Die Spiritualität von Rosa Luxemburg

Von Christian Modehn am 14.1.2019, erneut bearbeitet am 27.2.2021

Zur Erinnerung: Rosa Luxemburg wurde am 5.3.1871 in Zamosc, Polen, geboren. Am 15.1 1919 wurde sie in Berlin von Rechtsextremen umgebracht. 1899 war Rosa Luxemburg in die SPD eingetreten; 1917 in die USPD, zur Jahreswende 1918/19 gehörte sie zu den GründerInnen der KPD. Rosa Luxemburg war gegen den Begriff “kommunistisch” im Namen dieser Partei.

1.

Die Frage „Welche Spiritualität war lebendig in Rosa Luxemburgs Praxis und Denken?“ wird meines Erachtens bisher nicht explizit und ausführlich diskutiert. Auch jetzt nicht, anläßlich ihres 150. Geburtstatges 2021. Über ihre Verbundenheit mit einer jüdischen Lebensform und jüdischen Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie müsste ausführlicher gesprochen werden.
Als wichtige Ergänzung zum folgenden Beitrag siehe auch meinen Hinweis “Rosa Luxemburg – die Philosophin” mit Zitaten, die auch die spirituelle Grundhaltung Rosa Luxemburgs andeuten. LINK.

2.

In dem kritisch informierenden Heft „Luxemburg“ 3/2018 der Rosa-Luxemburg Stiftung werden in verschiedenen Beiträgen einige wenige Hinweise gegeben, die Ansätze bieten könnten für ein „spirituelles Profil“ von Rosa Luxemburg.
Allgemeiner Ausgangspunkt ist die Tatsache, die noch längst nicht alle heute zur Kenntnis genommen haben: Rosa Luxemburg war keine „bolschewistische Abenteuerin“. Sie wollte keinen blutigen Bürgerkrieg in Deutschland, wie die Rechten und auch Leute der SPD, Noske usw., damals lautstark behaupteten und … direkt/indirekt ihre Ermordung zuließen bzw. förderten. Rosa Luxemburg wollte keine Diktatur des Proletariats, etwa nach dem Beispiel Lenins. Sie wollte um der Menschheit willen eine bessere, gerechte Welt-Gesellschaft, den sie Sozialismus nannte. Dieses globale Projekt ist so etwas wie eine Revolution.

3.

Alex Demirovic nennt in seinem Beitrag „Eine neue Zivilisation“ einige Begriffe, die bei der Darstellung des spirituellen Profils von Rosa Luxemburgs hilfreich sein können: Sie ist immer bereit, den Zauber des Lebens (S.21) zu spüren und in ihrer poetischen Sprache auch zu benennen. Und da gelingen ihr wunderbare Sätze!
Sie will die „äußerste Achtsamkeit für das (und den) einzelne(n)“ auch politisch leben, sie will also nicht hinnehmen, dass die einzelnen Menschen für das „große Ganze“ geopfert werden. „Gefühlskälte“ (S. 20) kommt für sie gar nicht in Frage. Sie liebt die Natur, alle Geschöpfe, die Tiere. In der Natur erlebt sie Erhabenderes als auf Parteikongressen. „Sie bewegt sich im Spannungsfeld des Widerspruchs von Ganzem und einzelnen“ (S. 21). Aber sie wehrt den Zugriff der Macht auf den einzelnen Menschen entschieden ab.

4.

Im Leben und politischen Alltag ist Geduld (S. 22) für sie entscheidend. Sie will den „Sinn für die großen Linien“ bewahren.
Wichtig ist ihr Vertrauen in die demokratisch aktiven „Massen“.
Sie schätzt absolut die Freiheit des Menschen. Freiheit ist für sie kein exklusives Privileg einer herrschenden (ökonomisch alles bestimmenden) Klasse in der Gesellschaft, sondern Freiheit gehört wie eine „Wesensbestimmung“ allen Menschen. „Freiheit ist immer auch die Freiheit des anders Denkenden“:  Das sagt sie auch und vor allem zur so genannten Partei – Elite in der Sowjetunion, also gegen Lenin. Es sind die „Macho-Männer“, die mit Gewehren herumstolzieren“, so beschreibt Drucilla Cornell die Haltung dieser Clique, die sich „Avantgarde“ nennt (S. 30). LINK.  Das berühmte Zitat stammt aus dem Buch “Zur russischen Revolution”, verfast 1918. LINK.

5.

„Freiheit als Freiheit des anders Denkenden“ war ja auch in der Geschichte der christlichen Kirchen alles andere als selbstverständlich. Wie Kirchen und Theologen auf Rosa Luxemburg reagierten, zu Lebzeiten, zur Ermordung und in den folgenden Jahren des sich aufbauenden Faschismus wäre ein Thema auch für Kirchenhistoriker…

6.

Es gibt eine zentrale („spirituelle“) Leidenschaft Rosa Luxemburgs: Die Politologin Drucilla Cornell spricht von ihrer Sanftheit, (S. 32.) Man könnte wohl auch sagen „Zärtlichkeit“. Theologen werden sich erinnern, dass der Prophet Jesus von Nazareth ebenfalls immer wieder „sanft“ genannt wurde.
Es ist also bei Rosa Luxemburg, noch einmal, die Liebe zu allen Kreaturen, zu Pflanzen, zu Tieren, zum Kosmos, auch und gerade in den Zeiten ihrer Gefängnis-Aufenthalte: Da war das intensive Erleben des Einssein mit der Natur (der “Schöpfung”?) förmlich lebensrettend für sie. Man lese ihre Briefe aus dem Gefängnis, etwa den Brief an Sophie Liebknecht, aus dem Breslauer Gefängnis im Dezember 1917 (S. 56 ff). Wäre es nicht spannend, einmal diese Gefängnis-Briefe mit den Gefängnisbriefen von Dietrich Bonhoeffer synchron und vergleichend zu lesen?

7.

Drucilla Cornell nennt auch das entscheidende spirituelle Stichwort Luxemburgs: Es geht um die Transformation, „radikale Transformation jedes Einzelnen (S. 29) als Voraussetzung einer „sozialistischen Revolution“, also einer neuen, in Luxemburgs Verständnis besseren, weil gerechten Gesellschaft. Transformation ist ein seelisches, auch therapeutisches Geschehen!
Die Autorin, Professorin u.a. für Gender Studies und Politikwissenschaften, zitiert eine weitere zentrale Kategorie der Spiritualität: Luxemburg schreibt in ihren Überlegungen zur weltweiten Unterdrückung: „Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung…“ (S. 28). Erlösung wurde von einer dogmatisch eng denkenden Kirche als fast immer als jenseitiges oder nur seelisches Geschehen gedeutet. Dabei ist Erlösung als konkrete, auch materielle Erfahrung einer gerechteren Welt notwendiger Bestandteil eines sich selbst kritisch verstehenden Christentums.

8.

Es wäre hier wichtig, die ausdrücklichen und auch unbewusst lebendigen Verbindungen Rosa Luxemburgs zum Judentum ausführlich zu entwickeln. Michael Löwy, Professor für Philosophie in Paris, gibt einen entscheidenden Hinweis: Er spricht von Luxemburgs Warnungen vor der Allmacht des Imperialismus, Nationalismus und Militarismus. „Diese Warnungen waren nicht im Sinne einer wunderbaren Vorhersage der Zukunft (zu verstehen), sondern im Sinne der biblischen Propheten Amos und Jesaja, die die Menschen vor bevorstehenden Katastrophen warnen, die es gemeinsam zu verhindern gilt“ (S. 38). Welche biblischen Propheten kannte die Jüdin Rosa Luxemburg tatsächlich? Ist der blinde Hass der Rechten und Rechtsextremen damals wie heute auf Rosa Luxemburg (und andere Sozialisten) auch und entscheidend antisemitisch bedingt? Das wird fraglos so sein, sollte aber ausführlicher noch dargestellt werden.

9.

Zusammenfassend: Wenn man sich die Philosophie und Lebensform Rosa Luxemburgs vergegenwärtigt, wird ihre spirituelle Grundhaltung, als Gestalt einer humanistisch-sozialistischen – biblischen, prophetischen Spiritualität, deutlich! Es ist eigentlich an der Zeit, dass sich spirituelle Menschen, auch Christen und Theologen, sehr viel stärker mit Rosa Luxemburgs Werk befassen.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin, veröffentlicht am 14.1.2019.

PS.

Das genannte Heft „Luxemburg 3/2018“, kann kostenlos bestellt werden: Franz Mehring Platz 1, 10243 Berlin.

Nebenbei: Ein weiteres Thema für religionskritische Untersuchungen wäre die äußerst geringe Lernbereitschaft christlicher und theologischer Kreise, etwa im Blick auf ein differenziertes Bild von Rosa Luxemburg.

Einen Versuch, die theologische Bedeutung Rosa Luxemburgs herauszustellen, bietet der evangelische Pfarrer und SPD Mitglied Eberhard Pausch, Frankfurt/M. in seinem Beitrag für das “Hessische Pfarrblatt”, veröffentlicht im JUNI 2019: LINK

Es muss für weitere Studien berücksichtigt werden, dass gerade Kirchenleute, Päpste, Bischöfe usw. der allgemeinen Ideologie folg(t)en: „Der“ Sozialismus und „der“ Kommunismus seien viel schlimmer, viel “teuflischer” als der Faschismus. Schließlich konnte die römische Kirche mit dem faschistischen Regime in Italien und den NAZIS in Deutschland noch Konkordate abschließen, also die Existenz der Kirche „sichern“; was dabei mit “den anderen”, den Juden, den Kommunisten, den Homosexuellen, den Sintis/Roma, geschah, war dabei kein vorrangiges Interesse für die Kirchenführer.
Der blinde Antisozialismus und Antikommunismus war eine bestimmende Ideologie vor allem in den USA; ihr folgten die Päpste, wie auch Johannes Paul II.: Zusammen mit Präsident Reagan im gemeinsamen Kampf gegen „revolutionäre Priester“ und Befreiungstheologen in Lateinamerika.
So unterstützte die katholische Kirchenführung die sich katholisch nennenden Diktatoren in Argentinien oder Chile (Pinochet), vorher schon in Spanien: Diktator Franco oder Trujillo, Dominikanische Republik, und so weiter…

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

John Rawls, der politische Philosoph, dem das Christentum wichtig ist.

Vor 100 Jahren, am 21.2.1921, wurde Rawls geboren. Am 24.11.2002 ist er gestorben.

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Die Erinnerung an den großen us – amerikanischen Philosophen John Rawls, anlässlich seines 100. Geburtstages, hat einen besonderen Aspekt: Für religionsphilosophisch Interessierte sollte das Buch „Über Sünde, Glaube und Religion“ wichtig sein, es wurde posthum 2006 in den USA veröffentlicht, 2010 ist es auf Deutsch erschienen. Dass Rawls als politischer Philosoph, zumal zum Thema Gerechtigkeit, viele kritische Impulse Anregungen gegeben hat, ist unter Philosophen bekannt.
Das Buch enthält einen längeren theologischen Text des jungen Studenten Rawls (21 Jahre) zum Thema Sünde und Glaube (S. 123 – 300). Dabei handelt es sich um seine Bachelor-Abschlussarbeit an der Princeton University. Rawls hatte damals sogar vor, Priester der Episkopal – Church, also der amerikanischen Anglikaner, zu werden.
Das Buch „Über Sünde, Glaube und Religion“ bietet zugleich auch einen kurzen, aber aufschlussreichen persönlichen Essay „Über meine Religion“ aus dem Jahr 1997. Deutlich wird darin: Auch als Philosophieprofessor hat sich Rawls sein „tiefes religiöses Naturell“ (wie Thomas Nagel schreibt) bewahrt. Religion und Christentum werden nun in den philosophischen Begriffen der Vernunft formuliert und so auch bewahrt. Und das macht die Lektüre von Rawls Texten besonders anregend.
Umrahmt werden also die Rawls-Texte in dem Buch „Über Sünde, Glaube und Religion“ von einer „Einleitung“, die Joshua Cohen und Thomas Nagel geschrieben haben sowie von einem längeren Aufsatz zum Verständnis theologischer Ethik beim jungen Rawls, verfasst von Robert Merrihew Adams. Sehr wichtig erscheint mir das Nachwort von Jürgen Habermas, er geht den Spuren der religiösen Ethik der „Frühzeit“ in der späteren bekannten umfassenden „politischen Theorie“ nach. Habermas drückte seine Hochachtung für Rawls etwa schon 2005 aus, in seinem Aufsatz „Religion in der Öffentlichkeit“.
2.
Auch wenn sich Rawls nach dem 2. Weltkrieg aufgrund persönlicher Erschütterungen wie auch im Bedenken des Holocaust von seiner konfessionellen Bindung (an die dogmatische Glaubenswelt der Episkopal – Church) befreite: Einige zentrale Grundeinsichten des Christentums wollte er später in der säkularen Sprache des Philosophen bewahren, das ist zentral! Jürgen Habermas weist auf dieses interessante Phänomen hin: „In der Werkgeschichte von John Rawls wiederholt sich eine philosophische Umformung religiöser Gedanken, wie sie als erster Kant vorgenommen hat“ (S. 327). Das deutet Habermas auch im Sinne von Kants Re­li­gi­ons­phi­lo­so­phie: Die Transzendenz nun “operiert in der Welt als eine die Ideen entwerfende, von Innen alles innerweltliche Geschehen transzendierende Kraft“ (S. 328). Auf diese „Umformung religiöser Gedanken“ sollte bei der Lektüre der großen Arbeiten von Rawls geachtet werden, wenn auch in dem grundlegenden Werk „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) Religion als Stichwort direkt nicht vorkommt. Anders ist es dann in der Studie „Politischer Liberalismus“ (1993).
Rawls entscheidende Frage heißt: Wie können Menschen, die auf eine religiöse Lehre, wie etwa die Bibel, zum Mittelpunkt ihres Lebens erklären, „eine vernünftige politische Konzeption haben, die eine gerechte Gesellschaft stützt?“ (Politischer Liberalismus, S. 35), ein Thema, das nicht nur Habermas bis heute bewegt. Und uns heftig interessiert, jetzt, unter den Bedingungen des Islams in Europa oder angesichts der Attacken fundamentalistischer Christen auf das Weiße Haus am 6.1.2021.
3.
Rawls Liberalismus wehrt sich gegen die totale individuelle Freiheit des einzelnen, der sich – privilegiert – nur um sein „gutes“, d.h. materiell – gutes Leben kümmert.
Rawls Liberalismus argumentiert entschieden für allgemeine Grundwerte für alle und die Gleichheit der Chancen für alle. Mit dem Neoliberalismus à la Wallstreet usw. hat Rawls Liberalismus nichts zu tun.
4.
Die theologische Arbeit des jungen Rawls ist geprägt von Impulsen Kierkegaards und Bubers. Dieser Essay aus Jugendzeiten bietet viele theologische und philosophische Anregungen: Etwa: „Die Sünde ist vor allem Geltungssucht und Selbstsucht“ (S. 229). „Die Selbstsucht zielt darauf ab, andere Menschen zu benutzen… Der Kapitalist zum Beispiel scheint seine Angestellten lediglich zu benutzen, er behandelt sie wie Zahnräder an der Maschine, die sein Vermögen mehrt“ (S. 230). „Sünde ist eine Zurückweisung der Gemeinschaft“ (S. 241).
Joshua Cohen und Thomas Nagel äußern sich dazu in ihrer Einleitung zum Buch „Über Sünde, Glaube und Religion“: „Stolz erscheint (im Werk des jungen Rawls) als Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Personen, das sich in der Forderung nach unterwürfiger Bewunderung ausdrückt. So verstanden festigt der Stolz bekanntere Laster wie Egoismus und die Verweigerung zu teilen… Egoismus und das Verlangen, Besitz anzuhäufen, gründen in dem sündhaften Festhalten an entstellten personalen Beziehungen, in denen es Höherstehende und Untergebene gibt. Das ist der Stolz der Kapitalisten, dessen Selbstsucht ein Widerschein der tieferen, viel zerstörerischen Geltungssucht ist“ (S. 27).
Der Philosoph Prof. Rainer Forst, einer der besten Kenner der Philosophie Rawls, schreibt in „DIE ZEIT“ (vom 11.2.2021): Rawls denkt die „äußerst seltene“ Verbindung, nämlich der Grundideen des Liberalismus (verstanden als Demokratie und Respekt der Menschenrechte) „mit der Grundidee des Sozialismus (dies ist die Würde des Menschen als frei von Ausbeutung und Marginalisierung) zusammen. Das Privateigentum an Produktionsmitteln gehört für Rawls nicht zu den primären Grundrechten. Und ausdrücklich hat Rawls den kapitalistischen Wohlfahrtsstaat als unzureichende Realisierung seiner Prinzipien zurückgewiesen.“
5.
Im Jahr 1997 schreibt Rawls dann in seinem persönlichen Rückblick „Über meine Religion“: Manche christlichen Glaubenssätze finde er, so wörtlich, „abscheulich“, “etwa die Lehren von der Erbsünde, von Himmel und Hölle, von der Erlösung durch den wahren Glauben auf Grundlage der Akzeptanz der priesterlichen Autorität“ (S. 306). „Der große Fluch des Christentums seit den Anfangstagen war die Verfolgung von Andersgläubigen als Ketzer“ (S. 307).
6.
Theologen und Repräsentanten kirchlicher Institutionen sollten sich mit dem knappen Text Rawls „Über meine Religion“ auseinandersetzen: Er ist typisch für den Abschied Intellektueller und auch „normaler“ Gläubiger von der traditionellen Dogmatik der etablierten Kirchen. Am treffendsten ist wohl die Analyse Rawls: “Das Christentum ist eine einzelgängerische Religion“, also eine Religion für Leute, die sich um sich selbst kümmern… (S. 307).
7.
Zum Schluss dieses fragmentarischen Hinweises die berühmten Sätze aus dem Buch „Politischer Liberalismus“: „Wenn eine gerechte Gesellschaft, auf vernünftige Weise gestaltet, nicht möglich ist: Dann ist die Frage, ob es sich für Menschen lohnt, auf Erden zu leben“ (dort S. 63).
Der alte katholische Katechismus stellte ganz am Anfang die Frage: Wozu sind wir auf Erden? Um Gott zu ehren, hieß die Antwort.
Rawls gibt auf diese Frage eine letztlich erschütternde, aber doch zum Handeln aufrufende Antwort: „Wir sollen eine gerechte Gesellschaft weltweit vernünftig aufbauen“. Man könnte diesen Satz einen kategorischen Imperativ nennen, an den sich so wenige PolitikerInnen und Bürger halten… Was wieder zu dem von Rawls beschriebenen Egoismus führt…

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Macron und die Muslime: Was er schon 2016 sagte und was heute (Februar 2021) gelten soll.

Ein Hinweis von Christian Modehn

Am 16. Februar 2021 soll in der “Assemblée Nationale” in Paris ein neues Gesetz verabschiedet werden: Es soll den “Separatimus”, wie Staatspräsident Macron sagt, also den “Sonderweg” von Muslimen in Frankreichs Staat und Gesellschaft beenden. Vorausgesetzt wird von ihm – nach den schlimmen Erfahrungen islamistischen Terrors in Frankreich – die These: Der Islamismus ignoriert die für alle Bewohner Frankreichs geltenden republikanischen Gesetze einer “Republique Laique”. Manche Beobachter meinen, damit werde auch “der” Islam unter den Verdacht “antirepublikanischer” Gesinnung und Haltung gestellt.

Die jetzt von Macrons Regierungspartei (LREM) vorgeschlagenen Gesetze erinnern stark an Macrons Ausführungen schon im Jahr 2016 unter dem hübschen Titel “Revolution”. Es ist interessant, die Identitäten und Verschiedenheiten, damals und heute, in der Auffassung Macrons vom Islam und dem IS herauszustellen. Die Kontinuität der politischen Auffassung ist allerdings dominant!

Beachten auch meine Hinweise vom 8.5. 2017 über Macrons Religiosität, seine Spiritualität sowie seine Verbindungen mit der Philosophie, darin werden auch seine Einschätzungen zur “laicité” deutlich. LINK:

1.
Das erste weit verbreitete Buch von Emmanuel Macron hatte den typisch französischen Titel, möchte man meinen, nämlich “Revolution“. Es wurde veröffentlicht, als sich Macron im November 2016 als Präsidentschaftskandidat präsentierte. Der Untertitel dieses “Revolutions”-Buches war: “Reconcilier la France”: “Frankreich versöhnen”.
2.
Von den 16 Kapiteln ist im Augenblick besonders wichtig das Kapitel 16, wegen der aktuellen heftigen Debatten und der bevorstehenden parlamentarischen Abstimmungen zur Rolle des Islams in Frankreich. Das Kapitel trägt den eher unscheinbaren, keineswegs auf den Islam in Frankreich sofort verweisenden Titel „Vouloir la France“, „Frankreich wollen“, gemeint ist wohl „Frankreich bejahen“ (S. 167 – 1799, hier zitiert nach der Taschenbuch Ausgabe XO Editions, 2017, zum Preis von 5 Euro!).
Es lohnt sich, in aller Kürze einige zentrale Aussagen zu unterstreichen und zusammenzufassen, gerade im Blick auf die aktuellen Debatten im Februar 2021.
Gleich am Anfang betont Macron: „Ja, Frankreich ist ein Wille“ (167). Gemeint: Ein Wille, der den Menschen zur Zustimmung führen sollte.
Aber gleich danach spricht Macron von dem drohenden „Bürgerkrieg“ (168). Von jenen geführt, die „gegen die Gewissensfreiheit sind, gegen die gemeinsame Kultur und gegen eine fordernde und wohlwollende Nation“ sind (ebd.) Der Feind wird DAESH genannt, das ist die Abkürzung für den Islamischen Staat.
Dann spricht Macron ziemlich unvermittelt zum ersten Mal von der sozialen Spaltung (offenbar in den Banlieues sichtbar), die das Feuer legt, das auf Identitäten allen Wert legt. Macron spricht dann von Massenarbeitslosigkeit und wahrhaftigen Gettos „in unseren Städten“ (169). Gemeint sind, immer noch nicht explizit genannt, muslimische Bewohner bzw. muslimische Franzosen in den Banlieues.
Dann folgt wieder unvermittelt ein Absatz über die viel und ständig besprochene laicité, um die es ja jetzt extrem geht, Mitte Februar 2021. Da sagt Macron: „Die Laicité ist eine Freiheit, bevor sie ein Verbot –„interdit“ – ist“. Also, hier schon hoch interessant: Laicité ist eben auch ein Verbot! (S. 169). Und dann folgt: Es gibt eine Unnachgiebigkeit hinsichtlich des Respekts der Gesetze der Republik, und diese Unnachgiebigkeit ist absolut. (S. 170): „In Frankreich gibt es Dinge, die nicht verhandelbar sind“.
Dann folgt eine ziemliche Verfälschung der Geschichte Frankreichs, bezogen auf die Geschichte der Juden: „Wir haben es verstanden, anderen Religionen ihren Platz in der Republik zu geben. Das Judentum hat sich in Frankreich entwickelt im Respekt und der Liebe der Republik. Ein schönes Beispiel dafür, was unsere Geschichte und unsere politischen Entscheidungen zu tun wussten“ (S. 179). Was für eine gewagte These: Da wird die Judenverfolgung unter Pétain unterschlagen, der Faschismus, der damals herrschte, von der Dreyfuss Affäre der Republik ganz zu schweigen.
Und dann folgt wieder die unvermittelte Ermahnung: Bitte nicht in den Bürgerkrieg eintreten, in den uns IS treiben will. Aber: Es ist eben eine Kriegsdrohung. (Mit Kriegen haben bekanntlich immer schwache Regierungen argumentiert, die in einem blinden Nationalismus befangen waren, das am Rande).

3.
Auf Seite 171 kommt Macron endlich zur Sache und er nennt den Hauptfeind, „den radikalen Islam“ (S. 171). Und interessanterweise sagt er in dem Text von 2016: Es geht „nicht darum, neue Texte und neue Gesetze vorzuschlagen“, „wir haben diese“. (S. 171). Jetzt, Mitte Februar 2021, geschieht genau das Gegenteil.
Dann kommt Macron wieder auf die prekären, aber von ihm so nicht genannten Lebensverhältnisse, vor allem der muslimischen Bevölkerung zurück: “Wir müssen unsere Wohnviertel (sic, nos quartiers) neu gestalten und den Bewohnern Möglichkeiten der Moblität und der Würde zurückgeben“, (172) Also: Fehler wurden gemacht, die Elendsquartiere sollten würdiger gestaltet werden. Hier klingt an, dass das Problem Islam und Islamismus ein soziales Problem ist und nicht (nur) ein religiöses!
Und dann kommt der „Knaller“ für einen Politiker eines Staates, der allen Wert darauf legt, sich als Staat gerade nicht in die inneren Angelegenheiten der Religionen einzumischen. Macron hingegen sagt: „Wir müssen dem Islam helfen, seinen Platz in der Republik aufzubauen“. (173)
Es komme alles darauf an, dass der Islam dann „die Werte Frankreichs will“! Diese sind nicht verhandelbar, niemals“ (178) “Frankreich ist groß, wenn es seine Freiheiten denen bietet, die sich Frankreich anschließen wollen“. (178) Aber nur diesen Willigen.
Zuvor hatte Macron noch davon gesprochen, dass wahre Flüchtlinge einen Platz in Frankreich finden können. “Aber alle Personen, die nicht die Berufung (sic) haben (qui n ont pas la vocation..), in Frankreich zu bleiben, weil sie kein Recht auf Asyl haben, müssen wieder zur Grenze zurückgeführt werden“ (177).

4.
Dieses Kapitel über den Islam zeigt: Für Macron ist klar: Islam kann zum Islamismus werden, diesem Islamismus muss der Krieg erklärt werden. Aber über die vielen anderen Muslime spricht Macron nicht. Er erzeugt damit eher Angst vor „dem“ Islam. Wer als Muslim in Frankreich leben will, muss sich anpassen, da ist Macron knallhart. Und paternalistisch hilft der französische Staat, obwohl laique, dass die Muslime sich mit ihren verschiedenen Gruppen bitte schön zu einem einzigen Dachverband vereinigen, damit der Staat besser mit ihnen verhandeln kann und sie besser überschaut.
Insgesamt aber zeigt Macron hier ein Frankreich, das wie ein starres und fixes Werte-System erscheint; das sich nicht dialogbereit und lernbereit zeigt. Warum eigentlich können nicht kluge und liberale Muslime etwas Vernünftiges dem französischen Staat und seinen Bürgern sagen? Macron ist ein Euro-Zentriker, und obwohl nicht konfessioneller Christ, ein Anhänger eines christlichen Frankreich, bei allem Respekt vor den Franzosen, die nicht religiös sind.
Mit anderen Worten: Dieses Kapitel zeigt einen kriegerischen (wie oft ist von Krieg in dem Kapitel die Rede!) und einen ziemlich bornierten und eher traditionellen Geist.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Sizilien heute: Von Menschen die Helden sind, weil sie das Leben lieben, im Kampf gegen die Mafia.

Das neue Buch von Etta Scollo: Essays, Posie, Gesang.

Ein Hinweis von Christian Modehn

„Stimmen von Sizilien“: Welch ein bescheidener Titel für ein wunderbares Buch! Natürlich ist „Voci di Sicilia“ kein „Reiseführer“ mit den üblichen Informationen. Etta Scollo, die bekannte Sängerin, erschließt uns vielmehr das „Innere“ der Insel, das Wesentliche, Menschliche ihrer Heimat: Sie wurde in Catania geboren, als Jugendliche ist sie nach Österreich, dann nach Deutschland gezogen. Aber sie kehrt immer wieder auf die Insel zurück, dieses Land, das seit Jahrtausenden sehr unterschiedliche Kulturen erlebt hat bzw. erleben musste. Und es sind wirklich „Stimmen“, die dieses originelle Buch bietet: Nicht nur Essays und Literatur, sondern auch Poesie, zumal gesungene Poesie von Etta Scollo. In den „Stimmen von Sizilien“ führt sie uns zu den Städten und Orten, die ihr wichtig sind, die aber insgesamt bedeutend sind, um die innere Lebendigkeit, man möchte sagen Aspekte der „Spiritualität“ Siziliens zu zeigen. Denn dass sich Europäer von dem Klischee befreien sollten: „Sizilien = Mafia“ steht wohl fest.

Von der Mafia ist in dem Buch auch die Rede, vor allem in zwei hoch interessanten Essays, die sich auf Palermo beziehen: Allein schon wegen des Essays des bekannten Juristen, Politikers und Bürgermeisters Leoluca Orlando (geb. 1947) sollte man das Buch kaufen und lesen. Der Bürgermeister von Palermo lebt wegen seines Kampfes gegen die Mafia unter permanentem Personenschutz. Aber wie er in dem Beitrag von dem neuen, dem demokratischen Palermo schreibt, das ist ein Ereignis, und der nicht auf Palermo spezialisierte Leser, wie ich, hofft manchmal nur, dass alle die demokratischen, d.h. gegen die Mafia gerichteten juristischen, pädagogischen, sozialen und politischen Aktionen tatsächlich immer noch Bestand haben. Manche Sätze in dem Beitrag Leoluca Orlandos sind förmlich Maximen, die universal in der Menschheit gelten sollen: „Ein Held ist einer, der auf außergewöhnliche Weise normal ist. Und ein Heiliger, fragt Orlando, und antwortet richtig und überraschend: „Ein Heiliger ist (auch nur) einer, der auf außergewöhnliche Weise normal ist“. Was soll bloß der Vatikan dazu sagen, fragt man sich. Leoluca Orlando ist wohl ein Held, er hat entscheidend dafür gesorgt, dass Palermo eine lebenswerte, liebenswerte Stadt geworden ist. Hervorragend, so schildert der Bürgermeister, ist der rechtlich gut, nämlich menschenwürdig gestaltete Umgang mit den neuen Bewohnern, den Flüchtlingen also, die in Sizilien anlanden… „Wer nach Palermo kommt, wer in Palermo lebt, wird Palermitaner“ (S. 108). Die Migranten sollen sich in Palermo zuhause fühlen „und daher die Verpflichtung spüren, ihr Zuhause zu verteidigen, ehe sie noch ihre Religion oder ihr Herkunftsland verteidigen…Das ist der kulturelle Wandel.“ (ebd). Der Bürgermeister ist den neuen Palermitanern dankbar, weil sie die Vielfalt der menschlichen Kulturen repräsentieren. Und in dieser Situation veranstaltet der Bürgermeister („bin nicht homosexuell, niemand ist vollkommen,“ schreibt er schmunzelnd, S. 109) die großen Gay-Prides in der Stadt…

Diese etwas ausführlicheren Hinweise zu einem Beitrag in „Voici di Sicilia“ könnten fortgesetzt werden zu allen anderen Texten (und Liedern!) im Buch. Den Artikel „Über die Globalisierung der Mafia und zu Palermo als einem Ort der Wahrheit“ von Staatsanwalt Roberto Scarpinato (S. 118 – 129) sollte jeder lesen, der sich auf den neuesten Stand der Kenntnisse zu den Mafia-Aktivitäten führen lassen will. „Die Deutschen haben die Mafia völlig vergessen“, schreibt Scarpinato, für Deutsche heißt Mafia, naiv möchte man sagen: Schutzgeldforderung erpressen und dann in Pizzerien investieren (S. 120). Dabei ist die Mafia heute ein internationales Dienstleistungssystem, das Schwarzgeld in Milliardenhöhe erzeugt. Berührend die Ausführungen über „Palermo als Ort des Geistes“ (S. 125 f). Hier ist „man gezwungen Entscheidungen zu treffen, die man in einer normalen Stadt normalerweise nicht trifft: Entscheidungen, die immer Leben oder Tod (durch die Mafia) betreffen“ (S. 127)

Mir fällt bei der Lektüre der verschiedenen Beiträge auf, dass immer wieder Autoren sich als „Atheisten“ bekennen, so auch Scarpianato (S. 129). Religionskritisch betrachtet, möchte ich behaupten: Dieser Atheismus der ja ursprünglich wohl notwendigerweise katholisch erzogenen Menschen ist ein Resultat der Perversion der Kirche, die nur allzu lange auf der Seite der Herrschenden, auch der Mafia vor allem, stand und wohl noch steht. Erwähnt wird der Name eines mutigen Anti-Mafia-Priesters, Pino Puglisi (S. 109 und 126): Er lebte von 1937 bis 1993, er wurde an seinem 56. Geburtstag vor seiner Haustür von der Mafia erschossen, seine letzten Worte waren, so sagte einer seiner Mörder aus: „Damit habe ich gerechnet“. Inzwischen wurde Pater Puglisi offiziell als „Seliger“ zur besonderen Verehrung durch die Katholiken, auch der katholischen Mafia-Leute, empfohlen…Mal sehen, ob das etwas nützt.
Von der widerwärtigen Arbeit in den sizilianischen Schwefelminen berichtet das Buch, zeigt uns den Friedhof der Kinder, die in den Minen schuften mussten und umkamen. Was sagte eigentlich die Kirche damals zu dieser Sklavenarbeit? Für philosophisch Interessierte finde ich den Beitrag der Dichterin und Philosophin Maria Attanasio (S. 186 – 193) besonders inspirierend. Sie berichtet nicht nur von ihrer Bindung an ihre Stadt Caltagirone, sondern auch von der Bedeutung des Schreibens, der Poesie als der Voraussetzung der Literatur, der Imagination im Umgang mit historischen Personen…Sie berichtet von Rosalia Montmasson, auch von der Mühe der Autorin, endlich die einzige Frau zu würdigen, die mit Garribaldi zusammen auf Sizilien kämpfte und von der Herrschaft der spanischen Bourbonen befreite (im Jahr 1860). Von Lampedusa spricht das Buch, etwa von dem Friedhof der Immigranten, besonders lesenswert der eindringliche Brief der Bürgermeisterin von Lampeusa, Giusi Nicolini, an die italienische Regierung und die EU, den Flüchtlingen zu helfen. Etta Scollo hat diesen Appell ins Musikalische übersetzt „Suite per Lampedusa“ (S. 208).

Die Beiträge in dem sehr empfehlenswerten Buch, auch die herausragenden Fotos, laden ein, Sizilien sozusagen mit Etta Scolo zu besuchen, die vielfältigen Stimmen dieses uralten und kreativen Landes zu vernehmen. Gerade jetzt, in Zeiten der Pandemie, führt das Buch „Voici di Sicilia“ zu einer -gedanklichen, auch akustischen – Reise nach Sizilien. Das Buch weckt die Phantasie, weckt auch das philosophische Fragen, etwa nach dem Sinn von Gerechtigkeit und Recht. Und das geht nicht ohne Mut, die Wahrheit freizulegen, die humane Ethik über alles zu stellen. Claudio Fava, Sohn des 1984 von der Mafia ermordeten Schriftsteller Giuseppe Fava, betont: „Hier, in Catania, wie in ganz Sizilien, brauchen wir Rückgrat und Wahrheit, um entschieden eine moralische Priorität ins Zentrum der politischen Aktion zu rücken: Politik nicht mehr als Basis für private Privilegien.“ (S. 32)

Viele Menschen in Sizilien – das zeigen die Beiträge – schätzen trotz aller Probleme die Schönheit ihres Landes, der Natur, des Meeres und des Lichts… Sie lieben das Leben und wollen sich die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit nicht nehmen lassen.

Etta Scollo,”Voci di Sicilia. Eine Reise durch Sizilien”. Corso Verlag, Wiesbaden, 2020. Mit Antonio Maria Storch (Fotogr.) und Klaudia Ruschkowski (Hrsg. / Übers.), 256 Seiten.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin

Agnes Heller reflektiert über das Ende der Geschichte

Ein Hinweis auf den letzten Essay der Philosophin
Von Christian Modehn

1.
Diesen Essay konnte die aus Ungarn stammende, international geschätzte Philosophin nicht mehr vollenden. Sie verstarb 90jährig, im Jahr 2019, beim Schwimmen im Balaton. Viele Familienmitglieder hatten den Holocaust nicht überlebt. Die junge Philosophin Heller wandte sich dem Marxismus zu, wurde dann Regimekritikerin und im Westen Verteidigerin der Demokratie: Sie ist, trotz Orban, nach Budapest zurückgekehrt. Mit diesem Essay beweist Heller noch einmal ihre profunden philosophischen und vor allem auch literarischen Kenntnisse. Selbst wenn die Argumentation in diesem unvollendeten Werk manchmal sprunghaft wirkt, ins Weiterdenken führt das Buch allemal. Der Titel von Agnes Hellers Überlegungen verweist auf eine zentrale These der Hegel Interpretation: Mit seinem Denken seien die Philosophie und die Geschichte selbst sogar an ihr Ende gekommen. So meinten Hegels Schüler nach dem Tod ihres „Meisters“: Wenn „alles“ Wesentliche als erkannt gelten soll, komme auch die Entwicklung der Geschichte zu einem Stillstand. Das hat Hegel nie behauptet, er sprach immer von der weiteren mühsamen „Durchbildung“ bzw. der „Gestaltung“ der Welt/Gesellschaft/Staat mit den Erkenntnissen der Vernunft. Und für dieses unendliche Projekt bleiben Philosophen wichtig!
2.
Agnes Heller verbindet ihre, wie gesagt, oft sprunghaften Reflexionen zur Philosophie mit den Leistungen der Tragödie und des Dramas. Dadurch wird sichtbar, wie in der Literatur (etwa bei Ibsen, Tschechow, Beckett) Philosophie lebt. Andererseits meint Agnes Heller: Die Tragödie und die Philosophie seien zwar in Europa entstanden, jetzt aber seien sie in Europa an ihr Ende gekommen. Hellers Resumée heißt: Das „Ende der Geschichte“ ist das Ende der „historischen Mission Europas“. „Es ist vorbei (mit der Vorherrschaft) Europas (S. 175). Die Moderne Europas habe sich nun auf die ganze Welt ausgebreitet, so habe „Europa seinen alten zentralen Platz als soziale/politische Macht verloren“ (170). Dass dadurch die Frage der pluralen, „interkulturellen“ Philosophien wichtig wird, konnte Agnes Heller leider nicht mehr zeigen.
3.
Manche ihrer Thesen wirken philosophisch betrachtet verstörend, etwa wenn sie schreibt: „Die Moderne gründet sich auf Freiheit, aber die Freiheit ist ein Fundament ohne Basis, eine Grundlage ohne festen Grund“ (S. 172). Man hätte Agnes Heller gern daran erinnert, , dass Freiheit durchaus eine Basis hat, diese Basis ist die Vernunft. Im Sinne Kants ist Vernunft (als Gestaltungsprinzip von Freiheit) ein für den Menschen „unbestreitbares“, „unleugbares“ und auch unabwerfbares „Faktum“, also eine unbezweifelbare (natürlich nicht empirisch- beweisbare) Gegebenheit, sie zeigt sich in der Selbstanalyse der „praktischen Vernunft“. Von Kant ist leider in Hellers Buch „Vom Ende der Geschichte“ keine Rede!

Agnes Heller
Vom Ende der Geschichte
Edition Konturen, Wien – Hamburg, 2020.
176 Seiten. 19,80 €

Christian Modehn

Von der Inquisition zur Mafia und wieder zurück: Über eine Studie von Leonardo Sciascia

Ein Hinweis von Christian Modehn

1.
Was ist Inquisition? Sie ist nichts „Mittelalterliches“. Inquisition ist der Anspruch einer Organisation, total über Menschen verfügen zu können. Der Anspruch einer Organisation, die Wahrheit total zu besitzen, um die eigene angemaßte Macht bewahren zu können. Und daraus folgt: Der Anspruch, selbstständige, freie und dem System widersprechende Menschen zu quälen, zu foltern und auslöschen zu dürfen.
Diesen Anspruch praktizierte an prominenter Stelle Jahrhunderte lang die katholische Kirche: Viele andere totalitäre Organisation folgten dem Vorbild: Nazis, Stalinisten, die extremen Nationalisten… und aktuell: die Mafia.
2.
Es ist das Verdienst des sizilianischen Historikers, Journalisten, Autors und Politikers Leonardo Sciascia, eines prominenten Intellektuellen, das Wesen der katholischen Inquisition auf Sizilien im 17. Jahrhundert genau zu beschreiben. Aber nicht, um dabei nur die alte, vergangene Welten historistisch zu rekonstruieren, sondern um zu zeigen: Die Inquisition lebt – auch in Sizilien -, der Wille zu quälen und zu morden um des eigenen Machterhaltens zerstört das Zusammenleben der Menschen. Das Thema Inquisition gehört also nicht nur in die Religionsgeschichte, es gehört ins Zentrum der Debatten über die Menschenrechte. Sciascia, 1921 – 1989, hatte intensiv die Mafia auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten und auch einiger Prozesse erlebt, analysiert und verurteilt.
3.
Endlich liegt also in deutscher Sprache die Studie von Leonardo Sciascia über wesentliche Aspekte der Inquisition in Sizilien im 17. Jahrhundert, also unter spanischer Oberherrschaft vor. Sein Buch sollten alle lesen, die von dürren Lexikon-Artikeln bedient sind und mehr wissen wollen: Sciascia bietet anschaulich Details, zeigt Zusammenhänge, vermittelt insgesamt ein Einblick in die dunklen Zeiten der sich katholisch nennenden Herrscher.
4.
Mit seiner akribischen „detektivischen“ Genauigkeit will Sciascia den Blick auf die Inquisition schärfen. Die „Edition Converso“ hat seine umfangreiche Arbeit (aus dem Jahr 1967) mit dem Titel „Tod des Inquisitors“ in dem Buch „Ein Sizilianer von festen Prinzipien“ herausgegeben. Den „Tod des Inquisitors“ erscheint anlässlich des 100. Geburtstages Sciascias am 8. Januar 2021 in kurzer Zeit schon in 2. Auflage.
Die Studie gilt dem Leben und Leiden des Augustinermönchs Fra Diego La Matina, wie Sciascia in Rocalmuto geboren, im Jahr 1622. Auf dem Scheiterhaufen wurde er 1658 in Palermo als „Ketzer“ verbrannt. Die gemeinsame Herkunft hat das Interesse Sciascias für diesen herausragenden, aber in Deutschland bislang unbekannten Ketzer sicher verstärkt.
5.
Über die Inquisition der katholischen Kirche als Form der Verfolgung und Auslöschung von Irrlehrern ist allerhand schon bekannt. Es war immer die totale Herrschaft des Klerus, die sich auf der Seite göttlicher Weisheit wusste und Andersdenkende, Andersglaubende, verurteilte und auch vernichtete.
Was das Buch von Sciascia wichtig macht: Es bietet bewegende Details, etwa, dass der Akt der Verbrennung wie eine Art religiöses Volksfest begangen wurde. Die Kirchenoberen nannten ihr Morden feierlich „Glaubensakt“. Denn in letzter Minute konnten die „Ketzer“ immer noch zum wahren katholischen Glauben zurückkehren. Andere blieben standhaft, sie verbrannten bei lebendigem Leibe.Und die fromme schaulustige Menge beschimpfte diese „Ketzer“. Zuschauer waren also auch höchst willkommen, als der Augustiner Frau Diego verbrannt wurde. Es gab einen riesigen Aufbau nach Art eines Freiluft-Theaters, mit Getränken und Speisen, wurden zumal die klerikalen Herrschaften die Inquisitoren bestens versorgt. Und vor allem: Den Teilnehmern an diesem Mordsspektakel wurde der Ablass gewährt: Sie würden also in den Himmel kommen, das häretische Brand-Opfer natürlich nicht.
6.
Fra Diego, der Ketzer, gehörte als Diakon dem Reformorden der Augustiner an, den „Augustinern von Sant Adriano“ (S. 59). Er war schon mehrfach wegen Häresie aufgefallen, dreimal wurde er verhaftet, ins Gefängnis gesteckt, auf die Galeeren verurteilt. Einmal konnte er sogar aus dem Gefängnis der Inquisition fliehen, er wurde wieder verhaftet und nahm dann alle Kraft zusammen, den dort bestimmenden spanischen Inquisitor Don Juan Lopez Cisneros so schwer zu verletzen, dass er an den Folgen alsbald, am 4.4.1657, starb. Sciascia zeigt, mit welcher Verlogenheit dann die Propaganda der offiziellen Kirche diesen inquisitorischen Agenten von Verfolgung und Tötung mit Lobeshymnen überhäufte.
7.
Sciascia konnte trotz aller ausgiebiger Forschungen mangels eindeutiger Dokumente nicht zur Erkenntnis gelangt, was denn inhaltlich gesehen als Häresie Fra Diego vorgeworfen wurde (vgl. S. 97, auch S. 66). Sciascia kann nur aus einzelnen Hinweisen schließen, dass der Augustiner mit aller Leidenschaft für den Respekt des Evangeliums in seiner Kirche und in der weltlichen Herrschaft eintrat. Evangelium hieß für ihn immer: Das Tun der Gerechtigkeit, vor allem für die Armen. Seine letzten Worte kurz vor dem Flammentod werden überliefert: „Also ist Gott ungerecht“. Damit bezog sich Frau Diego auf die willkürliche Bibelinterpretation eines offiziellen Theologen, der mit ihm noch in letzter Minute sprach. Der junge Augustinermönch wird von Sciascia als Verteidiger humaner Werte dargestellt, der – letztendlich – schon damals die gemeinte Sache der Menschenrechte tausendmal wichtiger fand als Kirchenlehren. Fra Diego lebte in der Erinnerung weiter: Wiederum ein Augustiner, Fra Romualdo aus Caltanisetta, befasste sich mit dem „Ketzer“ Fra Diego, und nannte ihn, 50 Jahre nach dessen Hinrichtung, einen Märtyrer. So viel Lob für Fra Diego konnten die Kirchenoberen nicht ertragen, darum wurde der arme Fra Romualdo nun seinerseits am 6.4.1724 von der Inquisition verbrannt.
8.
Man sollte Sciascias Buch lesen und dabei auch seine Ironie, seinen Zorn gegen die Kirche, in den Zeilen und zwischen den Zeilen erkennen. Sciascia kennt auch die Kirche in der Mitte des 20. Jahrhunderts, er weist z.B. darauf hin, dass der Kölner Kardinal Joseph Frings auf dem 2. Vatikanischen Konzil heftig die Inquisition kritisierte (am8. November 1963). Er nannte die Inquisition und ihre personell bestens ausgestattete Behörde im Vatikan „eine Gefahrenquelle für die Gläubigen“ (S.103). Wohl wahr und …wie nett: „Eine Gefahrenquelle“, die man als Gläubiger also besser meidet und ergeben die allgemein vorgegebenen ethischen und dogmatischen offiziellen Lehren befolgt…

Leonardo Sciascia, Ein Sizilianer von festen Prinzipien. Edition Converso, Bad Herrenalb, 2021, aus dem Italienischen von Monika Lustig. 192 Seiten, 23 €.
Das Buch enthält darüber hinaus ein Grußwort der Übersetzerin Monika Lustig sowie die kleine, aber unglaublich bewegende Studie aus der Zeit der Pinochet – Diktatur in Chile mit dem Titel „Der Mann mit der Sturmmaske“. In diesem Beitrag Sciascias wird auch auf Verbindungen zur verbrecherischen, faschistischen, von Deutschen gegründeten „Colonia Dignidad“ hingewiesen. Erhellend ist auch ein umfangreicherer Essay über Sciascias Leben und Werk von Maike Albath mit dem Titel „Klarheit, Vernunft und Häresie“ sowie ein kurzer Essay von Santo Piazzese über „Die ironie – ein sizilianisches Instrument des Überlebens“.

Copyright: Christian Modehn, www.religionsphilosophischer-salon.de

Die Ambivalenz der Ausnahmen

Hinweise zu einem dringenden philosophischen Thema
Von Christian Modehn

1.
Die Ausnahmen kritisch., d.h. philosophisch zu denken, sollte keine Ausnahme bleiben. Bis jetzt haben Philosophen diesen Begriff und die gemeinte Realität wenig beachtet. In der dreibändigen umfangreichen „Enzyklopädie Philosophie“ (Felix Meiner Verlag) z.B. gibt es keinen eigenständigen Artikel „Ausnahmen“. Dabei bestimmen Ausnahmen das menschliche Leben, also in Ethik und Moral, im Recht, in den Religionen, der Wissenschaftsphilosophie usw.
Zu diesem umfangreichen und, wie man heute ständig sagt, „komplexen“ Thema also ausnahmsweise nur einige eher knappe Hinweise.
2.Ausnahmen in der Alltagssprache
Der Ausgangspunkt: Menschliches Leben ist von Regelmäßigkeiten, Bestimmungen, gleichbleibenden Riten, Gesetzen bestimmt. Und das ist auch gut so, wenn denn die Regelmäßigkeiten, Bestimmungen, Gesetze usw. Ausdruck von Gerechtigkeit, d.h. im Sinne der universal geltenden Menschenrechte inhaltlich bestimmt sind und ein gutes Leben ermöglichen. Aber weil diese Gesetze usw. nie total alle nur denkbaren und möglichen Situationen umfassen können, gibt es de facto dann doch immer Ausnahmen. Die Alltagssprache wäre zu analysieren: „Mit dir mache ich mal eine Ausnahme“, „in der Situation gilt das Gesetz ausnahmsweise nicht“, „ein Ausnahme – Zustand ist ausgerufen worden“, „Zugang verboten, ausnahmsweise nur für Bewohner erlaubt“.
3. Ausnahmen werden im Alltag „gewährt“
Im üblichen bürgerlichen Alltag werden manchmal dem Einzelnen Ausnahmen gewährt, als Steigerung des eigenen Wohlbefindens. Diese gewährte Ausnahme ist rechtlich in einer Art „Grauzone“ angesiedelt. Freundschaft, Kungelei oder auch Barmherzigkeit können da als Motive gelten für den, der Ausnahmen gewährt.
Die „Ausnahme Gewährenden“ können auch „die über mich bestimmenden anderen“ sein, also etwa Beamte, Politiker, Polizisten, Lehrer, Priester, Ärzte, Eltern, Chefs usw.. Sie sind es, die dem einzelnen eine Ausnahme gewähren, also eine gewisse Lebenszeit außerhalb der üblichen Regeln und Bestimmungen, Riten, Gebote, Gesetzen. „Ausnahmsweise brauchst du am Montag nicht zu arbeiten“, „Ausnahmsweise kann der Bischof dir als Katholiken deine Ehe auflösen, so dass du erneut heiraten kannst“ usw.
4. Ich selbst gewähre mir Ausnahmen
Es sind nicht nur andere, die mir Ausnahmen gestatten, dieser Aspekt ist genauso wichtig: Ich gestatte mir selbst Ausnahmen. Etwa: Ich habe mir selbst als Verpflichtung vorgenommen, jeden Tag eine Stunde Gymnastik zu machen. Aber dann kommt der Moment: „Heute mache ich mal eine Ausnahme, weil ich leichte Kopfschmerzen habe oder einfach faul bin.“
Die mir selbst gewährte Ausnahme ist ethisch plausibel und menschlich üblich und normal, vertretbar, aber wohl nur, wenn die Ausnahme einmalig ist, zumindest, wenn sie nicht üblich wird oder zum Dauerzustand. Wird hingegen zum Dauerzustand, keine Gymnastik zu machen, dann st die gelegentliche Übung die Ausnahme. So können sich also die die Werte verdrehen. Die Welt der Faulheit gibt dann also die Normen vor, abweichendes Verhalten wird dann eher pejorativ als „bloße Ausnahme“ tituliert.
5. Ausnahmen für Privilegierte und Reiche
Wer kennt das nicht: Bestimmte Menschen werden in bestimmten Situationen gegenüber der großen Mehrheit bevorzugt behandelt. Privatpatienten müssen nicht so lange warten wie Kassenpatienten. Wer dicke Trinkgelder dem Personal beim Eintritt zusteckt, bekommt schnell einen Tisch im überfüllten Restaurant. Für einen als Bischof gekleideten Mann oder einen „Spitzenpolitiker“ ist immer noch irgendwo in einem Flugzeug ein Platz frei. Hier gilt der Spruch: “Wer hat, dem wird gegeben, d.h. eine Ausnahme gewährt“.
6. Die politische Ausnahmesituation
Es kann Situationen geben, in denen nicht die Üblichkeiten, Regeln, Gesetze vorherrschen, sondern die Ausnahmen. Wer etwa die früheren oder auch aktuellen politischen Verhältnisse in manchen Staaten Zentralamerikas anschaut, könnte zu dieser Überzeugung kommen: An die geltenden Gesetze und die einmal als Ausdruck von Gerechtigkeit formulierte Verfassung halten sich ganz wenige Politiker, Richter, Staatsanwälte, Journalisten usw. Die Ausnahme ist also normal geworden. Und wer gegen diese von Unmenschlichkeit bestimmten Verhältnisse einklagt, gilt als Ausnahme-Erscheinung und wird verfolgt, ausgegrenzt, getötet. Normal also werden Folter, Unterdrückung, Gewalt. Man studiere die Verhältnisse unter Diktatoren, im Nationalsozialismus oder im Stalinismus. Wenn nicht sehr früh dieser verkehrten Welt und ihrer perversen Logik politisch Widerstand geleistet, gibt es die allgemeine Gewöhnung an die „Ausnahme“ Situation der Unmenschlichkeit.
Aktuell versuchen populäre Politiker, das wahre Verständnis von Gerechtigkeit und Wahrheit zu vernichten, und Fakes, Lügen, Unterstellungen, Märchen-Erzählungen als allgemeine und richtige Welt-Interpretation durchzusetzen.
Mister Trump ist das in den vier Jahren seiner nur auf Lügen gebauten Herrschaft weitgehend gelungen: Er hat zur großen Verwirrung, zur Etablierung einer zweiten, parallelen Welt der Fakes und Monstergeschichten wirksam beigetragen. Die Voraussetzung für diese Etablierung einer verrückten „zweiten“ Welt war freilich, weil viele Leute schon disponiert waren, diesen Wahn zu übernehmen. Ausnahmeregelungen werden dort von den Herrschern der (armen) Mehrheit der Bevölkerung aufgezwungen, immer zugunsten der Herrschenden, der Militärs, der neoliberalen Ökonomen etc.
Normativ betrachtet haben dort die dauerhaften Ausnahmeregelungen und Notstandsgesetze den Charakter des Willkürlichen, des Unmoralischen, immer auch des Gewaltsamen.
7. Ausnahmen in der Demokratie
Korrupte Staaten und korrupte Organisationen kommen also ohne Ausnahme-Regelungen, die die Herrschenden eigenmächtig erlassen, nicht aus. Demokratisch regierte Staaten können manchmal auch nicht auf Ausnahme – Regelungen verzichten. Aber Demokratien verhandeln darüber nach demokratischen, parlamentarischen Gesetzen und begrenzen die zeitliche Geltung der Ausnahmebestimmungen. Staatlich verfügte, demokratisch beschlossene Ausnahmebestimmungen bedeuten meist eine Einschränkung der individuellen Freiheit des einzelnen. Sie sind nur durchzusetzen, weil die Ausnahmebestimmungen ein höheres Gut schützen als etwa die Reisefreiheit des einzelnen, Ausnahmeregelungen schützen das höhere Gut der Gesundheit der Menschen eines ganzen Landes. Für den einzelnen bleiben die Ausnahme – Bestimmungen zweifellos oft eine gewisse Einschränkung der individuellen (individualistischen) Freiheit, sie haben also für den einzelnen einen gewissen „negativen Beigeschmack“. Und der einzelne muss nicht nur plausible Begründungen, sondern auch den demokratisch fundierten Charakter dieser Ausnahmen einfordern.
8. Ausnahmen dürfen kein Dauerzustand werden
Gewährte Ausnahmen werden einmalig gegeben und sind zeitlich begrenzt: Wer ausnahmsweise einmal am Montag von der Arbeit befreit ist, darf daraus nicht schließen, immer montags zu Hause zu bleiben. Die rechtliche und demokratische Ordnung wird erschüttert, wenn ständig vielen einzelnen Ausnahmen gewährt werden und diese dann meinen, die Ausnahme können sich doch zum Dauerzustand entwickeln, für den Gewährenden wie für den die Ausnahme Empfangenden.
9. Das absolute Verbot von Ausnahmen: „Du sollst nicht töten“. „Du sollst nicht lügen“
In der Ethik sind Prinzipien und universale Imperative formuliert, die sich auch gegen Ausnahmen in bestimmten „Fällen“ aussprechen. An die klassischen Zehn Geboten wäre zu erinnern, etwa an das 5. Gebot: „Du sollst nicht töten“ oder an das 8. Gebot „Du sollst nicht lügen“. Diese Gebote werden unterstützt von der universal geltenden „Goldenen Regel“, die nicht nur im Bereich der biblischen Offenbarungen ausgesprochen wurde.
10. Du sollst nicht töten … und der Tyrannenmord?
Die Kirche hat im Mittelalter das 5. Gebot mit einer Ausnahme ausgestattet: Etwa Thomas von Aquin, der den Tyrannenmord ethisch für vertretbar hielt. Tatsache ist, seit dem Mittelalter wurden von katholischen Theologen und katholischen Ethikern ermuntert, relativ wenige Tyrannen ermordet, es gab also eine Scheu der Untertanen, dies den Tyrannen anzutun. Bekanntlich wurde der Mönch Savonarola als religiöser Tyrann eingestuft und hingerichtet, nicht aber der ihn bekämpfende extrem unmoralische Papst Alexander VI. in Rom.
Als dann während der Französischen Revolution König Ludwig XVI. hingerichtet wurde, gab es einen totalen Aufschrei unter den frommen, selbstverständlich königstreuen Katholiken. Es war wohl mehr die maßlose Wut der Revolutionäre, gegen das Königtum im „Ancien Régime“ als der Hass auf die Person Ludwig XVI., die zur Hinrichtung des Königs führte.
Hinrichtungen im Rahmen der Todesstrafe sind bis heute nicht nur in den sehr frommen muslimischen Staaten üblich, sondern auch in einigen Staaten der „christlichen“ USA erlaubt und üblich.
Heute ist die Lehre vom Tyrannenmord ethisch – theologisch zurecht umstritten, wenn nicht obsolet, weil die Frage nicht zu beantworten ist: Wer unter all den Politikern ist denn nun der größere Tyrann? Und was ist, wenn man den größten Tyrannen tötet, dann kommt der nächste. Weil die Deutschen (vor allem die konservativen Militärs) viel zu spät auf die Idee kamen, den Tyrannen Hitler zu töten, waren Attentate gegen ihn am 20.Juli 1944, förmlich in letzter Minute, nicht ohnehin zum Scheitern verurteilt? Der Tyrannenmord ist also auch eine Frage des richtigen (frühen) Augenblicks. Hätte die Republikanische Partei Mister Trump schon vor dreieinhalb Jahren aus dem Amt gefegt, wäre der Welt viel Übles erspart geblieben. Jetzt (Mitte Januar 2021) kommen alle Aktionen gegen den eigentlich nur als absolut unmoralisch und undemokratisch zu bezeichnenden Präsidenten (warum wagt es eigentlich niemand, ihn einen Verbrecher zu nennen?) sehr spät, wahrscheinlich zu spät.
Du sollst nicht töten: Dieses Gebot wie auch der Appell zur Feindesliebe durch Jesus von Nazareth wurden im Laufe der Kirchengeschichte, und diese war ja eine Geschichte von Menschen, nie realisiert, es wurde umgedeutet, hin und her gewendet: Und dies lag daran, dass die Theologie damals besonders im Dienst der Herrschenden stand, die natürlich ein enormes Interesse daran hatten, als Tyrannen nicht „vom Thron gestürzt zu werden“. Diesen Vers aus dem bekannten Gebet „Magnificat“, gesprochen von Maria, haben die Nonnen und Mönche zu Tausenden täglich 1.500 Jahre gesungen und geschmettert. Aber es waren wohl leere Worte, Lippenbekenntnisse, daher gesagte Floskeln, der Bibel entnommen, wie viele Tyrannen haben denn die Mönche und ihre Bischöfe und Päpste vom Thron gestürzt? Und wenn, dann nur zum eigenen klerikalen Vorteil, nicht aus Gründen der Gerechtigkeitauch für die Armen.
11. „Du darfst niemals lügen“ betont KANT
Selbst in dem sehr umfangreichen „klassischen“ KANT – Lexikon von Rudolf Eisler kommt das Stichwort „Ausnahme“ nicht vor. Dabei wäre es naheliegend, gerade im Zusammenhang des absoluten Gebotes, nicht zu lügen, doch einmal nach möglichen Ausnahmen zu forschen. Kant lehnt entschieden die Lüge als eine ethisch wertvolle Haltung ab. Und das mit guten Gründen: Die Lüge, einmal vollzogen, verdirbt nicht nur das menschliche Miteinander, sie schafft förmlich eine neue Schein-Welt. Die Lüge stört und zerstört auch die „Menschheit in mir selbst“, wie Kant sagt, also das, was man klassisch, aber nach wie vor gültig, die Seele nannte. Wer Lüge zur Gewohnheit macht, zerstört sich selbst, er weiß dann nicht mehr, wer er ist.
Immer wieder und ständig wird in Debatten über „Lüge und Kant“ dieses Beispiel genannt: Soll ich lügen, wenn die Nazis an meiner Tür klingeln und mich nach einem bei mir versteckten Juden fragen. Tatsächlich habe „ich“ ihn ja versteckt. Lüge ich, rette ich wohl das Leben des Versteckten. Er und ich als Verstecker bin erst mal „gerettet“. Aber der Versteckte weiß: Mein Helfer kann lügen, er hat es ja getan. Fördert diese Einsicht das Vertrauen? Sicher nicht. Aber immerhin, zunächst einmal ist der Versteckte gerettet, eine einmalige Ausnahme hätte wohl auch Kant verziehen.
Aber dieses ständig zitierte Beispiel („Die Nazis suchen bei mir den versteckten Juden“) ist nicht nur extrem selten, weil bekanntlich viele Tausend Deutsche ihre deutschen Mitbewohner, Juden, eben nicht versteckt hatten. Lassen wir uns also bessere, uns selbst betreffende Beispiele einfallen. Wie die Lüge Beziehungen und damit Leben kaputt macht, können wir in der großen Literatur lesen, ich erinnere an Flaubert oder Fontane. Die Lügen haben bekanntlich auch die römische Kirche kaputt gemacht, wenn so viele tausend Priester gelogen haben: „Wir begehen keine Verbrechen mit Kleinen Kindern“. Viele tausend Namen müssen jetzt nicht genannt werden, nur ein beinahe schon klassisches Beispiel: Der mexikanische Ordensgründer und Multi-Millionär, Pater Marcial Maciel, Gründer des Ordens der „Legionäre Christi“. Er ist der große prominente Lügner und Freund des heiligen Papstes Johannes Paul II. Er hat die Kirche verdorben. Alles war Lüge an ihm, „Christus ist mein Leben“ nannte er unverschämt sein international verbreitetes Buch.
Also merke: Wenn Kant die Lüge das schlimmste im menschlichen Leben bezeichnet, dann hat er viele gute Gründe.
12. „Lügen müssen sein, sie dienen der Selbsterhaltung“ behauptet Nietzsche
Für die Lüge als Lebensform zu plädieren, war Nietzsche schon sehr früh wichtig, man denke an seine schon 1873 verfasste Schrift „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“ , aber erst veröffentlicht von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche 1896.
Verstellung und Täuschung und Lügen bewertet Nietzsche als existentielle Notwendigkeiten. Wahrheiten sind für Nietzsche nichts anderes als Konventionen und Illusionen. „Wir haben Lüge nötig…Die Lüge ist die Macht“ (vgl. Nietzsche Handbuch, Verlag Metzler,2000, Seite 278).
Wenn das tatsächlich der Fall ist, dann sind wohl auch diese Sätze Nietzsches als Lügen zu bewerten. Aber diese Erkenntnis der Selbstwidersprüchlichkeit“ wehrt Nietzsche ab: Ihm kommt es unbedingt als Dogma auf die auch leiblich wahrnehmbare „Steigerung“ des Lebens an, und da ist die Lüge und Selbsttäuschung nicht nur hilfreich, sondern notwendig.
Tatsache ist: In seinem Plädoyer für die Lüge als Üblichkeit und Ausdruck des Lebenswillens betreibt Nietzsche die „Zersetzung moralischer Rangordnungen“ (so Vittorio Hösle, „Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie“, Beck Verlag, München 2013, s. 195). Aber auch diese „Zersetzung“ wird von Nietzsche noch einmal als Wahrheit propagiert, so dass die Bindung an Wahrheit, die der menschliche Geist einfach nicht „los“ wird, Thema bleibt… nd Kants Ethik („Kategorischer Imperativ“) wieder eine neue Bedeutung erhält.
13. Lüge und Wahrheit und „postmodernes Denken“
Es wäre weiter zu untersuchen, wie die Beliebigkeit gegenüber Lüge und Wahrheit durch die so genannte postmoderne Philosophie verstärkt wurde.
Diese philosophische Denkweise, besonders in Frankreich seit 1970 verbreitet, ist zwar als philosophische Schule seit Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr präsent und als solche kaum noch aktuell greifbar. Aber Postmoderne wird in einem gewissen populären Sinne immer noch mit der „wunderbaren Beliebigkeit“ gleichgesetzt, also mit einem Pluralismus der Wahrheiten, die ihrerseits keine gemeinsame Basis haben und so ein Universum paralleler, unvermittelter Wahrheiten erzeugen: „Suche sich jeder seine Wahrheit, die ihm gerade passt“.
14. Die von esoterischen Wahrheiten besessenen Frommen
Die Postmoderne hat den Eifer der Traditionalisten hervorgerufen, die nun angeblich göttliche Wahrheiten aus angeblich heiligen Büchern auch mit Gewalt durchsetzen wollen. Die totale Subjektivität der egozentrischen Beliebigkeit wird auch sichtbar in der Begeisterung für die eigenen Waffen, die fast jeder US-Bürger, und ein frommer zumal, in mehreren Varianten in seinem Haus hat, wenn er sie nicht ständig mit sich rumschleppt. Diese Verhältnisse bündeln sich in der unmoralischen Gestalt von Mister Trump: Dieser gefährliche, allein am Geld und an seinem Ego interessierte Typ ist aber nur möglich geworden auf einem geistigen „Boden“, in dem die Sehnsucht nach ganz anderen Wahrheiten, Fakes, und seien sie spinös, auch religiös geweckt wurde. Man könnte Trump also einen Halunken der Postmoderne und ihrer Beliebigkeit und ihrer Fakes nennen, und dies in einem Staat, dessen Einwohner alles andere als rundum gebildete demokratische Bürger sind. Mag ja die uralte Verfassung der USA als demokratisch gelten, die Mehrheit der US-Bürger ist jedenfalls nicht demokratisch gesinnt, man denke auch an das riesige Desinteresse, an Wahlen teilzunehmen. Und an dieser Verblendung sind die Religionen und vor allem die christlichen Kirchen mitschuldig. Sie haben ihre religiösen Lehren wie esoterische Geheimnisse mit viel charismatischem Tralala gelehrt und verbreitet, aber nicht als vernünftigen Ausdruck von Lebenserfahrungen. Aber dies ist ein anderes Thema.

Copyright: Christian Modehn, Religionsphilosophischer Salon Berlin. www.religionsphilosophischer-salon.de