Grau ist das Leben – Wem nützt die „Grauzonenkunde“ von Sloterdijk?

Das neue Buch von Peter Sloterdijk.

Ein Hinweis von Christian Modehn.
1.
Wer einige Bücher von Peter Sloterdijk gelesen hat, kann kaum der Versuchung widerstehen, sich vom sprachlichen Erfinder – Ehrgeiz des Denkers anstecken zu lassen. Also, in seinem Sinne formuliert, ins découvrierend Scriptorische abzugleiten, ohne dabei einem enthusiasmierenden Gestus zu verfallen. Dies gilt um so mehr angesichts des Titels des neuen Sloterdijk-Opus „Wer noch kein Grau gedacht hat…“ mit dem Untertitel „Eine Farbenlehre“. Also ein „Lehrbuch“?
Soweit ich sehe, steht das neue Buch Sloterdijks in keiner expliziten Relation zu der für einen Grau – Denker eigentlich leitenden Erkenntnis, sie stammt von Goethe: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“ (Mephisto). Wer diese Maxime beherzigt, wird eher Gärtner als Philosoph.
Und auch dies noch vorweg und eher nebenbei: Auch vom Niedergang der Partei „Die Grauen“ ist keine Rede. Und auch von den berühmten „grauen Zellen“, nicht nur als der notwendigen Lektürebedingung, ist, soweit ich sehe, nicht die Rede.
2.
Um die Struktur des Inhalts „magno animo“ und mit „thymós“ (ein Lieblingswort Sloterdijks) zusammenzufassen: Es geht um eine bemühte Art, die Farbe grau bzw. das Changierende der Grau-Töne mit feuilletonistisch-philosophierender Passion auszuleuchten, wenn nicht gar „schmackhaft“ zu machen in der Lebenswelt. Die Farbe grau wird von Sloterdijk als treffender Ausdruck (westlicher, demokratischer, kapitalistischer, neoliberaler ??) heutiger Mentalitäten verstanden. Also grau wird als Metapher, Stimmung, Herrschaft der Bürokratie, als graue Religion usw.  beschieben. Dabei sind die fünf Hauptkapitel zu einer speziellen Dimension des Grauen keineswegs streng strukturierte, lehrbuchmäßige „Abhandlungen”. Hinzu kommen noch vier, vom Thema her noch weiter gehende knappe Abschweifungen, von Sloterdijk vornehm „Digressionen“ genannt. Sloterdijk will sich also, um noch einmal eine erfinderische Sprachkraft zu wiederholen, als „Griso-loge“ bzw. als „Avocat oder Defenseur de la Grisaille“ etablieren. Ich lasse, wie bei Sloterdijk meist üblich, diese meine Begriffe unübersetzt stehen und sage in seinem Sinne: „Tant pis“ für die Ungebildeten bzw., wie er selbst diese Menschen nennt, „die einfacheren Gemüter“ (S. 275). Arroganz gilt halt in gewissen Kreisen als Tugend…
3.
Die fünf Hauptkapitel sind Essays: Oft wirken die immer auf grau bezogenen Argumente im Texte konstruiert und gewollt, so wenn – als Petitesse erwähnt – in den Hinweisen zu den „grauen Eminenzen“ der berühmte französische Kapuzinerpater Joseph (unter König Ludwig XIII.) von Sloterdijk in einen „braungrauen Kapuziner-Habit“ (S. 69, auch s. 72) gesteckt wird. Dabei war und ist die „Kutte“ der Kapuziners eindeutig nur braun, aber in den Zusammenhang passt es Sloterdijk besser eine leichte Farbverschiebung in den argumentativen Duktus des nun einmal allüberall dominant Grauen. Wikipedia – auch als Quelle Sloterdijks (?) – spricht zwar auch vom grau-braunen Habit des Kapuziners Joseph, aber das ist eindeutig eine falsche Information! Soweit diese Petitesse.
Auch für die Ethik bringt Sloterdijk selbstverständlich grau zur Geltung: „Es ist die Nuance von Grau-in-Grau, die immerzu und in allem entscheidet, woran wir uns zu halten haben“ (S. 286). Das klingt wie eine Art grauer kategorischer Imperativ: „woran wir uns zu halten haben“… Das passt gar nicht so zu Sloterdijks sonst üblichen skeptisch-relativistischen-zynischen „methode à penser“. Aber die letzten Sätze des Buches (ebenfalls S. 286) beruhigen doch vor möglichen tiefen Grau-Depressionen, indem Sloterdijk auf die Mischung von Hell und Grau, Dunkel etc. hinweist. Immer ist also – trostvoll –  etwas Helles dabei. Nur bitte “keine Alleinherrschaft des Lichtes”, warnt der Philosoph. Das wäre wohl zu “göttlich”?
4.
Peter Sloterdijk legt nun also, eine „Farbenlehre“ vor. Über die Aktualität dieses nun ausgerechnet in diesen Zeiten gewählte graue Thema wird man lange vergeblich grübeln. Aber, man tröste sich mit Allgemeinheiten: Philosophieren als Form des auch unterhaltsamen Feuilletons ist immer möglich, Philosophieren lässt sich im allgemeinen nicht politisch unmittelbar einspannen…Also: „Wer noch kein Grau gedacht hat…“ Der Titel (Cézanne nachempfunden) bricht ab, führt ins Weite, aber er ist schon im ersten Moment eine Einladung, ihn aus aktuellen Notwendigkeiten weiter zu formulieren: Ich schlage vor. „Wer noch kein Grau gedacht hat….der betrachte die von Russen zerstörten Städte der Ukraine und ihrer angstvollen Einwohner“. Oder: „Er/sie schaue sich alle von sonstigen Kriegen und auch Hungerkatastrophen zerstörten Städte und Landschaften denkend an, in Syrien, Afghanistan, Jemen, in den Slums von Lateinamerika, die durch Bürgerkriege zu grauen Todeszonen wurden.

Auch dies wird eher vergessen in diesem „Lehrbuch“: Grau war die Farbe der KZS und der Gulags. Grau war der Rauch, der aus den Öfen in Auschwitz in den schönen blauen polnischen Himmel stieg oder in Dachau noch früher in den schönen heilen bayerischen Himmel. Die Farbe grau dominiert auf allen Schlachtfeldern, weil das rote Blut der Opfer sich mit dem Erdboden vermischt. Von diesem grau und dem politisch gemachten Grauen ist in dem Buch kaum die Rede.

So ist das neue Buch von Sloterdijk sicher vergnüglich zu lesen, sozusagen als Kurzweil, für alle, die ihre innere Langeweile etwas stilllegen wollen. Oder: Man betrachte hierzulande die grauen (kranken, verhärmten) Gesichter der Armen und arm Gemachten, also der Hungernden in den reichen Städten des Westens und überall. Dann wird man eher dazu zu einer Neubestimmung von Grau neigen: Grau wäre vor allem mit grausig oder grauenvoll und vor allem dem Grauen zu verbinden. Davon spricht Sloterdijk in seiner zweiten kurzen Digression, die von einer pessimistischen Grundstimmung geprägt ist: „Der gutwilligste Kosmopolit ist irgendwann müde genug, sich mit (grauen, sehr armen) Ländern zu befassen“, schreibt Sloterdijk, was bei dem geneigten reichen Europäer („Kosmopolit) „bloß mentalen Stress ohne Handlungsoptionen nach sich zieht“ (S. 117). Für Sloterdijk bleibt nur das, so wörtlich, „muddling through“, das Sich-Durchwursteln, als Haltung übrig… Vernünftige – humane Weltgestaltung (als Utopie oder Idee) also passé? Für Sloterdijk scheint das zu gelten. Kant war da sehr begründet ganz anderer Meinung. Dieser defätistische graue Satz Sloterdijks gilt aber nur, wenn einzelne als einzelne „kämpfen“. Er gilt nicht, wenn demokratische NGOs gegen die Allmacht des Kapitalismus kämpfen und die Ärmsten der Armen unterstützen, wie „Ärzte ohne Grenzen“, die ihr Leben riskieren. Aber das Jammern der Wohlhabenden ist vielleicht auch ein graues Thema der Verlogenheit, davon spricht Sloterdijk nicht, er schreibt lieber wie schon in früheren Büchern sehr ausführlich über Gnosis, entdeckt nun dort das Graue oder in der jüdischen Philosophie oder in der Erbsündenlehre und dem Schöpfungsbericht der Bibel. Welche Abschweifungen, welche Bezüge zu früheren Büchern! Nebenbei: Vermissen werden Theater-Freunde den Hinweis auf den wohl entscheidenden Grau-Autor der Gegenwart, auf Christoph Marthaler, man denke vor allem an sein berühmtes und wohl bestes Stück „Murx den Europäer, murx ihn, murx ihn ab“, an der Volksbühne Berlin viele Jahre lang aufgeführt, jetzt leider nicht mehr.
Wenn es schon um eine philosophierend-essayistisch-feuilletonistische Farbenlehre„à la Sloterdijk“ geht, dann sollte jetzt eher die Farbe SCHWARZ, die Farbe des Todes und der Anarchie, im Mittelpunkt stehen und die Drucker-Farbe der Wall-Street-Börseninfos. Aber bitte: Schwarz immer im Kampf mit Grün, als der Farbe der Hoffnung. Aber das als eine Empfehlung für ein kommendes Projekt.
5.
Warum also gibt es eigentlich diese kurzweilige Buch gegen die Langeweile im Grauton, das ziemlich anstrengend ist, man denke an die Lektüre-Mühen bei Sloterdijkschen Endlossätzen, etwa auf den Seiten 230/231 oder 245. Man ist als Leser oft noch über die – sagen wir es ehrlich – Arroganz von Sloterdijk überrascht, wenn er etwa das bekannte und geschätzte Buch „Quellen des Selbst“ (deutsche Ausgabe: 912 Seiten) des Philosophen Charles Taylor „adipös“ nennt (S. 231). Adipös, das weiß auch Sloterdijk, ist die Bezeichnung einer Krankheit. Wenn nun ein Buch eines international angesehenen und vielfach zitierten Philosophen adipös sein soll, ist dann der Autor Taylor vielleicht selbst krank, adiopös, geistig, weil klassisch verfettet, nicht auf dem neuesten Stand? Sloterdijk nennt die „Quellen des Selbst“ von Taylor – seinem Sloterdijkschen absoluten Wert folgend – „unoriginell“ (S. 231). Unoriginell : Das Schlimmste, was ein Mensch sein darf! Man muss fragen: Ist etwa Sloterdijks Buch „Du mußt dein Leben ändern“ mit seinen „nur“ 723 Seiten auch adipös? Sicher nicht, wird er sagen, denn ein Buch sei „originell“. Noch einmal: Warum also ausgedehnte Essays anläßlich der Farbe grau, die sich in Slotderdijkscher Sicht an unbedeutenden Philosophen festklammern, wie etwa an Martin Buber, wobei dessen Beziehung zur Farbe Grau einmal mehr künstlich und konstruiert wirkt. Dass Sloterdijk Martin Bubers Arbeiten „Ergüsse“ nennt, ist einmal mehr Ausdruck der Arroganz. Auch ein anderer jüdischer Philosoph, Emmanuel Levinas, wird kurz und bündig fertiggemacht, von ihm behauptet Sloterdijk: Er gab nur vor, er tat also bloß so, die abendländische Philosophie grundlegend zu kritisieren (S. 238). Auch die Bemühung, André Malraux als Denker des Grau geradezu aufzupeppen, wirkt übertrieben. Man sieht schon, bei dieser „Farbenlehre“ geht es dann doch recht bunt zu.
6.
Aber auch das gibt es, nebenbei: Man schmunzelt oft, etwa wenn Sloterdijk, so wörtlich, von „forcierten Maiandachten“ (S. 267) spricht als Formen des sinnlosen Widerstandes gegen die – selbstverständlich graue – Vergleichgültigung des Bewusstseins. Ich habe übrigens noch nie an „forcierten Maiandachten“ teilgenommen. ….Und man rätselt, was denn der Farbenlehrer Sloterdijk im Zusammenhang von grauer Mystik mit „mystisch überangeregter Standpunktlosigkeit“ meint. Der Leser kommt also immer wieder ins Schwimmen und Schweben, aber das ist wohl gezielt vom Autor, der wohl glaubt: Sehr viel Genaues und Evidentes und Kategorisches weiß man eben nicht. Schweben wir also. Sloterdijk hat wohl deswegen auch nicht den Mut, Angela Merkel – als einer der Farbe grau zuneigenden Politikerin – beim Namen zu nennen, er spricht nur von einer „Person der Kanzlerschaft, die 16 Jahre regierte“. Sie „war zugleich lau (also grau) und machtbesessen“( S. 241). Auch über „transkatholischen Umfang“ (S. 269) wäre zu sinnieren. Man wird den Eindruck nicht los, als wolle Sloterdijk sprachlich glänzen durch oft skurril wirkende, manchmal esoterisch klingende Formulierungen.
7.
Das „Grau-Projekt“ bietet auch etwas ausführlichere philosophische Reflexionen zu Platon, Hegel und Heidegger. Bleiben wir nur bei dem berühmten und immer wieder zitierten Hegel-Wort aus der Rechtsphilosophie: Dem folgend male er seine eigene Philosophie „grau in grau“: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
(Grundlinien der Philosophie des Rechts“, Vorrede vom 25. Juni 1820, Suhrkamp 1070, S 28.) Sloterdijk sieht wohl in diesem Hegelschen-Grau Hegel selbst auf dem Höhepunkt seiner Philosophie, eine Synthese schaffend, als das „vorläufige Ergebnis“. Wenn man es populär sagen will, was Sloterdijk nicht schreibt: Die Dialektik lebt vom Gegensatz von Weiß und Schwarz, und dieser Gegensatz ist farblogisch überwunden im Grau als der Synthese, die dann als graue Substanz bzw. bei Hegel als „graues Subjekt“ dann doch weitere dialektische Lebendigkeit entwickelt. Und ganz neue Grau-Farben erzeugt. Wäre auch ein Thema, um gegen das angebliche “Ende der Hegelschen Philosophie” Einspruch zu erheben.
Auch von Heideggers zweifellos zu wenig beachteten (und weithin lesbaren) Schrift „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ von 1929 spricht Sloterdijk ausführlich, zumal Heideggers Ausführungen zur Langeweile sind erhellend im “Grau-Zusammenhang”.

Dabei wird für mich deutlich eine sympathisierende Nähe des Denkers Sloterdijks zu Heidegger als „Denker“. Aber die jetzt evidente Verbundenheit Heideggers mit den Nazis und der NSDAP wird von Sloterdijk eher großzügig überspielt, wenn er schreibt: “Heidegger fügte sich dem Zwang, (nach dem seine Karriere als Uni-Rektor in Freiburg von der NSDAP beendet wurde, CM), „machtpolitisch im Unscheinbaren Unterschlupf zu suchen“, hübsch harmlos formuliert, und jetzt wird es sehr poetisch bei Sloterdijk: „Vergleichbar einem Täufer mit dem Auftrag, einen Gott anzumelden, der vor der Offenbarung zögert“ (S. 57). Der Heideggersche „kommende Gott“ ist also gemeint, damit sind wir bei den endlosen Debatten über Heideggers Ergüsse (hier stimmt das Wort) zum „Ereignis“, Denkoffenbarungen während der Nazi-Verbrechen. Davon ist in dem Grau Buch Sloterdijks vornehmerweise keine Rede. Aber gerade hier das Grau des Ungefähren und Unverständlichen herauszuarbeiten, wäre sinnvoll gewesen. Heidegger wird nur in Sloterdijks Deutung, so wörtlich „zum alten Seher“ (ebd.), also zu einer Art Prophet gegen die Machenschaften der Technik…Wahrscheinlich spürt Sloterdijk eine starke Nähe zu Heidegger, den er als den „Nicht – mehr – Philosophen“ (ebd.) rühmt, vielleicht, weil sich Sloterdijk selbst auch nicht nur als Philosophen versteht , sondern eher als schreibenden Denker, als „Autor philosophischer Arbeiten” (in: “Nach Gott”, 2018, Seite 300). In dem Buch “Das Sloterdijk – Alphabet” von Holger Freiherr von Dobeneck, (Würzburg, 2006), wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Sloterdijk kein Philosoph sei, sondern eher ein “philosophischer Zeitdiagnostiker und Ideenhistoriker als ein kritisch-systematischer Philosoph” (dort Seite 269).
8.
Trotz mancher Einwände: Einige Hinweise Sloterdijks sind wirklich beachtlich. Auch wenn er das Christentum und die Kirchen als Religion und Lehre ablehnt, entdeckt er doch im Urtext des Neuen Testaments Brisantes, etwa: Wie eine viel tiefer zu verstehende Bitte des Gebetes „Vater Unser“ zu verstehen ist: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ müsste eigentlich auf den griechischen Urtext bezogen übersetzt werden: „Unser überwesentliches, mehr als nötiges Brot, gib uns heute“ (S. 252, Fn. 254). …
9.
Auch dieses neue Buch Sloterdijks enthält weder ein zu erwartendes Stichwort-Register noch eine Liste der zitierten Bücher. Das erschwert ungemein die kritische Arbeit am Text. Das hat vielleicht einen Grund: Slolterdijks „Grauzonenkunde“ (S. 286) nennt sich zwar „Eine Farben-lehre“, aber das Opus ist alles andere als ein Lehr-Buch, bei dem es dann ratsam wäre, etwa Namens -oder Literatur Register anzufertigen. Sloterdijks Buch ist also kein Lehrbuch, wo man sachlich in einer distanzierten-kritischen Sprache Auskunft findet. Es ist das, was er von den Büchern des jüdischen Philosophen Martin Buber behauptet, ein „Erguss“ (S. 233), der sich im Fließen des Textes und in Mitfließen und Schweben erschließt.
10.
Sloterdijk spricht in seinem neuen Buch viel von Indifferenz, als dem Zustand von Grau. Ein wichtiges Buch zum Thema als ein Lesetipp für ihn und andere: Das Buch von Dominik Terstriep, „Indifferenz. Von Kühle und Leidenschaft des Gleichgültigen“, EOS Verlag, 2009.

Peter Sloterdijk, Wer noch kein Grau gedacht hat…. Eine Farbenlehre. Suhrkamp Verlag Berlin, 2022, 286 Seiten, 28 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

Philosophische Stadtspaziergänge: Über das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“.

Von Christian Modehn.

1.
In der fast unüberschaubaren Bücher – Fülle von Stadtführern zu Berlin, aber auch zu Potsdam, hat ein spezieller „philosophischer Begleiter“ auf den Spaziergängen und „Stadterkundungen“ gefehlt. Maurice Schuhmann, promovierter Politikwissenschaftler und nebenberuflich auch Journalist, füllt diese von einigen sicher gespürte Lücke. Er bietet auf 180 Seiten, reich ausgestattet mit Fotos und im Text sehr lesefreundlich, eine Mischung aus Basis-Informationen zu den philosophischen „Größen“ einst. Das neue Buch ist praktisch von Bedeutung, weil es Informationen zu entsprechenden Spaziergängen zu den Orten des Denkens bzw. der Denker aufweist.
2.
Dass in der Stadt Berlin, die im 2. Weltkrieg heftigst zerstört wurde, authentisch – historische Orte, wie etwa zu bestaunende Wohnungen der Philosophen damals, nicht vorgezeigt werden können, ist ein unüberwindbarer Mangel. So kann der philosophisch interessierte Spaziergänger oft nur zu Gedenktafeln, Statuen oder Friedhöfen geführt werden. Wenn man sich denn in einer philosophisch kompetenten Gruppe befindet, mag das ja sogar interessant sein. Hegel wusste ja, dass die Bindung an äußere Gegebenheiten (etwa Wallfahrtsorte, Heiligtümer, Grabmäler etc.) philosophisch nicht sehr relevant ist. Zum Denken können sie allemal anregen!
3.
Natürlich, das Hauptgebäude der Humboldt Universität Unter den Linden ist zu besichtigen oder das Schloß Sanssouci in Potsdam, der bevorzugte Ort, um über die Aktualität Voltaires zu debattieren. Hegels Schreibtisch befindet sich übrigens im Hauptgebäude der Humboldt-Uni! Für philosophische „Anfänger“ sind Schumanns Informationen zu den Philosophen damals, also zu Fichte, Hegel, Schelling, recht ausführlich. Auch von den politisch vielfältig orientierten Hegel – Schülern (wie Karl Marx, Bruno Bauer) ist die Rede. Der schöne Stadtteil Friedrichshagen bei Köpenick hätte in dem weiten Zusammenhang erwähnt werden müssen, mit seinem berühmten „Dichterkreis“ ums 1900, zu dem auch etliche Philosophen und philosophierende so genannte Anarchisten gehörten…
4.
Das Buch bietet leicht nachvollziehbare Informationen zu Philosophen, die seit dem 18. Jahrhundert mit Berlin oder Potsdam, dem Sitz des philosophierenden, trotzdem extrem militaristischen  „Alten Fritzen“,  zu tun hatten. Es werden also allgemeine, lexikalisch knappe Hinweise zu Voltaire, de La Mettrie, Lessing und Moses Mendelssohn geboten. Eine gewisse Vorliebe scheint der Autor zu haben, wenn er etwa Rudolf Steiner mehrfach als Philosophen erwähnt, Steiner hätte wohl eher in ein Buch „Esoterisches Berlin“ gepasst. Unendlich viel wichtiger ist Kant, er hat bekanntlich Berlin nicht besucht, aber in einigen Zeitschriften in Berlin publiziert und mit Berliner Zensurbehörden gekämpft.
5.
Aber es ist die grundlegende Frage: Soll sich ein philosophischer Städteführer auf Menschen, meist „Professoren“ festlegen, die sich selbst Philosophen nannten? Maurice Schuhmann folgt diesem Konzept weithin, wenn er auch einige Literaten erwähnt, wie etwa den Romantiker E.T.A. Hoffmann und sogar … Christopher Isherwood. Wo nun die philosophische Dimension in dessen Werk zu entdecken wäre, wird leider nicht gesagt.
6.
Würde man hingegen einen weiten Philosophie – Begriff anwenden, dann hätten viel mehr philosophisch relevante Autoren und Künstler, Soziologen und Theologen hinsichtlich ihrer oft impliziten Philosophie erwähnt werden müssen. Georg Simmel, Ernst Troeltzsch, ja warum nicht auch Theodor Fontane in Verbindung mit Schopenhauer oder Walter Benjamin, der in der Grunewalder Delbrückstr. als Kind lebte. Sein Name taucht in dem Buch gar nicht auf.
Erst ein breiter Philosophiebegriff kann die umfassende Bedeutung von philosophischem Denken zeigen, sie findet bekanntlich nicht nur dort statt, wo Philosophie draufsteht.
7
Ich finde es bedauerlich, dass jetzt nur ein „philosophiegeschichtlicher Städteführer“ vorliegt, wie der Titel exakt mit dem Focus „Geschichte“ betont. Das heißt, die gegenwärtige Lebendigkeit selbst der sich explizit nennenden Philosophie erlebt der Städtespaziergänger nicht. Philosophie ist auch in Berlin nichts Vergangenes. Kein Wort in dem Buch über die gar nicht so ferne Zeit der grausigen DDR Philosophie an der Humboldt Uni; kein Wort, zu dem bedeutenden Religionsphilosophen Romano Guardini, der als Katholik, in den zwanziger und dreißiger Jahren an der Universität Unter den Linden lehren durfte und in Berlin unter anderem in Eichkamp wohnte. Aber auch in der heutigen Gegenwart hätten einige – auch international geschätzte – PhilosophInnen genannt werden können, wie etwa Volker Gerhardt von der H.U. Man hätte doch auch das Philosophische Seminar an der FU in Berlin – Dahlem erwähnen können, in einem durchaus inspirierenden Gebäude (von Hinrich Baller, 1983 errichtet) untergebracht. Peter Bieri (alias Pascal Mercier „Nachtzug nach Lissabon“) lehrte an der F.U. sowie die unvergessenen großem Philosophen Wilhelm Weischedel und vor allem Michael Theunissen. In der Bewegung rund um den “Mai 68” war etwa Herbert Marcuse häufig als Gastprofessor der FU in Berlin, ebenso der Philosoph Paul Feyerabend.
8.
Das Buch „Geistreiches Berlin und Potsdam“ ist trotz gewisser Begrenztheiten für die berühmten „weiten Kreise“ ein erster Start, über die Rolle von Philosophie in der Stadt Berlin oder in der Landeshauptstadt Potsdam nachzudenken. Man wird sich zum Beispiel fragen: Warum gibt es in Deutschland Literaturhäuser und Kunsthäuser, aber kein „Haus der Philosophie“, wie etwa in Paris oder Toulouse seit Jahrzehnten. So ganz ernst meinen es die Politiker und die Kulturpolitiker wohl doch nicht, wenn sie gelegentlich auf die Philosophie in Berlin oder Potsdam hinweisen. Dass es private „philosophische Salons“ in Berlin seit einigen Jahren gibt, hätte erwähnt werden können. Wenn es einmal ein Philosophie-Haus in Berlin geben sollte, wird darin sicher die interkulturelle und multikulturellen Dimension zum Ausdruck kommen. Dass in dem Buch nicht auf die Präsenz nicht-deutscher PhilosophInnen in Berlin auch früher schon hingewiesen wird, wird man sehr bedauern, russische Philosophen waren nach dem Sieg der Sowjets in Berlin, Nikolai Berdjajew hatte seine eigene „Religionsphilosophische Akademie“, der Franzose Jean Paul Sartre war 1933/34 hier, auch Ortega y Gasset studierte in Berlin usw.

Man sieht auch an diesen Beispielen, wie viel “Potential” sozusagen noch in dem Thema “Philosophishcer Stadtführer durch Berlin” steckt…
9.
Man wünscht dem Buch weite Verbreitung, und eine zweite erweiterte Auflage, auch mit der Korrektur etwa der Daten zu Gotthold Ephraim Lessing, Seite 29, aber das nur wirklich am Rande. Zur Stadt Bamberg liegt bereits ein philosophischer Stadtführer vor, vielleicht ist nun auch das Berlin-Buch ein Start für eine umfassende Serie „philosophischer Stadtführer“.

Geistreiches Berlin und Potsdam. Ein philosophiegeschichtlicher Städteführer“. Von Maurice Schuhmann. Hendrik Bäßler Verlag Berlin, 2021, 151 Seiten mit zahlreichen Fotos, Hardcover, 19,80 Euro.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Frieden schaffen: Ein kategorisch geltender Imperativ. Kant als Philosoph des Friedens!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 7. Mai 2022

„Ein bloßer Waffenstillstand, also ein Aufschub der Feindseligkeiten, ist nicht FRIEDE, der das Ende aller Feindschaft bedeutet“.

Zur Einstimmung sagt Immanuel Kant:

„Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören“.

„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen States gewalttätig einmischen“.

„Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: Als da sind: Anstellung der Meuchelmörder, Giftmischer, Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats in dem bekriegten Staat“.

„Ein Ausrottungskrieg (Vertilgung beider Seiten) würde den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhof der Menschengattung stattfinden lassen können“.

Der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) hat diese Sätze geschrieben. Erstaunliche Erkenntnisse auch heute, sozusagen Negationen, die als Bedingungen für einen dauerhaften Frieden formuliert sind. Kant nennt sechs solcher „Präliminarartikel“, Hinweise also, die als Bedingungen einen dauerhaften Frieden ermöglichen.

1.
Seine außergewöhnliche und hervorragende Leistung im Denken hat Kant auch in seiner Publikation „Zum ewigen Frieden“ im Jahr 1795 einmal mehr bewiesen. Diese Schrift hat gleich nach der Veröffentlichung eine ungewöhnlich große öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, trotz aller Einschränkungen, die die Zensurbehörden androhten. Der eher knappe „Entwurf“ Kants zeigt: Wie weit reichend er als kritischer Philosoph zu Zeiten üblicher Kriege klar Bedingungen nennen kann für einen dauerhaften Frieden. Diese Erkenntnisse waren damals und sind heute sicher provozierend, d.h aus Üblichkeiten der Denkzwänge heraus-rufend.
2.
Wenn Kant seinen Text „Entwurf“ nennt, meint er damit das „Erdenken“ der Wirklichkeit, die den Namen Frieden verdient. Kant entwickelt seinen „Entwurf“ aus den ihm eigenen philosophischen Prinzipien. Sie sollen aus dem Begriff der allen Menschen gemeinsamen Vernunft entwickelt werden, also, wie Kant sagt, „transzendental a priori“, also universal, gelten.
Wenn Kant seinenText mit dem Begriff „ewig“ aufwertet, dann will er damit nicht die himmlischen oder die göttlichen Sphären miteinbeziehen, er „meint vielmehr damit einen Frieden ohne jeden Vorbehalt, den Frieden schlechthin“ (Otfried Höffe).
3.
Kant hatte Ende des 18.Jahrhunderts für die Publikation „Zum ewigen Frieden“ wohl auch den Krieg zwischen Frankreich und Preußen vor Augen, einen Krieg, in dem auch Österreich und England involviert waren. Kant nahm dieses Geschehen zum äußeren Anlass, Prinzipien für den Frieden zu entwickeln, er äußert nicht eine politische Meinung, sondern formuliert philosophisch sich zeigende Notwendigkeiten, die Frieden ermöglichen. Es ist dieser universale Anspruch Kants, der auch heute inspirieren kann.
Kants Erkenntnisse sind zwar zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Kultur formuliert wurde, aber trotz der regionalen Herkunft beanspruchen sie als Vernunftargumente universale Gültigkeit. Einige von Kants Überlegungen können auch im Zusammenhang des von Russland inszenierten Vernichtungskrieges gegen die Ukraine relevant sein.
4.
Dies gilt um so mehr, wenn man auch den längeren „zweiten Abschnitt“ des Textes „Zum ewigen Frieden“ berücksichtigen. Er enthält die drei „Definitiv-Artikel“, also solche Hinweise, die eine Friedensordnung bestimmen sollten. Kant zeigt sich als Meister, der auf Fakten hinweist, die oft im politischen „Alltagsgeschäft“ übersehen werden. Er
macht auf etwas aufmerksam, was oft im Eifer der Debatten übersehen wird: Es gibt nämlich, wie er sagt, durchaus eine Art Huldigung eines jeden Staates dem Begriff des Rechts gegenüber. Diese Akzeptanz bzw. Hochschätzung des Rechts leiste jeder Staat „wenigstens dem Worte nach“. Aber dieses Faktum„beweist doch“, schreibt Kant weiter, „dass eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei“. Das ist entscheidend: Es muss darauf gehofft werden, dass selbst im übelsten Kriegsherren noch ein Rest der allgemein menschlichen Anlage vorhanden ist. Nur unter den Bedingungen kann überhaupt ein Dialog stattfinden. Darauf weist Kant hin: Dass also das Böse im Feind nicht total ist, sondern dass das Gute, also durch die jedem Menschen gegebene moralische Anlage, auch im Feind weiter wirkt, „denn sonst würde das Wort RECHT den Staaten, die einander befehden wollen, nie in den Mund kommen“. Aber dann fügt Kant einschränkend hinzu: „Es sei denn, bloß um seinen Spott damit zu treiben“. (zit. Immanuel Kant, Zu ewigen Frieden, Fischer Taschenbuch Verlag 2008, S. 166). Eine ambivalente Situation also, die auch im „Fall Putin“ zutrifft.
5.
Frieden kann es „auf immer“ geben, betont Kant schon 1795, wenn die Menschheit im Rahmen des Völkerrechts – über alle einzelnen Friedensverträge hinaus, zum „Friedensbund“ kommt, „der alle Kriege auf immer endigen“ sollte (a.a.O., S 167).
6.
Frieden zu schaffen, dauerhaften, ewigen, ist für Kant nicht eine Art Hobby, dem sich einige Menschen widmen können, während andere eben etwas anderes tun. Frieden zu stiften (mehr als Waffenstillstand auszuhandeln) ist eine kategorische Pflicht eines jeden Menschen.
„Die Friedensstiftung hat für Kant den Rang einer rechtsmoralischen Pflicht. Es liegt jener kategorische Rechtsimperativ vor, den man den kategorischen Friedens-Imperativ nennen kann“ (Otfried Höffe, a.a.O., S. 19). Wenn „Frieden schaffen“ für jeden kategorisch gilt, dann führt die Erkenntnis dieser ethischen Pflicht auch in eine Dimension, die Kant göttlich nennt. Er schreibt: „Religion ist die Erkenntnis all unserer ethischen Pflichten als göttlicher Gebote“ (Kant in seiner „Religionsschrift, B 230). Mit anderen Worten: In den ethischen Pflichten wird die Idee Gottes also vernehmbar… „Nur ein Mensch, der sich bemüht, ethisch gut zu sein, kann hoffen, Gott wohlgefällig zu sein“. Frieden schaffen ist insofern eine göttliche Pflicht für die Vernunftreligion.
7.
Kants Schrift ist knapp und vielschichtig, sie steht im Horizont des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das noch stark von den Ereignissen und Folgen der Französischen Revolution bestimmt ist. Etliche der von Kant angesprochenen Themen bewegen „uns“ im 21. Jahrhundert nicht mehr, aber, wie gesagt, die Schrift „Zum ewigen Frieden“ bietet Erkenntnisse, die auch heute zu denken geben. Die Schrift enthält auch einen Anhang, in dem auch heute Wichtiges gezeigt wird: Politik und Staatslehre, und damit auch Friedenspolitik, sollen Anwendung und Praxis der Vernunft-Moral sein. Politik und Moral gehören also zusammen! Die Vernunft – Moral (verstanden als selbstverständliche Bindung auch der Politiker an den Kategorischen Imperativ) darf der Politik nicht untergeordnet werden. Nur eine Rechtsordnung kann Freiheit für alle schaffen, der ewige Friede als Ideal und Ziel kann niemals ohne eine umfassende Rechtsordnung erreicht werden. Schon 1784 hat sich Kant in seinem Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht“ für einen „Völkerbund“ eingesetzt. Im zweiten Definitiv-Artikel der Schrift „Zum ewigen Frieden“ spricht dann Kant vom „Friedensbund“ (S. 166 f.). Er sucht zu zeigen, „alle Krieg auf immer zu endigen“. Ein „Völkerrecht“, das als „Recht zum Kriege“ konzipiert ist, „lässt sich eigentlich gar nicht denken“, dies ist wichtig für Kant. Wenn sich zu einem Thema gar nichts Vernünftiges denken lässt, dann ist das Thema selbst als solches unvernünftig. D.h.: Ein „Recht zum Kriege“ ist also eine Wahnvorstellung. Wenn Staaten Frieden wollen, müssen sie ihre gesetzlose wilde, wie Kant sagt, also egoistische Freiheit aufgeben. Sie müssen sich zu öffentlichen Gesetzen „bequemen“, wie Kant sagt, und diese Gesetze, die zu einem Völkerbund führen, wie eine Art Zwang zur Überwindung ihrer eigenen kriegerischen Gesinnung anerkennen. (S. 168).

PS.: Wenn hier betont wird, Moral soll das politische Handeln bestimmen, so ist hier selbstverständlich immer die Vernunft – Moral im Sinne Kants gemeint, nicht die von Kirchengeboten bestimmte konfessionelle Moral der etablierten Religionen! Diese religiösen Moralvorstellungen dürfen niemals unvermittelt einen dmokratischen Staat bestimmen!
8.
Diese Erkenntnis Kants hat sich keineswegs durchgesetzt, auch nicht unter Philosophen und Literaten.
Nur zwei Beispiele, hier nur kurz angedeutet: .
Hegel schreibt schon in seinem Naturrechtsaufsatz von 1802, dass nicht nur der Frieden, sondern auch der Krieg absolut notwendig sei.
In seiner „Rechtsphilosophie“ (§324) wiederholt Hegel diese These. „Hegel kennt kein kategorisches Gebot der Vernunft, es soll kein Krieg sein“, so Walter Jaeschke, Hegel Handbuch, Metzler Verlag, S. 367. Selbst wenn Hegel die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges nicht kannte und auch nicht die totale Zerstörungskraft der Atombomben: Es ist schon erstaunlich, dass sich Hegel auch am Beispiel des Krieges in seiner „Rechtsphilosophie“ von 1821 zu der Aussage versteigt: Durch einen Krieg „werde die sittliche Gesundheit der Völker erhalten“. Und dann folgt zur Illustration dieser ungeheuerlichen abstrakten Aussage ein Bild aus der Natur, was für Hegel ungewöhnlich ist, der sonst die geistige Welt, also auch die politische Welt eines Krieges ,nur mit Begriffen des Geistes beschreibt. Nun also hier, im genannten §324, der Vergleich mit der Natur: Wie die Natur die See (das Meer) „durch die Bewegung der Winde vor der Fäulnis“ bewahrt, so könne es auch unter den Menschen und Staaten Fäulnis geben als Form „dauernder Ruhe“, eben in der Form „eines dauernden oder gar ewigen Friedens“. Frieden kann Hegel, der zwanghafte Dialektiker, nur als Stillstand denken, Lebendigkeit, so darf man schließen, gibt es für ihn nur als Dialektik, und die Dialektik ist eben auch der Krieg, der vor „Fäulnis schützt“. Ein abstoßend zwanghafter Gedanke, der Kants Erkenntnisse ablehnt.
9.
Nur ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert: Ernst Jünger ist ein auch von CDU Politikern, wie Helmut Kohl, hoch geschätzter Literat, der zugleich einer der leidenschaftlichsten Verteidiger des „Wertes des Krieges“ war. In seinem grundlegenden Buch „Der Arbeiter“ (1932) zeigt Ernst Jünger, dass der (Erste) Weltkrieg eine Art positives Schlüsselerlebnis für ihn wurde, der Krieg befördert den Untergang der alten bürgerlichen Welt. „Im Akt der Zerstörung (als Krieg) findet Jünger die, so wörtlich, feurige Quelle eines neuen Lebensgefühls… und es gehört zu den hohen und grausamste Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein, soweit das Zitat aus Ernst Jüngers Buch „Der Arbeiter“. Das Zitat wurde dem Buch „Die Apokalypse in Deutschland“ von Klaus Vondung entnommen, DTV 1988, S. 385.
Diese Vernichtung also begrüßt Jünger, das Sich-Opfern im Krieg sieht er als Form der Erlösung. Der Mensch muss zum Blutopfer bereit sein. Helmut Kiesel schreibt in seinem Aufsatz über die Publikation „Stahlgewitter“ von Ernst Jünger: „Tatsächlich hat Jünger den Krieg als einen naturgegebenen Modus des menschlichen Zusammenlebens und der geschichtlichen Entwicklung betrachtet und zeitweilig sogar bejaht. Erst in den dreißiger Jahren wurde ihm der Glaube an die vermeintlich konstruktiven Seiten des Krieges fragwürdig“ (Quelle: https://literaturkritik.de/id/18872).
10.
Über die Wirkungsgeschichten der von Hegel eher nur am Rande propagierten Ideologie des Krieges wie vor allem der den Krieg preisenden Werke Ernst Jüngers müßte weiter geforscht werden.
In jedem Fall ist es philosophisch und auch ethisch und politisch um des Überlebens der Menschheit willen geboten, wenn man denn schon Philosophen zum Thema Krieg und Frieden bemüht, sich vor allem an einige der genannten grundlegenden Aussagen Kants zu halten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Die Grenzen des Verstandes: Novalis wurde vor 250 Jahren (am 2. Mai 1772) geboren.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Warum sollten wir uns jetzt an den Dichter und Philosophen Novalis (also an Friedrich von Hardenberg) erinnern, anläßlich seines 250. Geburtstages am 2. Mai (gestorben ist Novalis schon im Alter von 29 Jahren am 25.3.1801)?

1.
Wir dürfen in diesen Zeiten unseren Geist jetzt nicht fixieren lassen, so furchtbar auch der Krieg Putins gegen die Ukraine und die freie, demokratische Welt ist. Es ist für „uns“, im noch sicheren Westeuropa, hilfreich, inmitten der Ängste, einmal auf etwas ganz Anderes zu schauen, zum Beispiel auf die Philosophie und die Poesie der Früh-Romantik. Auf Novalis.
2.
Novalis hat leider nur kurze Zeit die Menschen mit seinem Denken inspirieren können, er ist als ein junger, hochbegabter Dichter und Philosoph der „Frühromantik“ viel zu früh gestorben.
Anläßlich seines Geburtstages sollten wir uns fragen: Was wissen wir eigentlich von der Romantik bzw. der Frühromantik in Deutschland?
Romantik ist alles andere als ein Gefühlsrausch, eine Lust am Irrationalen, am Phantastischen, wie ein volkstümlich-naiver Begriff meint. Die (Früh-)Romantik ist keine pauschale Ablehnung des Denkens, sie ist etwas anderes als der Rückzug in eine angeblich „schöne Innerlichkeit“. Es geht um die Erfahrung der Tiefe des Lebendigen, des Zusammenhangs der Einheit von allem, das meint wohl die von Novalis genannte „Romantisierung der Welt“: „Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar…“ Nur so können Gegensätze zusammengeführt werden.
Die Selbstcharakterisierung der Romantik „ist in einem revolutionierenden, progressive, neue Standards setzenden Sinn verstanden worden“ (zit. Romantik, Enzyklopädie Philosophie III, S. 2345).
3.
Das steht im Zentrum: Ohne eine gründliche und kritische Auseinandersetzung mit dem Absoluten im menschlichen Leben, mit Gott, gibt es keine Romantik. Diese Auseinandersetzung ist alles andere als ein metaphysisches Hobby einiger weniger.
Weil es zum Menschen gehört, kommt es darauf an, sich den Sinn für das Heilige zu bewahren, und angesichts von Krieg und aller Gewalt auf ein universales, ein humanes Christentum nicht nur zu hoffen, sondern den Frieden vorzubereiten. Der persönliche Glaube ist dabei entscheidend, nicht etwa die kirchliche Institution!
4.
Die Dichter und Philosophen, und mit ihnen Novailis, die um 1800 begannen, neu zu denken, wollten also eindringlich zeigen: Das menschliche Dasein ist eingebunden in einen weiten Zusammenhang, zu dem auch die Erfahrung des Absoluten, Göttlichen, gehört. Für Novalis ist entscheidend: Es gibt im Dasein „zwei Welten“, damit meint er das Erleben des Irdischen, Weltlichen UND das Erleben des Geistlichen, Spirituellen, Religiösen. Diese „Welten“ sind miteinander verbunden. Vor allem die Kunst bringt die geistliche Welt zum Ausdruck. Sie spricht von der Überwindung des Todes, der Unsterblichkeit der Seele, das ist für Novalis entscheidend. Darum kann er vom Christentum sagen: „Dies ist der Botschaften fröhlichste“, die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Das Gedicht „Das Lied der Toten“, kurz vor seinem Tod geschrieben, ist „Novalis` außerordenlichstes poetisches Werk“, so der Novalis Spezialist, Prof.Gerhard Schulz in seinem Buch „Novalis“ 2011, S.255. Das Gedicht verbindet christlich geprägte Todes-Mystik und Erotik. Im November 1800 schreibt Novalis:“Religion ist der große Orient in uns, der selten getrübt wird. Ohne Religion wäre ich unglücklich.So vereinigt sich Alles in Einen großen friedlichen Gedanken, in Einen stillen, ewigen Glauben“ (zit. in Schulz, a.a.O, S. 273.). Die „blaue Blume“ aus dem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis wurde zum Symbolder rmantischen Sehnsucht nach dem Göttlichen…
5.
Novalis hatte die Begabung, seinen ihm eigenen Glauben, seine ihm eigene Verbindung mit dem Göttlichen, als seine eigene, auch erotisch geprägte Lebenserfahrung auszusprechen. Dabei grenzte er sich vom überlieferten dogmatischen Kirchenglauben ab. Vermittler der Transzendenz, des Göttlichen, ist für ihn nicht so sehr Christus als der „klassische Erlöser“. Vermittler zu Gott ist – provokativ damals – auch die Geliebte, gerade in der erotischen Liebe wird das Göttliche berührt. Das gilt für Novalis um so mehr nach dem Tod seiner geliebten Verlobten Sophie von Kühn (gestorben am 19.3.1797). In den „Hymnen an die Nacht“ (veröffentlicht 1800) spricht Novalis eindringlich davon.
6.
Entscheidend fürs Denken Novalis` sind seine philosophischen Studien (der auch Bergmann, Salinentechniker und Jurist war) in Jena. Ihm gelang es danach, aus der Philosophie in die Dichtung, die Poesie, zu gelangen.
Philosophie hat er von Oktober 1790 bis Oktober 1791 In Jena studiert vor allem bei Carl Leonhard Reinhold, der als Kant-Interpret bekannt ist und als Begründer der so genannten Elementarphilosophie. Reinhold hat ihn mit Fichtes Philosophie vertraut gemacht, er lernte dort auch Friedrich Schiller näher kennen.
7.
Novalis aber hat sich der Subjektivitätsphilosophie nicht angeschlossen, die meinte aus der Analyse des Subjekts sozusagen die Welt zu konsstruieren. Für Novalis gilt:
„Frühromantisch heiße dagegen die Überzeugung, wonach das Subjekt selbst und das Bewusstsein, durch das es sich kennt, auf einer VORAUSSETZUNG beruhen, über die die Menschen nicht verfügen“, so der Philosoph Manfred Frank, in: „Auswege aus dem Deutschen Idealismus“, Suhrkamp 2007, S 68).
Das heißt: Das Absolute lässt sich – für Novalis – nicht mit einem definitiven Gedanken fassen, das Absolute ist kein Besitz der Reflexion, es ist eher eine kantische Idee. “Wir streben ihr unendlich nach, können sie aber nicht demonstrativ darstellen. Ein berühmtes Novalis-Wort von 1797 besagt: Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge (zit. M. Frank, a.a.O, s 69).

Wesentlich für die romantische Lebensform ist das Suchen, das Unterwegsein, bekannt und viel zitiert: das Wandern. „Wenn sie ihr Ziel erreicht haben, hören sie auf, Romantiker zu sein; sie fangen dann an, Philister zu werden“ (Jochen Hörich in“ Figuren des Glücks in der Romantik. Wanderung ins Anderswo“, Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch Stuttgart 2011, S. 219).
Wer an seinem Ziel angekommen ist, der ist dann auch am Ende. Unterwegsein ist das Ziel, der Lebenssinn.. Das ist das Glücksgefühl der Romantiker, im Unterwegsein das Ziel wahrzunehmen. Diese Lebensform wird als solches bejaht, der Klagetopos „wäre ich nie geboren“ passt nicht in diese romantische Haltung. Das große Glück kann hier und jetzt erlebt werden, vor allem in den Augenblicken der Liebe.

8.
Für das philosophische Denken ist der Begriff „Fragmente“ als Denkform entscheidend. Novalis betont: Allwissend kann der Philosoph nicht sein, auch in einem System lässt sich die Wahrheit nicht abbilden. Was der Philosoph im Erkennen ausspricht, bleibt relativ. Und wenn man philosophiert, dann sollte der Philosoph es in Gemeinschaft tun
9.
Diese Denkform des Fragments widerspricht dem Denken Hegels als einem „System-Philosophen“.
Hegel wirft der Romantik im allgemeinen Verirrungen des Geschmacks und eine Missachtung des Objektiven vor, so vor allem in seiner Rezension zu „Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel“, 1826.
In den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ spricht Hegel nur kurz von Novalis, er fügt dessen Denken in die „Religiöse Subjektivität“ ein. Ihr unterstellt Hegel eine „Verzweiflung am Denken, an Wahrheit, an und für sich seiender Objektivität, man verlässt sich auf seine Empfindungen, zumal religiöse Empfindungen“. Novalis ist für Hegel der Denker der „Sehnsucht einer schönen Seele“, die mit dem „Weben und Linienziehen in sich selbst“ befasst ist, und Hegel geht in seiner Verurteilung noch weiter: „Diese Extravaganz der Subjektivität (bei Novalis) wird häufig Verrücktheit“ (Suhrkamp, Werkausgabe, Band 20, S 418). Hegel konnte sich das Denken Gottes außerhalb seines Systems offenbar nicht vorstellen. Bescheidenheit im Denken an Gott war ohnehin nicht seine Sache.

10.

Die Christenheit oder Europa“ hat Novalis 1799 verfasst, diese Rede (auch ein Fragment) wurde dann erst post mortem 1802 in Auszügen veröffentlicht und 1826 vollständig publiziert. Es gab schon gleich nach Bekanntwerden dieser Schrift 1799 Bedenken zur Veröffentlichung, weil der protestantisch geprägte Freundeskreis von Novalis (er selbst, Friedrich von Hardenberg, auch ein eher pietistischer Protestant) vermutete, dass  zu viel Ehre und Bedeutung dem Katholizismus zuteil werde. Dabei dachte Novalis wohl eher an eine Christentum, das von seinen konfessionellen Grenzen (wie dem Papsttum) befreit ist. Der romantische Dichter Ludwig Tick sagte 1837, diese Vision von Novalis sei „ein unnützer Aufsatz“, ähnlich hatte sich auch Goethe geäußert. Wilhelm Dilthey hat dann später noch daran erinnert, dass dieser Europa – Text der restaurativen Politik der Fürsten im frühen 19. Jahrhundert als Ideologie gedient habe. Darin erträumt sich Novalis eine politische Utopie, die sich stark an seinem Vorbild der mittelalterlichen Ordnung orientiert. Für die eigene Gegenwart schrieb Novalis diese Vision, dabei war er bestimmt durch die in seiner Sicht verheerenden Wirkungen und Einflüsse der Französischen Revolution und der französischen Aufklärungsphilosophie. Veranlasst zu diesem Traum von einem christlich geeinten Europa wurde Novalis durch die Schrift von Schleiermacher „Über die Religion“. Jedenfalls erhoffte sich Novalis eine neue europäische Friedensordnung durch eine gemeinsame europäische christliche Religion. Sie sollte so etwas wie ein gemeinsamer Nenner der verschiedenen Nationalstaaten werden. Schon damals problematisch war der Eindruck, als leugne Novalis die Pluralität der Religionen in Europa als besten Beleg für Religionsfreiheit und Toleranz…

Ein Zitat aus dem Text von 1826 in der damaligen Schreibweise:
„Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird. Sie muß das alte Füllhorn des Seegens wieder über die Völker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwürdigen europäischen Consiliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung, nach einem allumfassenden, göttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestiren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden. (http://www.zeno.org/Literatur/M/Novalis/Essay/Die+Christenheit+oder+Europa)
Diese Friedens- Zeit für Europa werde eines Tages kommen, Geduld sei nötig, meint Novalis. „Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod“

11.
Dieser Hinweis nennt nur einige Aspekte der aktuellen Bedeutung von Novalis.

Zum Schluss ein Gedicht aus den „Hymnen an die Nacht“ (aus der 5. Hymne), als Beispiel für die Spiritualität Novalis`. Darin äußert er dann doch eine gewisse Art genauerer Kenntnis der ewigen himmlischen Welt: Aber diese mitgeteielte “Kenntnis” ist Sehnsucht, ist Hoffnung.

„Getrost das Leben schreitet
zum ewgen Leben hin;
Von innrer Glut geweitet
Verklärt sich unser Sinn.
Die Sternwelt wird zerfließen
Zum goldnen Lebenswein,
Wir werden sie genießen
und lichte Sterne seyn
Die Lieb‘ ist frei gegeben.
Und keine Trennung mehr
Es wogt das volle Leben
wie ein unendlich Meer
Nur eine Nacht der Wonne –
ein ewiges Gedicht
Und unser aller Sonne
ist Gottes Angesicht.“

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

 

 

 

Putin – der Nihilist.

Ein philosophischer Hinweis von Christian Modehn am 10.4.2022.

Ergänzung am 10.5.2022. Nach der Rede Putins am 9. Mai 2022: 

– Putins Rede ist eine einzige Lüge.

– Putin zeigt einmal mehr, dass er von der Lüge total beherrscht ist. Weiß er noch, dass er lügt? Die totale Lüge ist ein Zeichen des Nihilisten.

– Putin will einen Krieg gegen die Ukraine (und den Westen), der sich in die lange Dauer, in die Länge zieht. So kommen immer mehr Menschen ums Leben. Aber das ist ihm egal. So werden immer weniger Menschen in Afrika z.B. Weizen aus der Ukraine beziehen können. So werden die Nerven aller Demokraten weltweit immer mehr strapaziert. Alle reden nur noch von Putin. Die Welt wird insofern “klein”, fixiert auf einen Verbrecher, falls Mister Trump, auch ihn nennen viele einen Verbrecher, nicht wieder das Feld beherrscht.

– So wird einmal mehr evident: Wer nach “dem” Bösen”fragt, verstehe dies bitte als eine personale Bezeichnung, bezogen auf einen Menschen, es geht um den bösen Menschen. Was denn sonst? Wer glaubt denn noch an metaphysische Kräfte DES (neutral  verstandenen) BÖSEN? Etwa an die Erbsünde? Soll den denn der Verbrecher Putin ein Beispiel für die Relevanz der Erbsünde (Adam und Eva) sein? Wie lächerlich, diese Vorstelling.

– Es sind immer nur Menschen, die sich in ihrer Freiheit entscheiden, total böse zu werden. Das erleben wir auch bei Putin. Und seinen Getreuen, auch in den Kirchen, wie dem so genannten Patriarchen Kyrill I. Er darf sich immer noch Christ und sogar seine Heiligkeit nennen. Die Kirchen des Westens sind zu schwach, zu ängstlich, diesen Kriegstreiber aus der Ökumene der Christen raus zu schmeißen.

– Und auch Papst Franziskus hat Verständnis für Putin, der in päpstlicher Sicht von der Nato bedroht ist. Sind das erste Anzeichen päpstlicher Verkalkung? Wahrscheinlich, und ein bißchen verständlich bei einem Alter von 85 Jahren… So wird eine Weltkirche, eine Organisation mit 1,4 Milliarden Mitgliedern,  “regiert”? LINK

…………..

1.
Philosophische Kommentare zu Putin, seinem Krieg gegen die Ukraine und die Demokratien der westlichen Welt insgesamt, sind zwar nicht zahlreich, können aber eigene Relevanz haben. Denn philosophierend versuchen wir die Gegenwart auf den Begriff zu bringen. Jetzt im Krieg Russlands gegen die Ukraine muss man die wichtigste ethische und menschliche Haltung des obersten Kriegsherren Wladimir Putin freilegen.
2.
Ein Begriff ist dabei entscheidend: Der Nihilismus. Dass mit Nihilismus etwas grundlegend anderes gemeint als mit dem philosophischen und religiös/mystischen Begriff NICHTS versteht sich von selbst und muss hier nicht entwickelt werden.

Ein Nihilist glaubt unbedingt an die Allmacht der Zerstörung. Wenn er andere tötet, geschieht dies in Gleichgültigkeit und Gewissenlosigkeit. Andere Menschen, alles Lebendige, sind für den Nihilisten nichts als wertlose Objekte, die dem Täter zur Verfügung stehen und vernichtet werden können. Der Nihilist gibt vor, dass ihn Ideologien leiten, wie Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus usw., tatsächlich aber ist für ihn die Lust an der Zerstörung, das Hinabstürzen von Allem ins Nichts, ins total Leere, entscheidend. Aus „diplomatischen“ Gründen bekennen das Nihilisten nicht so deutlich, sie verschleiern ihre Destruktivität noch mit vielen Worten, ein letzter Rest von moralischem Bewusstsein?
3.
Erich Fromm, der Psychoanalytiker und Philosoph, hat den Nihilisten den Nekrophilen genannt, den Menschen, der alles Tote mehr liebt als das Lebendige und die lebenden Menschen. Für Erich Fromm gibt es zwei entscheidende menschliche Existenzformen: Die Biophilie und die Nekrophilie, in ähnlicher Form lässt sich die Existenz auch im Modus des Habens (Besitzers, Herrschers) oder im Modus des Seins (Leben, Lieben) aussagen. In totalitären Systemen lebt der Herrscher seinen Sadismus aus in dem „Wunsch, andere leiden zu machen oder sie leiden zu sehen.. Das Ziel dieser Sadisten ist, andere aktiv zu verletzen, zu demütigen, in Verlegenheit zu bringen oder sie in peinlichen oder demütigenden Situationen zu sehen“ (Erich Fromm, zitiert in Rainer Funk, Mut zum Menschen, Stuttgart 1978, S. 65). Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, zuletzt etwa den monströsen surrealen Tisch, an den sich demokratische Politiker offenbar ohne weiteres setzten, der belorussische Diktator wurde von Putin zur gleichen Zeit an einem gemütlichen runden, kleinen Tisch empfangen….
4.
Hier wird vorgeschlagen, nicht so sehr den im ganzen auch hilfreichen psychologischen Interpretationsvorschlägen von Erich Fromm zu folgen, sondern eher den philosophischen Begriffen … und Putin als einen Nihilisten zu verstehen, als einen Menschen, der von der Lust am Nichts , also von einer lange geplanten totalen Vernichtung des Lebendigen, des Demokratischen, beherrscht ist. Diese nihilistische Destruktivität als Hauptmerkmal gilt, selbst wenn Putin noch viel von der alten Ideologie der „russischen Welt“ phantasiert oder von der orthodoxen Religion oder sogar von den Werten des Christentums (gegen den angeblich atheistischen Westen) spricht.
5.
An den Taten erkennt man den Nihilisten, nicht an seinen Worten.
In Putins Angriffskrieg gegen den selbständigen Staat Ukraine fällt auf: Die von ihm heiß begehrten, angeblich russischen Regionen im Osten der Ukraine, vor allem die Städte dort, werden von ihm im Krieg total zerstört, Städte also, die er angeblich mag und für sein Imperium nutzen will. Welch ein Widerspruch!
Es sind barbarische Taten, die da sein Militär begeht.
Putin als Sadisten freut es offenbar, dass in der geplanten Zerschlagung der Ukraine zugleich auch die „Kornkammer des Planeten“, wie es treffend heißt, vernichtet wird und dadurch „ein Hurrikan des Hungers“ (so UN-Generalsekretär Guterres) erzeugt wird. Der russische Diktator verkündet gleichzeitig einen Getreide-Exportstopp aus Russland bis zum 30.6. 2022, eine weitreichende Hungerkatastrophe zumal unter den Menschen in Nordafrika (Käufer russischen Weizens) wird bewusst vorbereitet. Stalin hatte schon einmal eine der schlimmsten Hungerkatastrophen realisiert: 1933 verhungerten in der Ukraine auf seinen Befehl dreieinhalb Millionen Menschen, „Holodomor“ wird das totale Verbrechen genannt.. Auch Stalin war ein Nihilist. Dass ihm seine kommunistische Ideologie nichts bedeutete, zeigte sich an seinem Pakt mit dem Faschisten Hitler.
Diese Haltung des Zynismus hat Putin mit Stalin gemeinsam: Selbst wenn Putin von Völkerfreundschaft die Rede ist, gilt jegliche Handlung dem „Trachten nach Bereicherung und Ausweitung des eigenen politischen Einflusses“ (Mischa Gabowitsch, „Putin kaputt?“, Berlin 2013, S. 64).
Über die nihilistische Mentalität Putins und seines Regime schreibt Katja Gloger in ihrem wichtigen Buch „Putins Welt“, München 2022, S. 135. Sie zitiert die russische Journalistin Jewgenija Albaz: „Um des Geldes willen ist alles erlaubt. Dieses Regime geht davon aus, dass jeder gierig und käuflich ist. Dass niemand Ehre und Würde empfindet“.
„Die russischen Eliten nehmen sich den sadistischen Genuss heraus, den verarmten Massen ihr Dolce Vita zu demonstrieren – um ihre Dominanz zu demonstrieren. In Russland lebten 2017 russische 131 Milliardäre, 180.000 Dollar Millionäre…Acht Prozent der Russen leben unter der Armutsgrenze, im Öl – und Gas – Imperium können manche Bürger von einem Gasanschluss nur träumen…. Ein Drittel der männlichen Bevölkerung lebt nicht lange genug, um einen Rentenanspruch zu stellen…“ (zit. Liza Alexandrova-Zorina, Lettre international, Winter 2017,S.44)
6.
Der Nihilist lebt im Selbst-Widerspruch des Lügners. Angeblich liebt er Dinge und Menschen, die er aber total zerstört. Angeblich ist Putin ein in der Kindheit getaufter orthodoxer Christ, aber den Hungertod von Millionen nimmt er in Kauf, die Gräueltaten seines Militärs . Alle seine Erklärungen zu den Kriegsverbrechen der russischen Truppen in der Ukraine sind eine Lüge, sie wollen verwirren, das klare Denken kaputt machen. Lüge ist das geistige Grundübel, also das geistige Verbrechen der Nihilisten.
Die Russland-Spezialistin und Journalistin Katja Gloger schreibt über den typischen nihilistischen Umgang mit Wahrheit und Lüge im Putin Reich: „Die Grenze zwischen Fakten und Fiktion verschwimmt: Fakten sind Fiktion und Fiktion wird zu Fakten…So schaffen Russlands Medien eine neue, konfuse Realität, der sich kaum nicht jemand anziehen kann…Eine Wanne voller Blut jeden Abend im russischen Fernsehen ist eine politische Realität geworden, sagt der ehemalige Spindoktor des Kreml, Gleb Pawlowskij“, (in „Putins Welt“, München 2022,S. 107).
Immanuel Kant schreibt: „Die Lügenhaftigkeit ist an sich böse. Die Lüge ist zu nichts gut, in welcher Absicht immer; sie ist an sich selbst böse und verwerflich. Lügenhaftigkeit ist “Nichtswürdigkeit, wodurch dem Menschen aller Charakter abgesprochen wird”, zit. In Kant-Lexikon, Rudolf Eisler, https://www.textlog.de/32495.html.
7.
Noch einmal: Der Nihilismus von Putin und seinen Leuten, den Milliardären, Oligarchen und Militärs, zeigt sich in deren permanenten Lügen-Propaganda. Sie ist so dreist und irrational, dass man lachen könnte, wären die Lebensbedingungen der Menschen in dem selbständigen Staat Ukraine nicht so verheerend. An die Lügen hatte sich Putin schon früh gewöhnt und sie als seine Lebensstrategie entwickelt: Zum Putin-Krieg gegen die Ukraine 2014 hat der russische Philosoph Michail Ryklin in „Lette International“ Herbst 2014, Seite 141, geschrieben: Schon damals folgte Putin der alten, lügnerischen Masche., die er als Zögling des KGB gelernt hatte zum Zweck des Machterhalts der Diktatur: „Die Grundlage für diesen Krieg liefert die totale Desinformation mitsamt nachfolgender Bezichtigung des Gegners jener Verbrechen, die man selbst ihm gegenüber begangen hat“. Und weiter schreibt Ryklin im Jahr 2014 !: „Je schlimmer die Torturen sind, welche die Ukraine zu ertragen hat, um so größer ist in Putins Sicht die Schuld der Ukraine selbst daran… Der Putinismus tötet mit seiner Berührung all das Lebendige, was in seinen Untertanen noch enthalten ist“ (ebd).

Putins Krieg ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, es ist ein totaler Krieg, der die ganze Welt in eine Zerrüttung führt, ökonomisch, ökologisch, friedensethisch, religiös. Putin und seine “Getreuen” vernichten eine halbwegs noch geordnete Form der Ernährung selbst der ärmeren Länder, Putin zuerstört Vertrauen, beeinflusst die westlichen Demokratien, er will mit allen Tricks und aller Gewalt will diese Demokratien schädigen, etwa in seiner Unterstützung für Trum oder Marine le Pen. Kann man sagen: Mit Putin wird es nie Frieden geben? Bestenfalls einen Waffenstillstand als Pause vor dem nächsten Krieg? Wer mit diesem Putin noch heute, Ende April 2022 noch eng freundschaftlich ergeben und verbunden ist, wie ein gewisser Herr Gerhard Schröder in Hannover, sollte der nicht auch als Partner eines Kriegsverbrechers gelten, wie viele politische Beobachter zurecht sagen?

Für die Philosophie ist die Lüge, zumal die permanente Lüge, der Gipfel menschlicher Verkommenheit.
8.
Es wird jetzt immer wieder auch von Literaten darauf hingewiesen, dass sich in der geistigen Substanz von Putin und den Seinen „ein großes Nichts“ offenbart. Dies betont die tschechische Schriftstellerin Magdalena Platzová. Sie meint dann leicht ironisch, „dieses große Nichts sei etwas, das man am besten mit Wodka runterspült“. Aber: Zu dem großen Nichts in Putin kommt die Autorin durch die Beobachtung der bekannten russischen Puppe Matrjoschka: Diese Matrjoschka ist “ein Großrussland, in das die anderen Länder hübsch ordentlich nach Größe eingeordnet werden: Armenier, Georgier, Ukrainer, Kasachen, Litauer, Esten und andere. Und wenn sich die große Puppe leert, ist sie hohl wie ein Fass. Ein großes Nichts. (Quelle: iLiteratura (Tschechien), 01.04.2022, Perlentaucher, 5.4.2022). Tatsächlich wird im populären Putin Kult dieser Diktator auch schon als Matrjoschka verkauft…
9.
Noch einmal muss betont werden: Putin (und seine Getreuen) als Nihilisten zu bewerten, steht in keinem Widerspruch zu dem vom Diktator nach außen hin gezeigten Bekenntnis zur russischen Orthodoxie. Man denke nur an diese inszenierten Fotos: Putin im Gebet in der Kathedrale, im vertrauensvollen, freundschaftlichen Gespräch mit Patriarch Kyrill (auch er einst KGB-Mitarbeiter), Putins Pilgerfahrten zum heiligen Berg Athos (Griechenland), seine Bereitschaft, prächtige Kathedralen der russischen Orthodoxie in Frankreich zu finanzieren etc. Der christliche Glaube bewegt Putin jedenfalls nicht persönlich, „innerlich“, denn sonst hätte er auf sein mörderisches Treiben verzichtet. Und sein Intimus, der Patriarch Kyrill von Moskau, hat es wohl bisher versäumt, Putin an seine Christen-Pflichten zu erinnern. Vielleicht glaubt der Patriarch selbst nur an die Macht und die Macht des Geldes, über auch der reichlich verfügt. Aber die vielen gläubigen Leute auf dem Land sehen die Fernseh-Bilder des staatlichen Fernsehens, andere Informationsmöglichkeiten haben sie nicht, und sie freuen sich, wie ihr Präsident betet, von Weihrauchwolken umhüllt ist und vor allem den einstigen KGB Kollegen, Patriarch Kyrill, brüderlich umarmt.
Und die russisch-orthodoxe Kirchenführung ist mit diesem Nihilisten Putin Und das aufs engste verbunden. Und das ist der Skandal: Die westlichen Kirchen denken offenbar nicht daran, Patriarch Kyrill als den besonderen Kriegstreiber SOFORT aus der Ökumene offiziell zu werfen. Und das ist eine Schande für alle anderen Kirchen, die noch christlich sein wollen. Immerhin hat jetzt der katholische Bischof von Münster Felix Genn den Putin-Patriarchen Kyrill I. „eine Schande für unseren christlichen Glauben genannt“. (Quelle: https://www.domradio.de/artikel/bischof-genn-kritisiert-russisch-orthodoxen-patriarchen)

10.
Wenn hier also Putin als Nihilist vorgestellt wird, dann ist nicht der „russische Nihilismus“ gemeint, der unter der Regierungszeit von Zar Alexander II. (1855-1881) in Kreisen oppositioneller Intellektueller lebendig war. Für diese Kreise waren Attentate und das Projekt „Zarenmord“ in gewisser Weise die Voraussetzung, um eine neue, menschenfreundlichere Gesellschaft zu schaffen. Nihilismus als Selbstbezeichnung einiger kritischer Intellektueller war damals eine kulturell-politische Bewegung durchaus emanzipatorischer Art, sie wurden auch Radikaldemokraten genannt. Man denke an Alexander Herzen, Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski….
11.
Hingegen sieht Philosophie das Stichwort Nihilismus als Ausdruck für eine Haltung, dass alle Werte NICHTS sind, dass das Leben NICHTS ist, also sinnlos. Vor allem auf den russischen Dichter Iwan Sergejewitsch Turgenjew geht der heutige philosophische Nihilismus-Begriff zurück; man denke an seinen Roman „Väter und Söhne“ von 1862. Es ist im Roman der angehende Arzt Basarow, der betont:“Es gibt keine moralischen Prinzipien“. Basarow erkennt nichts Wertvolles an und er weiß nichts von Respekt, bewertet alles Lebendige nach Nützlichkeitserwägungen. Bei einem Spaziergang sagt er: „Hoffentlich gibt es in diesen Teichen Frösche… zum Sezieren.“ Er ist ein Mensch, der sich „vor keiner Autorität verbeugt, der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben gelten lässt, gleichgültig welchen Ansehen sich dieses Prinzip auch erfreuen möge“ (Turgenjew, Väter und Söhne).
12.
Putin, so wird in der Presse demokratischer Staaten berichtet, lebt jetzt immer mehr zurückgezogen, als ein Herrscher, der sich isoliert. Aber er hatte und hat ein Team von Ideologen, die ihm die Stichworte für seinen Krieg und seine nihilistische Ideologie liefern. Darauf weist „Le Monde Diplomatique“, Deutsche Ausgabe, April 2022, S. 8 hin : „Wer sind die russischen Falken. Hinter Putin politischer Radikalisierung stehen ultranationalistische Ideologen“ von Juliette Faure. Sie erwähnt einen einschlägigen politisch-religiösen Zirkel, den „Isborsk-Club“, in dem sich antiwestliche reaktionäre Ideologen und Kriegstreiber treffen.
In einem Interview betont Katharina Blum, Leiterin des OIsteuropa-Instituts der FU Berlin: „Zum Klub gehört aber auch jemand wie Tichon, der Metropolit der Russisch-Orthodoxen Kirche ist. Er gilt als Beichtvater von Putin, hat Bücher verfasst und betätigt sich als Regisseur… Orthodoxe Konservative und Monarchisten betonen vor allem die russisch-orthodoxe Kultur. Es ist demnach die Kirche, die Russland eine Identität verleiht. Sie beziehen sich auf das griechisch-orthodoxe Byzanz und sehen sich in der Tradition Dostojewskis, der Moskau als „Drittes Rom“ bezeichnet hat“. (Quelle: https://www.belltower.news/russlands-antiwestliche-ideologien-wichtig-ist-imperiales-denken-128641/ gelesen am 8.4.2022)
13
Putin (und die Seinen) als Nihilisten zu bezeichnen ist eine philosophische Erkenntnis, keine feuilletonistische Unterhaltung. Ein Nihilist geht aufs Ganze, hat den Willen zu zerstören, die anderen, die Feinde sind, zu zerstören und warum nicht auch das Volk, dem er zugehört? Wenn nur er selbst überlebt… Schließlich ist Putin entschlossen, bis 2036 im Amt zu bleiben, also bis ins Greisenalter von 84 Jahren. In der neuen Verfassung, die ihn offiziell bis 2036 regieren lässt, steckt so etwas wie sein Wille zum ewigen Leben, zur totalen Herrschaft … ad aeternum. Dieser Typ wird niemals Ruhe geben und Frieden wahren, solange er nicht mit seinen tödlichen Kriegen seine Ideologie realisiert hat, die Ideologie der totalen Herrschaft.
14.
Zum Schluss eine Erinnerung an Friedrich Nietzsche, der mit großem Elan den Nihilismus studierte und dazu publizierte. Nihilismus war für Nietzsche ein zentraler Begriff seiner Analyse der Moderne. Der Philosoph und Nietzsche Spezialist Prof. Volker Gerhardt schreibt in seinem Buch „Friedrich Nietzsche“ (München 1992), über Nietzsches Einsichten zum nihilistischen Menschen: „In diesem Willen zum Nichts leugnet der Mensch aber alles, was für sein Dasein wesentlich ist. Ja, er wendet sich gegen das Dasein selbst, indem er das durchstreicht, was dem Dasein Ziel und Inhalt gibt. Und so stellt sich hier das Leben gegen das Leben und führt zu einem elementaren Unsinn…“ (S. 155). … „Nihilismus bezeichnet für Nietzsche einen Zustand, in dem der Mensch letztlich nur das Nichts will. Ein solcher Wille zum Nichts kann aber nur ein Ausdruck äußerster Bedrohung oder Verelendung sein“ (S. 154).
15.
Putin hat zwar in seinem nationalistischen Wahn der totalen „Russischen Welt“ immer noch konkrete Ziele, die es zu erobern gilt. Aber diese Eroberung geschieht nur als totale Zerstörung, siehe die Putins Ukraine-Krieg von 2022 vorbereitenden Gräueltaten in Tschetschenien, Georgien, in Syrien oder im Osten der Ukraine und in Libyen usw.. Denn dass er einmal den Mittelmeer-Raum beherrschen will und beherrschen kann, via Syrien und Libyen und Eritrea usw. ist evident, dies macht ihn zum Herrscher des totalen russischen Reiches… Es sei denn, die demokratischen Staaten des Westens können das definitiv verhindern.
16.
Putin als Symbol-Figur des Nihilismus ist insofern auch eine Katastrophe, als er das Fühlen und Denken der Menschen der Welt bestimmt, wenn nicht determiniert: Er erzeugt Angst, nicht nur bei den Leidenden in der Ukraine und bald auch bei den Familien in Russland, die den Tod ihrer Söhne im Krieg bedauern und hoffentlich nicht noch als Helden feiern…
Putin als Nihilist fördert bewusst Irritationen, lässt an jeglicher Aussage zweifeln, sein maßloser Vernichtungswille führt dazu, dass die demokratischen Staaten immer mehr Geld für Rüstung ausgeben müssen … und Waffen sozusagen „das tägliche Brot“ werden, es kommt zu Einschränkungen in den Lebensbedingungen. Putin als Nihilist führt dazu, dass die demokratischen Staaten die Armen und arme Gemachten dieser Welt, etwa in Afrika, vergessen. Die demokratische Welt soll, so will es Putin, zerfallen, im Streit und im Hass gegeneinander, auch dies ist eine Konsequenz seines totalen Nihilismus. Wenn man Demokratie als lebendige Staatsform versteht, als Staat des Streitens um die beste Gestaltung der Menschenrechte, dann ist Putins Hass auf die Demokratie, jetzt auf die jungen Demokratie in der Ukraine, typischer Ausdruck seines Nihilismus.
Ein Nihilist ist der totale Verwirrer und Zerstörer.

Und die russisch-orthodoxe Kirche ist mit diesem Nihilisten aufs engste verbunden. Die westlichen Kirchen denken offenbar nicht daran, Patriarch Kyrill als den besonderen Kriegstreiber SOFORT aus der Ökumene offiziell zu werfen. Und das ist eine Schande für alle anderen Kirchen, die noch christlich sein wollen.
17.
Wie lässt sich Nihilismus überwinden? Diese Frage bewegt in der langen Geschichte die Philosophie. Um nur ein Beispiel zur nennen: Nietzsche sah eine Überwindung des Nihilismus in seiner Idee des „Übermenschen“, der den biederen Spießbürger, den „letzten Menschen“ („letzter Mensch“ im moralischen Sinne) überwinden soll.
Hier aber geht es um die politische und existentielle Frage: Wie kann man einen Nihilisten überwinden bzw. eine ganze Clique, die sich dem Nihilismus als moralischer Verworfenheit hingibt. Diese Nihilisten müssen ihre Macht verlieren, nur so kann die Welt in Frieden UND Demokratie leben. Es geht also im Kampf gegen Putin um einen Kampf gegen den gefährlichsten und barbarischsten unter allen Nihilisten: Dass es Nihilisten als Politiker heute auch anderswo gibt, ist eine Tatsache, und ein anderes Thema.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

 

 

 

„Im blinden Glauben an die Patriarchen“. Der Philosoph Hegel kritisiert die orthodoxen Kirchen: „Sie blieben im Traum des Aberglaubens“!

Ein Hinweis von Christian Modehn am 16.3.2022

1.
Kann Hegel, als “Philosoph der Religion“ und „Philosoph der Geschichte“, inspirierend sein für ein aktuelles kritisches Verständnis der orthodoxen Theologie und der orthodoxen Kirchen? Also auch zum Verstehen jener Kirche, die sich in Russland befindet und sich russisch-orthodoxe Kirche nennt?
Diese Frage kann jeder für sich prüfen angesichts der hier vorgestellten Erkenntnis Hegels. Sie trifft sicher wichtige Aspekte der orthodoxen Kirchen.
2.
Zunächst einige Vorbemerkungen:
Seine „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ hat Hegel fünfmal in Berlin seit 1822 gehalten. Und dabei wird im Dritten Teil innerhalb der frühen Kirchengeschichte auch die Ostkirche erwähnt, bei Hegel unter den Titel „Das byzantinische Reich“ (in der Hegel-Suhrkamp Ausgabe von 1970, S. 406-412).
Entscheidend ist: Hegel weiß seit 1822: Selbst wenn er über theologische und politische Zustände dieser „Ost-Kirche“ im 4. und 5. Jahrhundert spricht, sind die dort schon sichtbaren Strukturen bis in Hegels eigene Gegenwart gültig. Darum kann Hegel betonen: „Die Christen des byzantinischen Reiches (also die Orthodoxen) BLIEBEN in dem Traum des Aberglaubens versunken, im blinden Gehorsam gegen die Patriarchen und die Geistlichen verharrend“ (S. 411).
3.
Heute können wir diese Erkenntnis Hegels gut verstehen: In einer allgemeinen Einschätzung der so genannten Orthodoxen, also der „rechtgläubigen“ Kirchen im Osten Europas, ist deutlich: Die orthodoxen Kirchen, in Russland, aber auch Serbien, Griechenland, Georgien usw. waren und sind in einer so engen Verflochtenheit mit dem jeweiligen Staat und der Regierung bzw. dem so genannten Volksgeist, dass diese Kirchen außerstande waren und sind, die universalen Menschenrechte als oberstes Prinzip kirchlichen Handelns zu akzeptieren. Es muss nun in aller Deutlichkeit betont werden: Diese orthodoxen Kirchen und ihre Patriarchen waren und sind gut bezahlte Staatsdiener ihrer jeweiligen Länder. Dass damit nicht gesagt ist, die westlichen Kirchen, also der Katholizismus und der vielfältige Protestantismus, seien immer entschiedene Verteidiger der Menschenrechte, steht fest. Aber um diesen Aspekt geht es jetzt nicht.
Andererseits ist heute auch deutlich: Es gibt vereinzelte in Russland lebende russisch-orthodoxe Priester und Theologen, die sich heute gegen die Verbundenheit ihres Patriarchen Kyrill mit Putin öffentlich wehren. Kirchenkritische russisch-orthodoxe Theologen, wie Prof.Cyril Hovorun (Stockholm), leben ist immer außerhalb des Machtbereichs der Patriarchen. Der kirchenkritische Dichter Leo Tolstoi hat sich von dieser Kirche abgewandt, bis heute ist diese Kirche nicht bereit, sich mit ihm zu „versöhnen“. Tolstoi bleibt exkommuniziert!
4.
Hegels Ausführungen zu den so genannten Ostkirchen, den „Orthodoxen“, sind ziemlich knapp, aber wertvoll hinsichtlich der mitgeteilten Perspektiven. Er spricht von dem Bilderstreit und der orthodoxen Vorliebe für die Anschaulichkeit Gottes, Christi, Marias der „Gottesmutter“ und der Trinität in den Ikonen. Hegel kennt alte Kirchenväter wie Gregor von Nazianz und zitiert ihn aus der berühmten Textsammlung „Migne“(S. 410); er zeigt, wie es bei den Auseinandersetzungen über dogmatische Sonderfragen „zu blutigen Kämpfen” unter den Orthodoxen kam; wie sie zwar von „der Idee des Geistes“ sprachen, dieses Dogma aber „völlig geistlos behandelten“ (S. 410). Das heißt für Hegel: Die Orthodoxen haben viel vom heiligen Geist gesprochen, aber nicht verstanden, was Geist meint, also kritisches Selbstbewusstsein der Menschen, sie haben also geistlos vom Geist gesprochen.
5.
Hegel wehrt sich gegen die übliche Vorstellung, im oströmischen Reich, also im Gebiet der Orthodoxie, drehe sich alles Denken und Tun um die behauptete Wahrheit und Reinheit (also „Orthodoxes“) des Christentums. Vielmehr handelt es in Hegels Sicht und Forschung um „eine tausendjährige Reihe von fortwährenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Charakterlosigkeit, das schauderhafteste Bild…“ (S. 409).
Hegel denkt dabei an die religiösen Führer, die Bischöfe und Patriarchen.
6.
Worin sieht Hegel den Grund für das völlig unchristliche Verhalten? Die orthodoxe Theologie bleibt „abstrakt“, sagt der Philosoph. Und „abstrakt“ meint für ihn: Die Lehre der Orthodoxie verhält sich sozusagen „abgekapselt“, also: „rein und in sich nur geistig“, und das heißt für Hegel: Diese christliche Kirche hat kein Interesse, den Geist des Christentum, die universale Menschlichkeit, also die im Evangelium ausgesprochene Gleichheit aller Menschen, in die politische Wirklichkeit zu „überführen“, also dafür zu sorgen, dass die politische Welt nach gerechten Gesetzen regiert wird. Die orthodoxe Kirche also verhält sich nur „rein“, wie in einer heiligen Sonderwelt; sie kritisiert nicht die politische Welt, und sie bleibt „in sich geistig“, d.h. sie feiert ihre so genannten göttlichen Liturgien in Kirchen, die den Himmel schon symbolisieren sollen in altertümlichen Sprachen, die keiner versteht. Dem stellt Hegel die Aufgabe der Kirche gegenüber: „Der Staat muss eine vernünftige Organisation haben, „das Rechte muss zur Sitte, zur Gewohnheit werden“ (S. 409), auch durch den Beitrag der Kirche! Aber das geschieht nicht in der orthodoxen Kirche.
7.
Ist diese politische „Abstraktheit“ sozusagen der äußere Aspekt, so ist auch innerkirchlich für Hegel die Orthodoxie erstarrt. „Die Besetzung des Amtes der Patriarchen zu Konstantinopel, Antiochien und Alexandrien sowie die Eifersucht und Ehrsucht dieser Patriarchen untereinander verursachte ebenfalls viele Bürgerkriege“ (S. 411). Man denke aktuell nur daran, mit welcher Wut der Patriarch von Moskau und Putin Vertraute, Kyrill I., das Oberhaupt der Orthodoxie, den Patriarchen von Konstantinopel, kritisierte: Dieser hatte den russisch-orthodoxen Erzbischof von Kiew anerkannt, als er sich von der Herrschaft des Moskauer Patriarchen kürzlich befreite.
8.
Hegel bietet in seiner „Vorlesung über die Philosophie der Geschichte“ kein geschichtswissenschaftliches Kompendium. Er deutet auch die Geschichte und Gegenwart der Kirchen normativ, und die Normen entnimmt er den Prinzipen seiner Philosophie: Und deswegen erkennt er auch in der Geschichte der Religionen und Kirchen einen langsam sich durchsetzenden Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Mit anderen Worten: Die orthodoxen Kirchen lebten für Hegel in einer sehr unterentwickelten, unfreien Theologie des Christentums. Sie dachten und denken und handeln „abstrakt“, wie ich oben erläuterte.
Über den Katholizismus kam dann das christliche Denken im Sinne Hegels erst im Protestantismus zum vollen Bewusstsein der christlichen Freiheit, prinzipiell jedenfalls. Freiheit ist nun die geistige Verbundenheit des einzelnen Menschen mit Gott als Geist, also lebt der Mensch in einem Geist zu Geist-Verhältnis der Freiheit. Und die wesentliche religiöse Gleichheit aller Menschen soll in den Gesetzen des modernen Staates ihren Ausdruck finden. Erst mit der Reformation wird die Erkenntnis formuliert: Zu diesem göttlichen Geist hat der Mensch – ein Teilhaber an diesem göttlichen Geist – ein Verhältnis der Freiheit.
9.
Die Orthodoxie ist also auch eine Art Ansammlung von eifersüchtigen und ehrsüchtigen Patriarchen, die gern die Gläubigen im Aberglauben (Ikonen-Kult, Bilder-Kult) belassen oder im Nichtverstehen der Gebete in der unverständlichen alt-slawischen Sprache während der „heiligen Liturgie“ belassen? Hegel sieht das jedenfalls so!
10.
Die Führung der Russisch-orthodoxen Kirche ist meilenweit davon entfernt, eine wirksame oppositionelle Kraft gegen den Diktator Putin zu sein. Sie könnte die einzige große Opposition gegen Putin sein. Diese Orthodoxie in Moskau ist aber heute meilenweit davon entfernt, eine politisch-kritische Bedeutung zu haben, etwa so, wie sie die Evangelische Kirche in der DDR in den Jahren vor der Wende 1989 hatte. Gar nicht daran zu denken, dass die russischen Kirchen und äußerst geräumigen Kathedralen zu Orten des politisch – kritischen Beten und Diskutieren werden. Dies wäre doch mal ein test, ob Putins Soldaten in die Kirchen eindringen und auch dort Betende während des Gottesdienstes verhaften? Das wird nie passieren, weil der Patriarch vom Putin System auch materiell profitiert. Wer die so genannten Predigten von Patriarch Kyrill I. jetzt, in Kriegszeiten hört, muss erkennen: Dieser Herr, der sich allen Ernstes immer noch als „Seine Heiligkeit“ ansprechen lässt, ist ein Kriegstreiber. Welch ein Wahn, diese Heiligkeit – einst zudem, nachgewiesen, KGB-Mitarbeiter wie Putin – in ökumenischen Gremien auch des Westens noch zu belassen. Auch das muss man der Ehrlichkeit wegen sagen. Kyrill I. macht in seinen Aussagen einen ziemlich verkalkten Eindruck, etwa wenn er behauptet: „Homosexuelle sind schuld am Krieg in der Ost-Ukraine“.
Nietzsche stellte einst die richtige Frage: „Wird die Kirche zum Grab Gottes?“ Im Falle der russischen Orthodoxie und ihrer Patriarchen muss man leider den Eindruck haben. Diese Kirchenführung in Moskau glaubt, folgt man ihren Worten und Taten, nicht an den Gott des Evangeliums, den Gott des Friedens.
11.
Zu einer deutlichen kritischen Analyse der Orthodoxie kann jeder auch ohne die hier mitgeteilten Inspirationen Hegels kommen.

Aber manche tröstet es dann doch, dass schon ein bedeutender Philosoph seit 1822 eine treffende Kritik an der Orthodoxie vortrug. Man findet sich also als Kritiker der russischen Orthodoxie in guter Gesellschaft. Und auch diese Frage: Welcher deutsche oder französische Theologe hat 1822 schon eine deutliche Kritik an der (russischen) Orthodoxie formuliert?

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.

Neue Religionen und Kirchen werden gegründet.

Ein unbekanntes Phänomen im 19.Jahrhundert – noch aktuell?
Ein Hinweis von Christian Modehn.

1.
„Ich gründe meine Religion, meine Kirche“: Dies könnte als Motto für französische Intellektuelle im 19. Jahrhundert gelten.
Die Gründe dafür nennt der Mentalitäts – Historiker Georges Minois:
„Das 19.Jahrhundert ist reich an Beispielen von Menschen, die wegen der unnachgiebigen Haltung der (katholischen) Kirche und ihrer intellektuellen Unbeweglichkeit den (katholischen) Glauben verloren haben“, (Georges Minois, Geschichte des Atheismus, Weimar, 2000, S. 531).
Eine Erkenntnis, die der Historiker Michel Vovelle weiterführt: „Die Originalität Frankreichs in der Geschichte des westeuropäischen Christentums der Moderne ist: Es wurden weltliche Religionen entwickelt, die transzendente Wahrheiten ersetzten durch einen Kult des Vaterlandes oder der Werte Freiheit und Vernunft“ (in „Histoire de la France Religieuse”, Paris 1991, S. 510.)
Und der Kulturphilosoph Wolf Lepenies ergänzt, in seiner umfangreichen Studie über den Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869):
“In der modernen Welt des 19. Jahrhunderts an der herkömmlichen Religion festzuhalten, war Byzantinismus – der Fortschritt verlangte auch nach der Ausbildung einer zeitangepassten Moral, die zugleich das überzeitliche Bedürfnis des Menschen, sich an Werten zu orientieren und von Vorbildern leiten zu lassen, befriedigte“ (S. 333 in: „Sainte-Beuve“, 2006).

2.
Diese Mentalität weckt förmlich die Bereitschaft, die persönlichen weltanschaulichen Überzeugungen in eigenen Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gestalten. Als Kirchengründer oder als Religionsgründer gefahrlos aufzutreten, war erst durch die Revolution von 1789 möglich geworden, sie hatte die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkannt. Es waren oft Laien, also nicht immer Theologen oder Priester, die sich als Kirchengründer betätigten. Sie suchten dadurch für sich und ihre Freunde Auswege aus einem dogmatisch erstarrten Katholizismus: Gleichzeitig wollten sie eine Religion/Kirche gestalten, die die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung respektierte und in einem politisch pluralen Staat den notwendigen ideologischen Zusammenhalt stiftete.

3.
Diesem Impuls zu Neugründungen von Religionen steht um 1800 das Erstarken eines katholischen Volksglauben, zumal in ländlichen Regionen, gegenüber, den selbst manche Priester als Aberglauben deuteten… Aber weil die Kirchenbindung dieser Frommen wichtiger erschien, tolerierten und unterstützten die Kleriker diese Form des zum Teil magisch geprägten Volkskatholizismus. Es waren vor allem Frauen, die sich daran klammerten, wie etwa die exzessive Heiligenverehrung, der Marien-Kult, der aus der Mutter Jesu eine weibliche Gottheit und eine Miterlöserin machte, die Verehrung bestimmter Landpfarrer (wie den Pfarrer von Ars). (Siehe dazu. „Histoire de la France Religieuse“, III, 1991, S. 528.)

4.
Diese Bemühungen um Kirchengründungen sind im Rückblick nicht erfolgreich gewesen, was die Mitgliederzahlen und die Lebensdauer dieser Gemeinden betrifft. Aber in ihrer Vielfalt zeigen diese Gründungen doch, wie umfassend die Unzufriedenheit mit dem Katholizismus war. Der Katholizismus im 19. Jahrhundert war institutionell – unter dem Schutz des Stellvertreters Christi auf Erden – so mächtig, dass er weiterhin den Wissenschaften feindlich eingestellt bleiben konnte, dass er die Werte der Philosophie der Aufklärung, auch die Menschenrechte, als gottlos verurteilte … und dadurch die Einheit von katholischem Glauben und Anti-Moderne zementierte.

5.
Das Thema Kirchengründungen in Frankreich und in einem zweiten Kapitel auch in Deutschland ist sicherlich in einer breiten Öffentlichkeit nicht so vertraut und bekannt ist. Es hat aber durchaus aktuelle Bedeutung, angesichts der tief greifenden Krise der katholischen Kirche in Europa und Amerika am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.Diese Krise ist begründet unter anderem auch in dem freigelegten sexuellen Missbrauchs durch tausende Priester über viele Jahrzehnte. Viele hunderttausend Katholiken distanzieren sich vom Katholizismus, „treten aus“, die meisten suchen nun individuell den eigenen spirituellen Weg, vielleicht aber auch im Zusammenhang neuer Gemeinschaften oder in progressiven protestantischen Kirchen.
Unabhängige Gemeindegründungen im Katholizismus gibt es im 20.Jahrhundert in den Niederlanden: Seit 1970 wurden neue ökumenische Gemeinden von Katholiken gegründet, oft Basisgemeinden genannt, die sich explizit aus dem System des Katholizismus (d.h. des Bistums) verabschiedeten und zum Teil bis heute bestehen: Wie die inzwischen weltweit bekannte „Ecclesia“, inszeniert vor allem von dem ehemaligen Jesuiten und bedeutenden Poeten Huub Oosterhuis (Liturgie im Kulturzentrum de rode hoed). Oder die „Dominicus-Gemeinde“, ebenfalls in Amsterdam. Die Dominicus-Gemeinde wurde ursprünglich (bis ca. 1970) von Dominikaner-Paters geleitet, dann haben Laien als Team die Leitung übernommen und schließlich hat die Gemeinde, nun ökumenisch, das schöne Kirchengebäude gekauft. Diese Gemeinden sind nicht mehr konfessionell, sondern ökumenisch, sie führen unterschiedliche Theologien zusammen. Auch die ökumenische Gemeinde „de Duif“ in Amsterdam muss in dem Zusammenhang erwähnt werden! Die website der Gemeinde de duif bietet auch etliche links zu ähnlichen Versuchen freier Gemeinden.
(Zu den Kirchengründungen in der frühen Kirchengeschichte siehe Fußnote 1, unten)

Das erste Kapitel: Gründungen von Kirchen/Religionsgemeinschaften im 19. Jahrhundert in Frankreich.

6.
Das Thema ist im katholisch geprägten Milieu ausschlaggebend.
Die protestantische Kirche in Frankreich (vorwiegend Calvinisten und einige Lutheraner) war damals zahlenmäßig zu klein, um Neugründungen oder Abspaltungen innerhalb der Konfession Raum zu geben. Die protestantischen Kirchen waren dank der Revolution von 1789 den grausamen Verfolgungen gerade erst entkommen und konnten frei sein. Es gab hingegen ab 1840 bis ca. 1880 bei etlichen, vorwiegend intellektuellen Katholiken eine Begeisterung für protestantische Ideen, die der Historiker Yves Hivert-Messeca als Philoprotestantismus bezeichnet: (siehe: https://yveshivertmesseca.wordpress.com/2014/05/24/du-philoprotestantisme-dans-la-france-des-annees-1840-1880/)
Hivert-Messeca erinnert dabei an eine wichtigen Vortrag von Sainte-Beuve am 19. Mai 1868 im Senat von Paris: Darin deutet er die religiöse Situation Frankreichs im Bild einer „neuen, großen Diözese“, die „Tausende von Gläubigen aller ideologischer Couleur umfasste …außerhalb des Katholizismus. Zu dieser „großen Diözese“ gehören etwa Katholiken, die sich dem Protestantismus nahe fühlen und z.B. nach der staatlichen Hochzeitszeremonie noch in einer protestantischen Kirche eine religiöse Feier wünschen. Diese Praxis wird vom Historiker als entschieden anti-katholische Haltung gedeutet. (Zu den Neugründungen in den USA und im Katholizismus des 20.Jahrhunderts siehe Fußnote 2)

7.
Seit der Französischen Revolution ist die Bereitschaft groß, neue Religionen für die Franzosen zu inszenieren. Der Gründung der Republik als Ergebnis einer Revolution, also eines tiefgreifenden Umsturzes des Ancien Regime, entsprach bei vielen Revolutionären die Überzeugung, nun auch die einzige Kirche aus dem Ancien Régime, eben die katholische, zu überwinden.
Während der Revolution wurde der „Kult der Göttin Vernunft“ zelebriert, etwa am 10.August 1793 mit der Statue der „Göttin Vernunft“ auf der Place de la Bastille, am 10. November 1793 dann die feierliche „Messe“ in der Kathedrale Notre Dame de Paris mit einer leibhaftigen Göttin der Vernunft.
Robespierre hingegen praktizierte seinen deistischen „Kult des höchsten Wesens“ seit dem 8. Juni 1794. Dieser Kult sollte Staatsreligion werden, um den Katholizismus, DIE Kirche des „Ancien Regime“, zu ersetzen. Nach der Hinrichtung Robespierres wurde auch der „Kult des höchsten Wesens“ beendet.
Nach 1795 versuchte die religiös -humanistische Gemeinschaft der „Theophilanthropen“ (bis 1803) einen rationalen deistischen Kult zu etablieren, der in zahlreichen katholischen Kirchengebäuden parallel zu den Messen gefeiert wurde. (LINK: https://religionsphilosophischer-salon.de/4039_eine-humanistische-religion-die-theophilanthropen-in-frankreich_forschungsprojekt)

8.
Nach 1825 werden Texte veröffentlicht, die sich für ein neues Christentum stark machen. „Nouveau Christianisme“ heißt das schon vom Titel viel sagende Buch des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Claude-Henri de Rouvroy de Saint-Simon (1760-1825), kurz vor seinem Tod 1825 publiziert. Im „neuen Christentum“ sollten nicht mehr die katholischen Dogmen gelten, der Glaube sollte auf die Wissenschaften und die Entwicklung der modernen Technik gegründet sein! Praktische „Hauptaufgabe“ dieses neuen Christentums war die Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, Brüderlichkeit sollte die wichtigste Tugend werden, schließlich, so Saint-Simon, habe auch Jesus Christus das ewige Leben nur denen versprochen, die den Armen wirksam helfen. Eine Idee, die wohl typisch ist für einige der „Frühsozialisten“…Später haben sich Katholiken in ihren sozialpolitischen Erklärungen auch auf Saint Simon bezogen, sie kritisierten die begrenzte christliche Mildtätigkeit und forderten die umfassende Solidarität unter allen Menschen.

9.
Diese Ideen fanden eine weite Verbreitung. Vor allem der Philosoph und Soziologe Auguste Comte (1798 – 1857) ließ sich von ihnen inspirieren. Er war persönlicher Sekretär Saint -Simons von 1817-1824. Comte ging noch weiter als sein Lehrer, er wurde zum Gründer der Religion des Positivismus. Die Ablehnung der kirchlichen Dogmen ist für Comte nicht zufällig, sondern sie basiert auf dem Gang der Weltgeschichte, den er sich dachte: Von der Religion über die Philosophie als Metaphysik hin zur dritten Stufe, dem Positivismus, als der Form der objektiven Wissenschaften. Die kritischen Zeitgenossen sollen die wissenschaftlichen Erkenntnissen als Wahrheiten respektieren und die alten Dogmen beiseite tun. (Vgl. die Studie des Philosophen Bernard Jolibert: „Science et Religion chez Auguste Comte: https://inspe.univ-reunion.fr//fileadmin/Fichiers/ESPE/bibliotheque/expression/23/Comte.pdf).
Comte plädierte dafür, Religion vom Gottesbegriff und vom Glauben an Gott zu trennen. Er stiftete eine Religion, die sich von den überlieferten christlichen Dogmen absetzte, und sich „positivistisch“ nannte, im Sinne von den „Wissenschaften folgend und mit ihnen verbunden“.
Comte stammte aus einem frommen katholischen Elternhaus, hat sich aber schon bald zum Atheismus bekannt. Trotzdem sah er durchaus die bedeutende, die soziale Rolle der Religion für den Zusammenhalt der Gesellschaft. 1852 veröffentlichte er für seine Kirche einen „catechisme positiviste“, in dem auch die Gestaltungen seines Kultes, seiner Sakramente (!), die Rolle seiner Priester, usw. definiert wurden. Auf bestimmte Elemente der katholischen Kirche konnte Comte nicht verzichten.

10.
Comtes wissenschaftliche Religion ohne Gott sollte als „Religion der Menschheit“ angesichts der Krise des Katholizismus Hilfen bieten für ein besseres Miteinander in der pluralen Gesellschaft. Religion wurde also im Sinne von Comte funktional gebraucht fürs Wohlergehen einer friedlichen Gesellschaft. Der Kult fand zu Beginn durchaus Zustimmung, d.h. Mitglieder. Nach Comtes Tod 1857 wurden die Vorschläge seiner Religion aufgegriffen von Politikern, die sich für die Trennung von Kirchen und Staat einsetzen. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche etwa unter Napoleon III. wurde kritisiert und z. T. überwunden, anstelle der Theologie wurde die Religionswissenschaft an staatlichen Universitäten gelehrt und gefördert. Schon 1880 wurde am „Collège de France“ ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte eingerichtet, sicher auch Wirkungen der Publikationen von Auguste Comte und seines maßgeblichen Schülers Pierre Laffitte (1823-1903).
Übrigens: Der Schriftsteller Michel Houellebecq bezieht sich in seinen Romanen und Essays oft auf Ideen von Auguste Comte, darauf weist Jérome Grévy hin: In seinem Essay „La Religion positiviste“, in dem Sammelband „Misère de l Homme sans Dieu. Michel Houellebecq et la question de la foi“ (Paris 2022, S.23-44).
Comte, der Kirchengründer, verstand sich selbst als „Erzpriester“, seine Kirche
hatte eigene Kapellen für ihre Gottesdienste, sogar ein neuer Kalender wurde ausgearbeitet. In Paris, in der Rue Payenne, Nr. 5, steht noch ein „Tempel“ der Religion von Comte, die „Chapelle de l Humanité“. Das „Haus von Auguste Comte befindet sich in der Rue Monsieur le Prince, Nr. 10 in Paris.

11.
Diese Kirche besteht als religiöse Institution heute in Frankreich nicht mehr, in Brasilien ist hingegen Comtes Einfluß auch heute noch bedeutend, „Ordem e progresso“ steht auf denFlaggen Brasiliens als Wahlspruch, Worte, die bezogen sind auf das Motto von Comte: „Liebe als Prinzip, Ordnung als Basis, Fortschritt als Ziel“. Die Gründerväter Brasiliens waren mit der Philosophie Comtes eng verbunden. Die „positivistische Kirche“ dort wurde 1881 gegründet, sie hat noch heute Tempel in mehrere Städten Brasiliens. Die Ausstattung des Tempels in Rio de Janeiro erinnert an eine christlichen Kirche. (siehe:https://www.degruyter.com/document/doi/10.31819/9783964566690-012/pdf).
Inspirationen für seine neue Religion fand Comte auch bei der von ihm hoch geschätzten katholischen (!) Schriftstellerin Clotilde de Vaux (1815-1846), in dem neuen positivistisch – religiösen Kalender war der 6. April stets „Clotilde Tag“. So wurden Frauen insgesamt in dieser neuen Kirche hoch geschätzt.

12.
Einige Kirchengründungen wurden auch von katholischen Priestern inszeniert, die mit der offiziellen Lehre nicht mehr übereinstimmten. Vor allem gegen Ende des 19. Jahrhunderts gaben viele ihr Priesteramt auf, sie hatten nur Mühe, außerhalb der Kirche für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Viele katholische Priester wurden protestantische Pfarrer, der Ex-Priester Bourrier gründete für diese Konvertiten sogar eine eigene Zeitschrift „Le Chrétien Francas“. (Siehe Jacqueline Lalouette, „La Republique anticléricale“ , Paris, 2002, S. 118)
Zu den Freidenkern wandte sich Abbé Jules Claraz oder die Priester Duhamel, Harren, Blains, Salle, Bertrand usw…( Siehe J. Lalouette, S. 95 f). Auch ehemalige katholische Nonnen wurden militante FreidenkerInnen (S. 118 f. Bei J. Lalouette).
Der Priester Ferdinand Francois Chatel (1795-1857) ist im Jahr 1831 der Gründer der Kirche „Eglise Catholique Francaise“, er nannte sich jetzt „Primas von Gallien“. Diese Kirche feiert die Messe in französischer Sprache, als Gottesdienstzentrum diente ein ehemaliges Ladenlokal in Montmartre. Chatel hob das Zölibats-Gesetz für Priester auf, es wurde die Kelchkommunion auch für Laien gepflegt usw., von Rom frustrierte Katholiken fanden in dieser Kirche Zuflucht. Es kam zu Konflikten mit der Regierung, die Kirche wurde verboten. Über Chatels Tod hinaus bestand seine Kirche nicht mehr. Aber sie ist ein Beispiel, wie schon Jahrzehnte vor der Gründung der „Alt-katholischen Kirche“ (1870) diese Reform – Theologie virulent war.
Chatel war mit Bernard-Raymond Fabre-Palaprat (ein Priester aus Cahors) verbunden, er hatte eine esoterische Kirche, die sich Johanniter-Kirche nannte. Er hat unter anderem eine gnostische Version des Johannes-Evangeliums verfasst.

Der Priester Victor Charbonnel (1860 – 1926) setzte sich schon vor der „Weltausstellung“ in Paris im Jahr 1900 dafür ein, dass dort ein „Interreligiöses Parlament der Religionen“ stattfinden sollte. Denn, so war er überzeugt, „entstammen alle Religionen dem gleichen Prinzip, und dieses erzeugt unter den Religionen mehr gemeinsame als entgegengesetzte Lehren“. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten seien nichts anderes als eine Art „Schnickschnack der Konfessionen“, sie seien nur „armselige Motive für Stolz und Rivalitäten“. Der Priester Charbonnel ahnte sehr genau, dass seine Vorschläge Widerstand finden im Katholizismus, zwei Jahre hielt er es noch aus, Priester in einem extrem konservativen theologischen Milieu zu bleiben, dann gab wer sein Priesteramt auf.

13.
Der Historiker Frank Paul Bowman, (1927-2006), einst Professor an der Pennsylvania University, hat in seinem Buch „Le Christ des barricades 1789-1848“, Paris 1987, ein ganzes Kapitel den „neuen Christentümern, den neuen Messiassen“, wie er sagt, gewidmet (S-231- 246). Bowmans Buch zeigt einen Trend auf: Die Kirchengründungen sind nur ein Ausdruck für den Abschied vom offiziellen römischen Katholizismus, genauso wichtig ist: Im 19.Jahrhundert wird eine Fülle von Deutungen zur Gestalt Jesu Christi publiziert: „Die Theoretiker eines sozialistischen Jesus“, heißt bezeichnenderweise ein Kapitel in dem Buch von Bowman (S.167-230), Beziehungen zur lateinamerikanischen Befreiungstheologen des 20. Jahrhunderts müssten eigens dokumentiert werden.

14.
Auch Literaten bemühten sich um ihr persönliches, also gegenüber der Amtskirche „häretischen“ Christus-Bild, etliche dachten auch an die Gründung einer eigenen Kirche.
Hier soll nur George Sand genannt werden. „Manchmal plant sie eine mögliche Erneuerung des Katholizismus, aber dann, ist sie eher überzeugt, eine neue soziale Religion zu gründen, als Modell könnten die Kulte von 1789 dienen,“ schreibt Bowman (S. 265). „George Sand beschreibt eine Religion der brüderlichen Gleichheit und des gemeinsamen Besitzes…“ Sie ist bewegt von den Hussiten wie von Franz von Assisi, Joachim von Fiore und dem Philosophen Lamennais… Sie glaubt, der Mensch könne seinen Kontakt mit dem Göttlichen aufnehmen“, und zwar aufgrund seines Willensentschlusses. (S. 267).
Von Victor Hugo muss man in dem Zusammenhang sprechen, und dabei nicht so sehr an die Phase seiner Begeisterung für spiritistische Sitzungen erinnern. Sondern vielmehr zeigen, wie er außerhalb der Bindung an die katholische Kirche seinen eigenen Glauben an Gott und an die persönliche Auferstehung entwickelte. Politisch wurde die Freiheit und Gleichberechtigung in der Republik Hugos wichtigstes Programm. Das Volk, das sich nach gesetzlich garantierter Freiheit in der Republik sehnt, ist für Hugo „das heilige Volk“, schreibt Alain Decaux in seinem Aufsatz „Victor Hugo et Dieu“ (2002).
Im Klerikalismus sah Hugo den größten Feind, zumal für die Errichtung der staatlichen Schulen für alle. Hugo sagte 1850. „Ihr Kleriker seid die Parasiten der Kirche, ihr seid die Krankheit der Kirche, ihr seid Sektierer einer Religion, die ihr gar nicht versteht. Mischt nicht die Kirche in eure Affären, in eure Strategien, in eure Lehren und eure Ambitionen“. (Quelle: Ein Beitrag von „France Culture“ am 8.12.2020; https://www.franceculture.fr/emissions/ils-ont-pense-la-laicite/hugo-limprecateur)
Noch kurz vor seinem Tod bekannte er: „Je crois en Dieu“. … und er glaubte nicht an die katholische Kirche.

15.
Unter den Komponisten soll nur Eric Satie (1866-1925) erwähnt werden. Er komponierte eine „Messe der Armen“, die allerdings ein Fragment blieb. Und er gründete seine eigene Kirche, mit dem irritierenden Titel: „Eglise Metropolitaine d` Art de Jésus Conducteur“, „Metropolitane Kunst- Kirche von Jesus dem Führer“.
Satie gab sogar eine Art Gemeindeblatt heraus, als Kirchengründer verurteilte er auch bestimmte Sünder, und er genierte sich nicht, tatsächlich als das einzige Mitglied seiner Kirche aufzutreten, was wohl den Tatsachen entsprach. Eine gewisse individualistische Verschrobenheit ist dieser Kirchengründung gewiss nicht abzusprechen. Satie stand auch in Verbindung mit dem Schriftsteller und Esoteriker Josephin Péladan, der eine Symbiose suchte zwischen Rosenkreuzertum und katholischem Glauben.

Zweites Kapitel: Kurze Hinweise zu Deutschland

16.
Ein wichtiges Beispiel im 19. Jahrhundert für die Idee einer Gründung einer neuen Religion bietet Friedrich Hölderlins (1770 – 1843). Hölderlin ist tief verwurzelt im Christentum, aber er will es in seiner ursprünglichen Gestalt, gemäß den Zeugnissen des Neuen Testamentes. Die „orthodoxen“ Kirchen – Lehren und die Institutionen der Kirchen zu seiner Zeit waren Hölderlin ein Grauen, von dem er sich abwandte. Aber die Christus- Gestalt schenkte ihm eine innere prägende Erfahrung. Nur deswegen konnte er Christus in Verbindung setzen mit den Mythen und Göttergestalten Griechenlands. Christus wird, so der Philosoph Heinrich Rombach, „neben die anderen Götter der Menschheitsgeschichte gestellt. Es gibt dann eigentlich keine heidnischen Götter mehr, darum vor allem sprechen wir von Universaltheologie bei Hölderlin“ ( S. 66 in: „Der Friede allen Friedens. Hölderlins Universaltheologie“, Rombachs Aufsatz in dem Buch „Gott alles in allem. Religiöse Perspektiven künftigen Menschseins“, Herder Verlag, 1985).
Hölderlin plädiert für einen “Gestaltwandel” Gottes: Nur als konkreter Geist ist Gott lebendig! Und dem entspricht auch ein Gestaltwandel der Gemeinde, der Kirche: Gemeinde ist keine Massenveranstaltung, kein anonymes Beisammensein Fremder: Gemeinde ist für Hölderlin vor allem ein eher kleiner Freundeskreis, ein Kreis von Gleichberechtigten, ohne Hierarchie, ohne Vorschriften, ein Kreis, der gemeinsam mit Brot und Wein feiert und dabei ins wesentliche religiöse Gespräch kommt, das dann als Poesie, als Dichtung, Gestalt wird. Und diese Feier geschieht im Wissen der geistigen Anwesenheit des universalen Christus, der alle Schranken und Grenzen der Religionen überwindet und überwinden hilft: Dies ist die „Friedensfeier“. „Der Himmel wird (von Hölderlin) in ein irdisches Geschehen verlegt, nämlich in die Gemeinde“ (Rombach, S. 68). Diese feiert ihre Feste, in denen man, „die Götter nicht zählt“ (S. 51), also diese Götter auch gelten lässt als Ausdruck der Versöhnung und des Friedens. Das sind die Ideen Hölderlins, als Wirklichkeit kann er sie nicht erleben…

17.
Der Autor der Romantik, Friedrich Schlegel, schreibt Ende Dezember 1798: „Ich denke daran eine neue Religion zu stiften, dass dies durch ein Buch geschehen soll, darf um so weniger befremden, da die großen Autoren der Religion – Moses, Christus, Mohammed, Luther – stufenweise immer weniger Politiker und mehr Lehrer und Schriftsteller werden“, (Zitat bei Rüdiger Safrans, „Romantik“, München 2007, S. 136).
Allerdings zweifelt Friedrich Schlegel dann doch an seinem Mut und begibt sich als Konvertit 10 Jahre später in den sicher erscheinenden Hafen des Katholizismus. Er schreibt: „Die ästhetische Träumerei (von 1798), dieser unmännliche pantheistische Schwindel müssen aufhören, sie sind der großen Zeit unwürdig und nicht mehr angemessen“ (S. 137).

Auch an Novalis (also Friedrich von Hardenberg, 1772-1801) muss erinnert werden, er will eine neue, neu-geborene universale Christenheit hervorrufen. Dabei helfen ihm Erkenntnisse, die Privatoffenbarungen genannt werden können. Die historische Gestalt des üblichen Christentums wird verblassen und vergehen, das ist seine Überzeugung, ein neues Zeitalter einer universalen Religion werde beginnen. So Novalis in „Die Christenheit oder Europa“, 1799 verfasst, 1802 in Auszügen veröffentlicht.
Bei aller pauschalen Kritik von Novalis an der Aufklärung und hier Philosophie ist seine Idee einer künftigen Religion der Diskussion wert: Ich zitiere eine Würdigung dieser von Novalis neu erdachten Religion aus dem Novalis-Beitrag von wikipedia (gelesen am 2 1.2.2022): „Die neue, dauerhafte und von konfessionellen Schranken befreite Kirche, eine Verbindung von Christentum und Naturphilosophie, soll an die Stelle des Papsttums und des Protestantismus treten. Hiermit ist jedoch nicht so sehr ein institutionelles Gebilde gemeint, sondern eine Friedensgemeinschaft. Diese europäische Friedensgemeinschaft wäre der erste Schritt zu einer Weltgemeinschaft. Novalis fordert „echte Freiheit“, das heißt einen freieren und poetischeren Umgang mit den biblischen Schriften. Somit soll das Christentum ausgeweitet werden. Mit der Auflösung der Abgrenzung von den übrigen Religionen nähert sich das von Novalis erdachte neue Christentum immer weiter einer allgemeinen Weltreligion an. Diese visionäre Zukunftsreligion sollte im Alltag erfahrbar sein und soziale Gemeinschaft schaffen, aber dennoch nicht die Freiheit einschränken…In der neuen goldenen Zeit soll dagegen die Freiheit in der Religion vorherrschen. Das Ende dieser angestrebten Entwicklung ist jedoch noch nicht gekommen, aber der Sprecher in der Rede vertröstet den Hörer und betont, dass diese Zeit sicher kommen wird. Nur ein wenig Geduld ist notwendig“. Siehe Fußnote 3, unten.

18.
Auch an Richard Wagner muss bei unserem Thema erinnert werden. Er war überzeugt: Die religiöse und theologische Krise der Kirchen hat viele Menschen in eine Art Leere und Sinnlosigkeit geführt: Wagners Musik, seine Opern insbesondere, „sollten ein Gemeinschaftserlebnis, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, wie es sonst nur religiösen Veranstaltungen eigen war“, so Herfried Münkler in seiner Studie „Marx, Wagner, Nietzsche“, Berlin 2021, S. 213. Wagners Festspiele, so Münkler, sollten – wie die Kirchen und Religionen es versprachen – einen neuen Menschen schaffen. „Nicht von ungefähr sprach man von einer Bayreuther Theologie, die Sektencharakter hatte…Erst in den 1950er Jahren kam ein Prozess der Deskralisierung in Gang..“ (S. 214).

3. Kapitel: Jeder gründet seine eigene Religion?

19.
Die Überzeugung setzt sich durch: Religionen und Kirchen werden nicht mehr von göttlich berufenen Propheten, Aposteln oder Evangelisten oder gar von Gott selbst gegründet, wie die katholische Kirche von sich selbst überzeugt ist. Religionen und Kirchen können auch von Laien oder einfachen Priestern und Theologen, auch von Philosophen, Künstlern und Schriftstellern ins Leben gerufen werden. Sie sind als Institutionen zwar oft nur von kurzer Lebensdauer, weil die Gründer nicht den militanten missionarischen Elan und die finanziellen Mittel haben, wie etwa die Gründer neuer Religionsgemeinschaften in den USA. Und diese neuen Religionen konnten gegenüber den Jahrhunderte alten Institutionen (Papst im Vatikan, und Könige/Kaiser als protestantische Kirchenchefs) nicht konkurrieren.

20.
Jeder Mensch, der irgendwie seine persönliche Beziehung zu einer transzendenten Wirklichkeit oder einem „absolut geltenden Sinn“ auf seine Weise denkt und auf die eigene, persönliche Weise lebt, gründet oft unbewusst und wenig reflektiert, seine eigene ganz individuelle – persönliche Religion. Jeder Mensch wählt aus dem ihm zur Verfügung stehenden Angebot spiritueller Weisheit das ihm Passende. Wichtig ist, dass dann die subjektive, die eigene Religion das Gespräch mit anderen sucht, nicht nur um der Informationen willen, sondern auch um die eigene Position zu erweitern und zu korrigieren. Ob auf diese Weise noch einmal neue Gemeinschaften entstehen, ist offen, wahrscheinlicher ist, dass Christen, die etwa in Deutschland aus den Kirchen ausgetreten sind, in der individuellen Position der Vereinzelung verbleiben. Das kann man aus sozialen – kommunikativen Gründen wie aus theologischen und philosophischen Einsichten bedauern.

…………………….

Fußnote 1:
Abspaltungen von den offiziellen sich „orthodox“, rechtgläubig nennenden Kirchen gab es seit Etablierung der offiziellen (Staats-) Kirchen im 4. Jahrhundert und auch schon vorher. Aber diese Spaltungen waren meist nur Varianten, Zuspitzungen, der sich als rechtgläubig definierenden Kirche mit dem Papst als Oberhaupt. Diese „Varianten“ des Katholischen wurden dann Sekten genannt und als Häretiker entsprechend verfolgt und oft ausgelöscht, man denke nur Hus und die Hussiten oder den breiten Strom der Reformatoren seit dem 16. Jahrhundert.

Fußnote 2:
Bekanntlich gab es im 19. Jahrhundert in den USA viele Abspaltungen von den dort etabliert traditionellen protestantischen Kirchen. Einige religiöse, christlich inspirierte Gemeinschaften wurden gegründet, wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas, die Christliche Wissenschafter usw. Diese Gemeinschaften gehen auf Erleuchtungen bzw. neue Erkenntnisse einzelner zurück. Sie sind, was die Anzahl der Mitglieder betrifft, durchaus erfolgreich.
Auch auch innerhalb der etablierten „mainstream“ Kirchen, wie den Anglikanern oder Reformierten, gab es und gibt es dann Abspaltungen. Dies ist ein durchaus typisches protestantisches Phänomen.
Wer sich von der katholischen Kirche löst und eine neue Gemeinschaft gründet, wie etwa Alterzbischof Marcel Lefèbvre, wird automatisch exkommuniziert, als er im Jahr 1988 eigenmächtig vier seiner Priester zu Bischöfen weihte, um das Überdauern seiner Gemeinschaft sozusagen kirchenrechtlich korrekt abzusichern. Darum sind Lefèbvres Bischöfe zwar unerlaubt (vom Papst), aber gültig (von einem gültig geweihten Erzbischof) geweiht…Das macht die Sache so kompliziert in diesem Römischen Rechts – Denken. Die Exkommunikation Lefèbvres und der vier von ihm geweihten Bischöfe wurde durch Papst Benedikt XVI. am 21.1.2009 aufgehoben! Übersehen wurde dabei, dass einer der vier Bischöfe sich kurz zuvor extrem antisemitisch öffentlich geäußert hatte.
Im 20.Jahrhundert wurden weltweit viele neue religiöse Gemeinschaften gegründet, manche beziehen sich auch auf das Christentum, aber auch auf andere spirituelle Quellen. Die religiösen Umbrüche in Afrika,. Lateinamerika oder Asien konnten hier nicht berücksichtigt werden.

………………………
Fußnote 3 zu Novalis: Aus einer Ausgabe von 1826:
„Die Chriſtenheit muß wieder lebendig und wirkſam wer¬
den, und ſich wieder ein ſichtbare Kirche ohne Ruͤckſicht auf
Landesgraͤnzen bilden, die alle nach dem Ueberirdiſchen durſtige
Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der
alten und neuen Welt wird.
Sie muß das alte Fuͤllhorn des Seegens wieder uͤber die
Voͤlker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwuͤrdi¬
gen europaͤiſchen Conſiliums wird die Chriſtenheit aufſtehn,
und das Geſchaͤft der Religionserweckung, nach einem allum¬
faſſenden, goͤttlichem Plane betrieben werden. Keiner wird dann
mehr proteſtiren gegen chriſtlichen und weltlichen Zwang, denn
das Weſen der Kirche wird aͤchte Freiheit ſeyn, und alle noͤ¬
thigen Reformen werden unter der Leitung derſelben, als fried¬
liche und foͤrmliche Staatsprozeſſe betrieben werden“.  S. 208 in: Novalis Schriften Bd I, Berlin 1826. Hg. von Tieck und Schlegel, https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/novalis_christenheit_1826?p=30

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin.