Die notwendige Verweltlichung des Christentums.

Eine aktuelle Erkenntnis des Philosophen G. W. F. Hegel.
Ein Hinweis von Christian Modehn.

Dieser Beitrag zeigt:
Das Christentum nur als spirituelle Religion, unter Führung des Klerus, zu verstehen und zu gestalten, ist für Hegel nur das „halbe Christentum“. Für ihn steht fest: Die zentrale der Idee der universalen christlichen Freiheit (modern: der Menschenrechte) muss sich in Staat und Gesellschaft realisieren, dies ist genauso wichtig wie alles Innerliche, Spirituelle, Kirchliche.
Die drängende Frage ist: Hat das Christentum Frieden und Gerechtigkeit gebracht in seiner 2000 Jahre dauernden Geschichte? Global beantwortet: Eher nicht. Denn das Christentum ist meist eine Ansammlung spiritueller, dogmatischer, moralischer Gemeinden geblieben. Die Idee der universalen Freiheit und Gerechtigkeit hat sich nicht durchgesetzt. Um so dringender, an einen Vorschlag Hegels zu erinnern. Es geht ihm um die notwendigen„Verweltlichung des Christentums“.

Dazu einige Vorbemerkungen:

1. Zunächst eine Erinnerung an die gegenwärtige Krise des Katholizismus in Europa, den USA und Lateinamerika. Die Statistiken der Religionssoziologen sind eindeutig: Der dortige Katholizismus wird alsbald nur noch als ein institutionell bestehendes Gerüst, man könnte sagen, Skelett vorhanden sein, wenn auch finanziell noch sehr gut ausgestattet. Der tausendfache und noch längst nicht umfassend erforschte sexuelle Missbrauch durch Priester, Ordensleute und verantwortliche Laien erdrückt wie eine riesige Lawine das Leben und Überleben dieser Kirche. Auch deswegen steigt die Zahl der „Unkirchlichen“ und „aus der Kirche Ausgetretenen“ kontinuierlich. Diese „ehemaligen“ (?) Katholiken verstehen sich wahrscheinlich nicht immer als Atheisten. Sie wurden vielmehr von der Kirchenleitung aus der Kirche vertrieben. Manche sagen, sie sind religiös heimatlos geworden. Gibt es neue Möglichkeiten eines spirituellen, eines umfassend christlichen Engagements? Hegels Antwort: Es ist die Teilnahme an der „Einfügung“ der Idee universaler Freiheit in die Welt…

2. Zu diesem Niedergang des Katholizismus gehört, dass in einigen Ländern noch so genannte „synodale Wege oder synodale Prozessen“ unternommen wurden, um Reformen in der Lehre und den Kirchengesetzen einzuklagen, im Vatikan, beim Papst natürlich, also oft bei Kleriker-Bürokraten, die sich traditionell gegen Reformvorschläge einer Kirche eines Landes wehren. Dass diese so genannten „Synoden“ (sie beraten nur, dürfen aber nichts entscheiden!) in den letzten Jahren in vielen Ländern, wie Holland, der Schweiz, der Bundesrepublik, also seit 1967, nichts an tiefgreifenden Reformen für die Kirche dieser Länder bewirkt haben, ist eine Tatsache. Insofern sind die heutigen Sitzungen und Debatten in synodalen Prozessen wie damals schon eher eine Art Freizeitbeschäftigung oder auch Beschäftigungstherapie für frustrierte Laien und Priester der Basis. Und Rom freut sich, dass noch Leben da ist…

3. Wie kann in der Situation noch das Wesentliche des Christentums im Rahmen der katholischen Kirche gerettet werden? Mit dieser Frage sind wir genau bei Hegel, dessen gesamte Philosophie vom religionsphilosophischen Thema geprägt ist. Darin stimmen wesentliche Hegel-Forscher überein, wie Michael Theunissen oder Walter Jaeschke. Hegel wollte zu seiner Zeit begrifflich klare Aussagen zu dem Thema machen, weil ein Christentum bloß des Gefühls sich im Protestantismus breit machte und im Katholizismus eine Ende der autoritären Klerus-Herrschaft nicht absehbar war. Hegel zeigt in seinem Werk, dass er als Philosoph das Christentum sehr gut verstanden hatte: Seine Erkenntnisse entwickelt er ausführlich in seinen vier, unterschiedlich akzentuierten Berliner „Vorlesungen über die „Philosophie der Religion“ (1821, wichtig dann: 1824, 1827 und 1831).

4. Zum Wesen des Christentums gehört für Hegel: Gott ist Geist. Und der Mensch ist Teilhaber dieses einen göttlichen Geistes, er bezieht sich auf Gott in einem Verhältnis der Freiheit, d.h. der Mensch ist in der Beziehung zu Gott auch bei sich selbst! Und diese Überwindung des „Fremden“ und Entfremdenden auch Gott gegenüber ist wesentlich Freiheit.
Diese Erkenntnis von der Freiheit ist die Grundlehre des Christentums, sie muss um der Freiheit der Menschen will auch als gesetzlich gefasste Freiheit in Gesellschaft und Staat greifbar werden.

5. Diese Freiheit ist Zentrum der Botschaft Jesu Christi vom Reich Gottes: Und es ist der Philosoph Hegel, der diese zentrale Botschaft der Religion in die Begriffe der Philosophie, also ins Denken, überführt, Hegel sagt „aufhebt“.
Das Reich Gottes wird repräsentiert in der Gestalt Jesu Christi, dessen zentrale Lehre sich in den Begriffen Freiheit, Gerechtigkeit, Sittlichkeit zusammenfassen lässt. Und Hegel zeigt in seinen religionsphilosophischen Vorlesungen: „In der Religion des Christentums an sich ist das (nur) Herz versöhnt“, (S. 330 in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Band II, Suhrkamp 1969). Es gibt also, in der Geschichte Jesu Christi sichtbar, bereits eine spirituelle, geistige Versöhnung von Gott und Welt/Mensch, also die spirituelle „Erlösung“. Sie ist „an sich“ schon Gegenwart, sie muss nur noch gestaltet, „hineingebildet werden in die Welt“, wie Hegel sagt.
Diese Erlösung ist dann die Gegenwart des Reiches Gottes in Staat und Gesellschaft, eigentlich haben dafür die Gemeinde, die Kirchen, einzutreten. Aber aufgrund der Begrenztheit ihrer Theologien können Kirchen diese Vermittlung nicht leisten, also die „Hineinbildung“ der Ideen des Reiches Gottes in die Welt. Die Gemeinde/Kirche würde zudem der Versuchung unterliegen, sich gegenüber Staat und Gesellschaft als „Herrscherin“ zu etablieren, wie einst im Mittelalter. Weil die Kirchengemeinde in der Begrenztheit theologischer Begriffe lebt, wird die Philosophie wichtig: Sie kann als Philosophie, die die Wirklichkeit in allgemeine und für alle nachvollziehbare Begriffe fasst, auch diese Lehren vom Reich Gottes der Welt vermitteln. Sie kann in weltlicher Sprache helfen, diese Lehren sozusagen zu säkularisieren und in Gesetze zu überführen.
Anders gesagt: Die politische Wirklichkeit in Staaten und Gesellschaft muss von den sich stets weiter entwickelnden Weisungen der universalen Menschenrechte bestimmt sein, und dabei ist die an keine Konfession gebundene Philosophie behilflich, wenn sie säkular die Lehre der christlichen Freiheit darstellt.

6. Das Reich Gottes muss also aus dem Herzen in die Gesellschaft/den Staat treten und dessen Struktur und Gesetze bestimmen. Die Gemeinde als Ort der Frömmigkeit und der Gottesdienste (Kultus sagt Hegel) bleibt aber bestehen. Die Kirche muss aber anerkennen: Das aktive Gestalten der Freiheit in der Welt in Staat und Gesellschaft, ist genauso wie das Spirituelle der zentraler Auftrag der Kirche. Mit der Verwirklichung der Grundideen des Reiches Gottes als humaner Freiheit, kann man auch von einem Ende der (alten, bloß innerlich-frommen) Religion des Christentums sprechen.
(Siehe auch in Fußnote 1 eine etwas ausführlichere Vertiefung).

7. Hegel kann also von einem Ende der bloß spirituellen christlichen Religion sprechen, weil seine Philosophie in der Lage ist, die wesentlichen Inhalte dieser Religion begrifflich für alle Menschen nachvollziehbar zu bewahren und denken.
Der in der Philosophie bewahrte, „aufgehobene“ Geist des Christentums darf sich für Hegel nicht in der Philosophie „verstecken“. Er muss sich äußern, d.h.für Hegel: Ent-äußern in die Welt. Der Hegel-Spezialist Prof. Walter Jaeschke schreibt in seinem empfehlenswerten „Hegel Handbuch“ (Metzler-Verlag, 2016, S. 436): In Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen in Berlin „tritt seit dem zweiten Kolleg der Entwurf einer progressiven Realisierung des geistigen Gehalts der Religion, also seiner Ein-Bildung (d.i. Verwirklichung, CM) in die Weltlichkeit“.
Der geistige „Gehalt“, die „Substanz“ des Christentums, muss in die Wirklichkeit von Staat und Gesellschaft hineingestaltet, Hegel sagt „eingebildet“, werden. Hegels Schüler C.L. Michelet übersetzt diesen Begriff der „Einbildung“ treffend mit „Verweltlichung“, also als Welt – Werdung des Christentums. Und der Hegelianer R.Rothe nennt dann 1837 diese Verweltlichung im Sinne von Welt-Werdung die „Säkularisierung“ des Christentums. „Säkularisierung ist allerdings hier nicht als Entfremdung oder als Entwendung religiöser Substanz gedacht, sondern als ihr Eingehen in die Weltlichkeit und ihr Aufgehen in dieser Weltlichkeit“( Jaeschke, a.a.O, S. 437).

