste natürlich Konsequenzen haben in der religiösen oder auch in atheistischen Bildung. Bleiben wir bei der religiösen, der christlichen Bildung etwa der Kinder. Kindgemäße Hinweise auf die göttliche Wirklichkeit lassen sich bestimmt nicht durch das Auswendiglernen von Sprüchen und Gebeten oder durch Kindergottesdienste mit viel kindlichem Tralala erreichen. Wichtiger wäre eine kindgemäße Einführung in das, was man die Tiefe und das Geheimnis des Lebens und der Welt nennt. Dann ist von dem unmittelbar eingreifenden wundertätigen Gott keine Rede mehr, Lehren, die so viel Verwirrung stiften bis ins hohe Lebensalter:  Da wird dann mit einem naiven kindlichen Glauben noch im reflektierten, reifen Alter behauptet: „Wenn Gott dies und das zulässt und nicht als Gott direkt eingreift, dann glaube ich nicht an ihn“.

12.

Solche religiös-kindliche Dummheit kann aber überwunden werden, wenn Kinder und Jugendliche anstelle des üblichen religiösen Tralala eben Meditationen, Achtsamkeit, sowie im Spiel das Nachgestalten bestimmter Parabeln Jesu lernen und üben. Das Verstehen der Religionen darf nie auf einer kindlichen, ich möchte sagen, infantilen Stufe stehen bleiben. Insofern ist mancher „Atheismus“ im Christentum auch oft nichts anderes als die Ablehnung des infantilen Glaubens im Christentum. Der Wiener Psychoanalytiker Erwin Ringel hat dieses Phänomen schon vor einigen Jahren auf den Begriff gebracht: „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“, heißt sein Buch, 1985 erschienen. Oder den Titel variierend: „Atheismus durch das Sich Klammern an infantile Gottesbilder“. Dieser „Atheismus“ sollte unbedingt überwunden werden. Aber diese authentische, „sachgemäße“ religiöse Bildung kann kaum noch vermittelt werden, weil sich so viele von der Religion längst abgewandt haben. Sie meinen, es gäbe Religion, es gäbe Christentum, nur in dieser dummen, naiven, infantilen Gestalt. Die freilich die Kirchen aus Mangel an spiritueller Lebendigkeit und , dogmatischer Sturheit fortsetzen, bis zu ihrem eigenen Ende, dem Absterben des Christentums. Nietzsche hat treffend gefragt: Wird die Kirche zum Grab Gottes? (Siehe Friedrich Nietzsches, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 12).  LINK.

 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Jean-Luc Nancy: „Das Christentum hat sich von mir abgewandt. Aber die wahre Mystik blieb mir“

Der Philosoph Jean-Luc Nancy ist gestorben

Ein Hinweis von Christian Modehn

Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy ist am 23.8.2021 im Alter von 81 Jahren gestorben, er war viele Jahre Professor in Straßburg, er ist einer der wichtigsten Philosophen unserer Gegenwart.  Sein philosophisches und literarisches Werk ist äußerst lebendig und umfangreich, mehr als 100, zum Teil viel beachtete Bücher hat Nancy publiziert. Er war auch mehrfach in Berlin zu Vorträgen und Debatten. Etliche längere Interviews auf Deutsch sind in der sehr empfehlenswerten Zeitschrift „Lettre International“ erschienen….

Dieser Hinweis ist natürlich keine „Gesamtwürdigung“ seines Werkes.  Es ist sehr komplex und zudem für „schnelle Lektüre“ ungeeignet…Das sollte aber niemanden hindern, Nancy zu studieren. Hier werden nur einige Stellungnahmen Nancys genannt werden, die in der Pariser Tageszeitung „La Croix“ kürzlich veröffentlicht wurden. Die ausgewählten Stellungnahmen beziehen sich vor allem auf das immer deutliche religiöse bzw. auch religionsphilosophische Interesse von Jean-Luc Nancy. Und das passt gut in den Schwerpunkt unseres philosophischen Salons.

1. Zur christlichen Biographie Nancys:

Im Alter von etwa 28 Jahren trennt sich Nancy vom christlichen Glauben und der katholischen Kirche, er war in der Gemeinschaft J.E.C., „Jeunesse Etudiante Chrétienne“, in der „Christlichen studierenden Jugend“, einer Organisation der katholischen Kirche, aktiv engagiert und interessiert“. (Zur J.E.C. gehörten viele Intellektuelle und Politiker, wie Francois Mitterrand, René Rémond, Georges Montaron und andere. Die J.E.C. besteht bis heute, als progressive, linke katholische Organisation). Jean-Luc Nancy: „Die Zugehörigkeit zum Christentum war für mich absolut untrennbar mit einer politischen und sozialen Vision. Wir waren in der JEC sehr engagiert zugunsten der Demokratisierung des Unterrichts und der Ausbildung. Ich war Christ, ganz und gar. Aber ich muss sagen: Das Christentum hat sich von mir abgewandt, wie von einer ganzen Generation. Denn im Jahr 1957 kritisierten die französischen Bischöfe die progressive Haltung der J.E.C. Das war für mich wie ein Donnerschlag und so befreite ich mich von der Kirche, die mir als eine Gestalt des Konservativen und der Macht erschien. Diese Loslösung von der Kirche war möglich, weil ich die Philosophen Hegel, Heidegger und Derrida entdeckte. Diese Philosophen sagten mir nicht: Ich bringe dir das Heil. Aber sie ließen mich lebendig sein“.

Aber es bleibt für Nancy nach dem Abschied vom Christentum: „Etwa die Interpretation der Bibel. Ich sah, dass man förmlich bis ins Unendliche den Sinn eines Textes entdecken kann“.

2. Das andere Herz

Nancy hat oft davon gesprochen, dass ihm 1992 ein Herz transplantiert wurde, darüber hat er 2000 ein Buch geschrieben mit dem Titel „L Intrus“, „Der Eindringling“. Er wendet sich an den Menschen, der, ohne es zu wissen, ihm sein zweites Herz gegeben hat.

3. Gemeinschaft leben und Gemeinschaft denken

Ein Mittelpunkt der Philosophie Nancys steht sicher die Reflexion über die Gemeinschaft der Menschen, auch die Gleichheit der Menschen, sowie ihre Krankheiten, aktuell von ihm reflektiert das Corona-Virus. Dazu das Buch „Un trop humain virus“ 2020, erschienen in den Editions Bayard Paris. In dem Interview mit „La Croix“ spricht er über das Gesundsein heute.  „Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Gesundheit ein wesentliches Gut ist, aber auch ein Recht. Jeder kann es fordern. Trotzdem: Die Gesundheit ist nicht die Wahrheit der Existenz…Heute ist die Gesundheit zu einer Art Selbstzweck geworden. Wozu  sollen wir denn bei guter Gesundheit sein? Für welche Ziele leben wir? Das ist nicht mehr klar.“

4. Der kulturelle Bruch

„Seit der Verkündigung des Todes Gottes durch Nietzsche sind wir in eine Epoche der Unsicherheit eingetreten. Ich denke oft an den Satz von Jean-Christophe Bailly, einem überzeugten Atheisten, der in seinem Buch „Adieu“ geschrieben hat: Der Atheismus war nicht imstande, seine eigene Wüste zu bewässern. Ich glaube, diese Diagnose ist völlig korrekt. Die moderne Zivilisation hat nichts vorgeschlagen, um die Gestalt des Gottes zu ersetzen, die ausgelöscht wurde. Ich habe die Gewissheit, dass es eine neue spirituelle Revolution geben wird, dass die Zeit dafür gekommen ist, aber das kann vielleicht noch 300 Jahre dauern.“

5. „Wir sind Kinder Gottes“?

Nancy fragt sich, was denn letztlich die Gleichheit der Menschen heute legitimieren und beweisen könnte. „Man muss anerkennen, dass wir es nicht wissen… Im Laufe unserer Geschichte wurde das Christentum wichtig…Man sagte: Man ist ein Kind Gottes, das legitimierte die Gleichheit. Aber außerhalb der Religion, wie kann man die Gleichheit denken“?

6. “Wir tappen im Dunkeln

„Aber was die Zukunft angeht, kann ich nichts voraussagen und vorschlagen. Ich tappe im Dunkeln. Trotzdem: Wenn man sich im Dunkeln befindet, ist man niemals gänzlich in der totalen Finsternis. Im „Schwarzen“ lebend, sieht man auf andere Weise, nicht durch die Augen, sondern durch andere Sinne, das hören, das tasten…

7. Was bleibt?

„Ich habe in der Philosophie Hegels so etwas wie die Wahrheit des Christentums gefunden!  Hegel ist jemand, der in der wahren Bewegung des Geistes bleibt, eines Geistes, der die Grenzen überschreitet. Wichtig ist für mich auch der Philosoph Meister Eckart. Er sagte: „Bitten wir Gott, dass er uns in der Freiheit erhält und dass wir von Gott frei werden“.  Bei der Mystik heute muss ich eine gewisse Erschöpfung feststellen, heute sind die großen Debatten über die Mystik förmlich banalisiert. Ein sehr großer Teil der Menschheit heute verlangt nach Religion, aber die Menschen begnügen sich mit groben und dummen Sprüchen, die ihnen vorgesetzt werden. Unerträglich, was man so an Predigten der Evangelikalen hört…

8. Was ist Philosophie?

“Die Philosophie ist die Arbeit des Denkens. Philosophie gehört nicht zur Ordnung eines Wissens. Sondern eher: Dazu kommen, Worte für das zu geben , was man lebt. Die Aufgabe des Denkens ist die (Wiederer)-Öffnung, das Erwachen, das Aufgreifen der dringenden Bitte um Sinn. Philosophieren beginnt da, wo der Sinn unterbrochen ist. Aber der Sinn ist nicht eine Art Lager an Bedeutungen, kein Lager der Antworten und der Erklärungen der Welt, die irgendwo niedergelegt sind und die man teilen sollte”. Nein! Das Teilen, das ist der Sinn.  (Philosophie Magazine, Paris, August 2021).

9. Und die Freude?

Die Philosophie von Nancy ist geprägt von der Freude, der Anwesenheit der Lebensfreude. „Aber Freude ist nicht Zufriedenheit. Sie ist ein Affekt des Geistes, man weiß sich über jede Zweckbestimmung Begrenzung und jede Ganzheit hinausgetragen. Was die Freude für einen Grund hat, vermag ich nicht zu sagen…in jedem Fall: Die Freude kommt immer von einem „anderswoher“ (d`ailleurs). Von anderen, nicht von mir. Von den großen Gedanken der Philosophen, der Worte der Poeten, der warmen Zuneigung der Personen, der Schönheit der Kunst und der Körper. Natürlich, diese Erfahrung der Freude ist nicht immer da. Aber wenn sie kommt, dann berührt das, dann ist das ergreifend“.

Copyright: Religionsphilosophischer Salon Berlin