8. Folgt man diesen Erkenntnissen Hegels, dann bleibt für die Kirchen heute auch der wichtigste Auftrag, die Idee der universalen Freiheit und damit die Idee der Menschenrechte in der Welt, der Gesellschaft, dem Staat zu fördern. Das allein ist der zentrale Auftrag der Kirche in der Moderne: Die Menschenrechte in der Welt, in den Gesellschaften, den Staaten, zu pflegen, zu fördern, zum Ausdruck zu bringen. Auf die aktuelle Situation 2022 bezogen: Vielleicht könnten sich in diesem Projekt auch Menschen wiederfinden, die aus der Kirche ausgetreten sind, um sozusagen eine weite säkulare Ökumene zu bilden. Dies ist schon ein Hinweis auf die aktuelle Bedeutung der Erkenntnisse Hegels.

9. Der Impuls, die universale Freiheit, die Geltung der Menschenrechte, in der Welt durchzusetzen, hat leider keinen Vorrang unter den religiösen und kirchlichen Aktivitäten. Die lateinamerikanische Befreiungstheologie hat diesem „Politischwerden“ des Christentums entsprechen wollen, sie wurde aber weitgehend von konservativen Kirchenführern unterdrückt, gerade weil die Befreiungstheologie angeblich nicht dogmatisch korrekt und fromm genug sei…Dabei ist allen kritisch gebildeten Theologen klar: Wer nach dem Kern des Evangeliums fragt, lese in dem Zusammenhang die Bergpredigt Jesu oder seine „Endzeitreden“. Mit anderen Worten: Schon Jesus von Nazareth war ein heftiger Kritiker der Religion, wenn sie nur den Kultus liebt, aber nicht die Humanität an die erste Stelle stellt. Feierliche Gottesdienste, Kultus usw., klerikale Gesetze haben im Sinne Jesu von Nazareth nur Sinn in ihrer Hinordnung auf das auch politisch zu verstehende Reich Gottes.

10. Verweltlichung des Christentums und Bonhoeffer.
In seinen Briefen aus dem Gefängnis Tegel (unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ post mortem veröffentlicht) hat der protestantische Theologe Dietrich Bonhoeffer (geboren am 4.2.1906 in Breslau, als expliziter Feind der Nazis hingerichtet im KZ Flossenbürg am 9.4.1945) einige Einsichten mitgeteilt zur Zukunft des Christentums. Ich sehe darin gewisse Verbindungen zu Hegels Einsicht von der Verweltlichung des Christentums.
Dietrich Bonhoeffer sah schon um 1943 deutlich, wie die alte, vertraute dogmatisch geprägte Gestalt der Kirche in Europa zusammenbricht, verschwindet, weil sie in ihrer Sprache und frommen Praxis die Menschen nicht (mehr) bewegt. Bonhoeffer sprach deswegen davon, ein religionsloses Christentum zu denken und zu entwerfen. Und dieses Projekt berührt die Erkenntnis Hegels zur „Verweltlichung“ bzw. „Säkularisierung“ des Christentums.
Bonhoeffer schreibt: „Unser Verhältnis zu Gott ist kein ,religiöses‘ zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen – dies ist keine echte Transzendenz –, sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ,Dasein-für-andere’“ („Widerstand und Ergebung“, DBW8, Gütersloh 1998, 558). „Worauf es im letzten ankommt: Es ist das Beten und TUN DES GERECHTEN“ (WE 157). Noch einmal: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: Im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen“. Bonhoeffer lobt die Weisheit des Alten Testaments „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem ? (WE 144).
Mit dem „Tun des Gerechten“ ist genau die Forderung Hegels gemeint: Die universale Freiheit und die Menschenrechte in der Welt durchzusetzen. Und was könnte man als Hegelianer unter Beten verstehen? Dieses ist ein Geschehen der inneren geistigen Verbindung mit der Weisheit der Bibel.

11. Franz Rosenzweig und das Ende der Religion.
„Religionsloses Christentum“: Mit dieser These nähert sich Bonhoeffer auch einem Gedanken des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Die Sonderstellung von Judentum und Christentum besteht gerade darin, dass sie, sogar wenn sie Religion geworden sind, in sich selber die Antriebe finden, sich von dieser Religionshaftigkeit zu befreien und (…) wieder in das offene Feld der Wirklichkeit zurückzufinden“ (Rosenzweig: Das neue Denken, Gesammelte Schriften III, Den Haag 1984, 154).

12.
Das Christentum und die Kirchen können in Europa überleben…… wenn sie religionslos werden.
Das ist Hegels Überzeugung: Wenn das Christentum also das klare begriffliche Verstehen (und nicht nur die Liturgien, Gebete etc.) pflegt und Philosophie respektiert, um die gesellschaftliche Freiheits-Praxis zu fördern, hat es noch eine Chance, auch heute inspirierend zu sein. Dann könnten viele Energien frei gesetzt werden, um Krieg und Nationalismus zu überwinden und das Hungersterben von Millionen Mitmenschen weltweit zu beenden…

Fussnote 1:
Hegels Rede vom „Ende der Religion“ ist eingebunden in seine Philosophie. Und diese ist bestimmt von der dialektischen Entwicklung des absoluten Geistes, also dessen, was Hegel der christlichen Tradition folgend, Gott nennt, Und dieser eine Geist (in Gott wie auf eigene Weise in den Menschen) drückt sich in Hegels Philosophie aus: Der absolute Geist wird erkennbar, besser „erkennt sich selbst“ in der Kunst, dann in der Religion und als Höhepunkt am deutlichsten und begrifflich im Denken der Philosophie. Sie ist die „Spitze“ in der Entwicklung des absoluten Geistes. Die Rede vom Ende der Religion ist also darauf bezogen, dass die Religion, sozusagen als noch unreife Stufe des absoluten Geistes, selbst nicht zu den klaren Begriffen findet, die in der Philosophie (Hegels) erreicht werden. Das bedeutet für Hegel aber nicht, dass Kunst und Religion faktisch nicht mehr weiter bestehen. Sie leben weiter, auch im Umgang der Menschen mit den Künsten und Religionen. Aber, und dieses Aber ist entscheidend: Die Religion bzw. das Christentum, also die Kirchen in Europa, sind nicht auf der Höhe der Entwicklung des sich selbst verstehenden absoluten Geistes, wenn sie die kritische Philosophie scheuen oder verachten (wie Muther). Denn Gott wird für Hegel treffend und “adäquat“ nur in der Philosophie, (seiner) Philosophie, begrifflich im Denken erschlossen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Houellebecqs Roman „Vernichten“: Von katholischem Erzbischof gelobt.

Pascal Wintzer (Poitiers) als Literaturkritiker
Ein Hinweis von Christian Modehn am 8.2.2022; siehe auch den ausführlicheren Hinweis LINK.

1.
Es geschieht nicht gerade häufig, dass ein katholischer Bischof sich über einen neu erschienenen Roman eines umstrittenen Autors ausdrücklich „freut“: Erzbischof Pascal Wintzer (Poitiers) hat am 3.2.2022 in der Tageszeitung „La Croix“ (Paris) wie auch auf der Website des Erzbistums Poitiers (LINK: https://www.poitiers.catholique.fr/michel-houellebecq-aneantir/ ) eine ausführliche Leseempfehlung publiziert: Sie gilt dem kurz zuvor erschienen Roman „Anéantir“ („Vernichten“) von Michel Houellebecq. Das Buch hat eine Startauflage von 300.000 Exemplaren in Frankreich. Das Interesse ist enorm! Und Bischof Wintzer hat schon recht, wenn er Houellebecq „einen der ersten französischen Autoren von heute“ nennt, es gibt längst eine breite Houellebecq-Forschung in Frankreich.

2.
Bischof Wintzer sagt ausdrücklich, dass „man“ auch in dem neuen Roman das wiederfindet, was „man“ (also auch Wintzer) an Houellebecq schätzt: Der Autor „stellt uns vor die großen Verstörungen („dysfonctionnements) der Gegenwart“: Etwa die schlimmen Verhältnissen in den Pflegeheimen für alte und behinderte Menschen. Aber er zeigt in dem Roman auch die Kraft der familiären Bindungen, betont der Bischof. „Wie üblich, ist dies ein Roman einer inkarnierten, fleischlichen Menschlichkeit. Die Körper haben in dem Roman ihren Platz, auch das Vergnügen, der Schmerz und das Leiden…Houellebecq plädiert für das, was einzig den Menschen ehrt, die Beziehung“. Soweit der Bischof, der sogar noch schreibt: „Es ist wahrscheinlich übertrieben, Houellebecq einen Propheten zu nennen, die Zeitung Charlie Hebdo qualifizierte Houellebecq als einen Magier“. Und dann auch dieses persönliche Bekenntnis: „Warum liebt man es, Michel Houellebecq zu lesen, oder auch seinen Auftritten im Fernsehen zu folgen? Weil er Vergnügen bereitet. Zuerst das Vergnügen der Lektüre – und das ist ja auch das, was einen Geschmack am Leben schenkt, aber auch das Vergnügen an seinem schlauen und spöttischen Blick auf die Gesellschaft und auf den Leser selbst. Der Roman Anéantir (Vernichten) erfüllt diese Erwartungen!“

3.
Und am Ende seines lobenden Beitrags zu Houellebecq neuem Roman muss der Erzbischof doch noch einmal seiner Freude Ausdruck geben, den dieser wichtige Autor schreibe doch auch vieles über Religion bzw. die katholische Kirche. Und der Erzbischof zitiert aus einem gerade erschienen Sammelband über den Glauben im Werk Houellebecq, darin definiert er sein Katholischsein: „Ich bin Katholik in dem Sinne, dass ich das Entsetzen über eine Welt ohne Gott ausdrücke … aber einzig in diesem Sinne bin ich katholisch.“

4.
Erstaunlich bleibt, dass ein Erzbischof eine gewisse Berufung als Literaturkritiker entdeckt. Und dann noch seine Begeisterung über einen ja auch politisch zweifelsfrei umstrittenen Autor ausdrückt. Und dabei sogar übersieht, dass Houellebecq in einem Interview mit „Le Monde“ seine geistige Nähe und Verbundenheit mit theologisch – traditionalistischen und politisch reaktionären Kreisen offen bekannte. Dass diese Zusammenhänge Pascal Wintzer übersah, finde ich erstaunlich. Und genauso, mit welcher Leichtigkeit er als Bischof einer nicht gerade erotisch/sexuell-freizügigen Kirche dann doch die „fleischliche Lust“ einiger der Roman-Protagonisten offenbar richtig findet. Dies ist immerhin eine erfreuliche Einschätzung eines katholischen Bischofs.

5.
Bischof Pascal Wintzer wurde am 18. Dez. 1959 geboren, seit Januar 2012 ist er Erzbischof von Poitiers.

6.
Der genante Sammelband mit Studien zu Houellebecq: Misère de l’homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi. Champs, Essais, Flammarion, 2022, das Zitat ist auf S. 366.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Ist Philosophie hilflos? Wenn Impfgegner und Verschwörungsideologen in eine Katastrophe führen.

Kann philosophisches Denken hilfreich sein beim Abwenden von Unheil?

Ein Hinweis von Christian Modehn veröffentlicht am 30.12.2021, bearbeitet am 5.2.2022

1. Was kann philosophisches Nachdenken bewirken in einer Zeit, die Katastrophen ankündigt? Von den großen Bedrohungen in der „Weltpolitik“ soll hier nicht die Rede sei. Hingegen, nahliegender, vom Auseinanderdriften der Gesellschaft und der Bedrohtheit des demokratischen Staates auch in Deutschland anlässlich der Debatten und Auseinandersetzungen über das Impfen gegen die Corona-Pandemie und wegen der Impfpflicht.

Da finden an vielen Orten, Ende Dezember 2021, kleinere und größere Straßenschlachten statt aufgrund der Ausschreitungen von Impfgegner. Unter diesem Titel verstecken sich Rechtsextreme verschiedener Couleur und auch, so scheint es, ahnungslose Leute, die einfach „nur“ ihre Haltung zum Impfen öffentlich dokumentieren wollen. Dass sie mit Feinden der Demokratie gemeinsam auf die Straße gehen, stört diese Leute offenbar bis jetzt nicht. Polizisten werden bei diesen gewalttätigen „Spaziergängen“ verletzt. Es steht fest: Die Anti-Impf-Demonstrationen sind schon zu Anti-Demokratie-Demonstrationen ausgeartet.

2. Ist diese Entwicklung auch für kritisch denkende, philosophierende Menschen, also Philosophen, ein Thema? Was wäre denn die Sache der Philosophie bei dem Thema? Hat sie etwas „Eigenes“ zu sagen? Dabei kann „das Eigene“ der Philosophie niemals nur begrenzt sein auf den verschwindend kleinen Kreis der PhilosophInnen, die professionell Philosophie betreiben!

3. GIBT ES EINEN PHILOSOPHISCHEN VORSCHLAG?

Warum kann man sich philosophisch angesichts der genannten Krisen nicht auch an die „Diskursethik“ halten, die zu Beginn der neunzehnhundertsiebziger Jahre von den Philosophen Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas vorgestellt wurde?

Um kurz an deren wesentliche Vorschläge zu erinnern: Es gilt, einen Konsens unter zerstrittenen Menschen bzw. Gruppen zu finden.

Die philosophisch begründete Methode bedeutet, daran zu erinnern: Allein die Tatsache, dass die zerstrittenen Personen überhaupt miteinander sprechen, bezeugt den Willen:  Gemeinsam soll um eine gemeinsame Basis, eine gemeinsam geteilte fundamentale Wahrheit, die beide anerkennen, gerungen werden.

Das Gespräch geht also davon aus: Die Argumentierenden, die Sprechenden, folgen bereits schon vor dem ausführlichen Miteinandersprechen und dann auch während des Miteinandersprechens dieser Voraussetzung: Wir erkennen uns als rationale und freie und gleichberechtigte Menschen an, die gemeinsam inmitten des Streites nach einer gemeinsamen Basis suchen, um den Konflikt friedlich und gerecht zu lösen. Sonst hätte es keinen Sinn, überhaupt in einer verständlichen Sprache den eigenen Unmut dem anderen mitzuteilen. Allein das Sprechen überhaupt schon ist entscheidend. Der Gesprächspartner will sich nicht schweigend aus der gemeinsamen Sprachwelt verabschieden und sich in seiner eigenen, von ihm konstruierten Welt einschließen. Nein, er sucht in der gemeinsamen Sprache das Gespräch, mit dem Ziel, gehört, verstanden zu werden.

Erst wenn etwa von Impfgegner oder von Rechtsextremen nur noch die pure Gewalt, ohne verbale Äußerungen, eingesetzt wird, begeben sich diese Leute aus der menschlichen, d.h. der immer auch verbal-sprachlich geprägten humanen Welt der erwachsenen Menschen. Sie müssen dann mit den Gesetzen des strafenden Rechtsstaates zur Räson gebracht werden.

Aber soweit ist es ja wohl noch nicht in Deutschland? Noch setzt jeder voraus: Wenn der eine dem anderen zuhört, ihn zu verstehen sucht, den gilt diese Haltung auch für den anderen im Verhältnis zu seinem Gegenüber. Es kann nicht sein, dass der eine Gesprächspartner dominiert. Nur Herrenmenschen wollen als einzige dominieren und unterdrücken. Aber Herrenmenschen sind Verbrecher, siehe etwa die Nazis.

Es zählt also für alle Gesprächsteilnehmer einzig das Argument, das auch die praktischen und politischen Konsequenzen deutlich beschreibt, die aus einer Haltung und Meinung hervorgehen. Wer also nach begonnenem Diskurs nur ausweicht und wer keine Wahrheit anerkennt, die über der subjektiven Meinung steht, als das beiden „Parteien“ übergreifende Gemeinsame, der zerstört den Dialog und führt zum Abbruch des Gespräches, zur Niederlage der die Menschen verbindenden Vernunft, der zerstört letztlich sich selbst!

4. Wenn aber das Gespräch abgebrochen wird, weil ein Gesprächspartner absolut auf seiner subjektiven Meinung beharrt und sich sogar naturwissenschaftlich bewiesenen Tatsachen verweigert? Gibt es dann noch einen Ausweg? Philosophisch heißt die Empfehlung, genau die Konsequenzen aufzuzeigen, die im Beharren auf der für absolut gehaltenen subjektiven Wahrheit deutlich werden: Es muss also bei extremen Überzeugungen die Frage gestellt werden: Etwa im Falle der rechtsradikalen Feinde der Demokratie, denen der Untergang der Demokratie und des Rechtsstaates offenbar willkommen ist: Da muss die Frage gestellt werden: Wollen Sie wirklich – etwa bei einem von Ihnen für möglich gehaltenen Bürgerkrieg – auch selbst dabei umkommen? Ist Ihnen das eigene Leben – oder mindestens das ihrer Nahestehende, Partei-“Freunde” etc, völlig egal? Warum lieben Sie die Zerstörung, den Tod, oder etwas “milder” ausgedrückt: Warum wollen Sie in einer Herrschaft unter Führern leben, die ein Willkürregime ausüben. Bei einem Willkürregime werden Sie, wenn Sie  zur allgemein gültigen Vernunft wieder kommen, jedenfalls keine freie Meinungsäußerung mehr haben, die Ihnen jetzt gewährt wird in dem Rechtsstaat, in dem Sie leben. Sie können wie im rechtlosen Stalinismus vielleicht auch in einem Straflager landen, je nach Laune des obersten Herrschers/Verbrechers.

5. Es hat sich die Meinung durchgesetzt, man hört sie immer wieder, sogar von Demokraten: „Mit denen (den Rechtsradikalen, den Corona-Leugnern, den Verschwörungsideologen etc.) kann man nicht reden“, also mit den Leuten, die das Thema Impfen nur als Anlass nehmen, um gegen den demokratischen Rechtsstaat zu agieren. Aber wenn man ÜBERHAUPT nicht mehr mit „denen“ reden kann, dann ist die menschliche Gesellschaft tatsächlich gespalten, zerfallen,  in verfeindete Lager, die sprachlos nebeneinander her leben, bevor die Wut sich gewaltsam entlädt. Das wäre sozusagen auch das Ende der philosophischen Lebenshaltung, die Niederlage der Vernunft, die ohne Sprache und Sprechen, gemeinsame Sprechen, nicht lebt. Es wäre auch die Niederlage der human sich nennenden Menschheit.

6. Darum bleibt also doch nichts anderes übrig, als das Gespräch mit aller Kraft zu suchen und zu pflegen. Und wenn das nach langen geduldigen Versuchen nicht gelingt? Dann muss sich der demokratische Rechtsstaat mit Gesetzen und Verboten schützen.

7. Jetzt wird in Deutschland und unter den maßgebenden Politikern der Regierung endlich über die Impfpflicht sehr deutlich nachgedacht, wenigstens zunächst für bestimmte Berufe, wie Pflegende, Krankenschwestern, Lehrer etc. Wie viel Zeit wurde von Politikern vergeudet, um die Impfpflicht einzuführen!.Denn es geht um eine Pandemie, nicht um eine manchmal harmlose Grippe, es geht sozusagen um das hohe Gut der Rettung des Lebens aller. In einem solchen (eher selten vorkommenden) Falle gilt die Pflicht, das Gesetz des demokratischen Rechtsstaate …mit entsprechenden Gerichtsurteilen und Strafen.

Andreas S.Lübbe, Onkologe und u.a. auch Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, hat im “Tagesspiegel” am 9. Januar 2022 (Seite 4, Meinungsseite) sehr richtig geschrieben: “Impfunwillige dürfen keine intensivmedzinische Gleichbehandlung erwarten“, das heißt: Impfunwillige müssen mit Benachteiligungen in der eigenen medizinischen Versorgung rechnen. Diese Praxis ist keine Willkür, sondern nur eine Antwort auf die Tatsache, dass die Impfgegner mit ihrer Impfverweigerung nicht nur sich selbst, sondern vor allem auch die anderen, die Mit-Menschen, die Gesellschaft gefährden. Und das geschieht bereits. Die Ansteckungen mit dem Virus geht in nur geringem Maße von Geimpften aus, sondern ganz entscheidend von Ungeimpften.

Diese Leute nehmen in ihrer unvernünfigen Haltung, sich nicht impfen zu lassen, den “normalen” Schwerstkranken die Pflegebetten weg. Diese Sturheit der Impfunwilligen ist unvernünftig. Unvernunft muss bestraft werden, so, wie dies auch in anderen Zusammenhängen im Staat geschieht, etwa, um ein eher einfaches Beispiel zu nennen, bei den Gesetzen im Straßenverkehr: An auf rot geschalteteten muss gehalten werden.

Zu solchen klaren Worten zugunsten der Impfpflicht sind leider Politiker heute nicht in der Lage, aus Angst vor der radikalen Minderheit der Impfgegner? Oder aus Angst, einigen der Leuten des FDP – Koalitionspartners zu nahe zu treten? Aber mit liberaler, individueller Freiheit hat die Impfpflicht NICHTS zu tun. Die Freiheit gilt als Freiheit des einzelnen etwa für den Fall, dass es  um das eigene inidviduelle private Leben geht. Beispiel: Jeder kann Kiloweise Schokolade täglich essen, diese Haltung gefährdet nicht die Gesundhheit einer ganzen Gesellschaft, sondern nur die eigene. Bei der Ablehung des Impfens ist das ganz anders. Diese Ablehnung gefährdet die Gesellschaft.

8. Immanuel Kant, der Philosoph der menschlichen Freiheit und der Autonomie, hat 1803, kurz vor seinem Tod, einen Beitrag verfasst mit dem Titel „Über Pädagogik“. Darin spricht er von dem Problem, wie denn Freiheit und Zwang (siehe Nr. 7 dieses Hinweises) zusammengehören. Kant hat diese Frage auf die Pädagogik bezogen, auf die Erziehung von Kindern. Aber seine Einsichten zum von ihm gewählten Thema „Wie kultiviere ich Freiheit bei dem Zwange“ sind auch im gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang wichtig:

Immanuel KANT schreibt:

„Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanismus, und der, der Erziehung Entlassene, weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muss früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren, und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen lernen. Hier muss man folgendes beobachten:

1) dass man das Kind, von der ersten Kindheit an, in allen Stücken frei sein lasse; (ausgenommen in den Dingen, wo es sich selbst schadet, etwa, wenn es nach einem blanken Messer greift,) wenn es nur nicht auf die Art geschieht, dass es Anderer Freiheit im Wege ist, z. E. wenn es schreyet, oder auf eine allzulaute Art lustig ist, so beschwert es Andere schon.

2) Muss man ihm zeigen, dass es seine Zwecke nicht anders erreichen könne, als nur dadurch, dass es Andere ihre Zwecke auch erreichen lasse, etwa dass man ihm kein Vergnügen mache, wenn es nicht tut, was man will, dass es lernen soll etc.

3) Muss man ihm beweisen, dass man ihm einen Zwang auflegt, der es zum Gebrauche seiner eigenen Freiheit führt, dass man es kultiviere, damit es einst frei sein könne, d. h. nicht von der Vorsorge Anderer abhängen dürfe. Dieses letzte ist das späteste. Denn bei den Kindern kommt die Betrachtung erst spät, dass man sich etwa nachher selbst um seinen Unterhalt bekümmern müsse. Sie meinen, das werde immer so sein, wie in dem Hause der Eltern, dass sie Essen und Trinken bekommen, ohne dass sie dafür sorgen dürfen. Ohne jene Behandlung sind Kinder, besonders reicher Eltern, und Fürstensöhne, so wie die Einwohner von Otaheite, das ganze Leben hindurch Kinder. Hier hat die öffentliche Erziehung ihre augenscheinlichsten Vorzüge, denn bei ihr lernt man seine Kräfte messen, man lernt Einschränkung durch das Recht Anderer. Hier genießt keiner Vorzüge, weil man überall Widerstand fühlt, weil man sich nur dadurch bemerklich macht, dass man sich durch Verdienst hervortut. Sie gibt das beste Vorbild des künftigen Bürgers…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

 

Der neue Roman von Houellebecq: „Vernichten“. Bekenntnisse eines Reaktionären.

Über den neuen Roman und die Religion Houellebecqs

Ein Hinweis von Christan Modehn.  Siehe auch: Ein katholischer Erzbischof lobt “Vernichten”: LINK

1.

Der neue Roman von Michel Houellebecq liegt jetzt auch auf Deutsch vor. „Vernichten“ ist der Titel. Was oder wer vernichtet wird, erscheint erst am Ende des umfangreichen Romans, der Titel lässt Schlimmstes erahnen. Der Titel “Vernichten” bedient sich eines Verbs, einer Tätigkeit, der Eindruck ist: Es handelt sich um ein Geschehen, eben Vernichten, das zwangsläufig geschieht, schicksalsmäßig. Ein Ausrufungszeichen als Befehl findet sich hinter “Vernichten” nicht. Ein Befehl würde noch Freiheit der Täter voraussetzen.

Dabei liest sich das neue Opus des „Stars“, manche sagen „Popstars“ der gegenwärtigen Literatur auch ausnahmsweise, möchte man sagen, manchmal wie eine Art Familiengeschichte mit Einsprengseln einer Art von „Liebesroman“ und kurzen Szenen einer Naturmystik und politischen Irritationen durch Terroranschläge… wobei das Elend der menschlichen Beziehungen selbstverständlich – wie üblich – weit ausgebreitet wird.

Es ist eine elende Welt vornehmlich der Reichen, die da vorgeführt wird, elend hinsichtlich der seelischen Verfassung, der Langeweile, des Scheiterns im Miteinanderleben in Beziehungen und Ehen. Dabei ist es keine Frage: Die sprachliche Gestalt, die „Komposition“ des Romans, der Mix aus Reportage und Elementen philosophischer Reflexion, diese Analysen des seelischen Zustandes einer gewissen Oberschicht können die LeserInnen an das umfangreiche Buch durchaus binden.

Der Roman enthält viele Fakten, das ist evident…Wenn Houellebecq etwa Kirchengebäude nennt, dann sind diese nicht fiktiv, sondern real; wenn er das Kapuzinerkloster der Traditionalisten in Morgon nennt (siehe die ausführlichen Hinweise in Fußnote 1, unten), dann gibt es dieses Kloster wirklich; wenn er von der katholisch-rechtsextremen Bewegung “Civitas” Bewegung spricht, dann gibt es diese wirklich. Er kennt diese Leute! Man denke bloß nicht, dieser Text, Roman genannt, sei im ganzen Fiktion. Dieser Roman hat auch den Charakter eines religionskritischen Sachbuches. “Die Ordnung der Welt ändet sich also gerade” (S. 225) könnte als Leitwort gelten.

2.

In Frankreich ist „Anéantir“ seit dem 7.1. 2022 in den Buchhandlungen, Startauflage 300.000. Auch Raubkopien hat es vorweg gegeben. Das Interesse an Houellebecqs Werk ist enorm, trotz oder auch wegen seiner oft ins politisch Rechte und Rechtextreme abdriftenden Statements. Es ist ja bekannt, dass sich Houellebecq etwa in seinen als Essays titulierten Schriften deutlich absetzt vom Geist der modernen Aufklärung, auch vom Protestantismus und der Renaissance, so etwa erneut in seinem vierten Essayband „Ein bisschen schlechter. Neue Interventionen“(2020). „Die Linken“ sind die Feinde des Autors, das bekam einmal mehr deutlich zu spüren Daniel Lindenberg (Prof. für Politologie und Mitglied der Sozialistischen Partei P.S.), als er in seinem Buch „Le rappel à l ordre“ („Der Ruf zur Ordnung“) von 2002 Houellebecq ein diffuses reaktionäres Denken nachweisen konnte. In seiner Erwiderung anlässlich der Annahme des „Schirrmacher Preises“ 2016 fand Houellebecq äußerst scharfe und polemische Worte gegen Daniel Lindenberg. Houellebecq ist eben nicht nur Literat, schon gar nicht ein „klassischer Dichter“. Er hat sich einem gesellschaftlichen Projekt mit aller Kunst und Leidenschaft und Ironie verschrieben, und das Projekt heißt: Rückkehr zu den alten Werten, etwa der „intakten“ Familie, dem Respekt der religiösen (nicht nur der politischen!) Lehren des traditionellen Katholizismus. Das wird etwa deutlich in einem langen Interview, das Houellebecq dem Journalisten Geoffroy Lejeune von der extrem rechten Wochen-Zeitschrift „Valeurs Actuelles“ im Jahr 2019 gab. Darin sagte Houellebecq offenbar allen Ernstes: „Zu den Zeiten, als der Islam verborgen war, wo es einen Islam im Keller gab, da lief alles gut. Jetzt, machen die Muslime Probleme. Weil man ihnen sagt, sie könnten sichtbar sein. Um das zu regeln, wäre es besser, die katholische Religion würde stärker werden („reprenne le dessus“)“.

Der Schriftsteller Thomas Lang schreibt dazu: „Bemerkenswert scheint mir einerseits der grundlegende Konsens zwischen dem Journalisten und Houellebecq in der Sehnsucht nach einer unangreifbaren Institution, die im Besitz der Wahrheit ist und Trost spenden kann. Andererseits findet sich auch wieder die Konfrontationsstellung unterschiedlicher Richtungen. Rechts gegen links, christlich gegen muslimisch, das sind die besten Voraussetzungen für die Ausweitung einer Kampfzone“ (zit. in „Volltext“, Wien, Heft 4 (2020, S. 7). Die katholische Kirche braucht Houellebecq für seine politischen Ideen und Nostalgien als Stützen der Moral und des Staates. Das ist die alte, aber immer noch nicht vergessene  französische Konzeption der „Action Francaise“, die sich zu Beginn der Zwanzigsten Jahrhunderts als politische Ideologie katholischer Franzosen etablieren wollte, die keinen religiösen und biblisch geprägten Glauben hatten, wohl aber eine politische Liebe zur Institution Kirche als Hüterin der alten Ordnung. „Jesus Nein, hierarchische Kirche Ja“, war die Devise, die auch Houellebecq zentral findet, Jesus ist ihm viel zu links, viel zu revolutionär…(Siehe dazu: Yann du Cleuziou: Apologie du catholicisme dans les romans de Houellebecq, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-02296265/document).

3.

Der maßgebliche Literaturkritiker von „Le Monde“, Jean Birnbaum, hat im Dezember 2021 mit Houellebecq einige Stunden in dessen Arbeits-„Studio“ in Paris sprechen dürfen. Auf drei Seiten berichtet er ausführlich von dem Besuch, der ganz dem  neuen Buch gilt (Le Monde, 7. Janvier 2022,  Seite 1-3 in der Abteilung „Le Monde des Livres“). Der Titel des Beitrags sagt schon Entscheidendes über den neuen Roman: „Houellebecq, die Versuchung des Guten“.  Dazu passend, auf Seite 1, ein Zitat des Schriftstellers: „Mit guten Gefühlen macht man gute Literatur“. Diese Aussage mag überraschen! Houellebecq sagt: „Es gibt (bei mir) kein Bedürfnis, das Böse zu feiern, um ein guter Schriftsteller zu sein. Und es gibt wenige Übeltäter in dem Roman „Anéantir“. Damit bin ich sehr zufrieden. Der größte Erfolg wird sein, wenn es überhaupt keine Übeltäter mehr gibt“.

Während des Gesprächs mit dem Redakteur von „Le Monde“  fällt Houellebecq plötzlich ein, so heißt es dann in der Zeitung:  „Das ist verrückt, seit vier Stunden diskutieren wir und man hat noch immer nicht von Zemmour (einem der rechtsradikalen Präsidentschaftskandidaten 2022) gesprochen“. Darauf der Redakteur: „Das ist stimmt. Man kann es immer noch tun“. Aber wollen Sie das wirklich?  „Non“ antwortet Houellebecq sehr knapp „a mi-voix“, heißt es, „halblaut“. Dem Journalisten fällt nichts anderes ein als das eine Wort zu sagen: „Bon“, also: “Na gut“. Keine Nachfrage also, eine verpasste Chance mehr Klarheit über die Beziehung Houellebecq – Zemmour zu erfahren.

4.

Jean Birnbaum erwähnt im Gespräch auch die ihn emotional berührenden Aussagen im Roman. Houellebecq antwortet darauf mit einem Hinweis zum eigenen Erleben beim Schreiben: „Jene Passagen im Roman, die Sie berührt haben, die habe ich nicht gedacht, die haben sich mir aufgedrängt. Wenn Sie das ernst nehmen, was ich schreibe, dann muss man eine irrationale Voraussetzung annehmen, nach der die Personen im Roman wie von selbst handeln… Oft glaubt der Autor, die Persönlichkeiten im Roman zu kontrollieren, aber die Persönlichkeiten drängen ihr Sein dem Autor auf“. Houellebecq erlebt sich offenbar wie einer Art „Diktat“ ausgesetzt. Aber: Wer „diktiert“ da eigentlich? In den biblischen Schriften, die ja auch manche für „inspiriert“, säkular gesagt von anderem „diktiert“ halten, war es Gott, der da die Feder führte…. In jedem Fall sieht sich Houellebecq offenbar wie ein Meister der Weisheit, der Gesehenes, Gehörtes, kundtut.

5.

Über seine spirituelle Suche hat Houellebecq oft gesprochen, auch über seine Versuche, sich in den katholischen Glauben zu vertiefen. Auch in dem Roman „Vernichten“ ist oft von der Bedeutung des katholischen Glaubens die Rede: Cécile, die Schwester des Protagonisten Paul Raison, ist eine tief-fromme praktizierende Katholikin, der es sogar gelingt, ihren eher skeptischen Bruder zur Weihnachtsmesse in die Dorfkirche im Beaujolais mitzunehmen. Die Reflexionen Pauls über die Bedeutung Gottes angesichts des menschlichen Leidens könnte man wohl auch als persönliche Fragen Houellebecqs denken (S. 261)..

Der Katholizismus ist jedenfalls immer ein Thema bei Houellebecq, auch wenn er in „Vernichten“ durch ausführliche Beschreibungen des Wicca-Kultes wohl andeutet: Es könnte auch eine andere, eine neue (alte) Religion in Europa wichtig werden. Bekannt ist zudem, dass er die Gastfreundschaft der Benediktinermönche von St. Martin de Ligugé (bei Poitiers) erlebt hat (im Gästezimmer 11). Die Mönche berichteten später, sehr aufmerksam die Romane Houellebecqs zu lesen.  Und die Zeitschrift „Le Point“ schrieb  am 21.4.2015, in ihrer Klosterbuchhandlung hätten die Mönche auch die (damalige) Neuerscheinung des Houellebecq Romans „Soumission“  („Unterwerfung“) zum Kauf angeboten.

Für den Redakteur von Le Monde berichtet Houellebecq: Zu Weihnachten (2021) hätten ihm, so wörtlich, “reaktionäre Katholiken”, „die Freunde geworden sind“, Grüße und Nachrichten geschickt. „Darin sagten sie, dass sie für mich gebetet hätten, das ist bewegend, finden Sie nicht auch? Es gibt Leute, die interessieren sich für meine Seele. Das deute ich als Zeichen von sehr starker Freundschaft. Sie hoffen, dass ich von der Gnade berührt werde“. Bemerkenswert ist, dass Houellebecq selbst offenbar ohne ironischen Unterton (ohne ein “so genannte”) von seinen “reaktionären katholischen Freunden” spricht. Diese Haltung dieser Katholiken findet er offenbar gut, in diesem Freundes-Milieu fühlt er sich wohl. Hat Houellebecq endlich seine katholische Ecke gefunden, wo er sich wohlfühlt?

Ob die reaktionären Katholiken, auch in moralischer Hinsicht nicht gerade liberal, mit Houellebecqs Satz (gesprochen vom Protagonisten Paul) einverstanden sind: “Dafür waren Nutten da, um einem wieder Leben einzuhauchen” (S. 307)? Wahrscheinlich sehen reaktionäre Katholiken auch über die Sex-Szenen im Roman “Vernichten” hinweg, wichtig ist ihnen die politische Haltung Houellebecqs, da ist er wohl einer der ihren…

Tatsache ist: Reaktionäre Kreise im französischen Katholizismus sehr viel zahlreicher und “bunter” und einflußreicher als etwa im deutschen Katholizismus.  Es sind in Frankreich nicht nur die zahlreichen traditionalistischen Pius-Brüder von Mgr. Lefèbvre und deren Gemeinden, es sind die Katholiken aus den Kreisen “Manif pour tous”, von der Zeitschrift Valeurs Actuelles, die Katholiken, die von “Bevölkerungsaustausch” wegen der Muslime in Frankreich schwadronieren usw., von “Civitas” war schon die Rede.

6.

Der Schriftsteller Thomas Lang hat in der Zeitschrift VOLLTEXT manche Aussagen Houellebecqs zur Politik treffend „schwammig“ (S. 6) genannt. Schwammig sind auch einige Ausführungen des Schriftstellers in dem genannten Gespräch mit Jean Birnbaum von Le Monde. Darin ist erstaunlich, wie milde Houellebecq die bekannten Nazi-Autoren der Okkupationszeit bewertet. Er sagt: „Man war im 20. Jahrhundert fasziniert von der Transgression, dem Bösen. Von daher auch das Wohlgefallen gegenüber Autoren wie Morand, Drieu, Chardonne. Und dann das Urteil Houellebecqs: „Autoren, die ich mittelmäßig finde“.

Morand und Drieu waren von ihrer formalen schriftstellerischen, sprachlichen Leistung her gesehen sicher viel mehr als mittelmäßig. Aber sie waren viel weniger als mittelmäßig, nämlich schändlich, in ihrer antisemitischen Nazi-Ideologie. Von der Nazi-Ideologie der Autoren spricht Houellebecq vornehmerweise nicht. Oder „Le Monde“ zitiert unvollständig.

7.

Was oder wer ist also „Vernichtet“, um den Titel des neuen Romans aufzugreifen? Das werden die LeserInnen entdecken. Aber betrachtet man die Grundüberzeugung und die herrschende „Stimmung“ von Houellebecq dann steht fest: Vernichtet ist die alte europäische Ordnungswelt. PolitikerInnen, die angeblich noch diese alte Werte bzw. Unwerte -Ordnung reanimieren wollen, werden von Houellebecq in „Vernichten“ freundschaftlich mit dem Vornamen angespochen, eben Marine Le Pen, im Jahr 2022 Chefin der rechtsextremen Partei „Rassemblement National“ (früher „Front National“). Sie heißt im Roman nur freundschaftlich „Marine“.

Wichtiger als Ergänzung zum Thema „Vernichten“ dürften die Ausführungen Houellebecqs sein anlässlich der Verleihung des „Oscar-Spengler Preises“ 2018, ein Preis, der auch stark von rechten CDU und auch AFD Politikern inszeniert und finanziert wird. Bei der Entgegennahme des Preises in Brüssel sagte Houellebecq: „Bezogen auf die Demographie und die Religion ist es evident, dass ich zu den exakt identischen Schlussfolgerungen wie Spengler komme: Der Westen befindet sich in einem Zustand sehr fortgeschrittenen Niedergangs.“ Das hat man schon oft gehört von Houellebecq…

8.

… Es ist das Jammern des Reaktionären heute…Ob es weiterhilft in der umfassenden Krise der Gesellschaften und Staaten ist sehr fraglich, meine Antwort heißt nein. Trotzdem werden wieder viele tausend Menschen auch den neuen, den etwas freundlicher gestimmten Houellebecq-Roman lesen. Weiterführende Impulse für eine humanere Welt (der Menschenrechte) werden sie von dem umfangreichen Buch nicht erhalten. Politische Prognosen eines „Weisen“ oder gar prophetische Perspektiven wird man auch diesem Houellebecq – Roman nicht entnehmen können. Da verbreitet ein “weltberühmter Autor” nur auf seine Art “Stimmung” für eine autoritäre Gesellschaft und einen entsprechenden Staat der “uralten Werte”. Und viele, werden dies, leider, glauben.

Fußnote 1:

Im November 2017 hatte Houellebecq ein Interview („Testament“ genannt), ursprünglich für den SPIEGEL gegeben, das dann von der reaktionären Wochenzeitung „Valeurs actuels“ übersetzt  wurde . LINK Houellebecq betont in dem Interview: „Die Integration der Muslime könnte nur funktionieren, wenn der Katholizismus (in Frankreich) wieder Staatsreligion (Religion d Etat) wird“.  Diese Forderung „Katholizismus als Staatsreligion“ wird von der rechtsextremen Partei „Civitas“ vertreten. Ein Kapuziner aus dem traditionalistischen Kloster in Morgon ist offizieller „Partei-Kaplan“ (aumonier genannt) von „Civitas“.   Von diesem Kloster ist in „Vernichten“ die Rede, Houellebecq kennt diese Leute offenbar. Es lohnt sich, zum Studium die website dieser Mönche anzusehen! LINK: Das Houellebecq-Zitat zur katholischen Staatsreligion ist auf Deutsch erreichbar (gelesen am 15.1.2022): LINK

Die reaktionären und traditionalistischen Katholiken von Civitas gehören auch zu den heftigen „Impfgegner“ in Frankreich, sie nennen die staatliche Impfkampagne „Plandémie satanique“. Diese Tatsachen werden ausführlich ausgebreitet in der religionswissenschaftlich-politologischen Studie „Le Nouveau Péril sectaire“, von Jean-Loup Adénor und Timothée de Rauglaudre, erschienen in den Editions Laffont, 2021, 21,50 EURO.

Michel Houellebecq, “Vernichten”. Roman.  2022, Dumont – BuchVerlag Köln. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. 621 Seiten, 28 Euro. 

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Die zerstörte KIndheit: Farhad Alsilo berichtet von der Verfolgung durch den “IS”, von Flucht, Zuflucht und neuem Leben.

Ein junger Jeside aus Nord-Irak erzählt seine Geschichte.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1. Ein Buch des Grauens und… ein Buch der Zuversicht. Eine reale Geschichte, in der ein junger Mann von der mörderischen Gewalt gegen sein Volk berichtet, die Jesiden im Norden des Irak. Die Mörderbanden nennen sich „Islamischer Staat“. Sie haben mindestens 5000 Mitglieder seines Volkes getötet, auch seinen Vater und nahe männliche Verwandte. Im Kampf mit dem “IS” wird ein Jesside verletzt: “Als seine Waffe leer war, griffen ihn zwei der IS-Kämpfer, schnitten seinen Kopf ab und legten ihn auf seinen Bauch, und das alles geschah unmittelbar vor meinen Augen als Kind von elf Jahren“ (S. 35). Bis heute werden noch etwa 2000 jesidische Mädchen und Frauen vermisst seit den Vernichtungsaktionen des IS im Jahr 2014.

2. Farhad Asilo, 19 Jahre alt, hat ein Zeugnis seines jugendlichen Lebens geschrieben. Ein Zeugnis des Leidens, der Ängste, der Flucht, durch die glühend heiße Wüste sowie durch das unwegsamste Sindschar-Gebirge bis nach Kurdistan, immer am Rande der Verzweiflung, des Verdurstens, des Hungers. „Durchs Sindschar-Gebirge: Das Schlimmste war die Kälte. Es war so kalt, dass wir kaum reden konnten und unsere Augen tränten. Ohne Decken und Kissen waren wir schutzlos ausgeliefert, und keiner konnte uns helfen. Da kam meine Heldin, meine kreative und liebe Mama, auf die Idee, ihr weit geschnittenes Kleid, wie fast jede jesidische Frau eines trägt, über uns drei Kinder zu ziehen, damit es uns ein wenig vor der Kälte schützt…Für Mutter hieß das wieder einmal wachbleiben, so wie alle anderen Nächte zuvor…“ (S. 49).

3. Der junge Autor Farhad Alsilo hat ein „bewegendes“ Buch geschrieben. Es führt auch zu der Frage: Warum hat die Bundesrepublik Deutschland noch immer nicht den Völkermord an den Jesiden offiziell als Völkermord anerkannt, wie dies etwa Belgien, die Niederlande und das EU-Parlament längst getan haben. Abgesehen von dieser Irritation: Erfreulich bleibt, dass das Bundesland Baden-Württemberg im Rahmen eines „Sonderkontigents für verfolgte Jesiden“ auch Farhad Alsilo, seiner Mutter und seinen Geschwistern Asyl geboten hat. In dem Buch erzählt der junge Autor auch von den Schwierigkeiten beim Neubeginn in Deutschland im Jahr 2015. Farhad Alsilo, der deutschen Sprache als Elfjähriger  überhaupt nicht mächtig, ist mit aller Energie zu einem auf Deutsch schreibenden Autor geworden, der auch von den Chancen erzählt, in Deutschland die eigene intellektuelle Begabung frei entwickeln zu können; in den Schulen immer mit den besten Noten erfolgreich. Ein jesidisch – deutscher Autor kann sich hier frei zu Wort melden, was für eine Chance zugunsten eines kulturellen Austausches, einer Erweiterung der Perspektive, über alle Traditionen und Religionen hinaus.

4. Der Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume, der 2015 die Leitung des „Sonderkontingents Baden-Württemberg für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ übernahm, hat ein Vorwort zu dem Buch geschrieben: „Die Leser werden in dem Buch von Farhad Alsilo vieles, aber keinen Hass finden. Farhad liebt die Menschen trotz allem sehr. Aber sogar über den Vernichtungswillen der IS-Terroristen und den bitteren Rassismus mancher Deutscher ist er hinausgewachsen… Farhad ist ein Gewinn für unser Land, für unsere gemeinsame Zukunft. Weil er aufklärt und mitnimmt, in diesem Buch und auch auf YouTube…“ (S. 12)

5. Das Buch bietet zudem einige wichtige Hinweise zur hierzulande eher noch unbekannten Kultur, Religion und Spiritualität der Jesiden. „Sie gehören zur Volksgruppe der Kurden, sie sind jedoch keine Muslime, sondern bilden eine eigene historische gewachsene Religionsgemeinschaft mit multiethnischen Anhängern“ (S: 119).  Weltweit gibt es schätzungsweise mehr als eine Million Jesiden… die größte Diaspora ist heute in Deutschland“ (S. 36). Die spirituelle Lehre der Jesiden wird man mit Erstaunen studieren, etwa: „Am Anfang (der Welt) war nichts. Dann schuf Gott eine Perle“….“Danach schuf Gott die Seele und die Musik. Nach jesidicher Schöpfungsmythologie war am Anfang des menschlichen Lebens: MUSIK“ (S. 122). Zur religiösen Praxis:“ Beten ist keine Pflicht. Jedem Gläubigen ist aber freigestellt, wie oft und wo er betet. …Wer beten möchte, wendet sich zur Sonne, er stellt sich vor die Sonne und erzählt ihr das, was in diesem Augenblick aus seinem Herzen spricht. Vielleicht sind dies die schönsten Gebete, die die Menschheit je hervorgebracht hat“, so wird der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal (1923-2015) zitiert, S. 133.

6. Dringende Aufgaben für demokratische Staaten bleiben: „Auch im Sindschar-Gebirge harren noch immer Tausende Jesiden in schwer zugänglichen provisorischen Lagern aus…(S.36). Von den gewaltsamen Attacken, Bombenangriffen, des Nato-Mitgliedes TÜRKEI auf Zufluchtsgebiete der Jesiden in Nord-Irak im Dezember 2021 ist in dem Buch keine Rede, da lag das Buch schon gedruckt vor. Um so dringender: Die Aggressionen der Türkei gegen die Jesiden sollten verurteilt werden, forderte die jesidische Organisation „Nadias-Initiative“, gegründet von der jesidischen Nobelpreisträgerin (im Jahr 2018) Nadia Murad.

Farhad Alsilo, Der Tag, an dem meine Kindheit endete. Mit einem Vorwort von Düzen Tekkal. Trabanten Verlag, Berlin, 2021, 150 Seiten, 14 Euro.

 Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

In Galizien und der Bukowina: Jüdisches Leben und Leiden.

Zu einem neuen Buch von Marc Sagnol.

Ein Hinweis von Christian Modehn.

Warum sollte man sich erneut mit dem vernichteten jüdischen Leben in Galizien, Lodomerien und der Bukowina beschäftigen?

1. Es waren Deutsche, SS-Leute, Militärs, in enger Zusammenarbeit mit ukrainischen Faschisten, die Juden in den genannten Gebieten töteten.

2. Autoren, oft gelesen in Deutschland, wie Joseph Roth, Bruno Schulz, Soma Morgenstern, Stanislaw Lem, Paul Celan, Simeon Wiesenthal, Rose Ausländer und viele andere stammen aus Galizien und der Bukowia. Wer diese AutorInnen schätzt, sollte sich für deren Herkunft interessieren.

3. Es gab einst in Berlin ein Viertel im Zentrum, zwischen dem Hackeschen Markt und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz (damals „Bülowplatz“), in dem, seit 1900 , viele Juden Zuflucht fanden vor den Pogromen in ihrer Heimat Galizien. Berlin ist mit Menschen aus Galizien eng verbunden, mit den früheren Bewohnern muss man sagen: Denn Juden suchten Zuflucht und fanden letztlich Vernichtung.

4. Im Dezember 2021 ist ein neues Buch über jüdisches Leben, über Verfolgung und Auslöschung der Juden in Galizien sowie in der Bukowina erschienen. Es handelt sich natürlich nicht um eine „bunte Reisereportage“ mit den üblichen Ausblicken auf Natur und Geschichte dieser Region, es handelt sich auch nicht um einen Guide für Touristen etwa durch die angeblich noch vorhandenen „Schtetlt“.Es ist auch keine erschütternde Foto-Dokumentation, selbst wenn das Buch etliche beachtliche Schwarz-Weiß-Fotos, vom Autor realisiert, enthält: MARC SAGNOL hat über viele Jahre dieses Gebiet immer wieder besucht, er hat die Städte und Dörfer, intensiv studiert, mit Menschen gesprochen in dem Gebiet, das einst zur österreichischen Monarchie gehörte. Und dann zu Polen und zur Ukraine, ab 1945 zu Polen und der Sowjetunion. Nach 1989 gehört es wieder zu Polen und der Ukraine.

Marc Sagnol,1956 in Lyon geboren, hatte nach Studien der Germanistik und Philosophie auch Kenntnisse des Polnischen und Russischen erworben, er war u.a. als Kulturattaché in Moskau tätig und später auch als französischer Kulturbeauftragter in Erfurt. Sagnols Interesse fürs jüdische Leben in dieser Region ist auch durch die Geschichte der eigenen Familie motiviert. Sein Großvater z.B. hat seine Kindheit in Czernowitz und Kossow verbracht.

5. Der Autor beschreibt (und kommentiert zurückhaltend) das jüdische Leben in den Städten und Dörfern, er nimmt die LeserInnen mit auf seine ausführlichen Rundgänge dort. Sie beginnen in Ostgalizien, führen über Grodek und Lemberg sowie viele andere Ortschaften dann nach Brody und Kossow, er erreicht die südlicher gelegene Bukowina mit Iwano-Frankiwsk, Czernowitz und Sadagora, um dann noch einmal nach Lemberg bzw. Lwow, Lwiw oder auch Leopolis, der „Löwenstadt“ zurückzukehren (S. 185-235, wiederum mit zahlreichen Fotos).

6. Die Rundgänge des Autors sind alles andere als unterhaltsam. Sie informieren in nüchterner Sprache und wecken dennoch Erschütterung, Zorn, Trauer im Angesicht der ausführlich beschriebenen Untaten, der grausamsten Quälereien und Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung. An diesem Massenmord waren nicht nur Deutsche beteiligt: Die Nazis fanden willigste und grausamste Helfer in Kreisen der ukrainischen Nationalisten und Faschisten. Sagnol erwähnt, dass noch heute an den ukrainischen Nazi Stepan Bandera öffentlich sichtbar erinnert wird, seine Statuen und Denkmäler sind nicht zu übersehen. Man tut so, als handle es bei Bandera um eine Art unbescholtenes Vorbild (vgl. S. 40, S. 230, dort zeigt ein Wandgemälde Bandera, das Foto hat Sagnol 2018 aufgenommen).

Von den vielen Informationen des Buches nur diese: Man liest etwa, dass es im Lager Janowska ein Lagerorchester gab, „das von Leonid Stricks geleitet wurde. Das Lagerorchester musste Operettenmelodien wie „Die lustige Witwe“ von Franz Lehar oder Werke von Mozart und Beethoven spielen, um das Geräusch der Schüsse und Scheie während der Exekutionen zu übertönen“ (S: 218).

In Lemberg entfesselten die Deutsche gemeinsam mit dem ukrainisch-natonalistischen Bataillon Nachtigall sowie der OUN (der Ukraininisch-Nationalistischen Organisation) ein Pogron vom 30. Juni bis 3.Juli 1941, „in dessen Verlauf die Lemberger Juden dem besinnungslosen Hass einer entfesselten Bevölkerung ausgesetzt waren (S. 206). Von den ukrainischen Nationalisten wurden die Juden als Sündenböcke hingestellt, für schuldig erklärt, mit den Sowjets zu kollaborieren“. Eine Überlebende erinnert sich. “Wir sind mit ihnen (also den so genannten Christen, CM) zur Schule gegangen, tanzen gegangen und mit einem Mal waren wir für sie keine Menschen mehr“ ( S. 211)

Das antisemitische Nationalist Bandera konnte sich nach dem Krieg bis 1959 in München unter dem Namen Stefan Popel verstecken, vom KGB wurde er dort entdeckt und erschossen.

7. Und heute? Das Interesse der ukrainischen Bevölkerung (und des Staates) am Erhalt wichtiger jüdischer Gebäude als Erinnerung an jüdisches Leben einst, ist alles andere als bedeutend. Man liest mit Entsetzen, dass kulturell und architektonisch bedeutende Synagogen dem systematischen Verfall überlassen werden, so etwa in Brody (S.124 f.) oder Berezhany (S. 61). Besonders schlimm ist er Verfall der einst prachtvollen Synagoge aus dem 17. Jahrhundert in Zolkiew bzw. Schowkwa bei Lemberg (S. 44). Marc Sagnol bemerkt treffend: „Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass die Verschleppung der Restaurierung dieser Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der Endlösung durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“. Mit Hilfe von Juden aus dem Ausland konnte die große chassidische Synagoge in Sadagora im Jahr 2016 in alter Pracht wieder eröffnet werden, in der Sowjetzeit wurde sie als Metallfabrik genutzt.

8. Von den Chassidim (also den Mitgliedern einer mystischen Strömung, die oft als ultra-orthodox bezeichnet wird), ist auch die Rede, etwa beim Besuch in dem geradezu von Legenden umwobenen Städtchen Bels. Interessant auch die Darstellungen zum Leben der Chassidim in Sadagora, Bukowina: Hier hatten die Rabbis (bzw. Rebben ode Zaddik) ihre Zentren für Gebet, Beratung, Belehrung und auch überschwängliche Verehrung des Rabbis (S.180).

9. Was Sagnol über das verbliebene jüdische Getto in Lemberg schreibt, gilt für die Region dort: „Außer den wenigen Überresten von Gebäuden der Vergangenheit gibt es kein jüdisches Leben mehr“. Der Tötungswahn der Deutschen, der Nazis, des Militärs sowie der ukrainischen Faschisten war total und hat sich total durchgesetzt. In Polen leben jetzt noch etwa 12.000 Juden, in der Ukraine wird der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung prozentual angegeben mit 0,05 Prozent! Viele Juden, die in die Ukraine als Touristen reisen, berichten von einem für sie immer noch gefährlichen Land.

Das Buch bietet in zahlreichen Fußnoten Hinweise zu spezielleren Studien.

Leider fehlt in Marc Sagnols wichtigem Buch ein Namens-Register.

Das Buch verdient weite Beachtung.

Marc Sagnol, Galizien und Lodomerien. Kulturverlag Kadmos, Berlin, 2021, 238 Seite, 24,90 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Flaubert, antiklerikal und religiös

Hinweise aus Anlass seines 200. Geburtstages

Von Christian Modehn am 5.12.2021

1. Gustave Flaubert (12.Dez.1821 – 8.Mai 1880) und sein großes Werk, einschließlich seiner umfangreichen Korrespondenz, werden umfassend studiert. Dabei ist die Frage: „Welche Bedeutung haben für Flaubert Spiritualität und christliche Religion?“ von zentraler Bedeutung. Aber dieses Thema wird meines Erachtens in Deutschland nicht so oft diskutiert. Man darf sich jedenfalls nicht mit dem populären Spruch begnügen: „Flaubert war antiklerikal“.Oder auch: “Sein Dienst an der Kunst ist letztlich nichts anderes als eine neue Religion“, so in: „Französische Literaturgeschichte“, Stuttgart 1991, S. 269). Es stimmt schon: Kunst, prinzipiell unvollendet und auch unvollendbar, entzieht sich – wie das Göttliche – dem abschließenden Definieren. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen („aspiration“, sagt Flaubert) gilt es zu pflegen, auch dies betont Flaubert. „Selbst wenn die Religionen als Institutionen verschwinden, das religiöse Gefühl wird in anderen Formen überleben“, schreibt Gisèle Seginger in ihrem Aufsatz „Flaubert, de la religion à l art“, in „Revue d Histoire et de Philosophie religieuses“, 1998, S. 303). Es bleibt für Flaubert, so kühl und distanziert und ironisch seine Romane erscheinen, entscheidend: Es gibt ein menschliches Bedürfnis, sich einer religiösen Wirklichkeit anzuvertrauen. Damit ist nicht der dogmatisch eindeutige Gott der Kirchen gemeint. Religiöses Vertrauen kann sich vielfältig äußern, es wird sichtbar in der Bindung an heilige Orte, heilige Quellen, heilige Gestalten etc.

2. Es ist wohl typisch für Flaubert: Die Frage, ob Gott „existiert“, ob „ER“ „bewiesen“ werden kann, braucht dann gar nicht gestellt zu werden. Das religiöse Gefühl ist für Flaubert entscheidend, es hat in der menschlichen Natur seinen Grund. Flaubert verurteilt also nicht Religionen von vornherein. Auch wenn Flaubert als Leser der Religionskritiker Quinet, Michelet und Renan die überlieferten Dogmen und Symbole kritisiert: Das Bedürfnis des Menschen, etwas Unendliches zu spüren, wird von ihm dann doch respektiert. Dies könnte man eine Form des humanistischen Atheismus nennen; dieser Atheismus ist alles andere als banal oder materialistisch. Im Gegenteil: Er sieht im Menschen ein “unendliches Streben” anwesend  – als Streben nach einer (nicht göttlichen) Unendlichkeit.

Er kämpft aber leidenschaftlich gegen den so genannten „Neo-Katholizismus“, der sich in seiner Zeit beim erstarkenden französischen Katholizismus in neuen Formen des Kultes zeigte, etwa für das „Herz Jesu“ oder für Marien-Erscheinungen in La Salette: Flaubert kommentiert: „Dies erinnert mich an die Tages de Heidentums“…

3. Die Religion(en) im Frankreich des 19. Jahrhunderts.

Im 19. Jahrhundert äußern sich zwar einige Autoren, die explizit die Rückkehr zu einem etwas reformierten katholischen Glauben unterstützen. Wirksamer sind wohl Autoren, die das Religiöse neu denken wollen „außerhalb der etablierten Religionen“, wie Viktor Hugo sagt. Die Überzeugung setzt sich durch: Religiöse Gefühle, allen Menschen je unterschiedlich gemeinsam, zeigen sich auch in der Kunst, der Literatur, der Philosophie, in den Ekstasen des Eros…

4. Flaubert hat die Geschichte der Religionen gründlich studiert, das zeigt seine „Correspondance“, vor allem aber das Werk, an dem er eigentlich zeit seines Lebens arbeitete:  „Die Versuchung des heiligen Antonius“ (begonnen 1849, verändert publiziert 1874).

Flaubert schwankt in gewisser Weise zwischen einer gewissen Bejahung des Religiösen und dessen Abwehr und Ablehnung. Er verteidigt das Christentum sogar, wenn er sich z.B. entschieden gegen den Materialismus einiger „sozialistischer Denker“ wendet. Diese Sozialisten wollen nach seiner Meinung das religiöse Gefühl auslöschen, damit aber werde eine entscheidende Dimension des Menschen ignoriert, die religiöse. Flauberts Verachtung für “den Sozialismus” ist ein eigenes Thema, zudem er seine Sozialismus-Kritik mit seiner Zurückweisung der Gleichheit (égalité) verbindet. Dass es eine wesentliche Gleichheit, auch rechtliche Gleichheit, aller (!) Menschen philosophisch evident begründen lässt, weiß Flaubert offenbar nicht oder er lehnt dies wider besseren Wissens ab.

5. Für Flaubert ist entscheidend, dass der Künstler sich von allen dogmatisch-kirchlichen Glaubenshaltungen befreit! Er muss aber sensibel werden für die Erfahrung des Unendlichen  ohne einen „persönlichen Gott“. Dies hat für Flaubert persönliche Konsequenzen: Rückzug aus der Welt, Kontemplation der Natur und der Dinge der Welt; die Anerkennung der Realität, „die so ist, wie sie ist“. Soll man diese Haltung der “Anerkennung der Welt, so, wie sie ist”, eine verkappte Form von Positivismus nennen? Bekanntlich wehrt sich Flaubert gegen alles Bewerten, Moralisieren und Belehren durch den Schriftsteller! Aber ist diese Haltung nicht auch eine problematische Form des “Belehrens”, des “Besserwissens”?

6. Befremdlich wirken heute seine „Drei Geschichten“, aus der späten Schaffensphase, erschienen 1877. Eine Geschichte berichtet vom heiligen Julian, genannt St. Julian der Gastfreie“ in der Heiligenlegende. Ein ihm gewidmetes Glasfenster befindet sich in der Kathedrale von Rouen, der Heimat Flauberts. Julian, so erzählt Flaubert seine Heiligenlegende, tötet irrtümlich seine Eltern, aufgrund von Verwechslung.  Aber Julian entschließt sich, einen Aussätzigen in sein Haus aufzunehmen, mit dem er eine intensive, auch körperliche Nähe entwickelt. Dieser Arme, der Aussätzige, verwandelt sich dann im Miteinander zu Christus. Eine Art Erlösung geschieht: Die Verbundenheit mit Christus wird bei Flaubert deutlich als leibliche Nähe und körperliche Verbundenheit beschrieben: Manche Interpreten sehen in dem Miteinander von Julian und seinem „Gast“ sogar homosexuelle Anspielungen…

7. So komplex auch die Spiritualität Flauberts ist: Was ihn immer bestimmte, war die Verachtung der Dummheit, war der leidenschaftliche Kampf gegen Borniertheit und Engstirnigkeit. Sie zeigt sich vor allem in der „Provinz“, als „provinzielles Denken“, aber nicht nur dort. Diese Dummheit nahm er auch in den etablierten und herrschenden dogmatischen Religionen wahr. Gibt es eine Religion, eine Spiritualität, die nicht borniert, engstirnig und dumm ist? Das ist die Frage, die bleibt, über den großen Gedenktag am 12. Dezember…

8. Und darüber hinaus bleibt die Forderung Flauberts, des großartigen Meisters der Sprache, genau auf die Alltagssprache zu achten, die sich heute, etwa in den Nachrichten des Fernsehens, in ihrer Verfallsform ständig zeigt: Haben wir schon einmal gezählt, wie oft innerhalb weniger Stunden irgendein Politiker oder Wirtschaftsspezialist oder Kommentator die Worte „Maßnahme“, „durchführen“, „Betreuung“, „Wissen“ um…“ verwendet, grässliche Worte eines bürokratischen Denkens, das vorgibt „etwas zu tun“, de facto aber nur Ankündigungen behauptet! Diese und andere Wörter dürfen dem bekannten „Wörterbuch des Unmenschen“ zugeordnet werden. Der Niedergang der demokratischen Kultur in Deutschland (Rechtsextremismus, Neofaschismus offen und versteckt, immer aber unterschätzt, allgemein gefährlicher Egozentrismus in der Ablehnung der allgemeinen Impfpflicht) wird im Verfall der Sprache und des Sprechens sichtbar.

9. Wird die Sprache vom Schmutz der Phrasen, Floskeln und Gemeinplätze befreit, wird dann auch die Demokratie gerettet? Man sollte es probieren und auf die Wörter aus dem Wörterbuch des Unmenschen verzichten.

10. Um noch einmal zur Religion zurückzukehren: Wird die dogmatische Sprache von den uralten Formeln, befreit, die heute Leer-Formeln sind, könnte dann ein vernünftiger christlicher Glaube, ohne Klerikalismus und Kleriker-Herrschaft, noch eine Chance haben? Sicherlich! “Man“ kann das ja mal probieren und beginnen, die klerikale Kirchensprache zu entrümpeln. Um den umfangreichen mittelalterlichen theologischen Sprachschrott abzulagern, wird im Vatikan ein eigener großer Palast zur Verfügung gestellt.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin